Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[825]

No. 50.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von 'Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Am anderen Morgen brachte Jochen fünf Musikanten von Demmin. Sie waren lustig; denn als sie in’s Dorf einfuhren, spielten sie, auf der engen Wagenbank zu einem wahren Knäuel geballt den Großvater-Tanz zum Stein-Erweichen. In der Schänke stiegen sie ab. Und am Nachmittage entwickelte sich auf dem kleinen Dorfteiche das seltsamste Schaustück von der Welt.

Eine spiegelblanke Eisfläche, ein Naturparquet von gefährlicher Glätte; darüber ein wolkenlos blauer Winterhimmel. In der Nähe des Ufers luden die braungestrichenen, verscheuerten Tische und Bänke des Schänkwirthes und eine Anzahl Stühle zu Sitzen ein, während für die Füße durch Legen von Brettern und Roggenstroh gesorgt war. In diesem Ballsaale herrschte eine Temperatur von zehn Grad Kälte und völlige Windstille.

Die Kinder tummelten sich, Tanzversuche anstellend, mit lautem Geschrei auf der weiten Fläche. Neugierige Gruppen Erwachsener, das helle Vergnügen in den Gesichtern, gingen ab und zu, dann aber zog es in hellen Haufen heran, vorweg die Musik, dahinter der Wirth, einen Karren vor sich herschiebend, auf welchem Körbe zahlreiche Flaschen und Gläser bargen Nach ihm trug ein Mann etliche Stangen und einen Kupferkessel ein Zweiter auf der Schulter ein Fäßchen, ein Dritter eine Anzahl Reisigbündel, ein Vierter zwei Eimer voll Wasser. Nun folgte im Festputz die „Compagnie“, umschwärmt von Kindern. In der Nähe des Gutsgartens, wo das Ufer am niedrigsten und der Zugang zum Teiche am bequemsten war, lenkte man ein; der Wirth begann auszupacken, indessen man am Ufer, an einer von Schnee gesäuberten Stelle, den Kessel aufhing, ihn mit Wasser füllte und unter ihm Reisig anzündete. Die fünf Musikanten saßen um ihren Tisch in der Nähe des Wirthsstandes, rieben sich die Hände und bliesen die Backen auf. Dann dudelte die Clarinette ein paar Läufe auf und ab; der Baß rummelte einige Griffe; zwei Blechinstrumente quiekten. Endlich sagte die Pauke: „Bum“. Sie war ihrer Sache sicher. Und nun begann ein Walzer.

Zaghaft sahen die ersten Tritte aus, aber es ging. Ein nie gekanntes Vergnügen!

„Junge Welt ist lustig, sagt das alte Weib und läßt das Kind aus der Wiege hüpfen – da liegt schon ein Paar.“ Es ist gut abgegangen. „Was, das ist ja wohl Zielenzig? Der alte Dämel tanzt auch mit!“

„Ist ‚ne Pracht,‘ sagt Widal ‚macht Platz, meine Tochter kommt‘ – nein, was sich Fieken Stiermann aufgedonnert hat! Die hat ja wohl so viel Bänder hinten als der Regenbogen Farben hat?“

„Da liegen ja wohl sechs auf einander! – ,Siehst Du, siehst Du Vagel, aus der Hast kommst nichts Gutes,’ sagte Eulenspiegel, da ließ er den Senftopf fallen.“

„Ist ’n Spaß, ist ’n Spaß – juh! Lüchting, noch einen in das Glas und ’nen Haufen d’rauf! Heute muß von inwendig Feuer gemacht werden. Na, wenn unser alter Herr kommt, der muß auch mal mittanzen.“

„Was, da kommen ja wohl die Knechte vom Hofe? Das giebt nichts ! Das Vergnügen ist blos für die Compagnie. Wir werden mit unserm Schnaps allein fertig.“

„Oho, andere Leute sind doch auch Leute; unsern Schnaps wollen wir wohl bezahlen“

„Na, laßt sie nur!“

„Lüchting, ist das Wasser noch nicht heiß? Meine Frau will was Warmes trinken.“

„Geduld, sagt Schult. Das kommt all noch.“

Das quiekte, dudelte und brummte; das sprach, schrie und jauchzte durch einander; das drehte sich, fiel und stand wieder auf unter hellem Gelächter. Aus dem Dorfe kam Zuzug; die Compagnie war bald nicht mehr allein. Was nicht am Tanze sich betheiligte, erschien wenigstens zum Zuschauen.

„Ho, unser alter Herr kommt! Unser Herr Baron soll leben und das gnädige Fräulein daneben!“

Aber das gnädige Fräulein war nicht dabei; der Baron hatte allein gehen müssen. Anne-Marie „fror so“ und „hatte Kopfschmerzen“ und saß müde am lodernden Kaminfeuer. Der alte Herr hatte seinen Fuchspelz an und die Pelzmütze auf dem Kopfe; mit Pelzhandschuhen hielt er die qualmende Jagdpfeife, und sein Gesicht war voll ingrimmigen Vergnügens. Er schritt langsam um den Teich herum bis zu dem Wirthsstande, wo die älteren Leute die Mützen abzogen und ihn mit grinsenden Gesichtern erwarteten.

„Nu wie gefällt Euch das, Kinnings?“

„Das soll uns wohl gut däuchten, Herr. Auf die Art halten wir das Arbeiten lange aus.“

„Das habt Ihr auch verdient, indem daß Ihr bei Euerm alten Herrn geblieben seid. Das vergeß’ ich Euch nicht.“

„Nun kommen wir doch wohl nach Amerika, Herr, wenn’s Frühjahr wird?“

„Das müssen wir mal sehen, wie das wird. – Was willst Du denn von mir, mein Döchting?“

Er streichelte dem hübschen Kinde, das von Andern vorgedrängt wurde und endlich couragirt zu ihm trat, väterlich das Kinn.

[826] „Herr, Sie möchten doch mal mit mir tanzen.“ „Was? Tanzen soll ich?“ Er nahm die Pfeife aus dem Munde voll verräucherter Zahnstummel und lachte in seiner kurzen Weise. „Du bist wohl ungesund im Kopfe, Fieken? Das müßte ja aussehen, als wenn ein alter Kettenhund hier ’ne Polka machen wollte. Krischan Schnabel, komm mal ran und nimm mir das Kind ab! Das wird ihm lieber sein, als ’n Tanz mit so ’nem lahmen Krippensetzer. Trinken? Ja, das will ich wohl; gieb mir mal das Glas her, mein Sohn! – Nein, ich setz’ mich nicht; das giebt Podagra in meine alten Knochen. Donner un de Knütt! Was für ’n guter Schnaps ist das – Lüchting, da kannst mir mal ’ne Buddel aus den Hof bringen, ich habe das gern zum Frühstück. – Juch! Was kreischt denn so? Das ist ja wohl Jechann Schuring? Komm mal ’n bischen näher, mein Sohn. Was machst Du denn hier auf dem Eise? Gehörst Du zu meiner Compagnie? Hab’ ich etwa für Dich die Musik bezahlt?“

„Ach, Herr Baron, wir wollten doch auch ein bischen tanzen –“

„Na, was in Hofdiensten stehst das soll’s meinetwegen, aber zu trinken kriegt die Art nichts von mir, Lüchting, und was die Tagelöhner sind, die nicht zu mir gehalten haben, die jagt Ihr herunter. Na, adschüs auch!“

„Adschüs, Herr! Und ’nen Tusch für unsern Herrn Baron!“

Der alte Herr ging langsam wieder zurück, wie er gekommen, und musterte das Volk auf dem Teiche.

„Nun hab’ ich meinen Willen, Pogge, und nun wollen wir mal sehen, ob Du Deinen auch haben sollst,“ knurrte er befriedigt zwischen den Zähnen.

Gegen die Dunkelheit zu wurde das Fest immer lebendiger und in Folge der genossenen Getränke gefährlicher für die Theilnehmer.

Die Alten legten sich in’s Mittel, aber es half nichts. Erst als ein Bursche dermaßen hingestürzt war, daß er besinnungslos fortgetragen werden mußte, leerte sich die Fläche wie mit einem Schlage.

Am folgenden Tage begann der Tanz auf’s Neue. Wieder dampfte und stampfte, musicirte und lärmte, trank und schwatzte es bis in den sinkenden Abend hinein.

Am dritten Tage wollte nichts mehr zu Stande kommen. Die Musikanten aus Demmin fuhren Nachmittags heim, und die Eisfläche blieb einsam; nur ein paar Kinder suchten Schleifen, Knöpfe und was sonst Verlorenes für Kinder Werth hatte, standen wohl auch schaudernd vor ein paar Blutspuren. In den Stuben schliefen die Theilnehmer mit wüsten Köpfen oder hockten fröstelnd an den Oefen umher. Tanzen um’s Tagelohn – es war doch ein unvergleichlicher Gedanke!




8.

Die Kosten des Festes auf dem Eise bezahlte Anne-Marie wieder „auf Borg“. Neujahr fuhr sie mit dem Onkel nach Branitz. um zu gratuliren – aber erst Nachmittags; denn Curt war Vormittags drüben gewesen. Als sie zurückkamen, fand der Baron ein Billet vor, in welchem Curt mit kurzen geschäftsmäßigen Worten den Alten aufforderte, sich bis zum Beginn des neuen Quartals nach einer anderen Wohnung umzusehen. Der Alte lachte höhnisch – das Billet wurde wieder, wie alles ihm fatale Papier, zum Fidibus verwandt.

Langsam dehnten sich die kalten Winterwochen. Klares Wetter, Schneegestöber, eisiger Nordost wechselten in fast regelmäßigem Turnus. Der Baron war viel auf der Jagd, auf Pelchower Revier und in der Nachbarschaft, während Curt die Einladungen ausschlug – für diesen Winter. Seltsam fügte es der Zufall, daß der alte Herr jetzt beständig im Spiel, dem unvermeidlichen Abschluß jedes Jagdfestes, gewann; er brachte Summen heim, welche die Auslösung seiner Compagnie bis zum Frühjahr sicher stellten, und man war versucht, die Abmachung, daß man ihm Verluste stillschweigend erlassen wolle, aufzuheben. Die Geschichte vom Pelchower „Eistanz im Tagelohn“ machte die Runde, soweit man den Alten kannte, und wurde weidlich belacht; sie bildete ein neues Blatt in der Geschichte seiner tollen Streiche.

Man fragte ihn wohl, was er zu thun gedächte, wenn der April käme; denn er traf nicht die geringsten Anstalten, sich um eine künftige Wohnstätte zu bemühen. Man war überzeugt, daß er wieder etwas Närrisches anstellen werde.

Auf jene Frage hatte er eine charakteristische Antwort:

„Denkt ihr denn, ich weiß heute schon, was ich morgen thun werde?“

Anne-Marie saß daheim, ernst und schweigsam, eine Andere als sie vordem gewesen. Sie las und stickte und nähte. Selten ging sie aus, etwa einmal zu Radmachers, um nach den Kindern zu sehen. Und immer hatte sie Furcht, sie könne Curt einmal dort treffen. Zuweilen hielt der Wagen, mit der Steinfigur Jochens im blauen Mantel auf dem Bock, bei dem Hause; dann fuhr sie in die Nachbarschaft, nach Langsdorf, nach Branitz, an einen oder zwei andere Orte, wo sie mütterliche Freundinnen gewonnen hatte. Am liebsten war ihr das stille Zimmer in Pelchow.

Von dort aus konnte sie Curt nebenan auf- und abgehen hören und den Laut seiner Stimme vernehmen. Die Tasten des Flügels berührte er nicht wieder. Sie bekam ihn sehr selten zu sehen; denn im Februar war er fast immer abwesend. Was sollte er auch in dem öden Pelchow beginnen? Was hätte ihn da fesseln können? Das geringe Maß Arbeit, welches die Jahreszeit zu verrichten erlaubte, konnte der Statthalter Drewes beaufsichtigen. Er fühlte wohl auch das Bedürfniß, die Zeit bis zum Frühjahr zu tödten, welche ihm Erlösung von dem auf dem Gutshause lastenden Banne und Freiheit der Bewegung bringen sollte.

Ach, was stand ihr danach bevor! Der Onkel wollte durchaus nicht zum Abzuge rüsten; er ließ sich nicht zureden und blieb dabei: er ginge freiwillig nicht fort. Welche Aufregungen würde es da noch zu ertragen geben!

Und immer näher rückte der gefürchtete Zeitpunkt. Anfang März kam ein häßlicher Thauwind mit Regen, welcher die Wege in Sümpfe verwandelte, dann ein kühler Ostwind bei grauem Himmel, welcher am Tage die Wege austrocknete, in der Nacht Frost brachte, endlich ein paar linde, fast schwül warme Tage. Das Holz der Bäume und Sträucher ward bräunlich und glänzend; die Knospen schwollen; der Rasen begann zu sprossen.

Es wurde Frühling in Pelchow.

Anne-Marie von Lebzow hatte schlaflose Nächte. Sie sah bleich aus, und ihre fröhlichen, glänzenden blauen Augen waren matt geworden. So nervös war sie, daß sie zusammenschrak wie ein Stämmchen, an das eine kräftige Faust geschlagen, wenn Dürten Schoritz unvermuthet an ihre Thür klopfte. Nicht der Gedanke, daß sie von Pelchow scheiden solle, nicht das Loslösen aus der Nähe Curt’s war es, was sie quälte – das Gespenst der Katastrophe, welche bevorstand, hatte in ihrer Seele Wohnung genommen und wuchs und marterte ihre Nerven, daß jedes andere Leid von dieser Pein verschlungen wurde.

Eine barbarische Zeit, so sagt man, erfand Gefängnisse mit beweglicher Decke. Jeden Tag rückte diese Decke ein paar Zoll tiefer; der Unselige, der unter ihr ahnungslos wohnte, merkte es, er konnte den sich verkleinernden Raum endlich mit dem ausgestreckten Arme messen. Tiefer, immer tiefer sinkt die Decke! Er kann sie mit den Händen fassen; er drängt und stemmt in verzweifelter Angst; noch drei Tage – dann liegt er, und das Ungeheuer über ihm wird ihn zerquetschen rettungslos, unerbittlich – –

Aehnliches empfand Anne-Marie von Lebzow.

In der letzten Märzwoche nahmen die Feldarbeiten auf Pelchower Grund und Boden wieder ihren Anfang. Curt hatte den Winter trotz des Arbeitermangels leidlich überstanden; jetzt aber sah er sich der Frage gegenüber: woher Arbeiter schaffen? Entweder die Getreuen des Onkels, oder neue, die am sichersten in Schweden zu haben waren – das Beides stand zur Wahl.

Der Zeitpunkt war gekommen, wo man den Versuch machen konnte, ob die „Compagnie“ des Onkels vernünftigen Vorstellungen zugänglich war. Man mußte den Leuten die Pistole auf die Brust setzen und er hatte sich zu diesem Zwecke die genauesten Instructionen vom Landrath geholt.

Curt nahm die Liste der Leute und ging zum Radmacher, den er fragte, ob er es auf sich nehmen wolle, die Widerspänstigen für morgen Sonntag, zu einer Versammlung in den Nachmittagsstunden aufzufordern? Er, Curt, werde gegen vier Uhr erscheinen, um ein ernstes Wort mit ihnen zu reden. Der Radmacher möge mit Mederow sprechen: das Schullocal sei wohl der geeignetste Zusammenkunftsort; der Baron erführe am besten vorher nichts von der Sache.

„Gern“ meinte der Radmacher. „Ich verrathe auch nicht vorher, was Sie ihnen sagen wollen, junger Herr. Die Neugier hilft treiben; ich kenne die Art hier“.

[827] Curt stimmte zu, und der Radmacher brachte am nächsten Morgen günstigen Bescheid.

