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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[153]

No. 10.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

So verschleiernd auch das Halbdunkel gewesen war, das blasse Mädchengesicht hatte doch hindurch geleuchtet; schmerzhaft war sein Ausdruck gewesen, und die geschmähten Augen, die keine Thränen haben sollten, hatten umflort und trübe an dem Sprechenden gehangen. Dann hatte sie sich plötzlich horchend emporgerichtet – näher kommendes Pferdegetrappel, das Herrn Markus schon längst irritirt und beunruhigt hatte, mochte nun auch an ihr Ohr gedrungen sein. Es war hohe Zeit gewesen, den Lauscherposten zu verlassen. Herr Markus hatte das Dickicht aufgesucht, und gleich darauf war ein Reiter um die Wegecke gekommen.

Ruhigen Schrittes aus dem schweigenden Walddunkel in das ungewisse Dämmerlicht des sternbesäeten Nachthimmels hervortretend, hatte die Reitererscheinung förmlich riesenhafte Contouren und eine geheimnißvolle Feierlichkeit angenommen, und es war unschwer gewesen, sich zu dem Schlapphut, den der gewaltige Mann zu Pferde getragen, auch die mit Silberthalern bedeckte Jacke eines Zigeunerhauptmannes zu denken.

Bei seinem Näherkommen hatte sich die Hausthür geräuschlos aufgethan, und ebenso leise war der Forstwärter auf die Stufen herausgetreten. Im Flüsterton hatte er den Reiter begrüßt, das Pferd beim Zügel genommen und es ein paar Mal auf- und abgeführt, während der Andere abgestiegen und in das Haus gegangen war.

Vielleicht wäre in dieser Stunde das Räthsel gelöst worden, wenn Mosje Dachs nicht intervenirt hätte. Der Köter hatte plötzlich, aus dem Hause springend, das Pferd kläffend umkreist, bis ihn ein Fußtritt seines Herrn zum Schweigen gebracht und aus dem Wege geschleudert hatte, just in der Richtung, wo der Lauscher hinter dem Baume gestanden.

Auf das erneute Anschlagen des Hundes hin war der Gutsherr scheinbar unbefangen aus dem Busche herausgetreten und, ohne den Grünrock zu beachten, auf dem Fahrwege heimwärts geschritten. Später war er freilich nach dem Forstwärterhause zurückgekehrt, und das blaue Licht der Eckfenster hatte auch noch immer wie ein blasser Stern in den Wald hineingeschienen, aber Roß und Reiter waren verschwunden gewesen wie ein nächtlicher Spuk; der hochlehnige Holzstuhl, auf welchem das Mädchen gesessen, hatte leer und verlassen gestanden und von dem Murmeln aus der dunklen Ecke war auch nicht der leiseste Flüsterhauch mehr herübergekommen. … All das räthselvolle Thun und Treiben mußte ausgeflogen sein, zur Genugthuung des einsamen Hausbewohners, der nunmehr allein bei der halbverdeckten Lampe gesessen und den hübschen bärtigen Kopf vertieft über ein Buch gebückt hatte.

Und in das phantastische Gespinnst, von welchem sich Herr Markus mit all seiner Selbstironie, seinem klaren Urtheile nicht frei zu machen vermochte, mischten sich immer mehr Fäden von außen her. … Der Jude, der von Tillroda eines Pferdehandels wegen auf den Gutshof kam, erzählte, daß eine Zigeunerbande den Ort passirt und Skandal gemacht habe, weil ihr der Aufenthalt nächtlicher Weile nicht gestattet worden. Uebrigens seien es schöne, „ganz, noble“ Leute gewesen, und Pferde hätten sie mit sich geführt, wahre Prachtexemplare einer edlen Rasse – natürlicher Weise gestohlenes Gut aus den ungarischen Steppen. - Und gleich nach diesem Berichte beklagte sich ein heimkehrender Knecht bei dem Verwalter, daß ihm der Forstwärter jetzt immer so grob die Hausthür vor der Nase zumache und ihn wie einen Spitzbuben draußen auf dem Fahrwege abfertige, wenn er im Auftrage seines Herrn komme – das waren allerdings frappante Streiflichter. –

