Die Gartenlaube (1881)/Heft 11
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No. 11. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Amtmanns Magd.
(Fortsetzung.)
Rasch entschlossen trat Herr Markus unter die Stubenthür, aber erschrocken fuhr er zusammen und zog sich unwillkürlich wieder tief in die Hausflur zurück. In der gegenüberliegenden Zimmerecke – es war just die Ecke, aus welcher gestern Abend das monotone Gemurmel der männlichen Stimme gekommen – stand ein Bett, und in den Kissen desselben lag ein Schläfer. Färbte die blaue Dämmerung das stille Antlitz so leichenhaft, oder hielt der wirkliche Todesschlaf die Augen dort geschlossen – das ließ sich schwer entscheiden. Darüber sann auch der bestürzte Mann in der Hausflur nicht – starrte nach dem wallenden, röthlich blonden Vollbart, der sich über die buntgewürfelte Bettdecke breitete. Wie kam der Mensch, den er und Frau Griebel neulich gleichsam von der Landstraße aufgelesen und eine Nacht im Gutshause verpflegt hatten, hierher, und seit wie lange beherbergte ihn die geheimnißvolle Ecke dort, die ihm, dem Gutsherrn, so viel Kopfzerbrechens verursacht? Was aber vor Allem hatte Fräulein Gouvernante, die dünkelhafte, precieuse Weltdame, hier im Waldhüterhaus, am Krankenbett eines Landstreichers zu schaffen?
Ein leises Geräusch, das Hingleiten eines Frauengewandes über die Dielen des Zimmers, ließ ihn noch tiefer in’s Dunkel zurücktreten; er wollte sich erst klar werden über das Thun und Treiben der verhaßten Mansardenbewohnerin, ehe er ihr entgegentrat. Sie mußte aus einer Seitenthür, wohl aus der Küche, gekommen sein und mochte noch einen Augenblick an einem Tische hantieren; ein leises, schnell wieder verstummendes Aneinanderklingen von Glasgeschirr wurde hörbar; dann huschte die Schleppe weiter. Die Dame trat in den Gesichtskreis des Lauschers.
Die schlanke, elegante Gestalt kehrte ihm den Rücken zu. Er sah den fein frisirten Hinterkopf, reiche, dunkle Flechten, aus denen sich hinter dem Ohr ein paar kurze Locken stahlen, sah, wie die eine Hand nach der Schleppe des dunklen Kleides zurückgrifft um sie graziös aufzunehmen – wunderlich! – er hatte diese junge Dame neulich in der Abenddämmerung nur flüchtig wie einen Schatten neben ihrem Onkel gesehen, er hatte nie in seinem Leben mit ihr gesprochen, und doch war es ihm, als kenne er sie seit lange, lange.
Sie bog sich tief über den Schlafenden und horchte auf seine Athemzüge; eine Fliege, die um das Kopfkissen summte, wurde mit sanfter Hand weggescheucht; dann wandte sie sich um, und – der Mann in der Hausflur stand wie vom Donner gerührt. … Und wenn sie auch eine Dame comme il faut schien, wenn auch eine Fülle krauser Löckchen tief in ihre Stirn fiel, ein modern eleganter Anzug eng die Formen umschmiegte, die der Arbeitskittel und die dicken, steifen Schürzenfalten bisher erfolgreich verpuppt hatten – es war doch Amtmanns Magd, die da in sich gekehrt, mit gesenkten Lidern lautlos nach dem Tisch an der Thür zurückkehrte. …
Wie Schuppen fiel es von den Augen des Mannes, dem vor Bestürzung der Athem stockte – Teufel! – er hatte sich schmählich mystificiren lassen. Er war dieser Feinen gegenüber der ehrliche, dummgläubige deutsche Michel gewesen, der ohne allen Spürsinn weder ein Rechts noch Links erwogen und gerade nur Das festgehalten hatte, auf was er mit der Nase gestoßen worden war. … Ein ganz klein wenig mehr Schlauheit, als Stiefmutter Natur ihm gegeben, hätte leicht das Räthsel der Sphinx zu lösen vermocht; denn es war nicht schwer gewesen, und neben dem bitteren Ernste hatte leise und lieblich mädchenhafte Schelmerei hineingespielt, wie er nun wußte – das „Bild von Sais“ hatte freilich hinter seinem Schleier in der Mansarde sitzen müssen, während Fräulein Agnes Franz in den Arbeitskittel geschlüpft war, um Brod für die beiden unglücklichen alten Menschen zu schaffen. „Unzertrennlich, ein Herz und eine Seele“ seien Fräulein Gouvernante und Amtmanns Magd, war ihm der stricten Wahrheit gemäß gesagt worden, und wenn er dabei nicht auf den gescheidten Gedanken gekommen, daß das Doppelwesen auch ein und denselben Kopf haben könne – den schönen, ausdrucksvollen, den er von seinem Verstecke aus so lockend nahe vor sich sah – so hatte das eben nur so einem unbeholfenen, blödsichtigen alten Knaben wie ihm passiren können.
Ein Gemisch von Zürnen und Bewunderung, von Verlangen nach Revanche und mitleidsvoller Zärtlichkeit wogte in ihm auf, und er dankte seinem Stern, der ihn im Dunkel der Hausflur festgehalten – da blieb ihm Zeit, sich zu sammeln. Den Triumph, ihn in seiner grenzenlosen Bestürzung zu sehen, sollte „Fräulein Gouvernante“ doch nicht erleben; nicht einmal Erstaunen durfte sie in seinen Zügen finden.
Ohne ihn zu bemerken, ging sie quer an der offenen Thür vorüber, und er bog sich weit vor, um sie am Tische beobachten zu können. Sie zerschnitt eine Citrone und warf die Scheiben in ein Glasgefäß voll Brodwasser; und nun wußte er auch, weshalb die schöne Nichte nicht ohne Handschuhe ausgehen sollte; der „alte Prahlhans“ auf dem Vorwerke suchte es nach Kräften zu vertuschen, daß „eine Franz, die Tochter eines höheren Officiers“, Magddienste hatte verrichten müssen, und die schlimmsten Verräther [170] waren allerdings die braunen Hände da, an denen sich die Spuren der Arbeit nicht so bald verwischen ließen.
In diesem Augenblicke schnob draußen der Gewittersturm vorbei. Wie ein alarmirender Trompetenstoß schrillte er durch die Lüfte und weckte ein majestätisches Sausen und Brausen in den geschüttelten Waldwipfeln, aber er machte auch die Fenster des Hauses klirren und rüttelte an der Flurthür, als wolle er sie ausstoßen. Die Dame am Tische horchte auf und sah besorgt nach dem Kranken im Bette zurück, der indeß nicht einmal einen Finger der auf der Decke liegenden Hand bewegte; er schlief offenbar den Schlaf tiefster Erschöpfung.
Unterdeß trat Herr Markus geräuschlos näher; er war nunmehr vollkommen Herr seiner selbst geworden, und als sie beruhigt den Kopf wandte, um ihre Beschäftigung fortzusetzen, fiel ihr Blick auf ihn, der in verbindlicher Haltung, den Hut in der Hand, an der Thürschwelle stand.
Ein sichtbarer Schrecken durchfuhr sie; Citrone und Messer entfielen ihren Händen, aber sie gewann unglaublich rasch ihre Fassung wieder; es war, als wüchse ihre Erscheinung vor seinen Augen. So hochaufgerichtet trat sie vom Tische weg, ging über die Schwelle an dem Zurückweichenden vorüber und öffnete die gegenüberliegende Thür, die in die Wohnstube des Forstwärters führte.
„Bitte, mein Herr, treten Sie ein!“ sagte sie unter einladender Handbewegung höflich, fremd, mit schwacher Stimme.
„Sie suchen Zuflucht vor dem herankommenden Gewitter –?“
Er unterdrückte ein Lächeln. „Fräulein Franz?“ fragte er unterbrechend mit einer Verbeugung, so kühl und reservirt, als sähe er diese Dame zum ersten Male in seinem Leben.
„Ja, mein Herr, ich bin die Nichte des Amtmanns, Agnes Franz“ – bestätigte ihr Blick suchte den Boden, und das Blut wallte ihr nach dem Gesichte – „die Gouvernante,“ setzte sie mit festem, geschärftem Tone hinzu; sie sah auf, und ihre Augen flimmerten in einem sichtbaren Kampfe zwischen Befangenheit und feindseligem Trotze.
Er bemerkte das nicht; er war sehr unbefangen. An der Thür stehenbleibend, sagte er wie zu seiner Entschuldigung: „Es ist nicht meine Absicht, den Ausbruch des Gewitters hier abzuwarten – das Naßwerden darf mich nicht schrecken; denn es ist sehr möglich, daß ich, wie ich da bin, schon im nächsten Augenblick hinaus muß, um stundenweit zu gehen. Ich suche ein junges Mädchen, eine barmherzige Schwester, die mir gestern den Verband da angelegt hat“ – er zeigte nach seiner Rechten.
„Der Herr Amtmann sagt, das Mädchen sei fort, fort auf Nimmerwiederkehr; ist das wahr, Fräulein Franz? Ist sie fort?“
Sie wich seinem durchdringenden Blicke aus und antwortete unsicher: „Ihre Hülfe und Thätigkeit wurde nicht mehr gebraucht. Sie selbst haben ja einen Ersatz für sie acquirirt –“
„Und da ist sie gegangen, ohne sich zu erinnern, daß sie ein gegebenes Wort einzulösen hat? … Sie sagte gestern: ,Ich komme morgen wieder, um nachzusehen.’ Sie müssen wissen, daß das für mich so gut wie Manneswort war, so unantastbar wie ein Evangelium. Nun wohl, ich habe geduldig gewartet. Ich habe stundenlang in die zitternde Nachmittagsgluth hinausgestarrt, immer hoffend, einmal müsse doch das Mädchen im Arbeitsrock, mit dem weißen Tuch über dem Kopf, um die Waldecke kommen. Ich habe den Verband da nicht berührt, aus Besorgniß er könne sich lockern und mir den Tadel der barmherzigen Samariterin zuziehen. Nun ist sie fort, in die weite Welt, als habe sie der Wind für immer weggeweht, sagt der Herr Amtmann – was fange ich an?“
„Erlauben Sie, daß ich das gegebene Wort einlöse,“ sagte sie, die Hand nach seiner Rechten ausstreckend, und ein scheuer, fast lächelnder Blick streifte sein Gesicht – er verzog keine Miene.
„Ich danke,“ versetzte er zurückweichend. „Das kann ich nicht annehmen. Der Verband bleibt wie er ist, bis ich meinen lieben Heilgehülfen gefunden habe. Ich sagte Ihnen schon, daß ich ihm nachgehen würde, und hoffe zuversichtlich, Sie werden menschenfreundlich genug sein, mir einen Fingerzeig zu geben, wie ich seiner habhaft werden kann –“
„Nein – das werde ich niemals,“ unterbrach sie ihn schroff und wandte sich ab.
„Aber das ist hart und unchristlich und häßlich parteiisch! Was hat denn her fremde Bettler drüben auf dem Krankenlager vor mir voraus, daß er sorgsam gepflegt wird, während Sie mir die Auskunft verweigern, die mir Heilung bringen soll?“
Sie wurde ganz blaß und drückte unhörbar die Thür zu, die bisher nur angelehnt gewesen war.
„Jawohl, ein Bettler,“ sagte sie mit umflortem Blick, „ein Mensch, dem nicht einmal das Kopfkissen gehört, auf welchem er seine Todeskrankheit durchgemacht hat. – Es ist bitter, über das weite Meer, durch tausend Gefahren und Strapazen dem Golde nachgegangen zu sein, um schließlich, zum Sterben erschöpft, arm wie Hiob, an der heimischen Schwelle zusammenzubrechen. … Für sein Mütterchen hat er draußen arbeiten und einheimsen wollen. Er hat gewußt, daß ein Tag kommen mußte, wo sie aus Glanz und Comfort in die bitterste Noth hinabgestoßen werden würde, und da hat er sich losgerissen, als er glaubte, es sei noch Zeit, vorzubeugen. Ein Anderer wäre vielleicht mit dem Scheitern seiner Pläne für die Seinen verschollen – das hat er nicht gekonnt – die Sehnsucht nach der alten Frau hat ihn gleichsam mit dem Zwangspaß nach Hause gejagt. Und nun muß er hier, keine tausend Schritte von ihrem Siechbett entfernt, unfreiwillig Station machen –“
„Ist es der, auf dessen Zurückkunft der Amtmann hofft, wie die Juden auf den Messias?“ unterbrach sie der Gutsherr ahnungsvoll, mit zurückgehaltenem Athen;.
Sie neigte schweigend und bejahend den Kopf.
Er fühlte sich tief erschüttert. Das war also der „Nabob“?
Eben noch hatte der alte Mann in seinen vermessenen Illusionen sich und seinen Sohn „Regierende von Goldes Gnaden“ genannt; er war stolz auf sein „magnifiques Programm“ gewesen, das mit dem californischen Golde urplötzlich eine Wüstenei in eine Art Schlaraffenreich wandeln sollte. Und durfte man sich auch sagen, daß der eingefleischte Renommist an seine kühnen Hoffnungsbilder selbst nicht allzufest glaube, so blieb es doch herzbewegend, zu wissen, daß „der Strolch mit dem polizeiwidrigen Bart“, dem er einen Zehrpfennig und ein Stück Bettelbrod vor das Hofthor geschickt, sein eigen Fleisch und Blut, sein „Goldjunge“ gewesen war.
Und inmitten dieses Familiendramas stand ein Mädchen, muthig und klug, und in Kindestreue gleichsam die feindlichen Speere mit starken Armen zusammenfassend und in die eigne Brust drückend. Sie hatte Alles auf sich genommen, den furchtbaren Druck harter Arbeit, die Sorge um das tägliche Brod, die Pflege der zwei hülflosen Alten – und nun lag hier noch Einer, dessen Heimkehr sie verbergen mußte; nur verstohlen hatte sie zu ihm schleichen dürfen. Mit welch herzklopfender Angst mochte sie wohl des Nachts das Vorwerk verlassen haben, um hier zu wachen! Und bei diesem Liebeswerk war sie von Frau Griebel gesehen und grausam verurtheilt worden!
Er sah sie mit gesenktem Kopf da an der Thür stehen und hätte ihre Kniee umfassen mögen. Aber in diesem Augenblick galt es, streng den Sturm im Innern niederzuhalten; sie war mit Recht erbittert und beleidigt, die vielgeschmähte Gouvernante – eine einzige leidenschaftliche Geberde der Tiefverletzten gegenüber schleuderte ihn weit von dem ersehnten Ziel zurück – das sagte ihm ihre ganze Haltung.
„Wird Ihr Vetter dem Leben erhalten bleiben?“ fragte er, Stimme und Gesichtsausdruck mit aller Kraft beherrschend.
„Gott sei Dank – ja! Der Arzt, der vor wenigen Minuten fortgeritten ist, erklärt ihn für genesend. Gestern Abend zeigte er große Besorgniß – das Delirium hatte einen kritischen Charakter angenommen –“
Das war das unheimliche Gemurmel in der Ecke gewesen, und aus dem biederen Thüringer Landarzt hatte die tolle Eifersucht einen Zigeunerhäuptling gemacht.
„Da trat an uns Pfleger einen Augenblick die schwere Frage der Verantwortung heran,“ führ sie bewegt fort. „Otto’s Heimkehr unter so unglücklichen Verhältnissen hatten wir vorläufig den Eltern verheimlichen müssen, aber wenn es an’s Sterben ging“ – sie verstummte in der Erinnerung an das furchtbare Dilemma, das über sie verhängt gewesen war, und in die plötzliche Stille hinein grollte fern der Donner, und ein Schauer großer Regentropfen schlug hart gegen die Scheiben.
„Das Wetter kommt, und der Forstwärter ist unterwegs nach der Tillröder Apotheke,“ sagte sie besorgt.
„Und auf dem Vorwerk ängstigen sich zwei alte Leute um eine junge Dame, die im Walde Blumen sucht,“ meinte Herr Markus.
Sie sah ihn fest, mit brennenden Augen an und zuckte bitterlächelnd die Schultern.
[171] „Was kann es schaden, wenn die verwöhnten, faulen Damenhände, die sich mit ihren gemalten Feldblumensträußen und Fingerübungen aufdringlich machen, auch einmal vom Gewitterregen gewaschen werden?“ fragte sie leichthin.
Der Gutsherr biß sich auf die Lippen und blickte hinaus in die niederstürzende Regenfluth.
„Der Meinung bin ich auch,“ versetzte er, sich nach einem augenblicklichen Schweigen gelassen umwendend; „aber ich sehe nicht ein, mit welchem Recht Sie Ihre Bemerkung auf die sonnenverbrannten Hände da beziehen mögen“ – er zeigte nach ihren Händen, die noch den Thürgriff umschlossen hielten.