„Ich habe aber mit meiner Frau Streit gekriegt, Herr,“ setzte er ernst hinzu. „Es will ihr gar nicht in den Kopf, daß unser gnädiges Fräulein aus Pelchow fort soll, und sie hat mir was vorgeweint gestern Abend. Ich habe Ihnen den Gefallen gethan, aber es ist mir schwer geworden.“

Curt wendete sich ein paar Secunden ab; dann drehte er sich finster herum und erwiderte kurz:

„Mein lieber Radmacher, mir ist wahrscheinlich schwerer um’s Herz als Ihnen und Ihrer Frau. Sagen Sie ihr das!“

In der Schulstube des Herrn Mederow ging es am Nachmittage lebhaft her. Was der „junge Herr“ zu reden haben würde, stand leicht zu vermuthen. Der Radmacher war nicht anwesend; nur Herr Mederow bewegte sich zwischen den Leuten, welche erst vereinzelt auf den Schulbänken Platz genommen hatten, und der Schulmeister war ein beredter Anwalt des Administrators. Allein er fand wenig günstiges Gehör. Man erkannte die Tüchtigkeit und den guten Willen Curt’s an, aber es ging doch nichts über den guten alten Herrn. Und das Zauberwort „Amerika“ feite gegen alle Anwandlungen von Furcht und Nachgiebigkeit.

In der Frühlingssonne draußen hielt Curt’s Engländer; Herr Mederow eilte hinaus, um die Zügel zu ergreifen. Drinnen schoben sich die Leute – nur Männer – zwischen die Bänke. Neugierige Gesichter empfingen den Eintretenden und erwiderten auf sein „Guten Tag, Leute!“ in rauhem Atempo.

„Ich habe Euch hierher beschieden, um Euch vor eine Entscheidung zu stellen, Leute. Der erste April naht; bis zu diesem Termin muß ich wissen, wie ich mit Euch daran bin. Ich mache Euch keinen Vorwurf aus dem Vergangenen. Aber so, wie bisher, geht’s nicht weiter. Der Baron, mein Onkel, den Ihr als Euren Herrn anerkennt, verläßt mit dem ersten April Pelchow. Ich habe Euch im Herbst Arbeit verschafft, indem ich einen Theil der Feldfrüchte auf dem Stiel und in der Erde an die nächsten Güter verkauft habe. – Ihr werdet fortan keine Arbeit mehr finden, außer derjenigen, welche ich Euch als Herr biete. Und diese müßt Ihr annehmen, wohlverstanden, wenn Ihr in Pelchow bleiben wollt. Weigert Ihr Euch, so seid Ihr Armenhäusler; arbeitskräftige Armenhäusler aber können zur Arbeit gezwungen werden; also nützt Euch die Weigerung nichts. Widerstrebt Ihr, so werdet Ihr abgeführt und von Polizeiwegen in ein Arbeitshaus unter Bummler und Vagabunden gesteckt.“

„Wir wollen nicht in Pelchow bleiben; wir gehen nach Amerika; unser Herr Baron giebt uns das Geld dazu,“ unterbrach Curt eine Stimme.

„Irrt Euch nicht! Mein Onkel wird Euch das Geld nicht geben, denn er hat es nicht. Fragt ihn darum! Aber bis zum ersten April will ich Eure Entscheidung haben. – Und nun noch Eines: unterwerft Ihr Euch bis dahin freiwillig, so behaltet Ihr Euren Pachtacker und den bisherigen Lohnsatz, auch was Euch sonst früher vom Gute an Vergünstigungen gewährt wurde. Laßt Ihr Euch erst durch Noth und Enttäuschung zwingen, so berechne ich den Schaden, den ich bis dahin durch Eure Hartnäckigkeit gehabt, und ziehe Euch die Summe nach und nach vom Lohn ab, alle anderen Vortheile aber, mit Ausnahme der freien Wohnung, verliert Ihr. Ueberlegt Euch das! Adieu!“

Diesmal folgte ihm nur ein vereinzeltes „Adschüs!“, als er raschen Schrittes vom Katheder stieg und das Zimmer verließ. Noch saß Alles mit langen Gesichtern da, indeß draußen bereits die Hufschläge seines Pferdes sich entfernten, und Keiner hatte recht den Muth, seine Meinung über das Vernommene zuerst zu äußern.

„Das ist ’n Teufelskerl,“ platzte endlich ein alter Mann heraus. „Ja, da müssen wir wohl erst unsern alten Herrn mal fragen, ob uns der auch wirklich das Geld giebt, daß wir nach Amerika fahren. Er muß uns das bis zum ersten April aufweisen.“

Und so lautete auch das Resultat des Hin- und Widerredens, das nun in der Schulstube sich entspann. Die drei Sprecher, welche einst die Lohnzettel vom Baron angenommen hatten, wurden wiederum zu der heiklen Verhandlung mit demselben deputirt.

Der alte Herr empfing seine Getreuen ruhiger, als sie erwartet hatten.

„So ist nun son’ Kerl,“ sagte der Baron, „wenn er sich nicht anders zu helfen weiß, dann geht das auch gegen Gottes Gebot, was doch besagt, daß Eins dem Andern nicht soll sein Gesinde abtrünnig machen. Na, beruhigt Euch nur, Kinnings! Ich habe zwar das Geld auf den Augenblick nicht hier, aber bis dahin will ich Euch das schon noch ausweisen. Ihr könnt wieder kommen – bis aus den Ersten hat das Zeit.“

Er überlegte hin und her. Am späten Nachmittag des letzten Märztages fuhr er mit Jochen nach Branitz. Warum sollte ihm Pannewitz nicht ein paar tausend Thaler vorschießen?

Als es dunkel wurde, saß Anne-Marie von Lebzow am offenen Fenster. Am stahlfarbenen Himmelsgewölbe blinzelten die Sterne; kühl und doch weich wehte die Abendluft um das heiße Gesicht des einsamen jungen Mädchens. Der Bernhardiner, welcher den Winter zumeist im Stalle zugebracht, saß in der Dämmerung zu ihren Füßen und hatte seinen Kopf auf ihr Knie gelegt, und sie streichelte ihn leise mit der Linken, während die Rechte mit dem Taschentuch ihre Wange stützte.

Ihr war bitter weh zu Sinn, und sie weinte. Diese Thränen schienen unversieglich zu sein; wie oft sie das Taschentuch auf die brennenden Augen preßte, immer quollen sie auf’s Neue. Sie starrte verloren in die schweigende Nacht, als suche sie unter den blinzelnden Sternen da draußen den ihren. Wo war er? Sie hatte keinen. Morgen – ach wer das Morgen erst überstanden hätte!

Manchmal grub sie wohl das Gesicht tief in das schimmernde Tuch und schüttelte langsam den Kopf und stöhnte leise. Wenn nur der Onkel nicht so lange bliebe! Diese Einsamkeit war furchtbar.

Es klopfte. Dürten war es; sie kam mit der brennenden Lampe, stellte sie auf den Tisch und ging schweigend hinaus. Anne-Marie hatte sich geflissentlich weiter zum Fenster gebogen, um ihr Gesicht nicht sehen zu lassen.

Minuten vergingen. Der Bernhardiner erhob sich, schritt schwerfällig zum Ofen und legte sich dort nieder.

Es klopfte noch einmal, unvermuthet; die Bewegung des Hundes hatte die nahenden Tritte überhören lassen, und Anne-Marie fuhr heftig zusammen

„Herein!“

Curt von Boddin stand in der Thür, schweren Ernst im Gesicht.

„Verzeihung, gnädiges Fräulein! Noch einmal – –“

Anne-Marie hatte ihn mit geisterhaft großen Augen angestarrt. Nun sprang sie mit abwehrenden Händen empor und stieß einen Schrei aus. Er klang wie der Schrei eines zur Marter Verdammten, der den Folterknecht kommen sieht: verzweifelt, herzzerreißend.

„Nicht – nicht – bleiben Sie draußen, um Gotteswillen gehen Sie! Wenn Sie im Leben oder Sterben eine Gnade hoffen: gehen Sie! Sie tödten mich!“

Sie flüchtete sich mit zitternden Knieen hinter einen Stuhl, den sie wie einen Schild vor sich hielt und dessen Lehne sie stützen mußte; denn sie war dem Umsinken nahe.

Curt von Boddin bewegte die Lippen, als wolle er noch etwas sagen; sein Gesicht war verstört und kreidebleich; nun neigte er stumm den Kopf, machte Kehrt und ging hinaus.

„Für immer, Anne-Marie von Lebzow!“ hörte sie ihn sagen ehe er die Thür schloß.

Für immer! Für immer! Warum? Weshalb hatte sie ihn nicht angehört? Was konnte sie für ihre Nerven, die gequälten, gemarterten die sich gewöhnt hatten, bei dem Gedanken an ihn zur Flucht in alle Winde zu drängen? Ach, und sie liebte ihn doch – sie liebte ihn – und nun sank sie schluchzend vor dem Sopha nieder und legte das Gesicht in das Taschentuch. Sie hatte ihn lieb mit tausend Schmerzen – sehr, sehr lieb.

Eine Weile war es still im Zimmer, still bis auf ihr zuckendes Aufschluchzen; nur dann und wann hörte man einen tiefen Athemzug des Hundes am Ofen. Endlich rasselte draußen ein Wagen, und Anne-Marie erhob sich. Der Baron kam unverrichteter Sache, und in Folge dessen ein wenig verdrießlich heim: er hatte Herrn von Pannewitz nicht zu Hause gefunden. So mußte er denn am nächsten Morgen die Fahrt noch einmal unternehmen. Er betrachtete Anne-Marie mit Besorgniß, fragte auch, plötzlich wieder in Zärtlichkeit umschlagend, was ihr fehle, erhielt aber ausweichende Antwort. Das war ihm ungemüthlich, und er zog sich bald auf sein Zimmer zurück.

Es mochte nach zehn Uhr sein, und Anne-Marie war im Begriff einzuschlafen, da klang zum ersten Male wieder drüben der [828] Flügel, und wieder war es dasselbe zauberhafte Notturno, das sie schon einmal gehört. Leise richtete sie den Kopf empor. Aber nach den ersten zwanzig Tacten erhoben sich im Zimmer des alten Herrn so schauderhafte Töne, wie sie in ihrem Leben von einer menschlichen Stimme noch nicht vernommen worden. Der Baron, welcher eine letzte Pfeife vor Schlafengehen rauchte, war wüthend über die Musik und begann seinerseits einen längst verschollenen Gassenhauer zu singen, der ihm aus seiner Jugend her im Gedächtniß geblieben. Es klang wie das Geheul rostiger Thorflügel.

Das war seine Rache, und sie wirkte unmittelbar.

Die zauberhafte Weise drüben verstummte.

Als der Baron am Morgen gestiefelt und gespornt aus seinem Fenster stieg, empfing ihn eine für diese Jahreszeit auffallend warme Luft. Der Himmel war tief blau, wie mitten im Sommer. Spatzenhaufen schwirrten in erbittertem Kampfe wie unsinnig über die Mauer und wieder herüber, und auf der Dungstätte kämpften die Hähne und gluckten und gurrten die Tauben.

„Das ist ja ’n merkwürdiges Wetter,“ sagte der alte Herr kopfschüttelnd zu Jochen, als er den Wagen bestieg. „Es ist ja, als wenn das heute noch ’n Gewitter geben sollte.“

„Das ist möglich,“ war die lakonische Antwort.

Vor dem Thore begegneten ihnen zwei Gestalten in einer Art Uniform, jede mit einem Blechschilde auf der Brust. Sie grüßten militärisch, als der Wagen an ihnen vorbeistockerte. Der Baron musterte sie scharf und zog die Stirn unter dem Riesenschirm der Jockeymütze kraus, worauf er eine Weile in unruhiges Nachdenken versank.

„Jochen,“ sagte er nach einiger Zeit, „was waren das für Kerls? Das schien mir was vom Gericht zu sein.“

„Das glaube ich auch, Herr!“

Wieder eine Pause von zehn Minuten.

„Jochen, die sollen mir doch wohl mein Quartier nicht ausräumen in der Zeit, daß wir nach Branitz fahren?“

„Kann sein, auch nicht, Herr.“

„Das wäre der Teufel! Fahr mal rasch zu!“

Jochen hieb auf die Pferde ein, daß sich der Wagen in Staubwolken hüllte, während sie am Waldrande hinrasselten.

Herr von Pannewitz war zu Hause; indeß war der Weg auch diesmal ein erfolgloser.

„Ich kann Dir jetzt nicht helfen, Franz. Ich habe nur so viel baares Geld liegen, wie ich zum Auszahlen brauche. Wenn ich das gestern gewußt hätte, wo ich bei meinem Bankier war, dann hätt’ ich Dir das mitbringen können, und das hätte ich aus alter Freundschaft auch wohl gethan, wenn ich auch gleich nicht dafür bin, daß Du Deinen alten harten Kopf aufsetzen und den Leuten noch helfen sollst auszuwandern, was so schon das Unglück in dieser Gegend ist.“

„Das ist mir fatal, Pannewitz – das ist mir sehr fatal. Dann hilft das heute nichts. Wenn Du mir nur in einiger Zeit aushelfen willst.“

„Das will ich wohl, Franz, aber überleg’ Dir das! Du machst ’nen Eulenspiegel-Streich und schlägst zu Deinem Vergnügen ein ganzes Geschirr entzwei. – Aber wie sieht’s damit aus, daß Du heute aus dem Gute ziehen sollst?“

„Hoho! wie werd’ ich das? Ich werde doch kein Narr sein? Und wenn die Pogge zwanzig Kerls vom Gericht dazu holt.“

Der Baron sprach zerstreut. Herr von Pannewitz legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte im Ton besorgter Freundschaft:

„Du weißt, Franz – wenn Dir was passirt: Branitz steht Dir und Anne-Marie immer offen.“

„Das weiß ich, das weiß ich, Pannewitz. Du bist mein alter Freund und ein guter Kerl. Nun will ich aber machen, daß ich nach Pelchow komme; denn der Cujon, die Pogge, könnte mir hinter meinem Rücken was anstiften. Adschüs auch!“

(Fortsetzung folgt.)


Das kapische Erdferkel im zoologischen Garten zu Berlin.

Im Affenhause des Berliner zoologischen Gartens, dort, wo auch jenes wundersam gestaltete Wesen, der noch stetig angestaunte Ameisenbär, seine Wohnstätte gefunden und unter seinen ausgelassenen, beweglichen Nachbarn als das Urbild der Trägheit und des Stumpfsinnes erscheint, ist jüngst ein gar seltsames Geschöpf untergebracht worden. Wiewohl der Familie der Ameisenfresser gleichfalls angehörig, also dem oben erwähnten trägen, zottigen Gesellen eng verwandt, zeigt dennoch dieser neue Fremdling in seiner äußeren Gestalt mit jenem auch nicht die geringste Spur einer Aehnlichkeit. Wenn dieses Thier, seiner Gewohnheit gemäß, zusammengekauert, den Rücken dem Beschauer zugekehrt, regungslos daliegt, so könnte man es leicht für eine Abart unseres Hausschweines halten und es vielleicht kaum einer näheren Beachtung werth erachten. Wird es jedoch aus seinem Halbschlaf aufgerüttelt und bewegt es sich, durch die Nähe der Nahrung ermuntert, in plumpen Schritten nach der Vorderseite des Käfigs oder nimmt es, wie zum Kampf gerüstet, eine aufrechte Stellung ein, so bietet es in der That eine merkwürdige, höchst sonderliche Erscheinung dar.