Nun, er wollte den braunen Augen diesmal auf den Grund sehen. Er wollte all seinen Scharfsinn aufbieten und seine thörichte Leidenschaft niederkämpfen, um dem unbegreiflichen Mädchen klaren Kopfes gegenüber zu stehen, wenn sie kam – und sie mußte wiederkommen. Sie war zwar gestern, bis in die tiefste Seele hinein verletzt, gegangen, aber sie hatte auch gesagt: „Ich komme wieder, um nachzusehen.“ – Und daran hielt er fest, wie an dem Handschlage eines Ehrenmannes. Er behütete fast ängstlich den Verband an seiner Rechten, so lästig er ihm auch war; sie sollte sehen, daß er getreulich auf sie gewartet habe.

So hielt er standhaft aus in der wahrhaft erstickenden Nachmittagsgluth, die über und in dem Pavillonstübchen brütete. Die Thür nach der Außentreppe stand weit offen, damit der „Heilgehülfe“ direct hereinkommen konnte, aber Stunde um Stunde verrann. Der Weg am Fichtenhölzchen blieb todtenstill und verlassen; nicht einmal ein Schmetterling flatterte über die rissige, weißbestäubte Weglinie, auf der die erhitzte Luft flimmerte wie Backofengluth. … Noch wölbte sich der Himmel hart und dunstlos wie ein blaufunkelnder Glaskelch über der verdurstenden Erde, aber die ferne, scharfe Horizontlinie des Waldes fing an, sich zu verwischen. Ganz leise hob es sich dort drüben und schwoll und quoll empor und schaute vielgestaltig über die Wipfel in das Land herein – die ersten Wolken wieder seit vielen Tagen! Und wie sie sich dehnten und mit langen Armen in die [154] blauen Lüfte hineingriffen und verwegen dem glühenden Sonnenball zustrebten, um ihn zu verhängen, so wuchs die Ungeduld des Wartenden – wenn sie sich verspätete, bis der Gewittersturm losbrach, dann sah er sie heute nicht mehr.

Er nahm seinen Hut, schloß die Glasthür hinter sich und stieg das Balcontreppchen hinab, und in dem Augenblicke, wo er den Weg betrat, da wurde es auch lebendig hinter der äußersten Gehölzecke. Das stürmische Herzklopfen des harrenden Mannes erwies sich aber als gänzlich unmotivirt – es war nicht das verhaßte und doch so heiß herbeigesehnte „Scheuleder“, das über dem niederen Fichtendickicht auftauchte – ein Strohhütchen mit wehenden blauen Bändern auf den Blondzöpfen, kam Luischen dahergesprungen, und hinterdrein trabte die dicke, brave Mama.

Frau Griebel blieb auf halbem Wege stehen.

„Gott sei Lob und Dank, da kömmt’s, Herr Markus!“ rief sie mit einer Kopfschwenkung nach dem aufsteigenden Wolkengebirge zurück. „Wenn wir’s kriegen – das heißt eine rechtschaffene, gründliche Pelzwäsche, sonst dank’ ich – da backe ich den Tillröder Bettelkindern morgen einen Butterkuchen, der ihnen noch nach zehn Jahren gut schmecken soll.“

Sie stellte einen großen Handkorb auf den Weg und trocknete sich den Schweiß vom Gesicht.