„Ja, schön sind sie nicht,“ sagte sie mit Humor und ließ die Finger der Rechten vor ihren Augen spielen. „Der Onkel sieht auch seit heute Mittag streng darauf, daß ich mich dem lieben alten Walde nicht mehr ohne Handschuhe zeige.“
„Er hält auf die Dehors, der alte Herr, auf seinen Namen.“
Sie lachte hart auf.
„Er weiß und bedenkt nicht, wie schlimm es um diesen Namen steht. Die Franzens haben ja einen mit all seinen Hoffnungen Gescheiterten und – eine Gouvernante in der Familie –“
„Und – was ich für viel, viel schlimmer halte – ein häßlich rachsüchtiges, unversöhnliches Element in ihrem Blute,“ ergänzte er mit hervorbrechendem Unwillen. Er griff nach seinem Hut, den er auf den nächsten Tisch gelegt hatte.
„Sie wollen doch nicht in das Unwetter hinausgehen?“ fragte sie verschüchtert.
„Ei warum denn nicht? – Es kann auch ,dem Reichen, wie er in der Bibel steht’ nicht schaden, wenn ihm der Regen auf den Hut fällt. Die Luft hier im Hause regt mir das Blut auf. Ich will doch tausendmal lieber den Kampf mit Sturm und Gewitter aufnehmen, als hier der Engherzigkeit und Verbitterung Stand halten. Und haben Sie denn vergessen, daß ich einzig und allein hierhergekommen bin, mein Mädchen – Pardon, meinen lieben Heilgehülfen, wollte ich sagen – zu suchen? Nun, hier ist sie nicht, die Tapfere, Großherzige, die Edle, die es nicht ertragen konnte, mir einen Schmerz verursacht zu haben, und, sich verleugnend, zu mir gekommen ist –“
„Sie that nur ihre Pflicht,“ unterbrach sie ihn mit zuckenden Lippen schroff und trotzig und dabei hocherröthend. „Sie haben Recht, das Mädchen im Kopftuch und Arbeitsrock finden Sie hier nicht – sie wird sich überhaupt nicht wieder finden lasten. Hat sie Ihnen nicht gesagt, daß sie mit mir ein Herz und eine Seele sei? Muß sie dann nicht zürnen wie ich, nicht mit mir fühlen, daß eine Mädchenseele, die auf ihre Selbstachtung hält, es nicht verwinden kann, wenn ihr das Häßlichste nachgesagt wird: das Angeln nach Männerherzen? … Ich weiß am besten, wie sie am Fuß der Treppe, die zu Ihnen führt, mit sich gekämpft hat –“
„Aber sie ist trotz alledem hinaufgegangen und hat gehandelt, wie das echte Weib handeln soll, mit dem mitleidigen Herzen, und nicht mit dem egoistischen Verstand, mit dem starren Princip, das da sagt: ,Zahn um Zahn!’ … An diesem Herzen zweifeln, wäre eine Sünde, die ich mir selbst nicht verzeihen könnte, und deshalb sage ich – mögen Sie die Gütevolle, Selbstlose auch hier in diesen fremden vier Wänden vor mir verleugnen – ich sage: Sie wird wiederkommen, weil ihre Samariterpflicht sie noch einmal mit mir zusammenführen muß –“ er zeigte auf die verbundene Hand.
„Sie werden sich erinnern, daß ich mich erboten habe –“
„Und Sie wissen, daß ich diese Hülfe entschieden zurückweise. … Ich werde warten, geduldig warten, bis mein lieber Heilgehülfe sich seines Patienten erinnert. … Und nun will ich im Gottes Namen hinausgehen – vielleicht finde ich draußen im Walde seine Spur eher wieder.“
„Sie können jetzt das Haus unmöglich verlassen.“
„Bah, des Gewitters wegen? Sehen Sie doch hinaus Im Augenblick fällt kein Tropfen mehr.“
Das Getöse des niederrauschenden Regens war in der That jäh abgerissen, aber es war ein Innehalten, wie ein Ringender mit einem tiefen, langsamen Athemholen neue Kraft schöpft. Als bräche die Nacht herein, so dunkel wurde es plötzlich im Zimmer – die schwarze Wolkenwucht senkte sich so tief, als wolle sie das Dach des Hauses und die Waldwipfel zusammendrücken.
Der Gutsherr verbeugte sich leicht mit einem sprechenden Blick nach den Händen auf dem Thürschloß, aber sie gaben dasselbe nicht frei.
„Gehen Sie nicht!“ sprach die junge Dame. Das klang so sanft und beweglich, wie gestern die Mahnung: „Seien Sie gut!“
Seine Augen strahlten feurig auf. „Ich bleibe, wenn Sie befehlen,“ versetzte er nichtsdestoweniger kühl, und förmlich. „Ich begreife, daß Sie sich, so allein hier, vor dem Gewitter fürchten.“
„So geistesschwach bin ich nicht,“ entgegnete sie gereizt. „Von Kindheit an habe ich das Gewitter weit eher geliebt als gefürchtet.“
„Nun, dann ist mir Ihr Wunsch ein Räthsel. Hätte die barmherzige Schwester ihn ausgesprochen, dann wüßte ich, daß es aus Besorgniß für mich geschehen wäre, wie sie ja gestern auch um meinetwillen zu mir gekommen ist –“
„Sie irren sich. Sie hat Ihnen ausdrücklich erklärt, daß sie den unerhörten Schritt aus Gewissensnoth, im Hinblick auf die Menschenpflicht gethan habe,“ sagte sie fast heftig und warf mit einer unbeschreiblich stolzen, trotzigen Geberde den Kopf auf.
„Ach, so bitterernst ist das gemeint? Und Sie haben wirklich das Herz, mir – weil ich leichtsinnig und oberflächlich über einen Beruf und seine Vertreterinnen geurtheilt habe – meine süße Illusion zu rauben?“
Sie sah auf den Boden, und ihre Hände sanken vom Thürschloß herab.
„Finden Sie nicht ein milderndes Wort, an welchem ich mich aufrichten könnte?“
Man sah, daß ein heftiger Widerstreit der Gefühle in ihr kämpfte; allein ihre Lippen blieben geschlossen, und das blasse Gesicht wurde starr im Ausdruck unbeugsamen Widerstandes, während sie von der Thür wegtrat.
„Nun wohl, dann nehme ich die grausamste Enttäuschung meines Lebens hin und gehe!“ sagte er, indem er die Thür öffnete und durch die Hausflur nach dem Ausgang schritt.
Er hatte völlig vergessen, daß ein Kranker im Hause liege, und deshalb seine kräftigen, raschen Bewegungen in keiner Weise moderirt – so mochte das Geräusch des kreischenden Thürgriffes und der festen Schritte auf dem Backsteinfußboden den Schlafenden aufgeschreckt haben.
„Agnes!“ rief eine matte, verlangende Stimme von der Zimmerecke her.
Herr Markus sah noch, wie die junge Dame über die Schwelle der anderen Stube geflogen kam; er sah auch, wie sie, im heftigsten Zwiespalt mit sich selbst, in der Hausflur ihre Schritte hemmte und mit angstvollen Augen ihn verfolgte, bis es ihm gelang, dem eindringenden Sturme die Hausthür zu entreißen und sie zu schließen.
Er hatte seine ganze bedeutende Körperstärke nöthig, um sich gegen den Gewittersturm zu halten, der ihn beim Verlassen der Thürstufen wüthend anfiel. Es sah schlimm aus über ihm und um ihn her. Das schwarze, kochende Wolkengemenge da oben hatte der Blitze genug und wohl auch Hagel in seinem Schooße, und der fauchende Wütherich, der ihn schüttelte - und wie einen Ball vor sich herstieß, konnte sich jeden Augenblick den Spaß machen, einen der ächzenden Waldriesen wie einen Blumenstengel zu entwurzeln und über den dahintaumelnden, machtlosen Erdenwurm herzuschleudern.
Zwischen den vier rothen Wänden war es freilich sicherer gewesen, und ein Anderer mit kühlem Kopfe und normalem Pulsschlag wäre jedenfalls zurückgekehrt – ah, um keinen Preis that er das. Er hatte jetzt das Heft in der Hand. Einen besseren Bundesgenossen, als dieses erschreckende Wüthen und Toben in den Lüften, konnte er sich nicht wünschen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, ein ganz verstohlenes, leises, das ihm gleichsam ohne seinen Willen aus der Seele herausglänzte.
So kämpfte er sich ein tüchtiges Stück auf der Fahrstraße weiter, bis plötzlich ein Blitz niederzischte, dem sofort ein anhaltender, so entsetzlich krachender, erderschütternder Donnerschlag folgte, wie er nur im engen Thalgrund, zwischen hohen, versperrenden Bergen dröhnen kann. Einen Augenblick stand Herr Markus betäubt, als habe der Blitz zu seinen Füßen eingeschlagen und ihn gestreift; der Sturm schwieg wie im jähen Schrecken und machte einer secundenlangen Stille Platz, in welcher noch das schwefelgelbe Licht des Blitzes auszuzittern schien. Aber nun [172] stürzten auf’s Neue, wie erlöst, die Wassermassen nieder, in klatschender Wucht, und einen ganzen Hagel kleiner, rasselnder Eiskörner mit sich schleppend.
Herr Markus sprang quer über die Wiese, den Abhangs hinauf. Da oben stand, wie er wußte, ein kleiner Schuppen, ein Unterschlupf für die Waldarbeiter, halb verdeckt vom Dickicht, unter den Tannen. In wenigen Augenblicken hatte er das primitive Asyl erreicht. Es hatte drei aus groben Bruchsteinen mühelos hergestellte Wände und ein Dach aus dünnen Fichtenstämmen, und wenn der Regenguß nicht das festgestopfte Moos aus den Fugen riß, dann war der Schutzsuchende wenigstens nothdürftig vor Sturm und Nässe geborgen.
Er zog sich in die Tiefe des Schuppens zurück und sah, halb gepackt von Grauen, in das Unwetter hinaus. Da war es nun, was am Sonntag Pfarrer und Gemeinden der Walddörfer inbrünstig vom Himmel erfleht hatten, das köstliche, strömende Naß, das die halbvertrockneten Adern der Pflanzenwelt füllen und die Hoffnung auf den Erntesegen, auf das nöthige Stück Brod neu beleben sollte. Aber unter welchen furchtbaren Kämpfen gab es die Natur heraus!
So grauenvoll lebendig zuckte und zischte die Feuerschlange aus allen Richtungen, so ohne Unterlaß krachten die folgenden Donnerschläge, daß man meinen konnte, dem alten Griechengott sei das Bündel seiner Blitze entfallen – es war, als wollten diese erschütternden Detonationen die seit Jahrtausenden eng zusammengerückten Bergwände aus einander treiben … Und die hereinbrechenden Wasserfluthen wandelten im Nu die flache Wiese zum Seespiegel; sie füllten das ausgetrocknete Bett des kleinen Baches und schossen lehmfarben durch den Grund, Steingeröll und entwurzelte Pflanzen und schließlich auch den lose hingelegten Steg mit sich reißend. … Ob wohl der braven Griebel diese „Pelzwäsche“ gründlich genug war?
Uebrigens blieb das Stückchen Waldboden, das die drei Wände umschlossen, vollkommen trocken; das Wasser floß zu beiden Seiten den Abhang hinab. Auch das Dach, hielt wacker Stand; die unteren Aeste der sausenden Tannenwipfel peitschten freilich das schwanke Gefüge, aber sie wehrten auch dem ersten Aufprall des Regengusses, und nur wenn es dem Sturm gelang, sich einzuwühlen und die mächtigen Stämme wie Gerten auseinander zu reißen, dann kam ein direktes Sturzbad so prasselnd hernieder, daß dem Geflüchteten im Schlupfwinkel Hören und Sehen verging.
Das war nun ein Gewitter im Walde! Ein zornschnaubendes, versprengtes Ungethüm in einer Sackgasse. Es konnte nicht über die Berge und tobte, bis ihm der Athem ausging. … Das dauerte lange, unerträglich lange – Herr Markus lief schließlich glühend vor Unruhe und Ungeduld in dem engen Raum auf und ab. Aber nun wurde es auch allgemach heller; der Donner verrollte und die Regengüsse ließen nach. Allmählich wagten sich andere Laute hervor, das Piepen und Locken der Vögel, raschelndes Schlüpfen kleinen Gethiers durch das tropfende Geäst und schwaches Lebensgeräusch von menschlichen Wohnstätten herüber. Auch fernes Wagenrollen auf quikenden Rädern wurde hörbar; es kam auf der Fahrstraße näher und näher und hielt einen kurzen Moment vor dem einsamen rothen Hause. Dann schwankte der Wagen in dem zerweichten Boden schwerfällig weiter und erschien endlich auf dem Stück Wegbiegung, das Herr Markus übersehen konnte. Es war ein Leiterwagen mit übergelegter Plane, der wahrscheinlicher Weise den heimkehrenden Forstwärter ausgenommen und nun vor seiner Wohnung abgesetzt hatte.
Ah, der Grünrock war nunmehr zu Hause. Nun löste der Pfleger die Pflegerin ab, und wenn Angst und Besorgniß um andere, von dem grausen Unwetter überraschte Menschenwesen in ihr lebten, so fragte sie nicht nach dem immer noch fallenden Regen, nach dem schwimmenden Boden – sie benutzte ihre Freiheit, ihre Erlösung von den gebieterischen Wärterpflichten und kam.
Ja, sie kam. Sie kam daher wie eine dem Gefängniß Entsprungene – Schleierhut und Handschuhe und Schirm waren im Forstwärterhause liegen geblieben. Sie hatte die Schleppe über den Arm geschlagen; die schlanken, behenden Füße flogen den Weg daher, und mit wilden Bewegungen wandte sich der Kopf suchend nach allen. Richtungen – meinte sie, ein vom Blitz Erschlagener müsse am Wege liegen?
Herr Markus verließ den Schuppen und duckte sich hinter das nahe Tannendickicht. Sie konnte von unten aus den offenen Raum zwischen den drei Wänden übersehen und sollte und mußte ihn leer finden. Mit einem den Schuppen überfliegenden Blick eilte sie denn auch vorüber und schlug den schmalen, durch den Wald nach dem Hirschwinkel führenden Gehweg ein.
Daß dieser Pfad heute nicht mehr passirbar war, hatte sie freilich nicht wissen können – nun machte sie Halt und prallte zurück vor dem breiten, schäumenden Gewässer, zu welchem das halbversiechte, friedfertige, die Passage quer durchschneidende Bächlein angeschwollen war. … Kein Steg weit und breit! Sie lief wie verzweifelt am Ufer hin und suchte nach einer eingeengten Stelle, die sie überspringen könne.
Währenddem war der Gutsherr unhörbar den Abhang herunter, über den weichen, schwimmenden Wiesenboden hergekommen. Er stand hinter ihr in dem Moment, wo sie hastig ihre Kleider zusammennahm, um das Wasser zu durchschreiten. – Blitzschnell schlang er die Arme um sie und hob sie hoch vom Boden auf.
Sie stieß einen Schrei aus – ihr Antlitz, das wie in halber Ohnmacht auf seine Schulter sank, war furchtbar verweint und noch angstentstellt, aber jetzt verklärte es sich unter einem tiefen, erlösenden Aufathmen.
„Ich thue es nicht aus allgemeiner Menschenpflicht,“ flüsterte er ihr lächelnd in’s Ohr, während er sie durch das Wasser trug, „ach nein, solch ein Allerweltshelfer bin ich nicht. Ich thue es einzig um Ihretwillen.“
Drüben ließ er sie sanft auf den Boden niedergleiten.
„Sie haben sich wehe gethan,“ fuhr sie empor und faßte nach seiner verbundenen Hand, weil er mit einer raschen Bewegung von ihr weggetreten war.
„Ich habe mir nicht wehe gethan,“ sagte er doppelsinnig. Jeder Unbefangene hätte den versteckten Schalk in seinen Augen sehen müssen – sie in ihrer großen Aufregung sah ihn nicht. „Möglich, daß unter dem Verbande da etwas nicht in Ordnung ist,“ meinte er achselzuckend, „aber was thut das? Meine robuste Natur wird sich schon selbst zu helfen wissen. … Und nun gehen Sie schleunigst heim! Ich weiß, die alten Leute verzehren sich in Angst um die Blumensucherin. … Aber der Onkel wird schön zanken, daß Sie ohne Handschuhe ankommen – soll ich sie holen?“ Er machte Miene, nach dem Forstwärterhaus zurückzulaufen.
Sie schüttelte abwehrend den Kopf und jetzt dämmerte auch ein schelmisches Lächeln in ihren verweinten Zügen auf.