Mit Interesse betrachtet dann der aufmerksame Beschauer diesen plumpen, halb röthlichgelb, halb braun gefärbten Körper, diesen Kopf mit der seltsam verlängerten Schnauze, den ungewöhnlich langen Ohren und den freundlich glänzenden Augen, die kurzen, mit furchtbaren Krallen bewaffneten haarigen Füße. Er versucht es, dieses Geschöpf irgend einer der ihm bekannten Thiergruppen einzureihen. An eine nahe Verwandtschaft des seltsamen Wesens, das ihm als kapisches Erdferkel (Orycheropus capensis) bezeichnet wird, mit seinem struppigen Genossen nebenan vermag er erst dann zu glauben, wenn dasselbe plötzlich aus seiner winzigen Mundöffnung die lange, wurmförmige Zunge ausstreckt. Dann wird es ihm erst klar, daß die Natur diese beiden Thiere für einen gleichen Lebenszweck bestimmt hat; dann vermag er für die barocke Gestalt des Erdferkels eine Erklärung zu finden und sie für etwas mehr als ein bloßes Spiel der Schöpfung zu halten; dann steht er auch nicht länger an, dasselbe als ein Glied jener merkwürdigen Rasse der Wirbelthiere anzusehen, welche die naturwissenschaftlichen Systematiker nach langen mühevollen Studien unter dem Namen „Zahnarme“ (Edentata) zusammengefaßt haben.

Ebenso wenig wie sich eine Uebereinstimmung oder Aehnlichkeit des Erdferkels mit dem Ameisenbär hinsichtlich der äußeren Gestalt feststellen läßt, vermag man überhaupt alle die Geschöpfe, welche dieser seltsamen Thierclasse zugezählt werden, in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen. Jedes derselben ist von dem anderen grundverschieden in seinem Bau, seiner Größe, ja seinem Charakter, und dennoch sind sie alle unter einer Gruppe vereinigt worden, weil sie in manchen Dingen wieder eine auffällige Uebereinstimmung zeigen; denn sie alle haben entweder einen vollständigen Zahnmangel oder doch ein höchst verkümmertes Gebiß, dagegen ungemein entwickelte Nägel; alle erscheinen uns in ihren wunderseltsamen Formen, in ihrem lichtscheuen, stumpfsinnigen Wesen wie Fremdlinge der Schöpfung oder wie die lebenden Denkmäler einer untergegangenen Welt.

Erzählt doch die paläontologische Wissenschaft gar wundersame Dinge von jenen riesenhaften Geschöpfen der Vorwelt mit der mangelhaften Zahnbildung und den furchtbaren Krallen; gleicht doch das Megatherium, dessen Skelet einst im Diluvialsande der Pampas von Südamerika gefunden wurde und das noch heute im Museum zu Madrid in ausgeführter Vollständigkeit aufbewahrt wird, in seinem ganzen Bau demjenigen unserer heutigen Faulthiere. Wunderseltsam und abenteuerlich erscheint unserer Phantasie jenes vorweltliche Wesen in seiner Elephantengröße, und in fragwürdigen, fremdartigen Gestalten treten uns noch heute seine lebenden Vettern in ihren weit weniger auffälligen Größenverhältnissen entgegen. Doch so sehr wir auch geneigt sind, in diesen wunderlichen Formen und organischen Bildungen nur eine Laune der Schöpfung zu erkennen, so werden wir doch anderen Sinnes, wenn wir näher in das Leben und Treiben dieser Geschöpfe eingehen. Dann gewinnen für uns die seltsame Gestalt des Faulthieres, der Panzer des Armadills, die Wurmzunge und die scharfen Krallen der Ameisenfresser Bedeutung; dann tritt uns auch hier in dem Werdeproceß der Natur die Logik in deutlichen Zügen vor Augen.

Wenn wir uns z. B. mit Hülfe unserer von G. Mützel mit vortrefflicher Naturtreue gezeichneten Abbildung (sie stellt Erdferkel vor einem Termitenhaufen sitzend dar) in die afrikanische Heimath des Erdferkels versetzen und nun die eigenartige Rolle beobachten, welche dieses Wesen im Haushalte der Natur zu spielen hat, dann

[829]

Kapische Erdferkel.
Originalzeichnung von G. Mützel.

[830] werden wir gewiß über das harmonische Gesetz auf der großen Schaubühne des Lebens staunen.

Im südlichen Afrika, dort, wo die Termiten, „die große Menschenplage beider Indien“, wie sie Linné nannte, ihre wundersamen Kunstbauten errichten, die man ursprünglich für menschliche Werke, für Negerhütten hielt, ist die Heimath unseres Thieres. Wohl giebt es auch in den nördlichen Gegenden des genannten Welttheiles Erdferkel, doch bilden diese eine besondere, wohl zu unterscheidende Art; unser Geschöpf ist ein echtes Kind des Südens. Mit bewundernswürdiger Meisterschaft und Schnelligkeit gräbt es sich auf trockener Ebene, auf Steppen oder in Wäldern dort, wo eben die Ameisen und Termiten die Herrschaft führen, eine große Höhle, in welcher es, verborgen vor der Welt des Tages, fast ununterbrochen, so lange die Sonne am Himmel steht in stumpfsinnigem Brüten verweilt.

Bricht jedoch die Nacht herein, dann wird es wie mit einem Zauberschlag lebendig und beginnt seine verheerenden Raubzüge. Hat es einen Termitenbau entdeckt, so vollführt es in kunstvoller Weise sein Minirwerk, untergräbt den Bau, bis es auf den Haupteingang oder auf einen Nebenweg zu dem Neste geräth, und macht nun von seiner eigenartig gestalteten Zunge Gebrauch. Es steckt nämlich einfach das wurmförmige klebrige Organ in die Oeffnung, läßt es von den zornigen Termiten erfüllt werden, und zieht es dann mit Behagen in den Mund zurück. Diese Manipulation wird so lange wiederholt, bis es sich vollkommen gesättigt hat und der Morgen naht.

Das lichtscheue Thier flieht die Sonne und den Menschen mit unbeschreiblicher Angst und vergräbt sich auch während der Nacht mit rasender Eile in die Erde, sobald es ein verdächtiges Geräusch vernimmt. Doch hat der Jäger es überrascht, dann versucht es sich mit aller Kraft gegen die Wandungen seiner Höhle zu drängen und sich auf diese Weise dem Einfangen zu entziehen. Sein Fleisch ist den Eingeborenen eine Lieblingsspeise und soll im Geschmack dem des Wildschweins überaus ähnlich sein; diesem Umstande verdankt es seinen Namen, und dem Wohlgeschmack seines Fleisches ist es zuzuschreiben, daß es so leidenschaftlich verfolgt wird.

Die Gefangenschaft soll das Erdferkel nicht lange zu ertragen vermögen. Man behauptete dies auch von dem Ameisenbär, und dennoch erfreut sich dieses wunderliche Geschöpf im Zoologischen Garten zu Berlin nun schon seit Jahren der blühendsten Gesundheit. Während jedoch dieser mit sichtlichem Behagen Ameisenpuppen als Surrogat der ihm mangelnden Termiten verspeist, hat das Erdferkel bis jetzt nur Neigung gezeigt, Milch mit Reis und rohe Eier zu genießen. Gegen seinen Wärter beobachtet es ebenso, wie sein struppiger Kumpan, die größte Zurückhaltung; es ist ebenso wie jener gegen Liebkosungen vollständig unempfänglich. Den ganzen Tag liegt es schlaftrunken da und erhebt sich nur dann, wenn es Nahrung wittert oder mit Gewalt aufgerüttelt wird. Doch zur nächtlichen Stunde scheint in ihm die Sehnsucht nach der Freiheit und den heimischen Gefilden wach zu werden, dann ist es in steter Bewegung und scharrt und kratzt, als ob es gelte eine Termitenveste zu erobern.

Obwohl die geistigen Fähigkeiten des Erdferkels ungemein beschränkt sind, was auch aus den geringen Windungen seines Gehirns hervorgeht, so soll es in der Freiheit doch seinen Sprößlingen gegenüber eine rührende mütterliche Liebe offenbaren und sie eine geraume Zeit hindurch mit ganzer Hingebung pflegen und beschützen.

Paul Hirschfeld.




Deutsche Pioniere im Osten.

Eine culturhistorische Skizze von G. Nentwig.

Es ist eine alte Erfahrung im Völkerleben, ein unumstößliches Naturgesetz, daß überall da, wo zwei Völker innerhalb eines Landes sich mit einander vermischen, das Volk von höherer Cultur das untergeordnete mit sich verschmilzt. Still und langsam, den Zeitgenossen kaum wahrnehmbar, vollziehen sich derartige Wandelungen, und erst die Geschichte von Jahrhunderten zeigt sie dem erstaunten Blicke des Beobachters oder Forschers.

Schauen wir sieben Jahrhunderte zurück, so finden wir das Land östlich der Elbe noch in den Händen der Slaven und erfahren zugleich, daß in jener Zeit die ersten Versuche gemacht wurden, Deutsche als Pioniere der Cultur, der Intelligenz und des Gewerbefleißes an der Oder (und später auch an der Weichsel) anzusiedeln. Denken wir nur an den Bienenfleiß des einst so großen und mächtigen Ritterordens, welcher mit zäher Ausdauer jene weitgedehnten Gebiete an der Ostsee germanisirte und dort deutsche Sitte, deutsche Cultur und deutsches Recht einführte!

Schlesien war um das Jahr 1200 noch eine Provinz des mächtigen Königreichs Polen, und seine Bevölkerung bestand überwiegend aus Slaven. Erst im dreizehnten Jahrhundert traten deutsche Colonisten in das so reich gesegnete Land ein.

Durch diese deutschen Colonien kam germanisches Blut und germanische Cultur in’s Land, und gingen auch viele derselben in den Jahrhunderte langen Kämpfen um den Besitz Schlesiens wieder unter oder nahmen ihre Bewohner slavisches Wesen und die sogenannte wasserpolnische Sprache an, welche ein Gemisch des polnischen Idioms mit deutschen Anklängen ist, so hielt doch im Großen und Ganzen diese Kraft sich aufrecht und drängte das slavische Element unaufhaltsam zurück. Als Beweis dafür sei nur die interessante Thatsache angeführt, daß in denjenigen Kreisen Ober- und Mittelschlesiens, welche die Grenze der slavischen Districte bilden, die Großeltern vieler Familien nur der polnischen Sprache mächtig sind, während die Enkel nur noch deutsch sprechen. –

Heutigen Tages wird ungefähr der fünfte Theil der Bevölkerung Schlesiens (circa 20 Procent) aus Polen gebildet, und zwar ist es der Regierungsbezirk Oppeln, also Oberschlesien hauptsächlich, wo sie auf dem platten Lande überwiegen. So machen sie, rund 750,000 Seelen zählend, im Osten der Oder reichlich drei Viertel der Bevölkerung aus und bilden fast ausschließlich die Landbevölkerung. Hier in den Kreisen Oppeln, Groß-Strehlitz, Lublinitz, Beuthen, Pleß, Rybnik, Gleiwitz etc., sehen wir denn auch an den viel niederen Erträgen des Landbaues den Unterschied zwischen slavischen Gewohnheiten und deutschem Fleiße hervortreten.

Die Lage des polnischen Landmanns war bis zur Emancipation desselben – der Aufhebung der Leibeigenschaft und später[WS 1] des Robothdienstes – materiell wie rechtlich äußerst kläglich: die slavischen Bauern waren Leibeigene des Grundherrn und bebauten den Acker des Adels und der Geistlichkeit, in deren Händen sich der gesammte Grundbesitz befand. Enorm waren die Anforderungen, die man an sie stellte, fast unerschwinglich, was sie an Naturalabgaben, an Wacht-, Spann- und Handdiensten etc. dem Gutsbesitzer und dem Landesherrn zu leisten hatten, wozu dann noch der Zehnte an den Clerus kam. Es blieb in der That dem Landmann nur das nackte, elendeste Dasein übrig – das tägliche Schwarzbrod mit saurer Milch bildete seine Hauptnahrung. – Geistig blieb er auf der niedrigsten Stufe der Civilisation stehen, und der katholische Clerus sorgt hier auch heutigen Tages noch für die Verwirklichung der alten Maxime: „Selig sind die Einfältigen; denn nur sie – gehorchen mir.“

Die Leibeigenschaft wurde im Anfang dieses Jahrhunderts aufgehoben, und 1848 folgte die Aufhebung des Roboths. Der Bauer wur also nun endlich frei auf seiner Scholle. Jahrhunderte lange Knechtschaft aber, der gänzliche Mangel an Geistesbildung, die despotische Gewalt, welche der Clerus über den durchweg der katholischen Religion angehörenden polnischen Bauern sich zu erhalten verstand – all dies ließ den gemeinen Mann jener Gegenden den Werth der Freiheit nicht erkennen und hielt ihn in der physischen wie psychischen Versumpfung, die uns in diesen Bezirken so unverkennbar entgegeutritt.

Um gerecht zu sein, müssen wir freilich hinzufügen, daß die genannten Kreise denjenigen Theil Oberschlesiens auf der rechten Oderuferseite bilden, welcher den unfruchtbarsten Boden enthält: Sand, überwiegend Sand, und schweren, zähen, kalten Letteboden. Aber auch dort, wo der Boden dankbarer ist, wie in einzelnen Districten der Kreise Ratibor, Oppeln, Pleß und Gleiwitz – auch da verleugnen sich die genannten Uebel nicht; auch dort ist die landwirthschaftliche Cultur sehr zurückgeblieben.

Der Typus des oberschlesisch-polnischen Landmanns, der meist noch in der polnischen Nationaltracht einhergeht, ist ein charakteristischer, [831] aber im Allgemeinen unschöner, und nur selten sieht man unter den Männern und Frauen ein hübsches Gesicht. Ihren vorherrschenden Charakterzügen nach sind sie träge und gutmüthig, mit einem starken Beisatz von Verschlagenheit. Anerzogen ist ihnen eine sehr abergläubische Bigotterie, welche sie dermaßen unter dem Krummstabe der Geistlichkeit hält, daß der katholische Pfarrer unumschränkt die Gemüther des Volkes beherrscht.

Hierzu kommt leider bei Männern wie Frauen die unselige Trunksucht, welche sie physisch wie moralisch ruinirt. Auf das Nothdürftigste beschränkt der polnische Bauer seine Nahrung, und muß sie darauf beschränken, weil er sein Gut, seine Aecker nicht durch Arbeit zu verbessern sucht, sondern nur die notwendigste Bestellung des Bodens in althergebrachtem Schlendrian vornimmst; darum sind auch die Erträge seines Bodens auf ein Minimum beschränkt. Als Nahrung dienen ihm hauptsächlich Kartoffeln und „Shur“. Letzterer besteht aus Sauerteig, in welchen Speckstücke geworfen werben und der dann unter Wasserzuguß gekocht und gierig verschlungen wird. Gut zubereitet soll das Gericht nicht so übel munden, hier aber läßt die Zubereitung meistens an Sauberkeit zu wünschen übrig.

Es ist wahr, der Boden jener Gegenden ist nicht besonders ergiebig, aber seine Dürftigkeit steht in keinem Verhältniß zu der Armuth des polnischen Bauers. Wir haben in Deutschland, ja in Schlesien selbst schlechtere Ackerdistricte, wo dennoch mit Fleiß und zäher Ausdauer dem Boden die doppelte, ja vierfache Frucht abgerungen wird, als sie der Wasserpole auf seinem Acker erntet. Seit drei Jahrzehnten ist er freier Bauer auf seiner Scholle. Aber was wollen dreißig Jahre der Freiheit bedeuten im Vergleiche mit der Jahrhunderte hindurch fortgesetzten feudalen und priesterlichen Herrschaft, die dieses unglückliche Volk zur Thierheit herabgedrückt, um es desto bester knechten und ausbeuten zu können! Uebrigens hat sich der Segen der fortschreitenden Zeit trotz aller Bollwerke der Hierarchie auch hier nicht ganz verleugnet; denn trotz Allem ist im letzten Jahrzehnt vielfach ein Aufraffen des polnischen Bauers in Oberschlesien zu bemerken gewesen; Mancher fängt bereits an, den Werth des fleißigen Schaffens, der Ordnung und Cultur einzusehen. Es geschieht das überall, wo deutsche Belehrung und deutsches Beispiel ihren Einfluß üben. Aber neben der Priesterherrschaft steht diesen menschenfreundlichen Bestrebungen ein in Oberschlesien alteingesessenes Uebel im Wege: der schamloseste Wucher, durch welchen jahraus jahrein viele Bauern von ihren Höfen vertrieben werden. Gelegentlich der letzten Hungersnot in Oberschlesien ist das gewissenlose Treiben der dortigen Wucherer in erschreckender Weise aufgedeckt worden, und die Thatsachen sind so allgemein bekannt, daß wir auf dieselben wohl ausführlicher nicht einzugehen brauchen.