„Das war ein heißer Gang, Herr Markus, und für mich selber wäre ich heute nicht um die Welt aus unseren kühlen vier Pfählen herausgekrochen,“ sagte sie zu dem Gutsherrn, der inzwischen herbeigekommen war, „aber die neue Magd ist um Mittag auf dem Vorwerk eingetreten, und da mußte ich selber nachsehen. Und es war gut, daß ich kam. Das dumme Mädel kömmt von einem reichen Bauerngut und heult nun über die leeren Schränke und den wüsten Keller. … Ich konnte mir’s schon denken, und hatte deshalb Schinken und Wurst und ein paar Einmachbüchsen in den Korb da gepackt, und während sie mir in der Küche vorlamentirte, da prakticirte meine Kleine die Sachen heimlich in den Speiseschrank. … Na ja, besonders schön ist’s freilich nicht da drüben – sie haben nichts in der Räucherkammer; die Schweine sind ihnen im vorigen Winter abgepfändet worden – und wer eben erst an den Fleischtöpfen Aegyptens gesessen hat, der mag sich bedanken. Um deshalb sollte die Herrschaft eigentlich doppelt freundlich zu dem neuen Gesinde sein, aber den Leuten steckt ja der Amtmannsdünkel im Blut, wie die Motten im Pelze – da ist nichts zu machen. … Wie wir in die Hausflur getreten waren, ich und meine Luise, da kam die Fräulein Gouvernante gerade die Treppe herunter. Sie hatte ihren grauen Hutschleier um den Kopf gewickelt –“

„Ja, man sah nicht viel von ihrem Gesicht,“ warf Luise ein, „aber sie ist so wundervoll gewachsen und sah vornehm aus wie eine Hofdame –“

„Und die ganze Hausflur roch in dem Moment nach Veilchen, wie zu Hause mein Leinenschrank,“ ergänzte Frau Griebel trocken. „Und wie ihr mein Schnattergänschen da mit seinen Blau-Augen ein Bischen vorwitzig in’s Gesicht guckt, da dreht sie sich weg und ist zur Hausthür hinaus, kein Mensch weiß wie. … Herr Markus, ’s ist schauderhaft, aber die Hoffahrt bleibt, und wenn im Magen keine Krume Brod und auf den Schuhen keine Sohle mehr ist. Ich hörte, wie ihr der Amtmann aus dem Fenster nachrief: ,Wo hinaus, Agnes?’ – ,In den Wald?’ – ,Hast Du auch Handschuhe am?’, – Nun bitte ich Sie, Herr Markus!“

Er lachte.

„Mein Gott, warum soll denn die Dame ihre schönen Hände nicht pflegen? Zwei Mägde arbeiten jetzt für sie –“

„So? Zwei? Na, Sie werden gucken, wenn ich Ihnen sage, was ich weiß. … Sehen Sie“– sie hob mit einer strafenden gekränkten Miene den Zeigefinger – „wie Sie gestern so morose Ihre Bücher zusammenpackten und aus dem Gartenstübchen fortliefen, als wär’ Feuer auf dem Dache, da dachten Sie in Ihren Gedanken: ,Die alte Katze, die!’ Und die ,alte Katze’ war ich? Na, na, seien Sie nur still! Das weiß ich so gut wie das ABC – das hab’ ich Ihnen nur so von Ihrem bösen Gesicht abgelesen. Aber ich war still und dachte auch mein Theil. Und ich hab’ Recht gehabt, und ein andermal trauen Sie doch lieber einer ehrlichen alten Frau, die ihr Lebtag nicht gelogen hat, als so einem Paar schwarzen Zigeunerfunkelaugen –“

„Was ist geschehen?“ schnitt er ihr heftig, in unverhehltem Schrecken die Rede ab.“

„Na, ein Unglück, über das man sich alteriren müßte, doch beileibe nicht! Wie kommen Sie mir denn vor, Herr Markus? Was geht es denn im Grunde uns Beide an, wenn Amtmanns Knall und Fall ihre Magd wegjagen?“

„Weggejagt, sagen Sie?“

Jetzt kam ihr unzerstörbarer Gleichmuth doch ein wenig in’s Schwanken. Sie sah ziemlich consternirt dem jungen Mann in’s Gesicht, der sie so grimmig anfuhr.