„Und der Hut ist auch liegen geblieben,“ sagte er, „die Regentropfen blitzen wie Brillanten in Ihrem Haare und werden Sie erkälten. Nun, den dünnen, grauen Schleier hätten sie auch nicht respectirt – da lobe ich mir das Kopftuch, das liebe, weiße Kopftuch meines Heilgehülfen. – Und nun leben Sie wohl!“
Mit diesen letzten Worten war er durch das rauschende Gewässer zurückgesprungen und schritt, ohne noch ein einziges Mal den Kopf umzuwenden, durch die Wiesen nach dem Fahrwege. Mit dem gewaltsamen, romantischen Pfadsuchen im wilden Unterholze war es selbstverständlich heute nichts – das hätte eine Griebel’sche „Pelzwäsche“ sonder Gleichen gegeben – den Weg aber, den die „Blumensucherin“ ging, wollte er um jeden Preis vermeiden, und so mußte er sich bequemen, das Forstwärterhaus zu passiren und in den ein beträchtliches Stück davon entfernten, gutgebahnten Waldweg einzulenken, denselben, auf welchem Frau Griebel bei der ersten Begegnung vom Grafenholze hergekommen war.
Hurtig legte er den Weg zurück – er hatte Eile. Der Regen hatte aufgehört; dagegen stand der Wald voll beladen, und wenn der Dahinstürmende an einen überhängenden Zweig stieß, dann brauste es wie ein Sturzbad über ihn her. … Wasser in Fülle hatte diese eine bange Stunde gespendet – der weiche moosige Boden stand voll Lachen, und der kleine Fluß, der die Schneidemühle trieb, schoß, bis an den Rand gefüllt, ungeberdig tosend durch das Wiesenthal.
Drunten am Ufer stand der Sägemüller mit fröhlichem Gesicht. „Heute hat es Brod geregnet, Herr Markus,“ rief er dem Vorübergehenden zu, und im offenen Hofthor kam ihm Peter Griebel entgegen. „Nun hat es gute Wege mit dem Verhungern auf dem Walde – die Kartoffelernte wird heuer eine gute. – Ja, solch eine Staupe lasse ich mir gefallen,“ sagte der Pächter tiefbefriedigt und reckte den Arm hinaus über das schwimmende, glitzernde Gelände. In der Hausflur aber lief Frau Griebel dem
[173][174] eintretenden Gutsherrn in die Hände. Sie kam aus der Speisekammer und hatte zwei volle Papierdüten in der Rechten.
„Na, Herr Markus, was sagen Sie nun zu so einem Wetterchen?“ meinte sie, den Arm in die Seite stemmend. „Gelt, das donnert und rumort ein Bischen anders, als auf so einer breiten Kuchenschüssel, wie Ihr ,Zuhause‘ eine ist? Ja, sehen Sie, ohne ein rechtschaffenes Gepolter thun wir’s nun einmal nicht; das ist bei uns so Mode, und das hör’ ich so gern, wie die Orgel in der Kirche. Und das hier sind sie“ – sie zeigte ihm die strotzenden Düten – „die Rosinen nämlich, die ich den Tillröder Kindern extra in den Kuchen backe – es hat gar zu schön geregnet!“
„Recht so – Rosinenkuchen! Und ich gebe den Wein dazu. Und können Sie auch schöne Hochzeitskuchen backen?“ Mit diesen Worten umfaßte der Gutsherr übermüthig die kleine, dicke Frau und wirbelte ein paar Mal mit ihr im Kreise herum.
„Hochzeitskuchen?“ wiederholte sie verschnaufend, mit mißtrauischem Blicke. „Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, Herr Markus, daß Sie gar so fidel heimkommen? Und naß wie ein Pudel sind Sie auch. Ach Herrje, und die Lehmtropfen da auf meinen schönen, frischgescheuerten Flurdielen! Gehen Sie mir weg – tanzen auch noch und haben den halben Hirschwinkel an den Stiefelsohlen! Na ja, Hanne wird schön brummen, daß sie noch einmal mit dem Scheuerwisch anfangen muß. Hochzeitskuchen sagten Sie? O ja, den kann ich schon backen – zwei Hände hoch und locker, daß er Einem auf der Zunge zergeht.… Aber nun frage ich: für wen denn in unserem stillen Hirschwinkel? Wer soll ihn denn essen?“ –
„Wer? Ei, wer Lust hat, wer mein Gast sein will! – Alt und Jung, Reich und Arm – sie sind Alle eingeladen. Wer einen Schatz hebt, der darf auch mit seinem Danke nicht knausern.“ –
Er lachte ihr voll Uebermuth in das verdutzte Gesicht, und die Treppe hinaufsteigend, sang er mit schönem Bariton Georg Brown’s „Komm, o holde Dame!“
„Sag an, wie ist dein Name?“ scholl es noch in die widerhallende Hausflur herab; dann flog droben die Thür zu.
Friedrich Oetker.
Am 17. Februar 1881 morgens in der Frühe ist im Alter von beinahe zweiundsiebenzig Jahren Friedrich Oetker gestorben, bekannt als kurhessischer, preußischer und deutscher Abgeordneter, seit länger als einem Menschenalter im öffentlichen, sowohl im literarischen wie im politischen Leben thätig, vor Allem aber geachtet als kluger, unermüdlicher und erfolgreicher Vertheidiger der hessischen Verfassung gegen den letzten Kurfürsten und seine Leute.
Ich glaube, es ist selten, daß der Geist, der Charakter und die Willenskraft eines einzelnen Mannes in einem deutschen Kleinstaate sogar gegenüber einer in ihren Mitteln nicht sehr wählerischen Regierung, welche an dem Bundestage einen sicheren Rückhalt hatte – solche Erfolge erzielt hat. Denn so weit der Streit sich auf dem Gebiete des hessischen Landes und des hessischen Rechtes bewegte, war Oetker Sieger geblieben gegen den Kurfürsten und gegen Hassenpflug, den thatkräftigsten und rabulistischsten aller kleinstaatlichen Minister.
Erst als der Kurfürst sich entschloß, österreichische und baierische Kriegsvölker in sein Ländchen zu rufen, gelang es, die Verfassung vorübergehend zu Boden zu werfen, aber zugleich auch den kurfürstlichen Thron zu erschüttern. Als im Jahre 1866 preußische Truppen in das Kurfürstenthum einmarschirten, da war es zu Ende mit der hessischen Particular-Verfassung, aber auch mit dem Kurfürsten selber. Er wurde nach Stettin in Kriegsgefangenschaft abgeführt, zwar bald wieder freigegeben, aber er ist nie wieder zurückgekehrt auf kattischen Boden. Er ging nach Prag, weil Einer seiner Ahnen dort auch in der Verbannung gelebt hatte und nach sieben Jahren im Triumph zurückgekehrt war zu seinen biederen Katten, die ihn empfingen mit dem von Dahlmann bezeugten Wahlspruch: „Ein alter Esel ist er zwar, aber wiederhaben müssen wir ihn dennoch.“ Kurfürst Friedrich Wilhelm ist in der Fremde gestorben, ohne thronfolgefähige Nachkommenschaft zu hinterlassen.
In seinen „Lebenserinnerungen“ (zweiter Band S. 199) hat Friedrich Oetker, der sein Leben der Vertheidigung der Verfassung gewidmet, sich selbst zum Schutz, denen aber, welche über das Elend solcher Verfassungen sich in Spöttereien ergingen, zum Trutz die treffende Bemerkung niedergelegt:
„Nicht der Constitutionalismus hat sich bei uns unzureichend erwiesen, sondern die Kleinstaaterei war unser Verderben. Hassenpflug und dem Kurfürsten gegenüber wären wir (die Verfassungsstreiter) Sieger geblieben, aber gegen österreichische und baierische Heerschaaren vermochte das kleine Hessenland sich nicht zu wehren.“
Wäre Friedrich Oetker, statt in Kurhessen, in der amerikanischen Union geboren gewesen, vielleicht würde er die Rolle eines Washington gespielt haben. In Ungarn wäre er gleich einem Franz Deák gefeiert worden. In Kurhessen sind es nur die Auserwählten, welche seiner Verdienste stets dankbar gedenken.
Oetker ist, gleich dem Kurfürsten, nicht auf kattischem Boden gestorben, aber – und das verdiente er reichlich – auf deutscher Erde, in der Reichshauptstadt.
„Ist er nicht im Hospital gestorben? Ein solcher Mann im Hospital! So Etwas kann nur in Deutschland vorkommen.“
So schrieb mir gleich nach Oetker’s Tode ein Freund voll sittlicher Entrüstung. Aber der Mann hatte Unrecht, trotz seiner guten Gesinnung; denn es ist wahr: zwar ist es ein Hospital, in welchem Oetker gestorben, aber ein so vortreffliches, daß ich sehr zweifle, ob er, der alte Junggeselle, der so wenig Bedürfnisse hatte und doch so streng auf Ordnung und Reinlichkeit hielt, irgendwo eine seinen Wünschen mehr entsprechende Verpflegung und so vortreffliche Krankenwärterdienste gefunden haben würde, wie dort. Jedenfalls aber hatte er da eine vorzügliche ärztliche Behandlung. Er starb nämlich in dem Augusta-Hospital in Berlin, in der Scharnhorst-Straße, am Invaliden-Park gelegen. Dieses Hospital steht unter der besonderen Protection der Kaiserin und ist so gut eingerichtet und verwaltet, daß 1870 und 1871 die verwundeten und gefangenen französischen Officiere, welche dort lagen, vielfach um ihr Schicksal beneidet wurden und sich nicht beklagen konnten, daß sie hinter die einheimischen Officiere zurückgesetzt wurden. Jedenfalls war es nicht Noth, was ihn in das Spital trieb. Seine Einkünfte reichten hin, um ihm jeden anderen Aufenthalt zu gestatten. Die Dotation freilich, welche ihm seine politischen Freunde um seiner großen Verdienste willen und zum geringen Ersatz für die Unbilden und Verfolgungen, die er durch die kürhessische Regierung erlitten, zugewandt hatten und die eine ziemlich ansehnliche Summe erreichte, hatte er mit gewohnter opferwilliger Uneigennützigkeit gemeinnützigen Zwecken und Stiftungen gewidmet.
Oetker war so recht das Gegentheil von alledem, was sich leider noch so viele Menschen, wenn nicht als das Ideal, so doch wenigstens als den Typus des Volksvertreters vorstellen. Er war nicht der Mann der großen Gesten und der großen, unaufhörlichen, häufigen und unablässig-unermüdlichen Reden.
Wie oft, wenn die Zeitungen melden, in der abgelaufenen Session habe der Abgeordnete Windthorst 427 Mal und der Abgeordnete Lasker 321 Mal gesprochen, fragt nicht mancher Wähler mit gerunzelter Stirn:
„Warum spricht denn nicht auch unser Vertreter? 300 oder 400 Mal, das kann man wohl nicht von Jedem verlangen, aber von Zeit zu Zeit einmal könnte er sich doch auch hören lassen.“
Nun, Friedrich Oetker, der sein Mandat so gewissenhaft ausübte, wie nur Einer, hat während der dreizehn Jahre, die ich mit ihm in dem preußischen Abgeordnetenhause und in dem deutschen Reichstage gesessen, auch nicht eine Silbe öffentlich gesprochen, und doch war er einer der fleißigsten und einflußreichsten Abgeordneten – einflußreich namentlich in Sachen seiner Provinz. Er hatte den Geist und die Gabe, zu sprechen, aber ihm versagte die Stimme. Nur in kleinem Kreise wußte er sich Gehör zu verschaffen, aber da sprach er desto überzeugender.
[175] Desto besser verstand er zu hören. Wenn er nicht krank war, versäumte er keine Sitzung. Da sah man den klugen, alten, kränklichen Kopf mit dem großen weißen, in sarmatischer Weise herabhängenden Schnurrbart und den glatt nach hinten gestrichenen schneeweißen Haaren, stets etwas vorgeneigt lauschen und nur zuweilen ein wenig lächeln, und als eines Tages in dem höchst provisorischen Reichstagsgebäude, das immer noch nicht einem der Würde der Nation entsprechenden Parlamentshause Platz machen will, von den ebenfalls höchst provisorischen Decken sich einige Balken loslösten und mit einer Gewalt, die einen Ochsen hätte tödten können, dicht neben Oetker’s Sitz niederschlugen, sah man am andern Morgen das verehrliche Mitglied für Schaumburg wieder auf der nämlichen Stelle sitzen, still, freundlich, aufmerksam, als wenn nichts geschehen wäre und nichts wieder geschehen könnte - der Fleisch gewordene Ausdruck des „Impavidum ferient ruinae“, des „Unerschrockenen im Welt-Einsturze“.
Ich kannte Oetker seit beinahe vierzig Jahren. Er hatte in seiner Jugend eine schwere Krankheit durchgemacht und war seitdem nie wieder ganz genesen. Man sagt, Niemand habe eine lebenslange Krankheit mit mehr Gottergebenheit ertragen, als der fromme Dichter und Magister Christian Fürchtegott Gellert in Leipzig; hat er doch auch das schöne Buch „Von den Trostgründen wider ein sieches Leben“ geschrieben, von welchem ich - das spricht freilich nur für die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur - indessen, beiläufig bemerkt, noch niemals gehört habe, daß es irgendwann einem wirklich Kranken in der That zum Troste verholfen.
Aber von Friedrich Oetker kann ich behaupten, daß er durch die Kraft seines Willens seine Krankheit, ohne sie aufheben zu können, doch förmlich unterjocht hat. Weit entfernt von der vielberufenen Schopenhauer’schen „Verneinung des Willens zum Dasein“, war er stets beseelt von dem Entschluß der That und des Wirkens. Ich habe ihn gesehen, wie er unter den heftigsten Schmerzen zu Bett lag, aber da am andern Tag eine für weiland Kurhessen wichtige Frage zur Entscheidung kam, so hatte er seine Landsleute, die hessischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, um sich versammelt und gab ihnen die minutiösesten Instructionen, wie es der Feldherr vor der Schlacht thut, immer freundlich, immer sorgfältig und geduldig, während ein Anderer hätte aus der Haut fahren mögen.
In Folge dieser bewundernswürdigen Selbstbeherrschung wollte gar Mancher an seine Krankheit nicht so recht glauben, obgleich sie nur zu sehr eine traurige Wahrheit war. Ich glaube, es war im Jahre 1859 – da saßen wir in Frankfurt am Main zusammen, und Einer unserer politischen Freunde, von der Statur des Hercules und von so brennendrothen Wangen, daß Oetker sagte, man könne sich eine Cigarre daran anstecken, schrie in seinem Uebermuthe:
„Ja, da sitzen wir nun, wir jungen und kräftigen Leute, und doch wird da dieser alte kranke Oetker uns alle überleben.“
Und in der That hat ihn Oetker um sechszehn Jahre überlebt. Ein Anderer von unserer damaligen politischen Tafelrunde dagegen schrieb mir dieser Tage:
„Möge die Erde leicht sein für unseren tapferen alten Kattenhäuptling! Man darf sich kaum wundern, daß er gestorben. Man kann vielmehr kaum begreifen, wie er so alt werden konnte. Aber der starke Geist hat den schwachen Körper aufrecht erhalten.“
Er selbst schrieb 1878 in seine „Erinnerungen“:
„Durch einige Flugblätter, die, wie man sagt, den Nagel auf den Kopf trafen, war ich im Sommer 1848 schnell ein ‚einflußreicher‘ Mann geworden. Auch in die Ständeversammlung wollte man mich bringen, doch lehnte ich dies vorläufig ab. Erst im Herbst 1848 nahm ich eine Wahl der Schaumburger Städte an und begann am 29. November meine parlamentarische Thätigkeit, indem ich sogleich in den ‚Legitimations-Prüfungs-Ausschuß‘, später auch in andere Ausschüsse gewählt wurde.
Da ich wegen fortwährender Heiserkeit nur mit großer Anstrengung einige Sätze zu reden vermocht, so war meine Wirksamkeit meist auf die Theilnahme an Ausschußberathungen, auf kurze Bemerkungen und stille Beeinflussungen, sowie auf Befürwortungen und Bekämpfungen in der Presse beschränkt. Auch später, bis auf die neueste Zeit, hat sich dies niemals wesentlich geändert.“
Die zwei Bände „Erinnerungen“ von Oetker sind ein wahres Schatzkästlein. Der erste Band ist 1877 erschienen. Oetker schickte ihn mir mit einem freundlichen Billet, das ihn in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigt. Es datirt vom 23. Juni 1877 und lautet:
„Vor geraumer Zeit, hochmögender Freund, sandte ich eine Frage an Sie ab, wo Sie demnächst zu erreichen sein möchten. Da ich darauf keine Antwort erhalten, so nehme ich an, daß Sie entweder ‚hinten weit in der Türkei‘ oder anderswo weit sich befinden. Ich lasse daher hierneben mein Jüngstes einfach in Ihrem Hause (in Berlin) abgeben, selbiges dem Schutze Ihrer Penaten so lange empfehlend, bis Sie es selbst in Ihre freundliche Obhut und Fürsorge nehmen und mir dann zugleich sagen werden, ob ein Allerjüngstes wünschenswerth ist oder nicht?
Rosen auf Ihr Haupt! Das meinige ist sorgenschwer.