Zur richtigen Beurtheilung der Ursachen und Folgen der trostlosen Lage dieses Bauernstandes ist kaum etwas dienlicher als sich das Bild eines merkwürdigen und interessanten Gegensatzes zu vergegenwärtigen, der sich auf diesem traurigen Boden herausgebildet hat. Schreitet man eine halbe Stunde über die Industriestadt Gleiwitz hinaus, so leuchtet einem mitten aus dem Elend und Schmutz jener verkommenen Bevölkerung, aus der öden, von dem Rauch unzähliger Hüttenwerke geschwärzten Wüste Oberschlesiens, dieser Brutstätte wiederkehrender Hungerseuchen eine Oase entgegen, die sofort den Blick gefangen nimmt: ein großes, freundliches Dorf, Schönwald genannt.

Noch strenger abgeschlossen von den polnischen Nachbarn als der Sachsenstamm im fernen Siebenbürgen von der slavisch-romanischen und magyarischen Umgebung, hat diese deutsche Colonie Oberschlesiens sich seit dem Jahre 1223 bis heute nicht nur erhalten, sondern auch voll die deutsche Sitte und den deutschen Sinn bewahrt. Nur durch Fleiß und Strebsamkeit ist die einst winzige Ansiedelung zu einer der reichsten Gemeinden Schlesiens geworden, und wenn irgendwo, so hat sich aus diesem Fleckchen Erde die Culturkraft des deutschen Elementes unwiderruflich bewährt.

In den Bewohnern des Dorfes sehen wir noch in geschlossenem Beisammenleben die Nachkommen jener deutschen Colonisten, welche vor sechs und einem halben Jahrhundert durch den Herzog Kasimir von Oberschlesien in's Land gerufen wurden, um die Urwälder desselben urbar zu machen. Die Fremdlinge kamen meist aus den reich bevölkerten Niederungen Sachsens und aus Mitteldeutschland in das noch so unwirthliche polnische Land. So ließ sich eine Anzahl Familien aus Meißen im Jahre 1223 in dem Boyezow nieder, wie die ganze mit Urwald bedeckte Gegend von dem Flüßchen Birawka bis zur Klodnitz bei Gleiwitz hieß. Theuerung und Hungersnoth trieben zu jener Zeit die arme Landbevölkerung Niedersachsens ostwärts.

Nachdem diese fleißigen Ansiedler in kurzer Zeit große Strecken des schönen Waldes ausgerottet hatten, gründeten sie Colonien, von denen die älteste (um's Jahr 1200) Deutsch-Zernitz war, welche aber in späteren Zeiten sich mit polnischen Elementen vermischte und nach und nach polonisirte. Unsere Meißener Landsleute dagegen nannten ihre Colonie Schönwald, den Namen ihres neuen Heims der schönen Waldgegend entlehnend.

Später (1258) gründete sodann Herzog Wladislaus von Oppeln das Cisterzienserkloster Rauden um durch deutsche Mönche die deutschen Colonisten in ihrer Culturaufgabe zu unterstützen, und schenkte außerdem mit dem Boyczow dem Kloster auch die darin liegenden Ortschaften, wodurch auch Schönwald demselben unterthänig wurde.

Hierbei sei jedoch bemerkt, daß die deutschen Colonisten (gleich den Siebenbürger Sachsen) von den Herzogen Schlesiens mit deutschem (sogenanntem Magdeburger) Recht belehnt wurden, wonach sie freie Männer auf der ihnen verliehenen, von ihnen dem Urwalde abgerungenen Scholle blieben und dem Stifte Rauden nur den üblichen Zehnten und den Grundzins entrichteten.

Die polnischen Bauern damaliger Zeit standen unter der Gerichtsbarkeit der Castellane (Landesverwalter); der von ihnen bebaute Grund und Boden war, wie schon gesagt, Eigenthum des erbangesessenen Adels, dessen Leibeigene sie waren. Als solche lebten sie fast rechtlos und waren den Launen ihrer Feudalherren so gut wie schutzlos preisgegeben. Außer den Spann- und Handdiensten die sie dem Gutsbesitzer leisteten, mußten sie dessen Jagdmeute füttern (Hunde, Falken etc.), die Dienerschaft und Couriere der Gäste ihres Herrn, sowie der Landesfürsten auf deren Reisen bewirthen und unentgeltlich Vorspann leisten, Getreide für die Besatzung der landesherrlichen Burgen liefern und andere Frohndienste leisten.

Daß unter solchen Verhältnissen dem polnisch-schlesischen Bauer wenig oder in schlechten Erntejahren nichts von der Bestellung des Ackers übrig blieb, welcher ihm nicht einmal gehörte, ist ebenso erklärlich, wie daß er unter solchen Seitenverhältnissen leiblich und geistig verwahrlosen mußte.

Ganz anders die deutschen Freibauern und deren Colonien! Unter dem besonderen Schutze der Landesherren oder der hauptsächlichsten Culturträger jener Tage der geistlichen Ordensstifte, kamen sie sehr rasch empor. und so blühte auch unser Schönwald bald zu ansehnlicher Stattlichkeit heran. Das waren freilich besonders glückliche Umstände. Sie würden jedoch nicht ausgereicht hoben, den Ort beinahe sieben Jahrhunderte lang, trotz mannigfacher schwerer Heimsuchungen, auf seiner Höhe zu erhalten und sein Gedeihen zu fördern, wenn nicht die kernige Art des urdeutschen Charakters seiner Bewohner, ihr Festhalten an deutscher Art und die Fernhaltung des umgrenzenden polnischen Elements hinzugekommen wären.

Ganz Oberschlesien ist überwiegend römisch-katholisch, und dieser Kirche gehören auch die Schönwälder seit jeher an. Der Umstand, daß sie einem geistlichen Stifte dieser Kirche unterthänig waren und daß unstreitig dieses Cisterzienserstift Rauden sein Wohltäter, sein Schützer und sein geistiger und weltlicher Rathgeber jeder Zeit gewesen ist, mag die biederen Bauern abgehalten haben, zur Zeit der Reformation dem Beispiele ihrer stammverwandten Meißener zu folgen und lutherisch zu werden. Das Religionsbekenntniß ist aber fast das Einzige, was sie mit ihrer polnischen Umgebung gemeinsam haben In allem Anderen unterscheiden sie sich wesentlich, schon in ihrem Aeußeren auffallend, von den Wasserpolen. Sie haben die deutsche Sprache und Meißener Mundart beibehalten, welche allerdings durch den steten geschäftlichen Verkehr mit den Wasserpolen wesentliche Veränderungen erlitten hat und ein Gemisch von sächsischem Deutsch und schlesischem Polnisch geworden ist, für Fremde schwer verständlich. In der Gegend von Gleiwitz wird diese Sprache die „Schönwälder Mundart“ genannt.

Ebenso haben sie in ihrem ganzen Haus-, Familien- und Gemeindeleben, bei all ihren Festen und Feierlichkeiten die Sitten und Gebräuche ihrer ursprünglichen Heimath beibehalten und gleichen auch hierin, wie in fast allem Anderen, den Siebenbürger Sachsen. [832] Ihre Tracht ist bis heutigen Tages die altsächsische: die Männer gehen in kurzen Jacken, langen Tuchmänteln und niedrigen Filzhüten einher. Mäntel tragen sie natürlich nur zum Kirchgange, zu Festlichkeiten und bei Besuchen der Stadt dann aber selbst im heißesten Sommer. Frauen und Mädchen kleiden sich in kurzen blaue Röcke, welche bis zur halben Wade die rothen Strümpfe sichtbar lassen, über den Rock fällt eine lange Jacke, und große, schneeweiße Tücher, oft reich gestickt, hüllen Kopf und Schultern ein.

Nach dem Dreißigjährigen Kriege, welcher auch über jene Gegenden Verheerung und Noth brachte, verlegten sich die rührigen, arbeitsamen Schönwälder auf das Fuhrwesen, weil ihre Aecker wüst und brach lagen und der wieder aufblühende Handel dieses Geschäft sehr lucrativ machte. Sie dehnten ihre Touren östlich bis Kerms, Krakau, Warschau, Lemberg und bis nach Ungarn hinein, westlich bis Breslau, Frankfurt an der Oder und Sachsen aus. Einzelne Bauern hielten sich damals dreißig bis vierzig Pferde und verdienten viel Geld mit diesem Fuhrwesen. Dagegen ward in jener Periode die Landwirthschaft sehr vernachlässigt, welche erst später sich wieder hob.

Bis 1810 – dem Jahre der Aufhebung der Klöster in Preußen – blieb das Kloster Rauden der Grundherr des deutschen Dorfes, worauf dieses in den Besitz des Kurfürsten von Hessen-Kassel, darauf 1820 des Landgrafen von Hessen und endlich 1834 in den Besitz des Herzogs Victor von Ratibor gelangtes.

Wie groß die Zähl der ursprünglichen Ansiedler war, ist nicht mehr zu ersehen. Die älteste Urkunde aus dem Jahre 1534 weist neunundvierzig zinspflichtige Stellen auf. Auf den zum Klosterbesitz gehörenden zwei herrschaftlichen Vorwerken dienten in früherer Zeit nur polnisches Gesinde und polnische Tagelöhner, die aber vielfach als Colonisten der Gemeinde sich anschlossen und deutsches Wesen annahmen. Daher neben den überwiegend altdeutschen Namen der Bewohner die polnischen.

Der wachsende Wohlstand – gestattete auch den fleißigen Bauern, die Dominialländereien ihrer Gemeinde aufzukaufen, ebenso das benachbarte, am Ende des vorigen Jahrzehnts von seinem Besitzer dismembrirte große Rittergut Nieborowitz zum größten Theil zu erwerben. Die über fünfhundert Familien und nahezu dreitausend Seelen zählende Gemeinde besitzt also eine sehr große Feldmark, welche ohne jene Nieborowitzer Dominialäcker schon 1864 über neuntausend Magdeburger Morgen umfaßte und seitdem durch neue Ankäufe noch bedeutend gewachsen ist. Weder Staats- noch andere Hülfe hat zu diesem Aufblühen beigetragen. Aus eigener Kraft hat hier der aller Trägheit und Trunksucht abholde Fleiß des deutschen Bauern, umgeben von den schlimmsten Beispielen, ein Gemeinwesen geschaffen und erhalten, das schon äußerlich, schon in seinen Hofbauten den erquickenden Eindruck der Ordnung der Reinlichkeit, des Behagens und großen Wohlstandes macht. Die Schönwälder lieben es denn auch, bei festlichen Gelegenheiten den armen polnischen Nachbarorten ihren Reichthum zu zeigen. Mag ihnen dies hier und da einen gerechten Tadel zugezogen haben, so wird doch kein unbefangner Betrachter dieses großen und reichen Dorfes bestreiten, daß seine Bewohner eines der eclatantesten Beispiele von der Macht höherer Cultur, daß sie in Wahrheit „deutsche Pioniere im Osten Deutschlands“’ sind.




Der Zweifler.

Von Friedrich Bodenstedt.[1]

Ein Mann, der lange zu den gläubigst Frommen
Gehört, gerieth in zweifelndes Gewirre.
Des Grübelns Geist war über ihn gekommen;
Die Wunder machten ihn am Glauben irre.

5
In seiner Noth kam er zu einem Greise,

Der hoch im Ruf der Weisheit stand beim Volke
Und um sich zog lichthelle Lebenskreise,
Die nie verdunkelt eines Zweifels Wolke.

Der sprach: „Die größten Wunder, die ich kenne,

10
Steh’n nicht geschrieben und sind keine Sage;

Im Ei legt mir ein Wunder jede Henne;
In jedem Grashalm tritt mir eins zu Tage.

Hier duftet der Jasmin, dort der Hollunder;
Im Lichte tanzt der Mücken bunt Gewimmel;

15
Staub wirbelt auf, und Alles ist voll Wunder

Auf Erden, wie die Sterne dort am Himmel.

In diesem Steine schlummert noch das Leben –
Er ward aus Staub: mach’ ihn auf’s neu zu Staube,
Und Nahrung wird er jeder Blume geben

20
Im Felde und im Weinberg jeder Traube.


Wer gab der Rose Gluth und Duft zu eigen
Und des Gewebes wundervolle Feinheit?
Wer ließ aus schwarzer Erde Lilien steigen,
So weiß wie Schnee in ihrer heil’gen Reinheit?

25
Der Stein kann sich nicht über sich erheben;

An ihre Wurzeln bleibt gebannt die Pflanze –
Der Mensch nur kann im Geist zum Lichte streben,
Erkennt sein Blick im kleinsten Theil das Ganze.

Und du magst zweifelnd noch nach Wundern fragen?

30
Sie athmen aus des Lebens Kern und Wesen;

Das Buch der Welt liegt Jedem aufgeschlagen,
Doch Wen’ge nur versteh’n darin zu lesen.




Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments.

Von Dr. Kalthoff.


II.
Die Entstehung des Katholicismus.
Motto:

„Ich seh’s, der wunderbare Mutterschooß
Des menschlichen Gemüths ist nicht erschöpft.
Zerfällt in Staub die abgelebte Welt,
Das Menschenherz gebiert sie ewig neu.“

Rob. Hamerling, Ahasver in Rom.

Jenseits des Oceans giebt es noch Urwälder, die von der menschlichen Cultur bis jetzt nicht urbar gemacht worden sind. Wenn der Fuß des Wanderers in dieselben eindringen will, so muß er sich erst mit der Axt den Weg bahnen, den ihm Schlinggewächse und üppig wucherndes Gehölz zu versperren sucht. Bei dem Schlage der Axt wird unheimliches Gethier emporgescheucht, das den kühnen Eindringling ächzend und krächzend umschwärmt, um ihn in seinem Unterfangen zu stören.

In ähnlicher Lage, wie ein solcher Wanderer, befand sich die Theologie, als sie bei ihren Untersuchungen an die Evangelienschriften des Neuen Testaments gelangte. Ein undurchdringlich erscheinendes Gewirr von Sagen und Legenden, von traditionellen Vorurtheilen und dogmatischen Anschauungen trat ihr entgegen, verworrene Schlinggewächse, die jeden Durchblick hemmten. Da nahm die Wissenschaft ihre Axt, um sich den Weg durch diesen Urwald zu bahnen. Aber bei jedem Schlage krochen die Kirchenmänner aus ihren Schlupfwinkeln vor, schreiend und polternd, daß man sie in ihrer Ruhe störe. Indeß die Wissenschaft ließ sich nicht beirren. Sie ist unter unsäglichen Mühen in das Dickicht eingedrungen, und wenn dasselbe heute auch noch keineswegs vollständig gelichtet ist, so ist es doch möglich, ein wenigstens in den

[833]

Das Caldarium der Thermen des Caracalla in Rom.
Aus Dr. Rudolf Kleinpaul’s Prachtwerk:
„Rom, eine Schilderung der Ewigen Stadt und der Campagna“.

[834] Hauptzügen klar erkennbares Bild von der Entstehung der Evangelien zu gewinnen.

Ein wissenschaftliches Verständniß der neutestamentlichen Evangelienliteratur war schlechterdings unmöglich, so lange man annahm, daß alle im neutestamentlichen Canon enthaltenen vier Schriften unter sich wesentlich eins wären, und sie dementsprechend nach ein und demselben Maßstabe behandelte. Erst als man zu der Ueberzeugung kam, daß die vierte, nach Johannes benannte Evangelienschrift durchaus von den drei ersten abgesondert und für sich behandelt werden müsse, war der entscheidende Schritt zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Evangelienfrage geschehen. Man entdeckte, daß, während die drei ersten, nach Matthäus. Marcus und Lucas benannten Schriften, ihrer Eigentümlichkeiten unbeschadet, in wesentlichen Punkten übereinstimmen, zwischen diesen dreien und der vierten die bedeutendsten Differenzen vorwalten. Die drei ersten, wegen ihrer Uebereinstimmung mit dem technischen Namen der „Synoptiker“ bezeichneten Schriften verlegen die Hauptthätigkeit Jesu nach Galiläa und lassen ihn erst kurz vor seinem Tode, bei der Reise zum letzten Passah, nach Jerusalem kommen. Er ist bis zu diesem Zeitpunkt in Jerusalem fast unbekannt; denn bei seinem Einzuge in die Stadt fragt die erstaunte Menge: „Wer ist denn dieser?“ und die Reisegefährten Jesu geben erst über ihn nähere Auskunft. Nach dem vierten Evangelium dagegen fällt die Hauptwirksamkeit Jesu in die Hauptstadt und ihre nächste Umgebung, wo er die unglaublichsten Wunderthaten verrichtet haben soll, also unmöglich unbekannt geblieben sein könnte. Auch ist das Christus-Bild, das der vierte Evangelist uns zeichnet, ein wesentlich anderes, als das der drei ersten.

Bei diesen beginnt Jesus mit der Predigt vom Gottesreiche. Seine Person tritt in den Hintergrund, und nur gegen das Ende seines Lebens berührt Jesus auch die Frage nach der messianischen Bedeutung seiner Person. Bei jenem dagegen ist die Messianität Jesu der Ausgangspunkt. Die Gleichnißrede ist völlig verschwunden und hat den Reden über die höhere Würde Jesu Platz gemacht. Am eclatantesten ist aber die Verschiedenheit in der Angabe des Datums, an dem Jesus gestorben sein soll. Bei den Synoptikern hat Jesus am 14. Nisan, am eigentlichen Passahfeste, das Nachtmahl gefeiert; der 15. ist sein Todestag. Nach dem vierten Evangelisten hat er überhaupt das Passah nicht mehr mitgefeiert. Er ist am Tage vorher mit seinen Jüngern zusammen gewesen und am 14. Nisan gekreuzigt worden. Diese Differenz, die auch in den Kämpfen der Kirche zu Tage tritt, läßt sich nicht mehr mit der wohlfeilen Auskunft gegenseitiger Ergänzung abfertigen; sie verlangt eine klare Entscheidung für die eine oder die andere Angabe. Unter dem Einflusse der Schleiermacher’schen Gefühlstheologie entschied man sich eine Zeitlang für das vierte Evangelium mit seinem mystischen Christus-Bilde. Ja es gehörte in den Kreisen der Schleiermacher’schen Schule zum guten Tone, auf die drei ersten Evangelien, die doch im Wesentlichen nur einen einfachen galiläischen Rabbi zeichnen, mit einem gewissen Gefühl der Geringschätzung hernieder zu blicken. Die neuere Kritik der Tübinger Schule kehrte indeß das Verhältniß um, und es gehört jetzt zu den sichersten Ergebnissen der theologischen Wissenschaft, daß, wenn es überhaupt gelingen soll, die historische Grundlage des Lebens Jesu zu erforschen, dies nur mit Hülfe der drei ersten Evangelien und durch ein Beiseitelassen des vierten möglich wird. Die Synoptiker sind jedenfalls die ursprünglicheren Schriften, und es kommt darauf an, auch sie einer kritischen Behandlung zu unterwerfen.

Die kritische Hauptfrage in Betreff der drei ersten Evangelien ist nun die, wie sowohl die zwischen ihnen bestehende Verwandtschaft wie auch die vorhandene Verschiedenheit erklärt werden könne. Beides, Verwandtschaft und Verschiedenheit, ist hier tatsächlich in auffallender, wohl kaum zum zweiten Male in der Geschichte auftretender Weise vorhanden. Oft scheint es, als habe ein Evangelist den andern einfach copirt; dann kommen plötzlich wieder Differenzen zum Vorschein, die eine solche Annahme geradezu ausschließen So haben die drei ersten Evangelien mit den Gelehrten geradezu ein neckisches Spiel getrieben.

Es würde den Leser ermüden, wenn auch nur im Allgemeinen der Gang dieser Untersuchungen angedeutet werden sollte. Was überhaupt an Hypothesen geleistet werden konnte, ist auch auf diesem Gebiete geleistet worden, bald genial und kühn, bald kleinlich und pedantisch, ohne daß aber bis jetzt das Problem selber zu einer allgemein anerkannten Lösung gekommen wäre. Nachdem sich indeß die Hypothesenfluth seit einiger Zeit etwas verlaufen hab haben sich die Forschungen soweit geklärt, daß man als sicheres Ergebniß derselben das Eine betrachten kann: daß wir in keinem einzigen unserer Evangelien eine wirklich ursprüngliche Schrift von einem Apostel oder einem directen Apostelschüler besitzen. In der uns überlieferten Redaction kann keine der drei Evangelienschriften vor dem Jahre 70, dem Jahre der Zerstörung von Jerusalem, verfaßt worden sein, da sich in allen dreien Stellen finden, welche die Zerstörung Jerusalems schon als geschehen voraussetzen. Wahrscheinlich ist die zweite, nach Marcus benannte, die älteste, jedenfalls aber die dritte, nach Lucas benannte, die jüngste unserer neutestamentlichen Evangelienschriften. Das dritte Evangelium giebt in seiner Einleitung selbst an, daß zur Zeit der Abfassung desselben schon zahlreiche anderweitige Evangelienbearbeitungen vorhanden waren, und unverkennbar ist, daß in dem dritten Evangelium die beiden andern benutzt worden sind. Das Ende des ersten und der Anfang des zweiten Jahrhunderts ist demnach als die Zeit anzusehen, in welcher die Evangelienliteratur zu ihrem canonischen Abschluß gekommen ist.

Daneben steht aber auch das Andere fest, daß doch jede dieser drei Evangelienschriften alte historische Quellen, wenn auch mit mehrfacher Ueberarbeitung, enthält. Als Quelle gilt in erster Linie das alte, von Papias erwähnte hebräische Original des Matthäus. Außerdem wird aber wahrscheinlich noch eine zweite, auf Marcus, den Schüler des Petrus, zurückzuführende und ebenfalls von Papias erwähnt Quellenschrift in Betracht kommen.

Wenn durch die Grundlage gemeinsamer Quellen die zwischen den drei Evangelien bestehende Aehnlichkeit ihre Erklärung findet, so entsteht nun aber die weitere Frage: woher denn die Verschiedenheit komme? Die Antwort hierauf ist die, daß die einzelnen Bearbeiter in ihren Arbeiten bestimmt Tendenzen verfolgten, und daß diese Tendenzen die Art und Weise der Bearbeitung beeinflußt haben.

Zwei unvermittelte und schroffe Gegensätze waren am Ausgange des apostolischen Zeitalters zu verzeichnen gewesen: die heiden-christliche, in den Paulus-Briefen vertretene Auffassung des Christenthums, und die juden-christliche, in der Offenbarung des Johannes vertretene Auffassung. Jemehr aber der Gedanke einer katholischen, das heißt allgemeinen, alle Gegensätze aus ihrem Schooße austilgenden Kirche sich zu entwickeln begann, desto mehr mußte vor allen Dingen jener fundamentale Gegensatz, der die ältesten Gemeinden geradezu in zwei Heerlager spaltete, beseitigt werden. Die ursprünglichsten Producte dieser katholisirenden Thätigkeit der Kirche haben wir nun in unseren Evangelien vor uns. Die Quellenschriften des Lebens Jesu waren ursprünglich ein neutrales Gebiet. Sie enthielten einfache, soweit wie möglich objective Erzählungen und Berichte. Dieses Gebiet suchte jede der feindlichen Partien für sich zu erobern. Man legt, je nach der eigenen Parteirichtung, Jesu Worte in den Mund, die eine Autorität für die Partei-Anschauung zu werden geeignet schienen; man änderte die historischen Berichte in demselben Interesse um oder entfernte auch einfach solche Worte, die den Parteigrundsätzen widersprachen. Unsere Evangelien sind indeß keine ersten Ueberarbeitungen der Quellen mehr, sondern erweisen sich als zweite oder gar dritte Redactionen. Es tritt in ihnen eben nicht mehr die reine Parteitendenz, sondern schon die der Parteitendenz mehr oder weniger die Spitze abbrechende katholisirende Richtung der Kirche zu Tage. Das zweite Evangelium neigt noch entschieden dem Juden-Christenthume zu; es giebt dem Petrus eine hervorragende Stellung unter den Jüngern; es hebt mit Nachdruck die Lehre von der Einheit Gottes, diese Grundlehre des Mosaismus, hervor; es sieht in dem heidnischen Gebiet den Wohnort der Dämonen und läßt Jesum einen geheilten Heiden aus seinem Gefolge wegweisen. Andererseits ist die auf craß judaistischem Boden entstandene Erzählung, daß Jesus die Heiden mit den Hunden verglichen haben soll, denen man das für die Kinder, die Juden, bestimmt Brod nicht vorwerfen dürfte, schon durch die Auffassung gemildert, daß die Kinder nur den Vorzug hätten, vor den Heiden bedacht zu werden. Es tadelt den Johannes, der einem Menschen den Exorcismus im Namen Jesu verbieten will, weil derselbe nicht direct zu ihrer Schaar gehöre, und es läßt Jesum seine Jünger direct ermahnen, sie sollen Frieden mit einander haben.

Die seltsamste Erscheinung dieser altkatholischen Literaturerzeugnisse bleibt das nach Matthäus benannte Evangelium, die Schrift mit dem Janus-Kopf, dessen eines Gesicht, wie ein neuerer [835] Theologe sich ausdrückt, in das Griechische, das andere in das Semitische zurückweist. Dieses Evangelium birgt die engherzigsten und weitherzigsten, die großartigsten und kleinlichsten Aussprüche in sich. Kein Buchstabe, kein Häkchen vom Gesetz soll vergehen, und wer, so wird mit offenbarer Beziehung auf Paulus hinzugefügt, eins von den kleinsten Geboten auflöst und die Leute also lehrt, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich. Im Gegensatz hierzu berichtet dasselbe Evangelium, daß Jesus seine Jünger, die das Sabbathgebot übertreten hatten, in Schutz nimmt und fordert, daß der neue Wein nicht in die alten Schläuche gefüllt werbe. Petrus wird im ersten Evangelium als der Felsen bezeichnet, auf den die Gemeinde gebaut werden soll, als der, der die Schlüssel zum Himmelreich hat, daß er binden und lösen könne für Himmel und Erde. Und doch berichtet gerade dieses Evangelium die schwächste Stunde des Petrus, die von den Paulinern mit besonderer Vorliebe mag hervorgehoben worden sein, die Stunde der Verleugnung, mit besonderer Ausführlichkeit. Mit echt rabbinischer Spitzfindigkeit wird aus zufälligen oder künstlichen Anklängen an alttestamentliche Worte die Erfüllung prophetischer Weissagungen gefolgert, und doch ist das Gesammtbild, das hier von Jesus entworfen wird, von imponirender Größe.

Am weitesten nach links steht das nach Lucas benannte Evangelium. Die Rolle, die in den beiden anderen Schriften dem Heidenthum zugewiesen wurde, fällt hier dem Judenthum zu. Jerusalem ist die prophetenmörderische Stadt. Das Christenthum hat von Hause aus die Bestimmung, über die Grenzen des Judenthums hinauszugehen. Dem Verlorenen wendet sich ganz besonders die Liebe zu, wenn auch der tugendstolze Pharisäer gerade aus den ihm nicht ebenbürtigen Heiden herniederblickt. Das dritte Evangelium enthält deshalb die universellsten und großartigsten Züge. Es hat uns die beiden Perlen unter den christlichen Gleichnissen überliefert, das vom barmherzigen Samariter, diesen Triumph der reinsten, über alle Schranken der Nationen und Confessionen hinübergreifenden Menschenliebe, und das vom verlorenen Sohn, den Triumph der den Menschen nur nach der Kraft seiner Sehnsucht schätzenden Gottesliebe.

Doch ist auch dieses den Pauliner so deutlich verrathende Evangelium keineswegs radical. Es hat ebenfalls die Stelle aufgenommen, welche die unbedingte Gültigkeit des Gesetzes, ja jedes Buchstabens in demselben, beansprucht. Es hält es ausdrücklich für nothwendig, zu erzählen, daß die Eltern Jesu alles an ihm gethan hätten, was im Gesetze vorgeschrieben sei. Das ist eben das Charakteristische dieses Katholicismus, welches auch schon bei den canonischen Evangelien bemerkbar wird, daß derselbe nicht Gegensätze wahrhaft vermittelt und in die höhere Einheit abhebt, sondern daß er die Gegensätze einfach durch kirchliches Decret zusammenwirft und es nun den Menschen überläßt, das Widersprechendste zusammenzudenken. Wer nicht darüber orientirt ist, wie diese ganz entgegengesetzten Anschauungsweisen, die sich in unsern Evangelien finden, in dieselben hineingekommen sind, muß nothwendig, sobald er denkend liest, bei der Lectüre dieser Schriften in Verwirrung gerathen.

Der katholisirende Charakter unserer Evangelien tritt auch nach einer anderen Seite hin deutlich hervor. Bei aller Verschiedenheit hatten die beiden ursprünglichen christlichen Richtungen doch etwas Gemeinsames in dem Glauben an die Verherrlichung Jesu. Dieser Glaube war nicht eine aus rein geistiger und sittlicher Grundlage erwachsene liebevolle Verehrung und Werthschätzung der Charaktergröße Jesu, sondern die durch das Medium der Christus-Visionen und des Auferstehungsglaubens vermittelte sinnliche Vorstellung eines persönlich zur Rechten Gottes erhöhten und im Lichtglanze himmlischer Majestät thronenden Messias. Es konnte nicht ausbleiben, daß dieser überirdische Glorienschein seine Strahlen auch auf die geschichtliche Erscheinung Jesu zurückwarf; denn auch hier lag es im Charakter des werdenden Katholicismus, beides, das historische Lebensbild und das in der Vorstellungsweise der Gemeinde lebende Messiasbild, in Eines zu verschmelzen. So erhielt das Lebensbild Jesu auch in den neutestamentlichen Evangelien jenen katholischen Heiligenschein des Wunderthäters, jene starren Züge des Himmelskönigs und des Weltenrichters, der, ganz wie in der Denkweise des Apokalyptikers, wiederkommen wird, um seine Feinde an den Ort der ewigen Qual zu senden.

Kopfschüttelnd stehst der moderne Mensch gerade vor diesen Zügen der neustestamentlichen Ueberlieferung. Sie verderben ihm den Geschmack auch an dem, was ihn sonst anziehen und erwärmen würde. Wir müssen eben bedenken, daß hier die in sinnlichen Bildern sich bewegende religiöse Vorstellungsweise der ältesten christlichen Gemeinden in die Evangelien selber hineingetragen ist. Jener überirdische Glorienschein, der in den canonischen Evangelien das Haupt des Nazarethanischen Zimmermannssohnes schmückt, ist nichts als der Ehrenkranz, den die glühende Verehrung der ersten Christen ihrem Meister geflochten. Die einzelnen Blätter dieses Kranzes sind verwelkt. Wir suchen die Hoheit des Menschen, auch des Menschen, der sich am liebsten des Menschen Sohn nannte, nicht in Mirakeln und im katholischen Heiligenschein, sondern in der Fülle sittlicher Ideen und großer, weltbewegender Gedanken, die sein Geist umfaßte. Aber auch die verwelkten Blätter sind werthvolle historische Denkmäler, wenn auch nicht vom Leben Jesu, so doch von der Denkweise der ersten Christen, von einer religiös mächtig erregten Zeit von stürmisch wogender Begeisterung.