Fr. O.“
Er hatte mit seiner Vermuthung nicht Unrecht. Zur Zeit, als sein Billet und Buch in meiner Wohnung in Berlin abgegeben wurden, weilte ich zufällig in Vathy, der Hauptstadt der Insel Ithaka, der Heimath des göttlichen Dulders Odysseus. Ich brachte von da einen prachtvollen Wein mit, einen echt griechischen Muscato, den ich denn auch meinem Freunde Oetker vorführte; der alte Katten-Häuptling kostete ihn mit Geschmack und Verstand und meinte lächelnd:
„Doch ein dummer Kerl, dieser Odysseus, daß er sich an die zwanzig Jahre nutzlos in der Welt umhertrieb, während er zu Hause einen solchen Wein in seinem Keller hatte.“
Wenn Oetker damals schrieb, „sein Haupt sei sorgenschwer“, so hatte das seinen Grund darin, daß er glaubte, Bismarck sei im Begriff, gegen den Liberalismus eine feindselige Stellung einzunehmen und sich ganz den Russen in die Arme zu werfen. Letzteres war bekanntlich ein Irrthum.
Ich ermunterte Oetker sehr lebhaft, „ein Allerjüngstes“, das heißt einen zweiten Band „Erinnerungen“ folgen zu lassen (er sagte mir, er habe Stoff für vier Bände), denn der erste war prachtvoll, namentlich die Erzählung von „Elternhaus und Dorfschulzeit“. Der zweite ist 1878 erschienen.
Oetker ist eigentlich gar kein Katte, sonderm ein richtiger niedersächsischer Bauer. Er ist in Rehren (nicht Kehren, wie augenblicklich die Zeitungen, in geographisch-topographischer Unwissenheit mit einander wetteifernd, berichten) geboren, einem kleinen Dorf in der (jetzt zur preußischen Provinz Hessen-Nassau gehörenden) Grafschaft Schaumburg, an der Straße von Rinteln nach Rodenberg gelegen. Es ist ein Ländchen von großen landschaftlichen Reizen, eine Niederung, welche im Süden die Weserberge, in das schöne Weserthal steil abfallend, im Norden der „Bückeberg“ begrenzen - ein zwei Meilen langer Bergrücken, der hier das norddeutsche Flachland von dem Hügelgelände Mitteldeutschlands trennt. Zugleich hat hier die Kleinstaaterei seltsame territoriale Gestaltungen geschaffen, namentlich an der Grenze zwischen Hessen, jetzt Preußen, und Bückeburg, wo früher eine Art Gemeinschaft bestand, welche an den berüchtigten Communionharz erinnert. Hier existiren auch werthvolle Steinkohlen-Bergwerke. Der berühmte Obernkircher Sandstein - ein feinkörniger, fester, hellgrauer Stein, davon in Berlin die Siegessäule aufgebaut ist – wird hier gebrochen. Dieses Schaumburger Ländchen hat Oetker bis zum letzten Hauch in treuem Herzen getragen, und die braven Schaumburger wußten das und haben es ihm mit aufrichtiger Gegenliebe ehrlich vergolten. Wenn er sich dort sehen ließ, wurde er geehrt und gefeiert, und wenn dort gewählt wurde, wählte man Oetker, ohne daß von einer ernsthaften Gegencandidatur auch nur einmal die Rede gewesen wäre. Man wählte ihn nach Kassel in den hessischen Landtag, nach Berlin in das Abgeordnetenhaus, in den norddeutschen und in den deutschen Reichstag.
Ich lege großen Werth auf diese Herkunft Oetker’s. Er hatte die Zähigkeit, die Bauernklugheit und die Eisenköpfigkeit des Niedersachsen, und dies machte ihn zum Führer der streitbaren und tapferen Katten in den kurhessischen Verfassungskämpfen. Dies charakterisirt seine Stellung in Hessen.
Zugleich aber war er geboren auf der Grenze zwischen Ober- und Niederdeutschland, und dies kennzeichnet seine Stellung in der deutschen Politik. Er war der geborene Vermittler zwischen norddeutschen und süddeutschen Naturen und, trotz seines Heimathsgefühles, himmelweit entfernt von allem Particularismus.
Dieses sein schönes Schaumburger Ländchen hat Oetker reizend geschildert. Einmal in dem ersten Bande seiner „Erinnerungen“, dann aber in dem erst vor wenigen Wochen bei Gebrüder Paetel in Berlin erschienenen Buche „Aus dem norddeutschen Bauernleben“.
[176] Wer Oetker’s Heimath kennt, der wird nicht nur angeheimelt, sondern tief ergriffen werden von der Wahrheit dieser bäuerlichen Erzählungen. Man könnte das Buch auch „Fritz Oetker und die Seinen“ nennen, und dadurch gewinnt es heute einen doppelten Werth. Oetker’s Vater war dort ein kleiner Bauer und zugleich Besitzer einer kleinen Klappermühle, die von einem vom Bückeberg herabkommenden Bächlein gespeist wird. Dieser Müller und die Seinen sind die Helden der Oetker’schen „Schildereien“. Der „Müller“, das ist Oetker’s Vater; der „Berg“, den er und seine Familie (in der zweiten Erzählung) übersteigen, das ist der Bückeberg; der „Fritz“, das ist Oetker selbst; der „Christian“, das ist sein Bruder Karl. Sie sind herauszukennen, obgleich die Namen geändert oder unterdrückt sind. Es ist ein Buch voll Menschenkenntniß und Natursinn, voll Leben und Wahrheit.
Aber mit derselben Liebe, mit welcher er sich in das intime Leben seiner kleinen Heimath vertiefte, studirte er auch das germanische Leben im Auslande, so lange ihm die politische Verfolgung den Aufenthalt in Deutschland unmöglich machte. In Belgien trat er ein für die Vlamingen gegen die Fransquillons. Seine „Belgischen Studien“ (Stuttgart, 1876) enthalten Schilderungen ersten Ranges.
Sein Buch „Helgoland“ (Berlin, 1855) ist weitaus das Gediegenste unter den zahlreichen Publicationen über diese unter englischer Herrschaft stehende deutsche Insel. Es enthält die gründlichsten rechts- und culturhistorischen Studien, und die darin enthaltenen sprachwissenschaftlichen Forschungen wurden von Jacob Grimm des lebhaftesten Beifalls gewürdigt.
Noch kurz vor seinem Tode hat Oetker wiederholt in öffentlichen Blättern, englischen wie deutschen, das Wort ergriffen, um die Helgoländer gegen gewisse englische Experimente zu schützen.
Doch kehren wir zurück zu dem Anfange seiner öffentlichen Laufbahn! Er machte 1835 sein juristisches Staatsexamen, allein er mußte einige Zeit warten, bevor man ihn provisorisch zur Anwaltschaft zuließ. Erst das Jahr Achtundvierzig ließ ihn endgültig dazu gelangen. Gleichzeitig wurde Oetker Stadtrath in Kassel, Mitglied der Ständeversammlung und Begründer der „Neuen hessischen Zeitung“. In diesen Stellungen führte er unerschrocken den Kampf wider die kurfürstliche Mißregierung und die Hassenpflug’sche Willkür. Dieser Kampf gestaltete sich immer ernsthafter. Im Herbste 1850 wurde Oetker verhaftet, ohne Urtheil und Recht Wochen lang gefangen gehalten und dann von den „Strafbaiern“ über die Grenze getrieben. Aber selbst im „deutschen Auslande“ war er nicht sicher. Nach Göttingen, nach Braunschweig, nach Wangeroge folgte ihm die kurfürstliche Verfolgung. Er mußte nach dem englischen Helgoland flüchten, um sich vor den liebenswürdigen Zudringlichkeiten seines theuern Landesvaters zu retten. Auf diesem kleinen Eilande, welches statt der Wälder nur die berühmte „Kartoffelallee“ aufzuweisen hat, saß er drei lange Jahre, wie Iphigenie „das Land der Katten mit der Seele suchend“. Auch Krankheit hielt ihn da fest; erst im Herbste 1854 gelang es ihm, nach dem Festlande zurückzukehren. Er wohnte von 1854 bis 1859 in Brüssel und an anderen Orten von Belgien. Aber er mochte wohnen wo er wollte, nach allen Orten trug er den kurhessischen Boden an den Schuhsohlen mit sich: auch in der Fremde beherrschte die Sorge für die Verfassung und das Wohl seiner Heimath sein Dichten und Trachten. Auch von Helgoland, von Ostende, Brüssel, Brügge, Gent und Mecheln aus war er für die Schwachen eine Stütze, für die Rathlosen, für die Verzagten ein Tröster.
Kaum gestattete ihm die „neue Aera“ die Rückkehr, so erschien er 1859 wieder in Kassel. An der Stelle des früheren Blattes, das ebenfalls der kriegszuständlich-polizeilichen Willkür erlegen, gründete er die „Hessische Morgenzeitung“, in welcher er die sogenannten „Nachthessen“ unbarmherzig bekämpfte. Er, der kranke Verbannte, wurde die Seele und das Haupt der ganzen hessischen Verfassungspartei. Ohne ihn war der Kampf überhaupt nicht denkbar. Er führte ihn mit einer Sorgfalt, von der man in größeren Verhältnissen gar keinen Begriff hat. Er war Höchstcommandirender und Chef des Generalstabs in einer Person. Damit nicht genug, exercirte er die Wahlkörperschaften ein, und er drillte auch die Rekruten in dem Landtage, welcher sich mehr durch Standhaftigkeit als durch Intelligenz auszeichnete. Oetker formulirte die Anträge; er verfaßte gar Manches, das ein Anderer vortrug. Er setzte den Landtag in Scene und besang ihn dann in der Zeitung, Homer und Achilles in einer Person. Wider seine kranke Brust richteten sich alle Geschosse der Gegner, und diese Geschosse waren nicht immer sehr reinlich. Aber nicht einmal den Humor wußte ihm Alles das zu verderben. Er hat ihn bewahrt bis zur letzten Stunde seines Lebens.
Ich hatte ihm am 7. December 1880 geschrieben, um ihm meinen Beifall auszusprechen für seine prachtvollen niedersächsischen Bauerngeschichten, die soeben erschienen und von mir an einem einzigen Tage verschlungen worden waren. Auch hatte ich ihm eine Kritik der Geschichten „angedroht“. Da ich nicht wußte, wo er sich aufhielt, hatte ich den Brief an die Herren Gebrüder Paetel in Berlin, die Verleger des Buches, adressirt. Ich erhielt von Oetker wörtlich folgende, offenbar im Bette und unter Anstrengung, mit Blei geschriebene Antwort per Postkarte:
„NW Berlin, Augusta-Hospital, 8. December 1880.
Daß Euer Liebden mich den Berlinern gegenüber, die meine Bücher todt zu schweigen pflegen, rächen wollen, finde ich sehr edel. Wollen Sie dabei sagen, daß ich keine ‚Dorfgeschichten‘ im gewöhnlichen Sinne des Wortes geschrieben habe, sondern blanke, volle Wirklichkeit, wenn auch hier und da etwas umgruppirt, so habe ich nichts dagegen. Ich selbst kam nicht mehr dazu, es in der Vorrede zu sagen. Ein furchtbares Leiden kam mir auf den Hals, oder vielmehr in den rechten Arm, wovon ich noch nicht genesen bin – nach sechs Monaten! Wenn mich Jemand fragt, was es sei, so sage ich: ‚Neuralgia humero-brachialis obscura perplexa‘. Gewöhnlich giebt man sich dann mit einem ‚Ach so!‘ zufrieden, was mit einem deutschen Worte nicht zu erreichen steht.
Möge Ihr Schatten ein geringer werden!Ich wollte also das treffliche Büchlein in einer Zeitschrift besprechen und darin alles Gute, was ich darüber auf dem Herzen habe (und wovon Obiges nur ein ganz kleiner Theil ist) vollständig sagen. Aber es kam mir allerlei Arbeit dazwischen.
Am 11. Januar (1881) erhielt ich eine zweite Postkarte von Oetker, die also lautete:
„Hochmögende Liebden!
Im Stande der Unschuld lebend (d. i. entfernt von Menschen, Zeitschriften und Büchern), weiß ich nicht, ob Euere Liebden Bedrohung vom 7. December vorigen Jahres ausgeführt worden ist.
Wenn ja, so wollte ich mir einen Abdruck erbitten – in’s Augusta-Hospital zu Berlin NW, woselbst ich elendiglich, aber schönstens grüßend, verharre.Ich machte mich nun an die Arbeit, war aber mit derselben noch nicht fertig, als ich am 18. Februar die Nachricht von seinem Tode erhielt.
Ach, dachte ich, ist doch das zu rascher Ausführung guter Entschließung mahnende englische Sprüchwort: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ so richtig. Mein Vorsatz, dem lieben, alten Freund mit einer öffentlichen Besprechung seines Buches eine so wohlverdiente Freude auf dem Krankenlager zu machen, ist durch mein Zögern vereitelt.
So will ich wenigstens dieses Blatt niederlegen auf dem Grabe des Tapfern.
Friedrich von Matthisson.
Wie schnell das literarische Schönheitsideal einer Zeit sich wandelt, darüber belehren uns wohl nur wenige Beispiele so eindringlich, wie dasjenige des Dichters, dessen Andenken die deutsche Nation am 12. März d. J., dem fünfzigsten Erinnerungstage seines Todes, feiern könnte – wenn heute überhaupt noch eine Seele in Deutschland des Todten von Wörlitz gedächte. Der von Schiller mit so großer Wärme und einem reichen Aufwande von kunstphilosophischen Beweisführungen auf den literarischen Schild gehobene und trotz [177] A. W. von Schlegel’s feindseliger Kritik von unseren Großeltern und Eltern hochgefeierte Friedrich von Matthisson ist uns heute nur noch der Repräsentant einer längst abgethanen poetischen Geschmacksrichtung, die durch eine einseitig elegisch-sentimentale Gefühls- und Naturmalerei oft genug zu ersetzen suchte, was ihr an innerer poetischer Wahrheit abging. In wie stimmungsvoller Beleuchtung uns auch die Scenerien der Matthisson’schen Gedichte erscheinen mögen, diese geheimnißvollen Mondaufgänge über schilfumkränzten Seen, diese epheuumrankten Trümmer und abendrothbeleuchteten Burgen und wie sonst die träumerischen Bilder der Phantasie des Dichters sich unserem geistigen Auge darstellen – sie sind uns Kindern der heutigen Zeit zu einem großen Theile nur Außendinge der Poesie; wir können uns an ihnen nur selten erwärmen und erfreuen, weil wir die innere Bewegtheit, den geistigen Kern an ihnen allzu oft vermissen.
Wer war Friedrich von Matthisson und welche Stellung gebührt ihm in der Geschichte der deutschen Dichtung? Nicht Viele wissen heute noch auf diese Frage zu antworten – der Schützling Schiller’s ist eben ein längst Verschollener, und diese Zeilen wollen den in mehr als einem Punkte mit Recht vergessenen Poeten auch nicht zu neuem Leben erwecken; sie wollen nur in Kürze seine literarische Bedeutung kennzeichnen. Am treffendsten hat man Matthisson charakterisirt, indem man ihn den Landschaftsmaler unter den deutschen Dichtern nannte. Sein Dichten ist ein Abschreiben der Natur, eine oft bis in’s Einzelne getreue Wiedergabe des von ihm in’s Auge gefaßten landschaftlichen Locals; dieses Copiren der Natur macht die eigentliche Eigenart seiner Schilderungen aus, und so vollzieht sich in ihnen denn auch der höchste, freilich sehr fragwürdige Triumph, den diese Dichtungsart feiern kann: Matthisson’s Gedichte erwecken in dem Leser dieselben Empfindungen, welche der Anblick einer malerischen Gegend in dem Naturbeschauer erregt. Aber es ist doch ein einigermaßen mühsamer, dem Leser nur auf dem Wege der Reflexion möglicher Naturgenuß, den uns hier der Maler, Worte als Farben benutzend, bietet; denn dem Worte fehlt naturgemäß die sinnliche Anschaulichkeit, die unmittelbare Wirkung auf das Vorstellungsvermögen, welche der Farbe eigen ist – unser Dichter vergaß, daß er die Feder und nicht den Pinsel führte: Diese Naturmalerei in Reimen und Rhythmen als Selbstzweck der Poesie ist jedenfalls eine der untergeordnetsten, wenn nicht überhaupt eine unangemessene Ausdrucksweise der Dichtkunst; sie kann, wie Lessing in seinem „Laokoon“ so schlagend nachgewiesen hat, keinenfalls Anspruch machen auf dieselbe künstlerische Rangstufe, welche die Landschaftsmalerei in der Kunst des mit Farbe und Pinsel schaffenden Malers einnimmt – sie ist, im Grunde genommen, nichts als dichterische Decorationsmalerei, die den Anspruch auf geistigen Inhalt nicht befriedigen kann.