Es kann uns nun nicht mehr Wunder nehmen, daß unsere Evangelien auch in den Berichten über die Geburt und Abstammung Jesu Widersprechendes zusammenstellen. Jesus erscheint durch die aufgeführten Stammbäume als Sohn Joseph’s und der Maria, durch die eingefügten Kindheitslegenden und Vorgeschichten lediglich als Sohn der Maria. Die Quellenschrift hat von einer Geburt aus der Jungfrau nichts gewußt, und die ältesten Christen, unter ihnen noch Paulus, kannten Jesum nur als Abkömmling des Davidischen Geschlechts, und die Spuren dieser Ueberlieferung finden sich auch noch mehrfach in unseren Evangelien. Je mehr aber Jesus dadurch vollständig auf dem Boden des Judenthums verblieb, desto mehr mußte die antijudaistische Partei diese Tradition umbilden, um Jesum auch schon durch seine Abstammung dem Rahmen des Judenthums zu entreißen. Unsere Synoptiker erweisen sich aber dadurch als Erzeugnisse des erst werdenden Katholicismus, daß sie noch beiden kirchlichen Richtungen Rechnung tragen

Werfen wir nun noch einen flüchtigen Blick auf zwei interessante Schriften, die ebenfalls deutlichen Spuren des Kampfes der Parteien an sich tragen gleichzeitig aber, ganz wie die drei ersten Evangelien, schon über die Zeit der schroffen Gegensätze hinausweisen! Zuerst ist da der Hebräerbrief, eine Schrift, die lange Zeit irrtümlicher Weise dem Paulus zugeschrieben wurde, während heute kaum noch ein Mensch die paulinische Abfassung des Briefes zu behaupten wagt. Die Schrift vertritt ohne Zweifel die Richtung des Paulinismus, versucht aber, wie schon der Name erkennen läßt, diese Richtung auch der Partei der Hebräer annehmbar zu machen. Paulus hatte im Römerbrief denselben Versuch gemacht. Aber die Rolle, die er von seinem extremen Standpunkte aus dem jüdischen Gesetze zuertheilt hatte, daß dasselbe nämlich gegeben sei, um die Sünde hervorzurufen und dem Menschen zum Tode zu gereichen, konnte wenig versöhnend auf die Anhänger der Gesetzesreligion wirken.

Der Verfasser des Hebräerbriefes schlägt dagegen den Weg ein, daß er eine innere Einheit zwischen den Institutionen des mosaischer Cultus und dem Christenthum nachzuweisen sucht. Die Ersteren sind typische, sinnbildliche Hinweisungen auf das Letztere. Sie stehen zum Christentum nicht in einander abschließendem Gegensatz, sondern verhalten sich zu ihm wie das Unvollkommene zu dem Vollkommenen.

Eine ganz anders geartete Schrift ist der dem Jacobus zugeschriebene Brief. Er will durchaus antipaulinisch sein; er erhebt directen Protest gegen die Hauptlehre des Paulus, daß der Mensch ohne Berücksichtigung des Gesetzes lediglich durch seinen Glauben gerecht werde, und behauptet dafür geradezu, der Mensch werde nicht durch den Glauben, sondern durch seine Werke gerecht. Aber der Einfluß der Richtung, die der Brief bekämpfen will, auf den Brief selber ist doch unverkennbar. Das Gesetz wird ja als das Gesetz der Freiheit bezeichnet. Gemeint ist also nicht mehr der Buchstabe, sondern der in den freien, selbstbewußten Willen des Menschen abgenommene Geist des Gesetzes. Damit aber berührt der Jacobus-Brief deutlich den paulinischen Gedankenkreis.

Wir sehen also, wie da, wo die traditionelle Orthodoxie nichts als die starre Einförmigkeit unfehlbarer Glaubensregeln erblickt, in Wirklichkeit ein reiches geschichtliches Leben, ein mächtiges Kämpfen und Ringen der Geister vorhanden ist.

Welchen vorläufigen Abschluß dieser Kampf im Neuen Testament genommen hat, werden wir nun noch in einem weiteren und letzten Artikel sehen.



[836]

Gutenberg und Fust.

Von Arthur Kleinschmidt.

„Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ rief die ungläubige Mitwelt so manchem großen Reformator höhnend in’s Antlitz, wenn er die strahlende Fackel erhob, um in die Nacht des Vorurtheils und der Unwissenheit das Licht der Erkenntniß zu tragen. „Woher sollten ihm diese Weisheit und Thaten kommen?“ Wohl jeder der großen Pionniere der Menschheit hat es empfinden und durchkosten müssen, daß die schwerste Arbeit nicht die sei, in schlaflosen Nächten und mühevollen Tagen neue Forschungen zu machen und Entdeckungen in’s Leben zu rufen, sondern vielmehr diejenige, diesen Entdeckungen Anerkennung zu gewinnen und die Zeitgenossen zu überzeugen, daß kein wertloses Glas, sondern ein Diamant vor ihnen liege. Gerungen und gelitten haben alle bahnbrechenden Geister, bis endlich der Zweifel gleich dichten Schuppen von den Augen ihrer Mitmenschen fiel und ihr Sieg, in schwerem Kampfe erstritten, darum ein doppelt köstlicher ward.

Einer dieser Edelsten und Ersten der Nation, der viel gekämpft und gelitten, war gewiß Johann (Jenne) Gensfleisch, genannt Gutenberg, der Sprosse eines alten Mainzer Geschlechts.

Mit den Seinen aus politischen Gründen nach Straßburg ausgewandert, arbeitete der 1397 geborene fleißige Mann im Kloster St. Arbogast seit etwa 1424 als Schleifer halbedler Schmucksteine, erwarb sich hierin große Fertigkeit, übte auch den Stanzendruck mit heißen Eisen, beschäftigte sich mit Goldschmiedekunst und suchte im Schmelztiegel Gold zu gewinnen; auch umkleidete er Spiegel mit einer Einfassung von Goldblech und goß sie voll mit geschmolzenem Blei. Er erlangte durch diese vielseitigen Fertigkeiten Ansehen in Straßburg, und durch die Metallarbeiten wurde er mit der Zeit auf die Typographie hingeführt.

Besonders emsig wurde seit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts die Briefmalerei betrieben, und hiermit war die Anregung zur Typographie geboten, weshalb man auch die Briefmaler die Vorläufer der Buchdruckerkunst genannt hat. Der Holzdruck fand bei den Briefmalern auch für kleine Schulbücher, Kalender und Beichtspiegel Anwendung, aber wie umständlich mußte es sein, für jedes Blatt jeden Buches eine besondere zu sonst nichts taugliche Form nötig zu haben! Niemand erkannte diese Schäden besser als Gutenberg, und unermüdlich sann er nach, wie es gelingen möchte, bewegliche Metalltypen, gegossene Lettern zu erfinden.

Seit 1444 nicht mehr in Straßburg, erscheint er im October 1448 wieder in seiner Vaterstadt, und hier erblickte auch das Kind seiner seiner Arbeit, die unsterbliche That seines Lebens, das Licht der Welt. Anfänglich argwöhnisch und abweisend angesehen, brach sie sich doch rasch Bahn, und schon das fünfzehnte Jahrhundert ehrte sie mit den Bezeichnungen „der subtilsten Kunst, der Kunst der Künste, der Wissenschaft der Wissenschaften, der heiligen und göttlichen Kunst“; Gutenberg selbst nannte sie „ein außerordentliches Gnadengeschenk Gottes“. Er goß die Typen nach einem bestimmten Größenverhältnisse und in beliebiger Zahl, sodaß sie jeder Zeit verwendbar waren; war einmal die Form geschnitten, so ließen sich völlig gleiche Abzüge in Masse daraus gewinnen. Der große Wurf war dem dreiundfünfzigjährigen Manne gelungen, aber es fehlte ihm an Geld, eine typographische Werkstätte zu errichten.

Sein böser Stern führte ihn mit Johann Fust, einem feinen Wucherer, zusammen, der irrtümlich mit dem Faust der Sage zusammengeworfen wurde. Fust war der Bruder eines Mainzer Goldschmiedes und nachmaligen Bürgermeisters, ein angesehener und wohlhabender Sohn der „goldenen“ Stadt. Ihm, dem genauen Rechner und Finanzkünstler, gegenüber, war ein Mann von der künstlerisch unpraktischen Natur Gutenberg’s von vornherein verloren. Schauen wir auf unser Bild, welches uns Fust bei Gutenberg zum Besuch zeigt, so treten uns die beiden Charaktere in ihrer absoluten Verschiedenheit greifbar vor Augen. Hier sitzt schmunzelnd und reicher Beute lüstern entgegen blickend im behaglichen Sessel der behäbige Fust; das kahle, breite Haupt wendet er seelenvergnügt dem ersten Druckbogen zu, den Gutenberg ihm vorgelegt hat; etwas Faunisches lagert in seinen Zügen; der Mund zeigt den Genußmenschen, aber fest haften die wohlgepflegten Hände an dem kostbaren Schatze, den sie halten.

Und dort steht, hager und bleich, hochaufgerichtet, der Erfinder der neuen Kunst; in seinen kummervollen Mienen spiegelt sich all der Harm und Gram des Daseins wieder; diese Wangen sind eingesunken, nicht im Genusse des – Sinnenrausches und in durchzechten Nächten, sondern im harten Frohndienste der Arbeit, im aufreibenden Forschen nach der neuen Wissenschaft, auf dessen Resultat unverwandt das geistvolle Auge des Denkers ruht; seine Hand spielt mit den Matrizen, die sie schuf. Als liebliches Mittelbild zwischen den Beiden hat der Künstler Fust’s Tochter, Dyna (Christine), die nachmalige Frau Schöffer’s, gezeichnet; voll Interesse an der neuen Erfindung, und nicht wie der Vater aus berechnenden Motiven, betrachtet die geschmeidige Jungfrau, der Stolz des Alten, das Werk Gutenberg’s; über den Sessel gebeugt, schaut sie in das Papier in des Vaters Hand.

Fust lieh Gutenberg, mit dem er am 22. August 1450 einen Gesellschaftsvertrag schloß, zur Herstellung der zum Druckverfahren nöthigen Werkzeuge 800 Gulden in Gold zu sechs Procent Zinsen und verpflichtete sich, ihm außerdem jährlich 300 Gulden zu den Vetriebskosten der Druckerei vorzustrecken; letztere sollte dagegen dem klugen Fust mit allem, was darin, als Pfand für die 800 Gulden dienen, und den Bücherdruck hatte Gutenberg zu gemeinschaftlichem Vortheile zu besorgen. Für den Fall, daß sie nicht einig blieben, sollte Gutenberg die 800 Gulden herauszahlen und Fust ihm die Werkzeuge etc. belassen. Gutenberg arbeitete mit verdoppeltem Eifer, sah sich aber finanziell stets gehemmt. Fust, der auf den Löwenanteil speculirte, gab ihm aber die ausbedungenen 800 Gulden nicht auf einmal und gar kein Betriebscapital, sondern brachte ihn zu einem zweiten Vertrage vom 8. December 1452, in welchem er ihm als Abfindungssumme für die Jahresbeiträge ein Pauschquantum von wieder 800 Gulden überwies. Der eigennützige Mann sah voraus, daß er auf sicheren Gewinn hoffen dürfe, indessen Gutenberg für ihn rastlos schaffte.

Die Druckerei war nun vollständig eingerichtet, und im Jahre 1452 begann der Druck der sechsunddreißigzeiligen lateinischen Bibel, der Biblia latina vulgata, die 1455 mit dem zweiten Foliobande abschloß. So war nach unsäglichen Mühen das Erstlingswerk der Typographie erschienen und erregte, obgleich der Letternguß noch kein vollkommener genannt werden konnte, großes Aufsehen. Schöner war die berühmte Zweiundvierzigzeilige lateinische Bibel in zwei Foliobänden von 324 und 317 Blättern, welche in kleinen sogenannten Missaltypen 1453 bis 1455 gedeckt wurde. Wahrscheinlich auf den Rath des schlauen Fust wurden weder Jahr noch Druckort noch Drucker angegeben, weil die Bibel zu dem hohen Preise, den handschriftliche Exemplare erzielten, verkauft werden solle; nur sehr wenige Papierexemplare derselben existiren heute, und noch seltener sind Pergamentexemplare, deren eines 1873 in England für 22,700 Thaler verkauft wurde. Aber es war Gutenberg nicht beschieden, sich seines Erfolges zu erfreuen und Gewinn zu erzielen; denn der habsüchtige Fust kam ihm zuvor. Während Gutenberg nicht an den Fall der Rückzahlung des Darlehns dachte und in Erwartung reicher Ernte Fust keine Zinsen zahlte, erkannte dieser den hohen Werth, der in seiner Werkstätte und in seinen Werkzeugen lag, auf die Gutenberg Alles verwendet hatte, und kaum war die zweite Bibel fertig, so hielt er sich am todten Buchstaben und trat im October 1455 als Kläger gegen Gutenberg auf. Er forderte von ihm zwei Capitalien von je 800 Gulden mit 480 Gulden Zinsen und 88 Gulden Zinseszinsen, Alles in Allem 2066 Gulden. So sollte also Gutenberg ihm Zins und Zinseszins von allen Auslagen, selbst vom verringerten Betriebscapitale, zahlen, ihm seine Erfindung zubringen, für ihn arbeiten und ihm den gleichen Anteil am Gewinne überlassen. So himmelschreiend unrecht dies auch war, und obgleich das Mainzer Recht auf das Strengste Darlehn zu sechs Procent und die Annahme von Zinseszins verbot, entschied das Gericht, da Fust’s Familie großes Ansehen in Mainz genoß, zu seinen Gunsten. Gutenberg sollte Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben ablegen; die Bücher sollten zu gemeinsamem Nutzen verkauft werden; ergäbe sich, daß Gutenberg mehr Geld empfangen als ausgegeben, so müßte er das Geld an Fast auszahle. Fust wurde der Schwur darüber auferlegt, daß er das Geld selbst gegen Zins aufgenommen und nicht aus seinem Vermöge gegeben habe; falls er diesen Eid [837]

Gutenberg zeigt seinem Freunde Fust die ersten Druckbogen.
Originalzeichnung von Leo Reiffenstein in Wien.


leisten konnte, mußte ihm Gutenberg auch Zinseszinsen zahlen. Fust besann sich nicht lange und beschwor am 6. November 1455 im großen Refectorium des Barfüßerklosters seine Forderungen, und aus seinen Wunsch nahm ein Notar den Urtheilsspruch urkundlich auf. Vergebens bestritt Gutenberg denselben; Fust’s Zweck war erreicht; sein bisheriger Partner konnte nicht zahlen, und so fielen Ende 1455 die Druckerpresse, alle Werkzeuge, Pergament- und Papiervorräthe und die gedruckten Bogen der Bibeln dem Kläger zu. Gutenberg war ärmer denn je; er hatte Alles verloren, nur nicht das Vertrauen zu seiner Kunst.

[838] Ein Schüler Gutenberg’s, Peter Schöffer aus Gernsheim, der lange in Paris als Bücherabschreiber gelebt hatte und ein tüchtiger Kopf war, wurde von Fust herangezogen; Beide errichteten eine eigene Officin und waren emsig bemüht, Gutenberg zu überflügeln. In der That gelang es Schöffer, die neue Kunst erheblich zu verbessern; anstatt die Matrizen zu gießen, schlug er sie mit einem Stahlstempel, einer Punze, aus der die betreffenden Lettern erhaben geschnitten warn, in Kupfer- und Messingstückchen und erzielte hierdurch nicht nur einen schnellen Guß, sondern auch vollste Gleichheit, Schärfe und Schönheit der Buchstaben. Die von ihm zu den Lettern erfundene Metallmischung war vorzüglich, weder so weich, daß sie sich schnellabnutzte, noch so hart, um das Papier zu durchschneiden, und endlich kam sein findiger Geist darauf, die Druckerschwärze durch einen gewissen Zusatz von Oel zu verbessern. Um aber den hohen Gewinn, den diese Fortschritte erwarten ließen, zu theilen, beschloß Fust, den geschickten Schöffer dauernd an sich zu fesseln, und hierzu erschien ihm nichts geeigneter, als den klugen Mann an seine Tochter zu vermählen; er gab ihm darum nachmals die schöne Dyna zur Ehefrau. Die Druckerei wurde aus Gutenberg’s Hof „Zum Jungen“ in das von Fust neu erworbene Haus „Zum Humprecht“ in der Quintius-Gasse verlegt und mit Gutenberg’s Werkzeuge und Apparate Glänzendes geleistet.

Arm und verlassen, mußte inzwischen der große Gutenberg von vorn anfangen und war jetzt so glücklich, die Unterstützung eines Ehrenmannes, des wackeren Mainzers Dr. Conrad Humery (Hummer), zu finden. Dieser wollte im Gegensatze zu Fust keine Bereicherung für sich, sondern die Wohlfahrt Gutenberg’s und seiner hohen Kunst. Auf seine Kosten wurde eine neue Druckerei errichtet, und aus ihr ging 1460 das vortreffliche „Catholicon“ des Johannes von Balbis hervor. Am 17. Januar 1465 nahm Kurfürst Adolf von Mainz Gutenberg unter seine Hofleute auf. Da siedelte Gutenberg mit seiner Druckerei nach Eltville, wo der Hof war, über, bildete neue Schüler aus, und als er 1488 starb, ging die Druckerei an Humery über. So erlebte der Schöpfer nicht mehr die wunderbar schnelle Verbreitung seiner welthistorischen Erfindung, und selbst das Verdienst, sie gemacht zu habe, wurde ihm nach seinem Tode hundertfach bestritten. Gewiß war er ein Märtyrer wie Wenige.

War der große Reformator dahin gegangen, ohne die goldene Ernte seiner Geistessaat auf seinen Tennen sammeln zu dürfen, so fiel dieselbe ohne große Mühen Fust und Schöffer in den Schooß.

Nachdem sie Gutenberg aus seinem Heim und von dem Boden, in dem er Wurzel geschlagen, verdrängt hatten, erwarben sich Vater und Gatte der schönen Dyna, vor deren Auge noch manchmal die blasse hohe Gestalt des Mannes aufstieg, wie er sein Erstlingswerk mit stolzer Befriedigung ihrem Vater behändigte, großen Ruf als Typographen. Im Jahre 1457 ging aus ihrer Presse das prachtvolle Rituale auf Pergament, welches als Psalterium bekannt wurde, hervor; zuerst von allen Werken war es mit Angabe von Jahr, Druckort und Druckern versehen; Fust und Schöffer unterzeichneten sich und hingen an einem am Schlusse des Werkes dargestellte Baumzweige ihre Wappen aus; sie sprachen von ihrer künstlichen Erfindung und schwiegen Gutenberg einfach todt. Das Psalterium ist, man kann wohl sagen, in vollendeter Weise ausgestattet, und scheint Schöffer den Titel eines Clerikers der Diöcese Mainz eingetragen zu haben, den er aus seinen Arbeiten von 1459 bis 1462 führte, dann aber nach seiner Heirath mit Dyna ablegte. Eine Reihe vorzüglicher Bücher gingen aus der Anstalt hervor; Schöffer schnitt und goß neue Lettern und verwandte sie zuerst in der im August 1462 erschienene Biblia sacra latina von achtundvierzig Zeilen. Diese Bibel ist an typographischer Schönheit wohl die hervorragendste der damaligen Zeit.

Da brach die Mainzer Erzbisthumsfehde aus; die Prätendenten Diether von Ysenburg und Adolf von Nassau bekämpften sich auf Tod und Leben; Fust und Schöffer druckte ihre Streitschriften Adolf überfiel Mainz in der Nacht des 28. October 1462, und unter den Gebäuden, die in Feuer aufgingen, war die Buchdruckerei Fust und Schöffer’s. Ihre Arbeiter zerstreuten sich in alle Welt, brachen den Eid, das Geheimniß ihrer Kunst zu bewahren, und verkündeten allerwärts dieses neue Evangelium.

In Folge dessen entstanden bald Buchdruckereien in vielen Orten Deutschlands, Italiens, Frankreichs etc. Augsburg und Nürnberg gingen auch hierin dem Reiche als Bannerträger voran, und schon 1470 etablirte ein Gehülfe Gutenberg’s in Nürnberg eine Druckerei, wo bald Anton Koburger einer der berühmtesten Buchdrucker und Buchhändler der Zeit wurde, und der Abt von St. Ulrich legte in Augsburg 1472 in der Abtei selbst eine Druckerei an, nachdem Günther Zainer bereits 1468 Bonaventuras Meditationes in Augsburg gedruckt hatte.

Fust und Schöffer erholten sich allmählich von dem harten Schlage, der sie getroffen, und begannen ihre Thätigkeit von Neuem. Am 17. December 1465 verließ ein größeres Werk, und zwar „Cicero’s Officien“, wieder die Mainzer Presse. Fust begab sich mit einer Ladung neuer Drucke nach Paris, um sie hoch an den Mann zu bringen, erlag aber dort 1488 der Pest.

Sein Sohn Conrad folgte ihm im Verlagsgeschäfte, mit Peter Schöffer verbunden; ihren Bücherverkauf betrieb in Frankreich der Münsteraner Hermann Stathoen, er starb aber ohne naturalisirt zu sein, und kraft des allen Fremden gegenüber gültigen Heimfallrechts verfielen die vorhandenen Büchervorräthe dem königlichen Fiscus. Kaiser Friedrich der Dritte und der Erzbischof von Mainz traten jedoch vermittelnd bei König Ludwig dem Elften von Frankreich ein, und dieser ersetzte laut Ordonnanz vom 21. April 1475 Conrad Fust und Schöffer ihren Schaden im Betrage von „2425 Goldthalern und drei Sous“, indem er die großen Vortheile ihrer Leistungen rühmlich hervorhob. Conrad Fust (als Johann’s Sohn mit Janequis entstellt bezeichnet) vertrat fortan den Verlag in Paris, Schöffer aber, der persönlich daselbst seine Sache betrieben, reiste nach Mainz zurück und starb hier erst 1502, worauf seine Söhne in seine Fußstapfen traten.

So endete der Letzte des Trifoliums der deutschen Druckerkunst, während Gutenberg’s Erfindung in unblutigem Siege die ungläubige Welt bezwang, und Millionen von Bekennern nahmen die Stelle der Tausende ein, die einst an ihm, seinen Thaten und seiner Weisheit gezweifelt hatten.

Johann Fust hatte mit der Erfindung gar nichts zu thun; er war nur der Geldmann, dessen Gutenberg zu seinem Werke bedurfte, und wurde, nachdem er ihn um Alles betrogen hatte, der erste typographische Verlagsbuchhändler; ihn zum Erfinder der Typographie zu stempeln, war eine der frechsten Lügen der Nachwelt. Weit höher steht Peter Schöffer; er war zwar keineswegs Erfinder der neuen Kunst, aber unstreitig lebenslang mit bestem Erfolge beflissen, sie zu vervollkommnen. Die Geschichte hat die Unbill gegen Gutenberg mitzuverantworten; denn nachdem die Zeit in den Falten ihres Mantels bereits Jahrhunderte hinweggetragen, wurde noch immer eine gemeinsame Erfindung der göttlichen Kunst angenommen, wie dies auf dem Roßmarkte zu Frankfurt am Main das 1857 enthüllte schöne Denkmal von der Hand Eduard’s von der Launitz bezeugt, es stellt – eine wahre Ironie auf den geschichtlichen Thatbestand! – Gutenberg, Fust und Schöffer in friedlicher und freundschaftlicher Vereinigung dar.




Blätter und Blüthen.

Noch einmal „Die Schätze der Rumpelkammer“! Von unserem verehrten Mitarbeiter, Herrn Gustav Schubert in Berlin, geht uns folgende Mittheilung zu:

„Der Verfasser des Artikels ,Die Schätze der Rumpelkammer‘, in Nr. 36, Jahrgang 1881 der ,Gartenlaube', hat durch den Aufsatz nach vielen Seiten Anregung zur Rettung und Auffindung so manches Schatzes aus vergangenen Jahrhunderten gegeben. Gestatten Sie mir freundlichst, auf einige ergänzende Momente hinzuweisen. Von den handschriftlichen Aufzeichnungen berühmter Männer liegen unzweifelhaft noch viele Stücke in Staub vergraben, die nur gesucht zu werden brauchen; in zahlreichen Familien befinden sich Dokumente und Urkunden, die eine Generation der anderen vererbte, ohne zu wissen, daß das ungelesene alte ‚Geschreibsel‘ für die Geschichte der deutschen Cultur von höchstem Werthe ist; die wurmstichigen reponirten Acten von städtischen Verwaltungen, Dörfern, Instituten, Vereinen etc. bergen außer den üblichen Verhandlungen häufig schriftliche Kundgebungen aus dunkeln Gebieten der Geschichte; Briefe von Fürsten, Staatsmännern, Heerführern, Gelehrten, Dichtern und Künstlern verirrten sich an höchst unscheinbare Orte, in alte Bücher und Truhen und errangen sich als ‚altes Papier‘ bis jetzt keine Beachtung. Man fahnde also auf diese ‚verlorenen Handschriften‘, welche unter Umständen [839] je nach ihrer Bedeutung dem Besitzer gut honorirt werden, oder von Bibliotheken, Instituten Gelehrten gern und dankbar angenommen werden, um so ein besseres und würdigeres Schicksal zu haben, als in Staub und Moder umzukommen.

Von unberechenbarem, nicht nach der Markwährung abzuschätzendem Werthe sind für die Wissenschaft die prähistorischen (vorgeschichtlichen) Funde, welche man bei Zeiten sammeln sollte, ehe diese Merkzeichen der Entwickelungsgeschichte der Menschheit für immer unrettbar verloren gegangen sind. In dieser Beziehung gleichen die Erdschichten unseres Planeten einer großen – „Rumpelkammer“. Es entzieht sich aller Beurtheilung was im Laufe der Zeiten bei Erdarbeiten, Wege- und anderen Bauten. Anlagen von Eisenbahnen etc. an prähistorischen Objecten zerstört oder unbeachtet bei Seite geworfen worden ist. Was gilt dem um Tagelohn schaffenden Arbeiter ein ausgegrabenes altes Gefäß? Es enthält keine Geldrollen. sondern elende Knochen und wird deshalb zerschlagen; für den Prähistoriker ist aber damit oft ein Werthobject vernichtet. Arbeitgeber, Bauherren, ländliche Grundbesitzer, Eisenbahnunternehmer, Leiter von Bergwerken etc. können für diesen hochwichtigen Zweig wissenschaftlicher Forschung Großes leisten, wenn es gelingt, ihre Untergebenen zu veranlassen, alle zufälligen Fundstücke an Thongefäßen, Knochen, Glasstücken, Bronzegegenständen, Eisenwaffen, Steinhämmern und -Messern sorgfältig aus dem Schooße der Erde zu heben, möglichst unbeschädigt an einen sicheren Ort zu bringen und die entsprechende Meldung zu machen.

Rühmliches leisten auf diesem Gebiete bereits einige deutsche Städte z. B. Weißenfels in Thüringen, wo sich der Sammeleifer nach vorgeschichtlichen Objecten über die ganze Umgegend erstreckt hat und wo Hoch und Niedrig an der Errichtung eines reichhaltigen Museums für Alterthumskunde eifrig mit arbeitet. Nach klingendem Gewinn und schnödem Mammon darf allerdings bei dem Suchen in der „Rumpelkammer“ der Erde nicht immer gefragt werden; der äußere Werth eines Scherbens, Knochens oder Steines beträgt vielleicht kaum einen Nickel und ist doch oft geprägtes Gold für die Wissenschaft.




Prachtwerke für den Weihnachtstisch. Aus der Reihe luxuriös ausgestatteter Prachtwerke, an welchen die vorweihnachtliche Zeit stets so reich ist, greifen wir heute im Folgenden nur einige wenige Publicationen heraus, auf die wir die Aufmerksamkeit unserer Leser besonders hinlenken möchten.

Rom, eine Schilderung der ewigen Stadt und der Campagna. Von Dr. Rudolf Kleinpaul.

„Wer Rom nicht sieht, der kann nicht glauben, wie schön es ist,“ sagt das Sprüchwort. So kann uns auch das Kleinpaul’sche Werk nur einen Schatten bieten von dem, was die „heilige Stadt“ in Wirklichkeit ist. Aber so groß ist die Schönheit Roms, daß dieser Schatten genügt, uns mit jenem eigenthümlichen Behagen des Genießens zu erfüllen, das wir im Anblicke eines zugleich großen und schönen Gegenstandes empfinden. Der ebenso klar und durchsichtig wie lebhaft und anschaulich geschriebene Text des dankenswerten Werkes führt uns in das Rom der Gegenwart, aber er läßt uns neben der stolzen Metropole des heutigen Italien auch die alte Siebenhügelstadt schauen, so weit sie noch in den Trümmern der antiken Herrlichkeit fortlebt; er läßt uns dieselbe auf der Wanderung durch Rom ahnen, so oft uns die Gegenwart eine Parallele um der Vergangenheit nahe legt. Jeder Platz, jeder Stein, jede Ruine, welche das Werk schildert, predigt uns große Erinnerungen. Namen genügen: Das Capitol, das Forum, die Via Sacra, die Katakomben – alle diese Stätten der einstmaligen Hauptstadt des Erdkreises, der „Niobe der Nationen“, wie ein großer Dichter sie nannte, treten uns neben den Prachtbauten der Gegenwart aus dem Kleinpaul’schen Werke lebhaft vor’s Auge, und nicht nur das Wort, auch das Bild vermittelt uns hier die Kenntniß Roms; denn nicht weniger als 368 Textillustrationen und Vollbilder werden das Werk schmücken, welches nach seiner Vollendung 36 Lieferungen, von denen heute 8 zur Ausgabe kamen, umfassen wird. Nach dem bis jetzt Vorliegenden können wir dem Werke das beste Prognostikon stellen; namentlich die vortrefflich ausgeführten Illustrationen, die theilweise wahre Kunstwerke der Xylographie genannt werden müssen, brauchen die strengste Kritik nicht zu fürchten.[2]




Ariost's „Rasender Roland“. Illustrirt von Gustav Doré. Metrisch übersetzt von Hermann Kurz. eingeleitet und mit. Anmerkungen versehen von Paul Heyse (Breslau, S. Schottlaender).