Aber dennoch – ein so bedingungslos abfälliges Urtheil, wie wir Heutigen, zumal die heutigen Literaturgeschichten, über Matthisson’s Gedichte zu fällen gewohnt sind, dürfte denn doch in der Werthmessung dieses Poeten nicht das unbedingt Richtige treffen. Ein Verdienst wird man Matthisson trotz seiner großen Schwächen nicht absprechen können: er hat – wie einseitig auch immer – gezeigt, daß schöne und maßvolle Naturmalerei bis zu einem gewissen Grade auch dem Dichter natürlich und möglich ist, und wenn er dabei in den Fehler verfallen ist, seine oft zwar schwächlichen und süßlichen, häufig aber auch farbenprächtigen und immer an Gegenständen reichen Landschaftsscenerien als etwas an und für sich und ohne geistige Zuthat Lebensberechtigtes hinzustellen, so war das allerdings ein Anspruch, der den inneren Gesetzen der Poesie widerspricht, aber trotz dieses Irrthums war Matthisson doch in gewissem Sinne ein Lehrer der Nachstrebenden; sie lernten von ihm, die Natur fein beobachten und stimmungsvoll wiedergeben, aber sie malten nicht nur, wie er; sie thaten, indem sie malten, hinzu, woran es ihm gebrach: die Kraft, die Leidenschaft, die tiefere Bedeutung – den Geist. So wurde, was bei ihm Mittelpunkt und Inhalt war, bei den Späteren Folie und Staffage, und so gewann die Landschaftsmalerei sich einen gerechtfertigten Platz in der Poesie. Es könnte ein nicht uninteressantes Capitel deutscher Literaturgeschichte abgeben, nachzuweisen, wie die beschreibende Lyrik nach den Tagen Matthisson’s an Diesen anknüpft und die von ihm ausgestreute Saat zeitigt; es dürfte nicht schwer sein, darzuthun, wie bis in die Lieder Uhland’s und Heine’s, ja Geibel’s und Bodenstedt’s hinein Matthisson’sche Naturmalerei nachklingt.
Und noch Eines müssen wir Enkel dem Lieblinge unserer Großväter nachrühmen: Matthisson hat – was in jener Zeit formeller Verwilderung nicht hoch genug angeschlagen werden kann – als Einer der Ersten sich eine klangvolle, edle Form, die Musik des Rhythmus und die Reinheit der poetischen Sprache zum Gesetze gemacht und ist diesem Gesetze stets mit Strenge gefolgt. Auch dadurch wurde er größeren Nachstrebenden ein achtunggebietendes Muster. Er ist im Reim nicht immer correct – wer war es in jenen Tagen? – in der logischen Gruppirung der Bilder nicht immer unanfechtbar, aber er ist in der architektonischen Gliederung seiner Verse und Strophen stets geschmackvoll, in der dichterischen Sprache stets gewählt. Man höre z. B. nur die nach der Seite der Formenschönheit noch heute ansprechende Naturmalerei in dem folgenden Gedichte:
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Matthisson’s „Abendlandschaft“ bestätigt in wenigstens zwei Punkten die Kritik, welche Schiller über den Dichter fällte. Nach ihm vereinigt Matthisson in seinen Liedern dreierlei Erfordernisse [178] landschaftlicher Darstellung: seine Stimmungsgemälde gefallen uns durch ihre Anschaulichkeit; sie ziehen uns an durch ihre musikalische Schönheit; sie beschäftigen uns durch den Geist, der in ihnen athmet. Die beiden ersten Zugeständnisse Schiller’s dürften noch heute ihre volle Gültigkeit haben, und nur bezüglich des dritten könnte man angesichts der gegenwärtigen gesteigerten Anforderungen mit dem berühmten Kritiker rechten.
Geboren wurde Friedrich von Matthisson – um die wichtigsten Daten seines Lebens hier nicht zu übergehen – am 23. Januar 1761 zu Hohendodeleben bei Magdeburg, und zwar einige Monate nach dem Tode seines Vaters, eines früheren Feldpredigers. Seine Erziehung empfing er, der Hauptsache nach, im Hause seines Großvaters, eines Landgeistlichen, seine akademische Vorbildung aber auf der Schule zu Kloster-Bergen, von wo er die Universität Halle bezog, um, den Traditionen seiner Familie gemäß, Theologie zu studiren; sein idealistisch gestimmter Geist trieb ihn indessen sehr bald in wissenschaftliche Bahnen, die seinem Brodstudium ziemlich fern lagen, und so wurde aus dem Studenten der Theologie ein Jünger der schönen Literatur, ein Hörer der Natur- und Sprachwissenschaften. Nach einer kurzen Thätigkeit als Lehrer am Erziehungsinstitute zu Dessau begab er sich in der Eigenschaft eines Hofmeisters mit den jungen livländischen Grafen Sievers auf Reisen in Deutschland und lebte dann, vielfach leidend, von 1788 bis 1790 zu Schloß Nyon am Genfersee bei seinem Freunde Bonstetten, wo er die eigentliche Blüthezeit seines dichterischen Schaffens erlebte und unter Anderem sein so berühmt gewordenes Gedicht „Am Genfersee“ verfaßte. Nirgends eine dauernde Stätte findend, war er alsdann eine Zeit lang Lehrer in der Familie eines Handelsherrn in Lyon, darauf Lector und Reisegefährte der Fürstin von Anhalt-Dessau, mit welcher er 1795 Italien, die Schweiz und Tirol besuchte, und endlich Hofbeamter im Dienste des Königs von Württemberg, der ihn zum Legationsrathe, zum Intendanten des Hoftheaters und Oberbibliothekar ernannte. Durch den Tod seiner Frau schwer getroffen und durch vielfach abfällige Beurtheilungen seines literarischen Wirkens innerlich verstimmt und ermüdet, zog er sich um das Jahr 1824 nach dem reizenden Städtchen Wörlitz bei Dessau zurück, wo er am 12. März 1831 im siebenzigsten Lebensjahre starb.
Wir dürfen das Grab auf dem Wörlitzer Friedhofe, in dem der einst so gefeierte Friedrich von Matthisson nunmehr seit fünfzig Jahren schlummert, als eine Stätte bezeichnen, an der in unseren Tagen materieller Lebensrichtung die Mahnung zu uns spricht: ein dem Geistigen und der Schönheit in reinem Streben zugewandtes Dasein, wie unvollkommen und fehlerhaft es auch in seinen einzelnen Aeußerungen sein mag, hat für alle Zeiten eine Art vorbildlicher Bedeutung. Ernst Ziel.
Feuerliesl.
Feuerliesl! Die so genannt wurde, war ein hochaufgeschossenes Ding von kaum vierzehn Jahren, schmalschultrig und ein wenig nach vorn gebeugt. Sie hieß eigentlich Elisabeth Grundner und war die einzige Tochter des reichen Himmelbauers, der diesen Namen nach seinem Anwesen, dem Himmelbauernhofe, führte. Der lag etwa zwei Steinwürfe von der Bösenbachbrücke entfernt, hart an die Himmelsleiter, eine kahle steile Felswand, gedrückt, und lieh seinen Besitzern seit Menschengedenken den Namen.
Liesl’s Vater hieß nach seinem Taufzettel, den er freilich nicht entziffern konnte, weil dieses Document lateinisch abgefaßt war, und nach seinem Trauscheine, der für ihn jedoch gleichfalls stumm blieb, da der Himmelbauer Geschriebenes überhaupt nicht lesen konnte: Joseph Grundner, und nie fühlte er sich glücklicher, nie gehobener, als wenn er diesen Namen, der für ihn etwas Außergewöhnliches, Geheimnißvolles hatte, mit schweren, nur Eingeweihten leserlichen Zügen unter irgend eine „Schrift“ setzen konnte. Doch verfehlte er dann nie, ein energisch geschnörkeltes „vulgo Himmelbauer“ darunter zu malen, womit er die Verbindung zwischen jenem Feiertags-Joseph Grundner und dem Alltags-Himmelbauer wieder herstellte.
Damit war die Grenze seiner Kenntnisse im Schriftfache erreicht, und wozu hätte er auch mehr gebraucht? Im Gemeinde-Ausschusse, dem der reiche Himmelbauer selbstverständlich angehörte, wurden alle Fragen mündlich abgehandelt; für das Schriftliche war der Schullehrer da und der Schneider, welch Letzterer seit Jahren das Amt des Gemeindeschreibers versah.
Im Uebrigen war der reiche Himmelbauer ein aufgeklärter Mann, der mit seiner Zeit vorwärts ging und sich allsonntäglich von seiner Tochter, der blondhaarigen Liesl, aus den letzten Nummern des „Neuigkeits-Weltblattes“ alle Ereignisse vorlesen ließ, die sich jenseits des Bösenbaches auf der weiten Erde zutrugen. Dazu setzte er die schwere, silbergeränderte Brille auf die knollige Nase, nahm das Gesangbuch hervor, in welchem alle Papiere des Himmelbauerhofes wohlverwahrt ruhten, und entfaltete langsam und feierlich den lateinisch geschriebenen Taufschein, den er vorsichtig und respectvoll glättete. Von Zeit zu Zeit warf er einen andächtigen Blick auf die Stelle, welche nach Angabe des Schullehrers seinen Namen enthielt, und saß nun, der Vorlesung harrend, würdevoll da, ganz der feiertägliche Josephus Grundner aus der geheimnißvollen, bereits ein wenig abgerissenen „Schrift“, die vor ihm ausgebreitet lag.
Hier und da fuhr er sich mit der flachen Hand über das an Sonntagen stets wohl rasirte Kinn oder lehnte sich bequemer in den Großvaterstuhl zurück, der unter der wuchtigen Körperlast des stämmigen Himmelbauers ächzte und knarrte. Das war dann der Tochter immer ein willkommener Vorwand, um mit einem „Was?“ oder „Hat der Vater was g’mant?“ die mühselige Leseübung zu unterbrechen, ein Versuch der aber stets mißlang; denn der Vater schenkte ihr doch nicht eine Silbe des Weltblattes und das „dumme Blattl“ war „gar so viel lang“.
Liesl stemmte dann mit einem unterdrückten Seufzer beide Hände unter’s Kinn und die Ellnbogen auf den Tisch, senkte die dunklen Augen wieder auf die Zeitung und las ingrimmig weiter:
„Feu–ers–brunst – in – Con–stan–ti–no–pel“ …
In der Fensternische saß die alte Veronika, eine weitschichtige Anverwandte des Himmelbauers, die dieser bald nach dem bei der Geburt der Tochter erfolgten Tode der Bäuerin zu seiner Unterstützung auf den Hof genommen hatte.
Die alte Veronika, die gleich dem Himmelbauer eine schwere Brille, aber nur eine Hornbrille aufgesetzt hatte, horchte nicht auf die Schreckensnachrichten aus Constantinopel. Die kleinen, tiefliegenden Aeuglein waren fest auf das Gesangbuch gerichtet, das sie, soweit die ausgestreckten Arme reichten, von sich entfernt hielt, und der zahnlose, eingefallene Mund bewegte sich murmelnd:
„O Mutter! voll der Huld und Gnade!
Der Sünder süßer Zufluchtsort!
O Meeresstern! O sich’re Pfade!
Der Scheiternden ihr erster Port!“
Dazu nickte sie und schlug von Zeit zu Zeit andächtig ein Kreuz.
Sonst rührte sich nichts in der warmen Stube; der Ofen surrte und schnurrte behaglich, und draußen wirbelten lustige Schneeflocken vom Himmel zur Erde nieder.
Endlich, endlich neigte das „Weltblatt“ seinem Ende zu – noch eine interessante Mittheilung über das neuerliche Auftauchen der Seeschlange an der australischen Küste – und Liesl hatte es für heute überstanden.
Jetzt las sie noch: „Ge–druckt – bei – Hum–mel in – Wie–n“, denn auch das schenkte ihr der Vater nie; dann sprang sie auf, fuhr sich mit beiden Händen über Augen und Wangen und reichte dem Vater das Zeitungsblatt, das dieser sorgfältig zusammenlegte. Indessen drückte sich Liesl vorsichtig an der alten Veronika vorbei, die noch immer weltvergessen in das Gesangbuch blickte … und husch, war die Dirne aus der Stube.
„Der Wildling!“ sagte der Himmelbauer laut.
„In Ewigkeit, Amen!“ murmelte die Alte, bekreuzigte sich und klappte das Buch zu. „Wer?“ fragte sie dann, die Brille abnehmend.
„Wer? – D’ Liesl!“
Die Alte erhob sich eilig, strich sich die wenigen Strähne grauen Haares zurecht, die unter der Sonntagshaube hervorguckten:
[179] „Die Liesl? Wo steckt denn das Dirndl wieder?“ fragte sie.
„Draußen is sie,“ erwiderte der Bauer, indem er bedächtig Brille und Gesangbuch weglegte.
„G’wiß wieder bei die Teichbauerbub’n drüben,“ murrte die Alte und trollte sich eilig aus der Stube.
Vor dem Hofthor spähte sie, die braune Hand schützend über die Augen haltend, die Dorfstraße hinauf und hinab. Vergebens – nirgends von Liesl eine Spur!
Von der Bösenbachbrücke her kam eine Gestalt durch den Schnee geschritten, die sich langsam näherte. Es war der Schullehrer, der sich das „Weltblatt“ zu holen kam, das ihm der Himmelbauer zu leihen pflegte, wenn Liesl die Vorlesung beendet hatte. Schon von weitem grüßte der Lehrer gar ehrerbietig die Verwandte und Haushälterin des reichen Himmelbauers; die Alte dankte grämlich und humpelte dann die Straße entlang einer niederen Hütte am oberen Ende des Dorfs zu. Dabei mußte sie tüchtig durch den Schnee stampfen und immer wieder die dicht fallenden Flocken vom Sonntagsvortuche wegblasen. Das verbesserte ihre Stimmung nicht eben, und während die Alte sich mühselig einen Weg bahnte, knurrte sie unausgesetzt. „Der Wildling! Das Rabenbratl! Aber wart! Dir werd’ i’s zeigen.“
Endlich hatte sie ihr Ziel, das Teichbauerhaus, erreicht. Sie öffnete die morsche Thür, an welcher der Drücker gebrochen herabhing, trat aber nicht über die beschneite Schwelle, sondern rief, außen stehend, in den dunkeln Vorraum hinein. „Teichbäuerin! Is unser Liesl bei Euch?“
„D’ Himmelbauer-Liesl?“ tönte eine schrille Weiberstimme aus dem Dunkel heraus. „Die war net da. Wird leicht mit die Bub’n bei die drei Teich’ sein und Schlitten fahr’n.“
„Bei die drei Teich’!“ Der alten Veronika fuhr es in alle Glieder. Sie warf die Thür zu, ohne „B’hüt Gott!“ zu sagen, und brummte etwas vor sich hin, was wohl ein Fluch gewesen sein mußte; denn gleich darauf erschrak sie heftig, bekreuzigte sich und sagte im Weiterhasten geschwind zwei Vaterunser und einen Glauben her als selbstauferlegte Buße.
Bald war sie auch schon bei den drei Teichen angelangt, und dort stand richtig die Liesl mitten unter einer Bubenschaar und schrie und fuchtelte mit den langen Armen durch die Luft, daß die schweren blonden Zöpfe mit den breiten rothen Schleifen, die ihr die Veronika noch heute vor dem Kirchgang so sorgfältig gebunden hatte, um den kleinen Kopf nur so herumflogen. „Na wart’, Wildling!“ drohte die Alte und watete näher.
Hier erst sah sie die ganze Bescherung. Der älteste Bub der Teichbäuerin, der schwarze Toni, und der Bachschneider-Loisl, ein großer, flachshaariger Bengel, balgten sich im Schnee, daß es „frei eine Schand“ war. Die andern Buben standen herum und hetzten, allen voran aber Liesl. Die schrie unablässig:
„Halt’n fest, Loisl! ’nunter muß er, ’nunter muß –“ Da hatte sie auch schon eine tüchtige Ohrfeige weg, und die Veronika stand vor ihr. Die Alte faßte sie ohne viel Umstände am Ohr und führte sie trotz aller Gegenwehr, so rasch der tiefe Schnee es erlaubte, auf die Dorfstraße und in den Himmelbauerhof zurück. Doch ehe es ihr gelang, die heftig widerstrebende Liesl fortzuziehen, gewann der Toni Luft, duckte seinen Gegner unter und schrie der ingrimmig zurück drohenden Liesl ein höhnisches, heiser hervorgekeuchtes „Feuerliesl!“ nach.
Liesl stampfte in ohnmächtiger Wuth mit den Füßen, aber die alte Veronika hielt sie fest und schleppte sie mit sich fort nach Hause. Dort zerrte sie die arg zerzauste Liesl in die Stube, in welcher der Himmelbauer mit dem Schullehrer in ein politisches Gespräch vertieft saß, und nun erzählte sie ingrimmig, wo und wie sie das „nixnutzige Ding“ gefunden habe. „Und aus dem Wildling soll amal a Bäuerin werd’n!“ schloß sie ihren zornig hervorgepolterten Bericht.