Dieses Prachtwerk - das Wort ist hier in seiner vollsten Bedeutung zu nehmen - liegt uns nunmehr mit seinen 81 großen Bildern und 525 in den Text gedruckten Holzschnitten vollständig vor. Ein Vergleich der meisterhaften, phantastischen Zeichnungen Doré’s mit den romantischen Versen des italienischen Dichters überzeugt uns sofort, daß sich hier Wort und Bild überraschend ergänzen und daß der kühne Stift des Zeichners, welcher durch seine Illustrationen zum Bibelwerk, zu Don Quixote, zu Dante und Milton längst seinen Ruf begründet hat, hier der üppigen Phantasie Ariost’s mit seltenem Glück in das Land des Fabelhaften und Wunderbaren zu folgen vermochte. Da fesseln unser Auge in wechselnder Folge orientalische Landschaften mit Zauberschlössern, die in magischer Beleuchtung glänzen, schattige Haine, aus deren Bäumen Hunderte von Amoretten ihr schalkhaft-lustiges Spiel treiben, Reiterschaaren der Christen und der Heiden, fabelhafte See-Ungeheuer und was die Phantasie des Malers uns sonst, die Dichtung erklärend, vor’s Auge zu stellen verstand. In alle diese Meisterwerke der Zeichnung und Holzschneiderei aber drängen sich außerdem, in den Text gestreut, kleine humoristische Bilder, die durch ihre groteske Figuration die lebhafteste Heiterkeit des Beschauers erregen. Ueber den Werth der Ariost’schen Dichtung brauchen wir kaum ein Wort zu verlieren. Hat doch Goethe von diesem italienischen Liebling der Musen so treffend gesagt:

„Wie die Natur die innig reiche Brust
Mit einem grünen, bunten Kleide deckt,
So hüllt er alles, was den Menschen nur
ehrwürdig, liebenswürdig machen kann,
In’s blühende Gewand der Fabel ein.“

Aber aus Ariost’s Weisen klingt oft gar übermüthig eine allzu üppig blühende Sinnlichkeit hervor, die heutzutage Anstoß erregen möchte, während sie in den üppigen Zeiten der Renaissance durchaus nicht aus den Grenzen erlaubter geselliger Scherzhaftigkeit heraustrat. Hier hat nun der berühmte Herausgeber, Paul Heyse, in dankenswerter und sehr geschickter Weise die etwa anstößigen Stellen entfernt und so sein Ziel erreicht, ein Werk zu schaffen, welches einer gesunden bürgerlichen Zucht und Sitte Rechnung trägt und dennoch die eigenartige Welt Ariost’scher Dichtung zur vollsten Geltung bringt. Die Uebersetzung selbst ist die Arbeit eines anerkannt geistvollen Dichters, des zu früh verstorbenen Hermann Kurz, welcher mehrere Jahre seiner reifsten und frischesten Kraft an die Lösung dieser Aufgabe gewendet hat.




Odin. Nordisch-germanische Göttersage von A. Kayser-Langerhannß. Mit 12 Illustrationen in Lichtdruck und zahlreichen Vignettten von E. Ph. Fleischer (München, Friedr. Bruckmann).

Wir wollen uns hier nicht aus die Erörterung der Frage einlassen, ob die Neubelebung der alten nordischen Göttersage im Bewußtsein der Gegenwart als ein literarisches oder pädagogisches Bedürfniß empfunden wird und ob somit die jüngsthin sich mehrende poetische Bearbeitung von Stoffen aus dem Gebiete der Edda und anderer nordischer Sagenquellen vom nationalen Standpunkte aus zustimmend oder ablehnend zu betrachten ist. Die Berechtigung solchen Zurückgreifens in die nordisch-germanische Göttersage aber für die poetische Production der Gegenwart zugegeben, scheint uns in erster Linie zweierlei geboten: die Vermenschlichung der in der nordischen Sagenwelt niedergelegten moralischen und ethischen Ideen und die Entkleidung der Gestalten jener Welt von dem Rauhen und Starren, das ihnen für unser empfinden störend anklebt. Die auf dem Gebiete der Lyrik und Novellistik rühmlich bekannte Agnes Kayser-Langerhannß hat es in ihrer großen epischen Dichtung „Odin“ verstanden, diesen beiden Anforderungen, die der moderne Geschmack an die Bearbeitung altnordischer Stoffe stellt, gerecht zu werden, ohne dadurch den eigentümlichen Charakter jener Stoffe zu verwischen.

Ihre Verse athmen eine hohe Formvollendung und führen uns, ähnlich wie in Tegner’s herrlicher „Frithjof-Saga“ auf wechselnden, Rhythmen und in den verschiedenartigsten Strophengebäuden in die wunderbar poetische Welt des nordischen Alterthums. Es ist viel stimmungsvolle Anschaulichkeit, viel märchenhafte Malerei und daneben manch ernster Gedanke von philosophischer Bedeutung in dieser werthvollen Dichtung niedergelegt. Die Fleischer’schen Illustrationen, welche ein feines künstlerisches Empfinden, viel Phantasie und einen ungewöhnlichen poetischen Duft bekunden, fügen sich den Versen als eine dankenswerte bildliche Ergänzung harmonisch an und erhöhen die schöne, kräftige Wirkung der stilvollen Dichtung auf’s Beste.




Palästina in Bild und Wort nebst der Halbinsel Sinai und dem Lande Gosen von Georg Ebers und Hermann Guthe (Stuttgart, E. Hellberger).

Die zahlreichen hier gebotenen prachtvollen Stahlstiche und meisterhaften Holzschnitte scheinen, soweit sich nach den ersten Lieferungen dieses Prachtwerkes urteilen läßt, zu dem Besten zu gehören, was in dieser Beziehung der internationale Buchhandel in letzter Zeit geleistet hat. Die Illustrationen sind durchweg aus der Hand englischer Meister hervorgegangen; denn „Palästina in Bild und Wort“ ist ein englisches Originalwerk, welches gleichzeitig in deutscher und französischer Ausgabe erscheint. Zu betonen ist jedoch, daß der Text des deutschen Prachtwerkes zwar nach dem englischen Original bearbeitet, aber in vielfacher Beziehung von Georg Ebers und Hermann Guthe ergänzt und mit Anmerkungen über die Resultate der deutschen Palästinaforschung versehen wurde.




Lieder der Heimath. Herausgegeben von Ludwig Bund (Iserlohn, J. Baedeker).

Weniger umfangreich und in künstlerischer Ausstattung den letztgenannten Prachtwerken nicht gewachsen, aber der deutschen Familie durch gemüthswarmen Inhalt um so sympathischer sind die „Lieder der Heimat“ eine Sammlung der vorzüglichsten Dichtungen im Bilderschmucke deutscher [840] Kunst. Das Werk erscheint gegenwärtig in neuem Gewande, in siebenter Auflage, und wird sich nach wie vor der Gunst der deutschen Leserwelt zu erfreuen haben. Auf seinen reichverzierten Blättern begegnen wir auch vielen treuen Mitarbeitern unseres Blattes, manchem Dichter und Künstler der „Gartenlaube“. Da hallt, rauscht und singt es in den verschiedenartigsten Weisen aus dem deutschen Dichterwalde; da finden wir die sämmtlichen Tonarten heimischer Muse von Heine’s „Hör’ ich ein Liedchen klingen“ bis zu Hermann Lingg’s „Letztes Schlachtlied der Vandalen in Afrika“. Den Alten wird dieses Buch aufrichtige Freude bereiten, der reiferen Jugend aber ist es ein gutes Bildungsmittel für Geist und Herz.




Die Hohenzollern und das deutsche Vaterland.

Von Dr. R. Graf Stillfried Alcántara und Professor Dr. Bernhard Kugler. Illustrirt von den ersten deutschen Künstlern (München, Fr. Bruckmann).

Schließlich bemerken wir noch, daß das Prachtwerk „Die Hohenzollern“, auf welches wir bereits früher (Nr. 18) mit warmer Auszeichnung hingewiesen haben, nunmehr soweit zur Ausgabe gelangt ist, daß der äußerst geschmackvoll ausgestattete erste Band desselben als passendes Weihnachtsgeschenk fertig vorliegt. Wir geben dem in jeder Beziehung empfehlenswerthen Werke die besten Wünsche mit auf den Weg in die Heimstätten der deutschen Familie.




„Literarische Stoßvögel. Neue Randglossen zu Zeit- und Streitfragen“ – unter diesem eigenthümlichen Titel ist vor Kurzem ein höchst beachtenswerthes Büchlein von Richard Treitschke erschienen. Im Gegensatz zu den vielen aus gesammelten Zeitungsartikeln bestehenden Büchern, welche mehr durch die prickelnde Mannigfaltigkeit des Inhalts als durch die geistreiche Erschließung neuer Gesichtspunkte zu fesseln suchen, haben wir es hier einmal mit einem Buche zu thun, dessen eigentlicher Reiz trotz des reichen Inhalts nicht in der pikanten Leichtigkeit des Leeren, sondern in der ungekünstelten Leichtigkeit des Gefälligen in durchaus wissenschaftlicher Form besteht. Vor Allem zu loben ist an diesem Werkchen der darin waltende deutsche Gehalt. Nicht als ob der Inhalt lediglich Deutschthum und die Deutschen beträfe; im Gegentheil erstreckt er sich mit gleicher Liebe auf englische, französische, italienische und antike Cultur und Literatur, und eben darum erscheint uns alles aus deutsch-kosmopolitischem Geist und aus deutscher Gemüthsart geflossen. Mag immerhin mancher Leser einen oder den andern Aufsatz weniger skizzenhaft wünschen, Alles in diesem Buche wird vermöge seines absonderlichen Gegenstandes und seiner ungewöhnlichen Beleuchtung gefallen, zumal der Charakter des Gediegenen überall streng gewahrt ist. Eine frische Anregung zu weiterem Denken ist der Hauptgewinn, auf welchen der ernstere Leser bei jedem dieser Aufsätze sicher rechnen darf, und so bleibt nur zu wünschen, daß dem Fluge dieser „literarischen Stoßvögel“ die allgemeine Aufmerksamkeit zu Theil werden möge. W. B.     




Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!
Verlag von Ernst Keil in Leipzig.

Bock, Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. 12. Auflage. Brosch. 9 ℳ. Eleg. geb. 10 ℳ. – ₰
Gerstäcker, Eine Gemsjagd in Tirol. Brosch. 10 ℳ.
Eleg. geb. mit Goldschn. 12 ℳ. 50 ₰
Gottschall, Rudolf von, Friedens- und Kriegsgedichte. 2. Auflage des „Janus“ Prachtband. 4 ℳ. 50 ₰
Heimburg, Lumpenmüllers Lieschen. Roman. Eleg. brosch. 5 ℳ. – ₰
Heimburg, Kloster Wendhusen. Roman. Eleg. brosch. 4 ℳ. 50 ₰
Heimburg, Aus dem Leben meiner alten Freundin. Roman. 3. Auflage. Eleg. brosch. 5 ℳ. – ₰
v. Hillern, Aus eigener Kraft. Roman. 3 Bände. Eleg. brosch. 9 ℳ. – ₰
Horn, Georg, Bei Friedrich Karl. Bilder und Skizzen aus dem Feldzuge der zweiten Armee. 2 Bde. Eleg. brosch. 9 ℳ. – ₰
Marlitt, Gold-Else. Volks-Ausgabe. 14. Auflage. Eleg. brosch. 3 ℳ. – ₰
Marlitt, Gold-Else. Salon-Ausgabe. Illustrirt von P. Thumann 2. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 10 ℳ. 50 ₰
Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell. Roman. 10. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 6 ℳ. – ₰
Marlitt, Reichsgräfin Gisela. Roman. 6. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 8 ℳ. – ₰
Marlitt, Haideprinzeßchen. Roman. 5. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 9 ℳ. – ₰
Marlitt, Die zweite Frau. Roman. 6. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 ℳ. 50 ₰
Marlitt, Im Hause des Commerzienrathes. Roman. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 8 ℳ. – ₰
Marlitt, Thüringer Erzählungen.
  Inhalt: Die zwölf Apostel. – Der Blaubart. 4. Auflage.

Eleg. brosch. 4 ℳ. 50 ₰
Marlitt, Im Schillingshof. Roman. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 9 ℳ. – ₰
Marlitt, Amtmanns Magd. Roman. 2 Auflage. Eleg. brosch. 5 ℳ. – ₰
v. Meyern, Theuerdank’s Brautfahrt. Romantisches Zeitbild Eleg. brosch. 4 ℳ. 50 ₰
Meyr, Gleich und Gleich. Erzählung aus dem Ries. Eleg. brosch. 2 ℳ. 70 ₰
Michael, Vernünftige Gedanken einer Hausmutter. Eleg. brosch. 3 ℳ. Eleg. geb. 4 ℳ. – ₰
Prutz, Robert, Buch der Liebe. Gedichte. 4. Auflage. Prachtband. 5 ℳ. 25 ₰
Rittershaus, Emil, Neue Gedichte. 4. Auflage. Prachtband. 6 ℳ. 50 ₰
Scherenberg, Ernst, Gedichte. 4. Auflage. Prachtband. 5 ℳ. 20 ₰
Scherr, Johannes, Goethe’s Jugend. Eleg. geb. 4 ℳ. 50 ₰
Schmid, Herman von, Gesammelte Schriften, in 69 Heften (à 30 ₰) 20 ℳ. 70 ₰
Neue Folge. Heft 70 u. folg. à 30 ₰
Steub, Altbaierische Culturbilder. Eleg. brosch. 3 ℳ. – ₰
Stolle, Palmen des Friedens. Gedichte. 5. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschn. 4 ℳ. 50 ₰
Stolle, Deutsche Pickwickier. Komischer Roman. 3. Auflage. 3 Bände. Brosch. 3 ℳ. – ₰
Traeger, Albert, Gedichte.14. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschn. 5 ℳ. 25 ₰
v. Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. 3 Bände. Brosch. 20 ℳ. 50 ₰
Werber, Feuerseelen. Erzählungen. Brosch. 5 ℳ. – ₰
Werner, E., Gartenlaubenblüthen.
  Inhalt: Ein Held der Feder – Hermann. 2. Auflage. 2 Bde.

Eleg. brosch. 6 ℳ. – ₰
Werner, E., Am Altar. Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 6 ℳ. – ₰
Werner, E., Glück auf! Roman. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 ℳ. 50 ₰
Werner, E., Vineta. Roman. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 ℳ. 50 ₰
Werner, E., Gesprengte Fesseln. Roman. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 ℳ. – ₰
Werner, E., Um hohen Preis. Roman. 2 Bände. Eleg. brosch. 8 ℳ. – ₰
Werner, E., Frühlingsboten. Roman. Eleg. brosch. 4 ℳ. 50 ₰
Ziel, Ernst, Gedichte. 2. vermehrte Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 5 ℳ. 25 ₰


Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus der soeben zur Ausgabe gelangten Sammlung: „Aus Morgenland und Abendland“ (Leipzig, F. A. Brockhaus) in welcher der berühmte Dichter zum ersten Mal neben dem Orient auch die Neue Welt in das Gebiet seiner poetischen Betrachtung zieht. Außer der hier wiedergegebenen Probe sind als Perlen der Sammlung gerade diejenigen Gedichte zu bezeichnen, zu welchen des Dichters Reise in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die Anregung gegeben hat. Möge diese neueste Frucht vom Baume Bodenstedt’scher Poesie in allen Kreisen des deutschen Lesepublicums dasjenige freundliche Entgegenkommen finden, welches sie vermöge ihrer reinen und edlen Natur unbedingt beanspruchen darf!
    Die Redaction.
  2. Wir entnehmen (vergl. S. 833) dem trefflichen Werke mit Erlaubniß der Herren Verleger eine Illustration. Dieselbe stellt einen Theil der Ruinen der Thermen (Bäder) des Caracalla dar, und zwar das Caldarium, also die Stelle, wo der unterste Kessel sich befand. „Die gesammte Anlage der Thermen des Caracalla“ heißt es in dem Kleinpaul’schen Werke, „maß 330 M. im Quadrat; das eigentliche Thermengebäude, welches innerhalb dieses Quadrats stand. war ein Oblongum und 220 M. lang, 114 M. breit. In der Mitte desselben lag im Kellergeschoß der große Ofen, der zunächst zur Luftheizung gebraucht ward. Ueber dem Ofen waren in ingeniöser, holzsparender Weise drei Kessel (ahena) über einander angebracht; aus dem obersten (frigidarium) floß kaltes Wasser in den mittleren (tepidarium) und von hier, abgeschlagen, in den untersten (caldarium), um heiß zu werden. Aus jedem Kessel gingen Röhren, die mit silbernen Hähnen versehen waren, in die Bäder: der oberste erhielt sein Wasser aus einem Reservoir, das durch einen besonders dazu angelegten Aquäduct gespeist ward. Die Einrichtung der Bäder selbst war ganz die der irisch-römischen, wie man sie in jeder größeren Stadt, und speciell im Oriente, findet.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: spater