„I mag ka Bäuerin werd’n,“ trotzte Liesl.
„So! Und was willst nachher denn werd’n?“ keifte die Alte.
„A Soldat oder a Jager!“
Die Veronika bekreuzigte sich. Aber der Himmelbauer lachte dröhnend, und der Schullehrer kicherte pflichtschuldigst mit.
„Das Dirndl is narrisch word'n,“ meinte der Bauer dann, und der Schullehrer fragte mit sanfter Stimme^
„Warum denn just ein Jäger oder ein Soldat?“
„Weil i nachher a G’wehr hätt’ und dem Teichbauer-Toni was anthun könnt’.“
„Jesus Maria!“ kreischte die Veronika und schlug rasch noch ein Kreuz. „Jetzt glaub’ i ’s frei selber: sie is überg'schnappt!“
„Was hat Dir der Toni denn so Fruchtbares angethan?“ fragte der Schullehrer wieder recht liebevoll und schielte dabei auf den reichen Himmelbauer hinüber.
„‚Feuerliesl‘ hat er mi g’haßen z’wegen meine rothen Maschen (Schleifen),“ platzte Liesl wüthend heraus und wurde selbst so roth wie ihre unglücklichen „Maschen“. Dann fuhr sie laut weinend fort. „Und der Bachschneider-Loisl hat sich ang’nommen um mi – und g’raft (gerauft) haben’s mit einand’ – und der Toni war der Stärkere – – und anthun muß i ihm was, oder i erstick’.“
Der Schullehrer verwies ihr sanft die unchristliche Rede, der Vater scholt sie ein „dalkertes Ding“, und die Veronika zahlte ihr oben in der Schlafkammer den weiten Weg bis zu den drei Teichen, die Flecken am Vortuch und den Sonntagsfluch mit ein paar tüchtigen Püffen heim.
Aber Liesl fühlte von alledem nichts, sie schlief mit dem einzigen Gedanken ein und erwachte mit ihm am Morgen wieder: „Der Toni hat mi Feuerliesl g’haßen, und i muß ihm was anthun, oder i erstick’.“
Der Name Feuerliesl blieb aber unabstreifbar an ihr haften; dafür sorgten schon die Buben, die ihn gehört, nicht minder als der Teichbauer – Toni selbst, der ihn erfunden und mit einer blutigen Schramme an der Stirn bezahlt hatte, die ihm von der Balgerei mit dem Bachschneider-Loisl geblieben war.
Am nächsten Sonntage drückte sich Liesl, nachdem sie die neue Nummer des „Weltblattes“ wieder vom Titel bis zum „Gedruckt bei Hummel in Wien“ mühselig durchbuchstabirt hatte, nicht, wie sonst, aus der Stube, sondern setzte sich still neben Veronika in’s Fenster und blickte in den klaren Wintertag hinaus. Die ganze Woche war sie schon anders als sonst gewesen; sie tobte nicht mehr in Haus und Hof umher, quälte nicht mehr Thiere und Menschen, störte die Mägde nicht mehr beim Melken und hatte seit vollen acht Tagen keinen einzigen Topf vom Brett geworfen, noch ihn zerbrochen. Eine schier unheimliche Stille herrschte jetzt im Himmelbauerhofe, welcher sonst von ihrem hellen Lachen, ihrem Tollen und Lärmen wiederhallt hatte, und Knechte und Mägde waren einig darin, daß die Liesl krank sein müsse, ja die alte Resi hatte sie insgeheim, während sie schlief, mit geweihtem Essig bespritzt, welcher bekanntlich die bösen Geister gründlich austreibt. Aber es half nicht; die „Feuerliesl“, wie sie allgemach selbst von den Hausleuten genannt wurde, blieb still und verschlossen.
So saß sie denn auch am Sonntage schier bewegungslos neben der alten Veronika, die Brauen zusammengezogen und die Lippen fest auf einander gepreßt. Plötzlich zuckte sie zusammen, sprang auf und starrte, geduckt wie eine wilde Katze, die zum Sprunge ansetzt, durch’s Fenster.
Draußen stampfte der Teichbauer-Toni, seinen Schlitten nachziehend, wohlgemuth durch den Schnee.
Mit einem Satze war Liesl zur Thür hinaus, und wenige Augenblicke später tönte von der Straße her ein mörderisches Geschrei in die stille Stube.
Die alte Veronika sah vom Gesangbuche auf und warf über die Brille hinweg einen Blick durch die Scheiben.
„Jesus Maria!“ schrie sie auf. „Himmelbauer! Der Phylax is los und auf’n Teichbauer-Toni.“
Der Bauer wurde blaß, sprang gegen seine sonst bedächtige Weise hastig vom Stuhle und eilte hinaus.
Es war höchste Zeit, daß Hülfe kam; denn schon lag der Teichbauer-Toni am Boden und Phylax zähnefletschend über ihm. Die Liesl aber stand dabei, schüttelte die langen Zöpfe mit den rochen Maschen, klatschte in die Hände und hetzte das Thier zu noch wüthenderem Angriffe.
Jahr um Jahr war seitdem vorübergezogen und hatte manche Veränderung in's Dorf gebracht. Der Teichbauer, Toni’s Vater, war plötzlich gestorben, und mit dem kleinen Anwesen, das schon zu seinen Lebzeiten nicht eben glänzend bestellt war, ging es nun vollends bergab. Die Teichbäuerin stand ganz verlassen ohne Rath und Hülfe da denn auch ihren Aeltesten, den Toni, hatte sie so gut, oder vielmehr so schlimm wie verloren.
[180] Der war noch vor des Vaters Tod zum Militär genommen und an die hundert Meilen weit, gar in’s Böhmische, geschickt worden. Ob und wann er von dort wiederkehren werde, wußte sie nicht, inzwischen aber häuften sich Schulden auf Schulden; rückständige Steuern kamen dazu, die unbarmherzig eingetrieben wurden, und so fiel allmählich Stück um Stück von dem Besitze ab, heute ein Feld, morgen eine Wiese, endlich sogar ihr Antheil an dem Gemeindewalde, und immer noch drohten Klagen und Pfändungen. Die Bäuerin wußte sich nicht mehr zu helfen. So schmal sie auch die Bissen für sich und die drei unmündigen Buben, die ihr noch geblieben waren, zuschnitt, so inbrünstig sie in der Kirche zur heiligen Jungfrau und zu allen ihr nur halbwegs bekannten Heiligen um Hülfe in ihrer schweren Noth betete, so ingrimmig sie daheim auch fluchte und die Kinder prügelte – nichts wollte helfen. Der letzte Besitz, ein kleiner Rübenacker hinter dem Hofe, ward endlich auch versteigert, und das baufällige Haus selbst blieb ihr vorerst wohl nur deshalb, weil kein Gläubiger den morschen werthlosen Bau hatte nehmen wollen, so lange es noch Besseres zu erhaschen gab.
Nun aber mußte denn wohl auch an diese letzte Zufluchtsstätte die Reihe kommen. In dumpfes Hinbrüten versunken saß die Teichbäuerin vor ihrer Thür auf der Steinbank, die Hände in den Schooß gelegt. Was hätten sie auch schaffen sollen?
Die Buben trieben sich irgendwo im Dorfe umher; sie saß einsam da und starrte trüben Blickes in den klaren Frühlingsabend, der sich allmählich über Dorf und Feld gesenkt hatte. Noch lag die Erde kahl und schmucklos; noch ragten die unbelaubten Zweige der Bäume winterlich dürr in den Abendhimmel, aber hier und dort schimmerte es schon wie sprießendes Grün auf der grauen Fläche, und die Weiden drüben am Ufer des Bösenbaches prangten, wenn auch noch laublos, doch schon im frühen Blüthenschmucke.
Ostern stand vor der Thür. Im Schulhause übte der Lehrer mit den Dorfkindern das Auferstehungslied. Die reinen Kinderstimmen und der klagende Fiedelton klangen hell durch die stille Abendluft herüber. Die Bäuerin hörte sie nicht. Sie saß bewegungslos und brütete über ihre und ihrer Kinder Zukunft.
Da kam bedächtigen Schrittes ein Mann die Dorfstraße herauf, und als er ganz nahe war, so nahe, daß sie sein starkes Athmen hören mußte, sah sie auf. Der Himmelbauer war’s. Sie wandte den Kopf und starrte wieder in den Abend hinein.
„Grüß Gott, Teichbäuerin!“ sagte der Bauer.
„Grüß Gott!“ erwiderte sie, ohne aufzublicken.
Der Bauer sah prüfend zum Himmel empor.
„Wird heuer a schöne Osterzeit geben,“ fuhr er fort.
Sie nickte nur. Nach einer Weile begann er wieder:
„Feierst schon?“
„Muß wohl.“
Der Himmelbauer betrachtete eifrig ein Spatzenpaar, das auf der Straße um ein Körnlein stritt.
„Is jetzt a harte Zeit für Di!“ sagte er plötzlich.
„Mein’s wohl.“
Wieder eine Pause. Der Bauer schickte sich zum Gehen an, that einen Schritt, blieb aber wieder stehen und klimperte mit ein paar Geldstücken in der Tasche.
„Kann i Dir leicht was z’ Nutz sein?“ fragte er und versuchte recht gleichgültig drein zu sehen.
Die Bäuerin hob den Kopf und blickte ihn groß an.
„Du? Der Himmelbauer?!“
„I hab’ nur g’mant,“ murmelte er verlegen.
Die Teichbäuerin ließ ihn nicht zu Ende kommen:
„I brauch’ ka Manung und ka Hülf’ von Dir. Hab’ mir’s a net verlangt, daß i wüßt’ … B’hüt Gott, Himmelbauer!“
Der Himmelbauer wollte noch etwas erwidern, besann sich aber, zuckte die Achseln und setzte mit einem leisen „B’hüt Gott!“ langsam seinen Weg fort.
Von der Schule klangen die hellen Kinderstimmen herüber:
„O du liebliche,
O du herrliche,
O du fröhliche
Osterzeit!“
Die Bäuerin hatte die Hände in einander gepreßt und nickte von Zeit zu Zeit ingrimmig mit dem Kopfe.
Da kam wieder eine Gestalt die Straße herauf, doch raschen, elastischen Schrittes. Es war ein junger Bursche, der einen grauen Soldatenmantel umgeworfen hatte; auf den krausen, schwarzen Locken saß schief gedrückt eine verblichene Soldatenmütze, und über die Achsel geworfen trug er einen derben Knotenstock, an dem ein kleines Bündel hing. An der Biegung der Dorfstraße, just dort, wo der Bursche des Teichbauerhauses und der davor sitzenden Bäuerin ansichtig wurde, entrang sich ein heller Juchzer seinen Lippen.
Die Bäuerin hörte ihn nicht. Jetzt stand der Bursche vor ihr, nahm die Mütze ab und sagte laut: „Grüß Gott, Mutter!“
Die Bäuerin fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen.
„Jessas!“ stammelte sie.
Sie wollte aufstehen, vermochte es aber nicht; die zitternden Glieder versagten den Dienst. Der Bursche ließ Mütze, Stock und Bündel fallen und wiederholte leise: „Mutter!“
Dann stürzte er der Bäuerin zu Füßen, umklammerte ihre Kniee und verbarg heftig schluchzend den Kopf in ihrem Schooße. Es war der Toni. Sie hatten ihn heimgeschickt, einstweilen nur auf Urlaub, aber da er jetzt nach des Vaters Tode die einzige Stütze seiner Mutter und seiner unmündigen Brüder war, so solle er nur ein Gesuch abfassen, hatte der Hauptmann gemeint, und sie würden ihn gänzlich freilassen.
Bald saßen Mutter und Sohn, Hand in Hand, wie zwei Liebesleute, neben einander auf der Steinbank, und die Mutter erzählte dem heimgekehrten Aeltesten von allem Jammer, den sie seit des Vaters Tod ausgestanden hatte, und der ihr und ihm wohl noch bevorstand. Der Toni war still geworden. Er hörte der Mutter zu und sah ihr dabei innig in die Augen.
Als sie geendet hatte, drückte er fest ihre Hand, die in der seinen ruhte, stand dann auf, hob die Mütze vom Boden auf und sagte ruhig:
„I muß mi a Bissel umschau’n im Dorf, ob no a Jed’s am alten Fleck steht. In aner Stund bin i wieder da. B’hüt Gott derweil, Mutter!“ Und fort war er.
Nach einer Stunde kam er auch wirklich wieder. Die Mutter war indessen in’s Haus gegangen und hantirte am offenen Feuerherde. Er legte ein paar Silberstücke auf den Tisch.
„Woher hast denn das viele Geld?“ fragte die Mutter, bei dem Klange des Geldes erstaunt aufsehend. Der Toni lachte.
„Mei Angeld is’; i hab’ mi verdungen.“
„Verdungen – Du?!“
„Seid’s g’scheidt, Mutter. Von der Luft können wir net leb’n Alle mit einand’; ’s Anwesen is a hin – so muß i halt in Dienst gehn.“
Die Mutter schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Du, der Teichbauer-Toni!“ stieß sie mühselig hervor.
„Na, was is denn weiter dabei?“ beruhigte er sie. „Arbeiten muß i so wie so!“
„Aber daß das so g’schwind kommt!“ klagte sie wieder.
„’S hat si just so g’schickt, daß Aner grad an Knecht braucht hat. Da hab’ i halt zug’schlag’n – und morgen steh’ i ein.“
„Morgen schon! – Und bei wem denn?“
„Beim Himmelbauer. – – Jessas und Josef, Mutter – was habt’s denn?“
Die Mutter tappte unsicher nach der Tischkante, um sich daran festzuhalten, verfehlte sie aber und sank lautlos auf den Boden der Stube hin.
Die in der zweiten Hälfte des Mittelalters in Deutschland allgemein gepflegte Sitte, daß fast jedes Haus, jeder Bauernhof seine Badestube aufzuweisen hatte, daß die Städte große öffentliche Bade-Anstalten schufen, in denen gegen billiges Entgelt beliebig kalt oder warm gebadet werden konnte, ging in Folge des Dreißigjährigen Krieges zu Grunde und erreichte leider bis heute noch nicht wieder den damaligen Umfang. Erst seit den vierziger Jahren wendete man auf’s Neue den öffentlichen Bade-Anstalten größere Aufmerksamkeit zu, indem man die Wannenbäder mehr ausbildete und ihnen später das römische Bad beifügte. Aber nicht in dieser
[182] letzteren Art der Bäder, welche durch anderes Klima, andere Lebensweise geschaffen wurden, ist ein Fortschritt und der Schwerpunkt für öffentliche Bade-Anstalten zu suchen, sondern in dem reinen Wasserbade, den temperirten Winterschwimmbädern. Diese Art von Anlagen, verbunden mit guten Wasch- und Doucheräumen sowie mit Einrichtungen zu gymnastischen Uebungen, sind es, welche die in Städten zusammengepferchten Menschen geistig und körperlich frisch erhalten und vor Entnervung bewahren.
Die Schwimmbäder finden wir bereits in Verbindung mit der Palästra (Ringschule), dem Theater etc. der alten Griechen und Römer, aber erst unter der römischen Kaiserzeit trat das heiße Luftbad in allen seinen Abarten hinzu. Die großartigste Anlage der Römer sind wohl die Thermen des Caracalla, welche noch heute die Riesendimensionen der Schwimmhalle, der Halle für körperliche Uebungen etc. erkennen lassen.
Die römisch-deutschen Anlagen, von welchen das in Badenweiler 1774 freigelegte Bad die besten Anhaltepunkte bietet, scheinen in Folge der klimatischen Verhältnisse bei der Palästra kein Schwimmbad zu besitzen. Soviel über die antiken Einrichtungen dieser Art!
Die modernen Winterschwimmbäder, welche sich auf die antiken Anlagen stützen, entstanden zunächst zu Anfang der fünfziger Jahre in England und wurden dort durch das dringende Bedürfniß nach billigen öffentlichen Bade-Anstalten hervorgerufen. Die Parlamentsacte des Jahres 1846 bis 1847 sicherte den Gemeinden besondere Rechte bei Anlage öffentlicher Bäder, wenn selbige die Badepreise nach bestimmten Normen berechneten. Schon im Jahre 1854 existirten neun oder elf Anstalten auf Grund dieses Gesetzes, unter welchen sich bereits größere Schwimmhallen befanden. Als Beispiele seien hier die Schwimmhalle „Lambeth“, von der Joint Stock-Company gegründet, und „St. Marylebone“ in London genannt. Von beiden Anlagen besitzen die Bassins der ersten schon respectable Dimensionen und zwar 36,5 zu 13,5 Meter erster Classe und zu 15 Meter zweiter Classe. Diese ersten Schwimmbäder sind jedoch in ihrer Einrichtung äußerst primitiv und entsprechen noch nicht den neueren Anforderungen.
Eine Folge des hohen Ansehens, dessen sich diese Schwimmbäder in England erfreuten, waren Unternehmungen, die unabhängig von der Parlamentsacte derartige Anstalten schufen, den Schwerpunkt aber in die Schwimmhalle und nicht in die Wannenbäder legten. Die römischen Bäder traten in England erst im Jahre 1856 hinzu. Den Namen römisch-irische Bäder führen sie übrigens nur deswegen, weil das erste derartige Bad in größerem und verbessertem Style in Irland gegründet wurde und zwar im Jahre 1856 von Dr. Bartes zu St. Ann’s Hill bei Cork.
Von diesen Privatunternehmungen sind nun vor Allem die Clubbäder zu nennen, welche für uns in Deutschland betreffs ihrer Einrichtung, Reinlichkeit und strenger Sittlichkeit als Muster dienen können. Diese Clubbäder legen das Hauptgewicht auf die Schwimmhalle, welche mit einem Raume für gymnastische Zwecke verbunden, sehr geräumig und bequem ausgestattet ist und vor Allem ein Schwimmbassin mit genügendem Wasserwechsel aufzuweisen hat. Auch die römischen Bäder werden neuerdings mit hinzugezogen, die Wannenbäder aber ganz untergeordnet behandelt. Außerdem haben diese Anlagen Billard-, Lese-, Spiel- und Conversationszimmer, gute Restauration, kurz Alles, was zu einem behaglichen Clubleben nach englischem Muster gehört. Wenn sie nun auch, wie schon gesagt, nicht direct zu den Volksbädern gehören, so haben sie sich doch durch das in England stark ausgebildete Clubwesen und durch den Umstand, daß Fremden die Benutzung des Bades gratis gewährt wird, für die allgemeine Gesundheitspflege eine hohe Bedeutung erworben und müssen als Grundlage der in anderen Ländern erst später entstandenen Anlagen betrachtet werden.
Als besonders gute Anlagen seien folgende Winterschwimmbäder hervorgehoben: Victoria Bath Company, limited (Glasgow); Western Bath (Glasgow); New Baths, Southport (Lancashire); Sheffield Bath Company, limited. Besonders großartig ist von diesen das Bad in Lancashire, welches allein sieben Schwimmbassins für Süß- und Seewasser, warm oder kalt, enthält.
Nächst England ist es allein Deutschland, welches wenigstens in den letzten beiden Jahrzehnten den Winterbädern volle Aufmerksamkeit zuwandte; denn in Frankreich findet man in dieser Beziehung so gut wie nichts, und in Belgien nur weniges. In Frankreich liegt der Schwerpunkt aller „Bains publics“ in den Wannenbädern, und selbst das feenhaft eingerichtete Pariser Bad „Le Hammam“ ist wohl mehr für raffinirten Sinnesgenuß, als für die Kräftigung des Körpers angethan, und liegt daher außer dem Bereich dieser Betrachtungen. In Brüssel ist seit vorigem Jahre das großartige Schwimmbad der Actiengesellschaft der königlichen Bäder eröffnet worden, und es wurde somit auch dort der erste Schritt auf diesem Gebiete gethan. Das Schwimmbassin dieses Bades umfaßt einen Flächenraum von 59 zu 20 Metern.
Wenden wir uns nun der Betrachtung der deutschen Schwimmbäder zu, so muß zunächst erwähnt werden, daß die Schwimmbäder für Sommerbetrieb allein in Deutschland allerdings älter sind, als in England. Schon in den vierziger Jahren wurden derartige Anlagen dem Wiener Sophien- und Diana-Bade eingefügt. Es sind dies aber nur Versuche, welche ihren eigentlichen Zweck, im Winter die Annehmlichkeit eines kalten Schwimmbades zu bieten, verfehlten.
Einen Schritt weiter sollte die Schwimmhalle des Berliner Volksbades 1855 gehen, aber leider scheiterte der Versuch, das Bad zu überwintern. Mit dem Magdeburger Actienbad 1860 erhielt Deutschland das erste Winterschwimmbad. Dasselbe ist aber noch äußerst primitiv und steht den ersten englischen Anlagen nach. Vollkommener in ihrer Anlage und bezüglich des ununterbrochenen Betriebes sind die Winterbäder zu Hannover (1867) und das Sophien-Bad zu Leipzig (1869), das wir in Bild und Wort im Jahrgange 1875, S. 716 darstellten. Eine Reihe von Anlagen, wie Zittauer Stadtbad, Admiralsgartenbad zu Berlin, Hedwigs-Bad zu Chemnitz, verzeichnen in Bezug auf die Schwimmbäder keinen Fortschritt, und leiden mehr oder weniger an ungenügendem Wasserwechsel, sowie an schlechter Erwärmung und Ventilation.
Erst mit der im Jahre 1877 eröffneten städtischen Bade-Anstalt zu Bremen ist eine Richtung eingeschlagen worden, welche als mustergültig bezeichnet werden kann. Hier sind die für Schwimmbäder maßgebenden Gesichtspunkte eingehalten und die einzelnen oft schwierigen Fragen in geistreicher Weise gelöst worden.
Eine gleich gute, mehr den Charakter des Volksbades tragende und daher betreffs der inneren Einrichtung einfacher gehaltene Anlage ist die Bade-Anstalt zu Dortmund. Diese ist zugleich insofern als bahnbrechend für Winterschwimmbäder zu bezeichnen, als hier von allen Wannen- und römischen Bädern Abstand genommen wurde, sodaß diese als Ideal einer reinen Volksbade-Anstalt dienen kann, welche sich auch kleinere Städte von 30,000 Einwohnern an ohne Opfer schaffen können, um die Gesundheitspflege ihrer Bürger zu fördern.
Bei Neu-Anlage eines Winterschwimmbades ist vor allen Dingen auf genügenden Wasser-Zu- und ‑Abfluß zu sehen, sodaß sich das Bassinwasser innerhalb einer fünfzehnstündigen Betriebszeit erneuert hat. Ist dies der Fall, so genügt es, das Bassin in Zwischenräumen von vier bis fünf Tagen abzulassen und zu reinigen. Der Abfluß des Wassers darf nicht nur an einer Stelle des Bassins stattfinden, damit die sich auf der Oberfläche des Wassers bildende Fettschicht bequem abfließen kann. Eine künstliche Bewegung der Wasseroberfläche hat sich zu diesem Zwecke als sehr vortheilhaft erwiesen. Die Temperatur muß sowohl im Wasser wie auch in der Luft gleichmäßig sein; auch ist hauptsächlich für gute Ventilation Sorge zur tragen. Ein reinliches Waschzimmer mit warmen Douchen, um dem Besucher vor Benutzung des Schwimmbades zum ersten Reinlichkeitsbade zu dienen, trägt wesentlich zur Annehmlichkeit und zur Erhöhung der Sauberkeit einer Anlage bei, und auch die Anordnung eines genügenden Raumes mit verschiedenen kalten Douchen ist Erforderniß. Um möglichste Reinlichkeit in der Badehalle selbst zu erhalten, müssen die Bekleideten und Entkleideten vollständig getrennt sein; es muß sich demnach hinter den Auskleidezellen ein besonderer Gang für die Bekleideten befinden. Außerdem ist ein großes Warte- respective Lesezimmer und Büffet vorzusehen.
Ein nach diesen Gesichtspunkten ausgeführtes Bad wird selbst bei einem mäßigen Eintrittsgeld von 25 bis 40 Pfennig, bei billigem Jahresabonnement von etwa 20 oder 25 Mark und bei Preisvergünstigungen für Corporationen eine gute Rentabilität erzielen und wird sowohl den besser Situirten wie auch den Arbeiter in gleicher Weise befriedigen. Wenn vielfach geklagt wird, daß sich unsere Schwimmbäder nicht gut verzinsen, so liegt dies weniger an der Unlust der Bevölkerung zum Baden, als vielmehr und meistens an der ungeschickten Anlage, welche dem Besucher nicht die nöthige Bequemlichkeit bietet.
[183] Es hat dies seinen Grund darin, daß die Anlage einer Bade-Anstalt, wie jedes andern Gebäudes, vielfach dem Bau-Amt oder einem guten Freunde zur Ausführung übertragen wird, anstatt einem mit derartigen Fragen vertrauten Fachmanne. Oder es liegt die Ausführung allein in künstlerischen Händen welche die technischen Momente als nebensächlich und der Architektur untergeordnet behandeln, während doch gerade das Umgekehrte stattfinden muß. In beiden Fällen ist es nur als ein glücklicher Zufall zu bezeichnen, wenn eine derartige Anlage den Anforderungen der Unternehmer wie des Publicums entspricht.
Es ist zu wünschen, daß im Interesse unseres Volkes immer mehr und mehr darnach gestrebt wird, jeder Stadt eine oder mehrere Anlagen dieser Art zu schaffen, sei es aus privaten oder öffentlichen Mitteln, Anlagen, welche dem Bemittelten wie dem Unbemittelten die Wohlthat eines kalten Bades zu jeder Jahreszeit gewähren. Dadurch kann der Gesundheitsgrad unserer Städte nur erhöht und zur sittlichen Erziehung unseres Volkes beigetragen werden.
Ein Beispiel eines Winterbades, bei welchem ich versuchte, dem Bremer Vorbilde nachzueifern und die hier entwickelten Grundsätze zur Geltung zu bringen, ist die durch die beigefügte Illustration dargestellte Schwimmhalle des Diana-Bades zu Leipzig – Besitzer Herr Gustav Schelter – welche in diesen Tagen der Benutzung des Publicums übergeben werden wird.
Eine Eisenbahn über ein zugefrorenes Meer. Aus St. Petersburg schreibt man uns soeben (Ende Februar): „Was bisher hier Niemand für möglich gehalten, ist vor einigen Tagen in’s Werk gesetzt worden, eine Eisenbahnverbindung zwischen dem mitten im Meere gelegenen Kronstadt und dem Festlande über die zugefrorene Ostsee hinweg. Ueber den Zweck dieser anscheinend so gefährlichen Bahn in Kürze Folgendes. Da der Hafen von Petersburg, das heißt die Newa, bedeutend früher zufriert, als die Ostsee um Kronstadt herum, so bleibt an letzterem Orte alljährlich eine bedeutende Menge Waaren zurück, in diesem Jahre z. B. über 1,6 Millionen metrische Centner, die nicht mehr bis Petersburg gelangen können und entweder die Ankunft des Frühjahrs abwarten, oder auf Schlitten über das Meer nach der Hauptstadt geschafft werden müssen, ein weiter, kostspieliger, mitunter gefährlicher Weg, wie wir später sehen werden.
Um diesem Uebelstande zu begegnen, hatte sich bereits vor längerer Zeit ein Consortium unter dem Vorsitz eines Grafen Rottermund und eines Herrn Virchaux gebildet, um, sobald die Ostsee genügend stark zugefroren sein würde, die sechseinhalb Kilometer lange Strecke Kronstadt–Oranienbaum mit einer Eisenbahn zu versehen, sodaß dadurch eine directe Verbindung des Kronstädter Hafens mit Petersburg erzielt würde. Die Regierung weigerte sich anfangs, der anscheinenden Gefahr wegen, die Genehmigung zu ertheilen, bis eine von ihr eingesetzte Commission erklärte, daß eine Gefahr absolut nicht vorhanden sei. Die Bahn wurde daher erst vor wenigen Tagen, am 13. Februar n. St. eröffnet und kostete ihre Herstellung 30,000 Rubel, doch hofft die Gesellschaft, bereits in diesem Jahre, in welchem ihr doch höchstens sechs Wochen Fahrzeit bleiben, das heißt bis Ende März, auf ihre Kosten zu kommen.
Die Herstellung der Bahn erforderte nur kurze Zeit. Gleich bei der Station Oranienbaum zweigt sie sich ab, läuft erst eine Strecke über das Festland hin und steigt dann über Brücken zum Meere hinab. Auf dem Lande sind die Schwellen wie gewöhnlich beim Eisenbahnbau gelegt, auf dem Eise jedoch einige Veränderungen vorgenommen worden: sie sind hier direct in den Schnee gelegt, der durch Ueberschwemmungswasser zu Eis geworden ist, und vertritt dieser den Sand, die Erde und die Steine, in denen auf dem Festlande die Schwellen ihre Festigkeit finden. Letztere sind meist von der Länge und Stärke gewöhnlicher Eisenbahnschwellen, an manchen Stellen aber und zwar da, wo das Eis dünner ist oder sich Spalten gebildet haben, bis zu vier Meter lang. In einiger Entfernung sind zu beiden Seiten der Bahn durch Tannenbäumchen Schutzwälle gegen Schneewehen hergestellt, und auf der, wie bereits erwähnt, fast eine deutsche Meile langen Strecke fünf Anhaltspunkte, an denen Wärterhäuschen erbaut sind, angelegt worden.
Die Bahn führt bis zum Kronstädter Hafen, vor dessen Damm in einer Entfernung von 10 Meter sie endet, nachdem sie vorher einen Zweig in der Richtung nach Kronstadt, woselbst sich die hauptsächlichsten Waarenmagazine befinden, hinausgeschickt hat. An diesem Zweige sind vier Plattformen, am Ende der Hauptbahn fünf erbaut, die in der Höhe der Waggondiele liegen und es ermöglichen, die auf Schlitten herangeführten Waaren ohne weitere Hindernisse zu verladen. An jeder der Plattformen haben zwei Waggons Platz. Hart am Hafen ist ein größeres Häuschen erbaut, welches als Comptoir dient, während im Hafen ein ähnliches errichtet ist für die Zollbeamten, welche die direct aus den Schiffen in die Waggons überzuladenden Waaren zu verzollen haben. An einigen Stellen des Bahnkörpers, da, wo größere Eisspalten vorkamen oder das Eis tiefe Ausbuchtungen zeigte, sind Holzunterbaue hergestellt, auf denen die Schwellen befestigt sind. Die Waggons werden von einer Locomotive gezogen, und vier bis fünf Waggons bilden einen Zug.
Außer den Güterzügen fahren aber noch sehr viele Personenzüge auf dieser Strecke; denn die Zahl der Neugierigen, welche diese merkwürdige Bahn kennen lernen wollen, ist sehr groß. Gar Mancher aber, der besonders zu diesem Zwecke nach Oranienbaum fuhr, wird in seinem Entschlusse wankend, wenn er die breite Meeresfläche vor sich liegen sieht, über welche er herüber muß, und besonders wenn er die in das starke Eis gehauenen Löcher betrachtet, welche in einiger Entfernung zu beiden Seiten der Bahn angebracht sind und an deren Munde die Fluthen der Ostsee donnernd anschlagen. Es zieht dann wohl Einer oder der andere vor, nach denn sicheren Petersburg zurückzukehren; auch ist es nicht selten, daß einen Passagier, der bereits eingestiegen ist, in dem Augenblicke der Muth verläßt, wenn der Zug langsam sich vom Festlande auf das Meer begiebt, und er dann eilig, zum Amüsement der übrigen Mitreisenden, zum Coupé herausspringt. Meiner Ansicht nach hat auch die Fahrt nichts besonders Furchterweckendes, namentlich wenn die Coupéfenster geschlossen sind; sind letztere geöffnet, so hört man, zumal wenn man den Kopf herausstreckt, das fortwährende Krachen und Knistern des Eises und unter sich das dumpfe Geräusch, welches ein Zug verursacht, der über eine Brücke fährt. Das klingt für mit schwachen Nerven Begabte nicht angenehm.
Viel gefährlicher ist meines Erachtens die bisherige Verbindung zwischen der Hauptstadt und Kronstadt, die Fahrt zu Schlitten über das Meer, eine Strecke von fast vier deutschen Meilen. Am Tage oder bei hellen, ruhigen Nächten ist auch hier nichts zu fürchten; geradezu schaurig ist dagegen die Fahrt bei Dunkelheit und starkem Sturm. Letzterer fegt dann mit aller Gewalt über die ungeheure Ebene hinüber; die an den zahlreichen Wärterhäuschen, welche die Fahrstraße bezeichnen, angebrachten Laternen halten ihm natürlich nicht Stand, und es werden dann fortwährend hängende, sehr scharf tönende Glocken geläutet, um den Reisenden den Weg zu zeigen. Oefters aber kommt es vor, daß dieser vollständig vom Schnee verweht und der Sturm so stark ist, daß man die Glocken nicht mehr hört; dann ist die Fahrt sehr gefährlich; denn der Kutscher kann sich leicht verirren und an eine offene Stelle kommen. So mancher Reisende hat auf solcher Fahrt seinen Tod gefunden.
Zur Literatur- und Culturgeschichte der Menschheit. Es ist keine leichte Aufgabe, ein anschauliches Bild von dem gesammten Entwickelungsgange des menschlichen Geistes zu entrollen, weil dazu ein hoher Grad geschichtlicher, philosophischer und literarischer Kenntnisse erforderlich ist. Wem es aber gelingt, diese Aufgabe auch nur annähernd zu losen, der hat schon damit ein schönes und lohnendes Werk vollbracht. Dr. Gustav Diercks hat es nun kürzlich unternommen, in einem im Verlage von Theodor Hofmann (Berlin, 1881) erschienenen Buche, „Entwickelungsgeschichte des Geistes der Menschheit“ betitelt, die intellectuellen Beziehungen der Völker zu einander darzustellen und die Literatur- und Culturgeschichte zu einer vergleichenden Wissenschaft zu erheben. Von der gewiß richtigen Ansicht ausgehend, daß die Gesetze der Bewegung, des Fortschritts, der Entwickelung die Wurzeln sind, aus denen, wie alles Andere auf unserer Erde, so auch der Baum des Geistes der Menschheit entsprossen ist, der nun eine Riesengröße erlangt hat, betrachtet er die Cultur schaffender Rassen und Völker in historischer Reihenfolge, zeigt die Richtungen, welche sie einschlugen, forscht nach den hierbei maßgebenden Ursachen und faßt am Schlusse eines jeden Abschnittes die Ergebnisse desselben kurz und klar zusammen. Nach der Annahme des Verfassers lebten vor dem Beginn der geschichtlichen Zeit Hamiten, Mongolen, Semiten und Arier auf der Hochebene zwischen dem Caspischen Meere und dem Quelllande des Indus, wahrscheinlich in Folge großer Umgestaltungen der Erdoberfläche längere Zeit dicht an einander gedrängt, als aber Uebervölkerung eintrat, wanderten jene Volksstämme nach verschiedenen Himmelsgegenden aus. Diercks begleitet sie nun in ihre neuen Niederlassungen und behandelt seinen reichhaltigen Stoff in acht besonderen Capiteln: Aegypten, die mongolische Rasse, Indogermanen und Inder, der Buddhismus, die Eranier, die Semiten, bei denen er Chaldäer, Babylonier, Assyrer, Phönicier und Israeliten unterscheidet, die Griechen, die Römer.
Mit Recht schenkt er überall der religiösen Entwickelung besondere Aufmerksamkeit. Mit dem Zerfall des Römerreiches endet das höchst anregende Buch, welches allen Freunden einer den Geist befruchtenden Lectüre eine gewiß willkommene Gabe sein wird; der zweite Band, der das Mittelalter und die Neuzeit umfassen und das Werk abschließen wird, soll in Kürze nachfolgen.
Die vorhistorische Zeit des Entwickelungsganges der Menschheit, an Dauer die historische um mehr als das Zehnfache übertreffend, ist in ein nahezu undurchdringliches Dunkel gehüllt, selbst die Anfänge der Geschichte sind vielfach durch dichte Nebel bedeckt, deren Entfernung nicht leicht, oft ganz unmöglich ist, und wo endlich sichtbare Geschichtsspuren zu Tage treten, da sind sie in sehr vielen Fällen so undeutlich und lückenhaft, daß eine gewissenhafte Forschung selten über bloße Wahrscheinlichkeit hinaus gelangt ist.
Trotzdem weiß unser Autor die vereinzelten Lichtstrahlen in Brennpunkte zu sammeln, die eine gewisse Helligkeit verbreiten, und je zuverlässiger der Boden wird, auf dem er sich bewegt, desto werthvoller und reifer sind die Früchte seiner Arbeit. Die Form, in welcher Diercks die gewonnenen Resultate darbietet, ist eine gemeinverständliche und klare; seine Sprache ist leicht fließend und unterhaltend, und wenn der sachkundige Leser auch nicht überall mit den Ansichten des Verfassers übereinstimmen kann, so muß er doch überall den sittlichen Ernst und die gewissenhafte Prüfung anerkennen, womit letzterer seinen Gegenstand [184] behandelt hat. Nichtige Erkenntniß der Naturgesetze und Pflege und Stärkung des sittlichen Bewußtseins sind das Hauptziel, nach welchem Diercks in seiner Arbeit mit Erfolg gestrebt hat, und schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem andern, war es angezeigt, an dieser Stelle auf sein Buch hinzuweisen.
Ein neues Bollwerk gegen die kirchliche Reaction der Gegenwart
verspricht das soeben in’s Leben getretene „Correspondenzblatt für kirchliche
Reform“ zu werden, welches als Organ des schon früher (vergl.
Jahrgang 1879, Nr. 35) von uns auszeichnend hervorgehobenen „Protestantischen
Reformvereins“ zu Berlin sich die nicht genug
anzuerkennende Aufgabe stellt, den Sinn für eine freiheitliche Entwickelung
der christlichen Kirche zu wecken und zu pflegen und ein
Band der Gemeinschaft für die freisinnigen kirchlichen Reformbestrebungen
zu schaffen. Das Blatt wird, wie die Ankündigung sagt, die principiellen
Fragen des religiösen und kirchlichen Lebens vom protestantischen Standpunkte
aus in allgemein verständlicher Weise erörtern, .die wichtigsten
Tagesereignisse, so weit sie auf die religiöse Frage Bezug haben, besprechen,
über bedeutsamere Vorfälle aus dem Leben der protestantischen und
anderer Kirchen berichten und Nachrichten aus der Reformpartei und den
übrigen kirchlichen Richtungen bringen.
Ist das Erscheinen eines auf so echt freiheitlicher und gesunder Basis beruhenden Kampfblattes in unseren Tagen sich täglich steigernder hierarchischer Vergewaltigungen schon an und für sich ein hoffnungerweckendes Zeichen der Zeit, so tritt es in eine noch viel verheißungsvollere Bedeutung durch den Umstand, daß die Redaction des Blattes in keiner geringeren Hand liegt, als in derjenigen des durch sein wiederholtes mannhaftes Eintreten für die Sache der kirchlichen Freiheit bekannten Predigers Dr. Kalthoff in Steglitz bei Berlin. (Vergleiche unsern Artikel: „Die religiöse Ueberzeugung vor dem Kirchengericht“, (Jahrgang 1878, Nr. 19.)
Wir begleiten die Entwickelung des „Correspondenzblattes“ und des durch dasselbe vertretenen protestantischen Reformvereins mit den lebhaftesten Wünschen kräftigsten Gedeihens und beschränken uns zur Unterstützung der Idee, welcher das Blatt dient, für heute darauf, im Folgenden das daselbst abgedruckte Programm der kirchlichen Reformpartei (angenommen vom protestantischen Reformverein am Reformationsfeste 1880) hier wiederzugeben. Es lautet:
Die protestantische Reformpartei erstrebt den Ausbau der evangelischen Landeskirche im Geiste des protestantischen Christenthums. Sie leitet ihr Programm aus folgenden, innerhalb des freisinnigen Protestantismus allgemein anerkannten Grundsätzen ab:
I. Die protestantisch-unirte Kirche hat ihre höchste Norm an dem in den biblischen Schriften enthaltenen Evangelium Jesu und hat dasselbe zu immer reinerer und vollkommenerer Darstellung zu bringen. Da dieses Evangelium die Stellung des Menschen zu Gott lediglich von der Gesinnung abhängig macht, so steht jeder Versuch, äußere Cultushandlungen zum Gegenstände gesetzlicher Zwangsmaßregeln zu machen, mit dem Wesen des Evangeliums in Widerspruch.
II. Die protestantisch-unirte Kirche ist in ihrer Lehre weder an die Beschlüsse der katholischen Concilien, noch an einseitig-confessionelle Darstellungen der christlichen Religion als an unveränderliche Normen gebunden. Jeder Versuch, die Glaubenssätze früherer Jahrhunderte als unveränderliche Normen für alle Zeiten festzuhalten, lenkt deshalb unvermeidlicher Weise entweder in’s Lager des Katholicismus zurück oder muß zur Sprengung der Union und zur Sectenbildung führen.
III. In der protestantischen Kirche sind alle mündigen Glieder gleichberechtigt, unbeschadet der amtlichen Stellung, die sie in derselben einnehmen. Eine Kirchenverfassung, welche dem geistlichen Stande eine bevorrechtete Stellung in den kirchlichen Körperschaften gesetzlich zuerkennt, unter den Geistlichen selber hierarchische Rangunterschiede macht, oder welche eine Bevormundung der Gemeinden in ihren inneren religiösen Angelegenheiten durch Synoden und Behörden zuläßt, beruht deshalb auf unprotestantischer Grundlage. –
Hieraus ergeben sich unter den gegenwärtigen Zuständen der preußischen Landeskirche für unser Reformprogramm zunächst folgende Hauptforderungen:
1) Aufhebung des durch die Beschlüsse der Generalsynode vom Jahre 1879 eingeführten Tauf- und Trauzwanges.
2) Aufhebung des Bekenntnißzwanges für die Geistlichen und Verpflichtung derselben zur Verkündigung der christlichen Religion nach der Norm des Evangeliums Jesu und im Geiste der evangelisch-unirten Kirche.
3) Einführung von Parallelformularen für die Cultusacte, insbesondere solcher Formulare, welche aus der Liturgie die Anklänge an den katholischen Meßcanon entfernen und ermöglichen, daß bei der Liturgie und der Taufe die Verlesung des sogenannten apostolischen Glaubensbekenntnisses weggelassen, sowie daß der Abendmahlsfeier die historische Auffassung zu Grunde gelegt und die Beichthandlung freigegeben werden kann.
4) Unabhängigkeit der theologischen Facultäten von dem Einflüsse des Kirchenregiments.
5) Gleichstellung der evangelischen Landeskirche und der übrigen Religionsgemeinschaften den Landesgesetzen gegenüber.
6) Kräftigung der Einzelgemeinden gegenüber den centralisirenden Tendenzen kirchlicher Synoden und Behörden, insbesondere:
a. Verleihung des freien Pfarrwahlrechts an die Gemeinden,
b. Directe Wahlen der Gemeinden zu allen Synoden, unter Gleichstellung der Laien und der Geistlichen in Bezug auf die Wählbarkeit,
c. Gewährung des Rechts der freien Präsidentenwahl an die kirchlichen Organe und Synoden.
7) Befestigung des geistigen Bandes, welches die Einzelgemeinden auf der Grundlage der freien Selbstbestimmung zur christlichen Kirchengemeinschaft und zur gemeinsamen Förderung der sittlich-religiösen Aufgaben des Christenthums verbindet.
8) Aufhebung des kirchlichen Pfründewesens und Besoldung der Prediger nach einem für alle gleichmäßig festzusetzenden Maßstabe.
Der künstliche Indigo. Schon vor zwei Jahren brachte die „Gartenlaube“
(1878, S. 869) eine kleine Notiz über das Gelingen der lange
angestrebten künstlichen Herstellung des Indigofarbstoffs. Allein die damals
entdeckte Methode gab nur so winzige Spuren des geschätzten Farbstoffes,
daß sie für die Industrie nicht verwerthbar erschien. Der um die
Chemie der Indigofarbstoffe hochverdiente deutsche Chemiker Adolf Baeyer
hat inzwischen seine seit fünfzehn Jahren begonnenen Versuche, den Indigo
künstlich zu erzeugen, fortgesetzt und ist neuerdings zu einem ergiebigeren
Verfahren gelangt, welches, wenn es erst durch die Praxis vervollkommnet
sein wird, in der That verspricht, den theuren indischen Farbstoff zu verdrängen.
Die neue Methode geht von der Zimmtsäure aus, einer im
Benzoeharz, Perubalsam und anderen mehr oder minder kostbaren
Specereien enthaltenen Substanz. Die Zimmtsäure wird zunächst durch
Behandlung mit Salpetersäure in Nitrozimmtsäure verwandelt, und letztere
durch Einwirkung von Brom in das Dibromid derselben. Man hat in dem
letzteren Stoffe eine Verbindung, welche in Berührung mit Alkalien schon ein
wenig Indigoblau giebt, aber viel vortheilhafter ist es, das Dibromid zunächst
in eine Verbindung zu verwandeln, welche Orthonitrophenylpropiolsäure
heißt. Dieser langnamige Körper giebt durch Behandlung mit Alkalien
und Traubenzucker sofort Indigoblau und bietet den außerordentlichen
Vortheil, daß man ihn in beliebigen Mustern direct auf die Gewebe drucken
kann, um das Indigoblau auf der Faser selbst zu erzeugen, ein Umstand,
der für die Praxis so wichtig ist, daß man diesem Stoffe seinen langen
Namen verzeihen wird und schon jetzt in einer unserer größten Anilinfabriken
drauf und dran ist, ihn in größerer Menge künstlich zu bereiten.
Freilich würde der künstliche Indigo nie mit dem natürlichen concurriren
können, wenn man die Zimmtsäure nur aus den oben erwähnten Specereien
erhalten könnte. Allein dieselbe läßt sich ihrerseits aus einem Bestandtheil
des Steinkohlentheers, dem Toluol, künstlich darstellen, sodaß nunmehr eine
greifbare Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, daß wir dereinst den Indigofarbstoff
ebenso wie den gleichgeschätzten Krappfarbstoff und die blendenden
Analinfarben aus dem Abfalle der Leuchtgasfabriken gewinnen werden.
Es ist herzerfreuend, daß alle diese wichtigen Entdeckungen von deutschen
Chemikern theils angebahnt, theils wirklich gemacht worden sind.
Die Entdeckung der Anilinfarben dankt man bekanntlich mittelbar Professor
A. W. Hofmann in Berlin, die Darstellung des künstlichen Alizarins,
bei der es sich um viele Millionen Mark handelt, die früher in’s Ausland
gingen, den Berliner Chemikern Gräbe und Liebermann; hoffen wir
nun, daß der dem Professor Baeyer in München gelungene große Wurf
sich volkswirthschaftlich ebenso wichtig erweisen möge, wie die Darstellung
des künstlichen Alizarins! Vorläufig handelt es sich nur um vertrauenerweckende
Aussichten.
Bärentreiber in den Karpathen. (Mit Abbildung, S. 173.) Eine
Dorfscene in den nördlichen Abhängen der Karpathen, in dem Heimathlande
der Rastelbinder und Bärentreiber, wird dem Leser durch unser
heutiges Bild vorgeführt. Das Eintreffen eines Bärenführers bildet in
jener Gegend, wo sonst wenig Neues zu sehen ist, etwa dasselbe „Ereigniß“,
wie der Einzug fahrender Musikanten in einem abgelegenen
deutschen Gebirgsdorfe. Alt und Jung strömt herbei, um die Kunstproductionen
des abgerichteten Petz zu sehen. Der Thierbändiger macht
in kluger Berechnung vor der Dorfschenke Halt, und schmunzelnd erscheint
der Jude in der Thür des Wirthshauses, da auch die Petze für seinen
Schnaps eine gute Kundschaft abgeben. Auch die Zigeunermutter hat sich
mit ihrem Esel, auf dem eines ihrer Kinder die Pfeife raucht, eingefunden.
Abergläubische Mütter führen der Gauklerin ihre Kleinen zu, und das
Geschäft der Prophezeiungen scheint schon im vollen Gange zu sein; denn
die gerührte Bäuerin läßt ihr Kind der Prophetin den Zoll der Dummheit
zahlen. An dem primitiven Brunnen hat sich eine Gruppe von
Mädchen und Kindern gesammelt, während im Hintergründe nach vollbrachtem
Tagewerk die Schnitter Heimkehren und sich um den Bärentreiber
drängen. – Freilich werden auch in den Karpathen solche Scenen immer
seltener; die ehrbaren Zünfte der Rastelbinder und Bärentreiber stehen
auf dem Aussterbe-Etat, da der eiserne Topf das irdene Geschirr aus
unsern Küchen verdrängt und die zoologischen Gärten und Menagerien den
Bärenführern arge Concurrenz machen. Bei diesem Umschwung werden
die Karpathenbewohner nur gewinnen; die am Fuße des Gebirges reichlich
fließenden Petroleumquellen, die neuentstehenden mineralischen Bäder und
klimatischen Curorte und die emporblühende Viehzucht werden auch diesem
Volke zum Wohlstand verhelfen, während jetzt aus seinen Hütten und
Kleidern, wie es der Maler trefflich geschildert, noch Verlassenheit
und Armuth schauen.
Kleiner Briefkasten.
A. B. in Berlin und W. in Nürnberg. Spottmünzen. Wir bedauern sehr, Ihnen den Verkauf der in Ihrem Besitz befindlichen Lutherischen Spottmünzen nicht vermitteln zu können. Wenden Sie sich an einen Antiquitätenhändler!
T., K. in C. Das Wiederimpfen Erwachsener ist ein Schutz gegen die Blattern, und nach deutschem Reichsgesetz müssen alle Kinder im zwölften Lebensjahre revaccinirt werden. Erwachsene thun gut, sich bei jeder ausbrechenden Pocken-Epidemie auf’s Neue impfen zu lassen.
A. L. in London. Wir haben oft genug erklärt, daß die „Allgemeinen Anzeigen zur ,Gartenlaube’“ in einem nur äußerlichen Zusammenhange mit unserem Blatt stehen und daß wir eine Verantwortung für den Inhalt derselben nicht übernehmen können.