„Sie thun ja, meiner Treu, als hätte ich das Mädel beim Kragen genommen. Da muß ich denn doch recht sehr bitten. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich das aparte Ding jemals in mein Herz geschlossen hätte – das ist Keine nach meinem Sinn – aber ihr schaden und bei der Herrschaft verhetzen – nein, das brächte ich nicht über’s Herz. … Ich fragte nur so nebenbei die ,Neue’: ,Wo steckt denn die Andere?’ Da guckt sie mich ganz dumm und perplex an und weiß von keiner Anderen. … Das Fräulein habe ihr das Nöthige gezeigt, sagte sie, und der alte Herr schnüffele auch immer in der Küche herum und commandire brummig und barsch wie ein Unterofficier ein anderes Gesicht sei ihr aber weiter nicht vor die Augen gekommen –“

„Zur Sache!“’ drängte der Gutsherr, bebend vor Ungeduld.

„Na ja – wie ich nachher drinn in der Stube nach dem Mädchen frage, das ich doch oft genug auf den Vorwerksäckern bei der Arbeit gesehen habe – hören Sie, da kehrt doch die alte Frau im Bette das Gesicht ganz blaß und still nach der Wand, und der Amtmann kriegt einen feuerrothen Kopf und sieht mich mit Augen an, als wollt’ er mich fressen, und stottert und poltert und schnauzt mich an:

,Die da? Na, die ist fort, ja, fort über alle Berge, wie es sich ganz von selbst versteht. Oder glauben Sie etwa, meine Gute, ich werde zwei solche Tagediebe ernähren, jetzt, wo sie mir die Bude über dem Kopfe einreißen, und meine ganze schöne Oekonomie stockt und stille stehen muß?’

Ich bitte Sie, ,die ganze, schöne Oekonomie,’ Herr Markus! Der alte Aufschneider, der! … Und was er sich nur einbildet, daß ihm eine erfahrene Frau, wie ich, die Flunkerei mit dem Mädchen glauben soll! In der ganzen Welt läßt sich kein Dienstbote ohne richtige Kündigung fortschicken, wenn nicht ein ganz besonderer Grund vorliegt. Weshalb Unsereins den Grund nicht erfahren soll, das weiß ich freilich nicht; aber den Kopf will ich mir gleich ahschneiden lassen, wenn da nicht der Henkelducaten im Spiele ist. … Na, wohin denn so geschwind, Herr Markus?“

Sie wandte sich um und sah mit hochgezogenen Brauen dem Gutsherrn nach, der, im Sturmschritt an ihr vorüber, den Weg einschlug, den sie gekommen war.

„Und das fragen Sie auch noch, Verehrteste?“ rief er zurück. „Können Sie sich denn gar nicht denken, daß ich furchtbar neugierig bin, die unvergleichliche ,Neue’ kennen zu lernen?“ —

Er eilte weiter, als trüge ihn der erste leichte Windstoß, der an der Gehölzecke aufflog, über das Weggeröll hin. Sein Blick durchforschte das karg bestandene Gelände – irgendwo, aus einem dürftigen Aehrenfeld, oder zwischen den letzten Heuhaufen der nächsten Wiese, sollte und mußte ja das weiße Kopftuch auftauchen, aber es rührte und regte sich nichts im weiten Felde; nur die so lange ersehnten Wolkenschatten liefen drüber hin, als tröstende Vorboten, als Gewitterherolde, und durch die Birnbaumwipfel des Vorwerksgartens blies ein zweiter schwacher Windstoß und schüttelte geräuschlos verschrumpfte, kleine Früchte auf den Weg.

Herr Markus kam an der stillen, dunklen Lindenlaube vorüber und schritt durch das Himbeergebüsch in den Hof – da wurde es endlich laut. Die Thür knarrte; Spitz hob die Nase von den Vorderpfoten und kläffte, und vom Hause her klang brummiges Schelten.

Beim Eintritt in die Hausflur sah er den Amtmann vor dem Speiseschrank in der offenen Küche stehen. In der Linken hielt der alte Herr Stock und Pfeife, und mit der Rechten warf er eben die Schrankthür in’s Schloß, daß sie in den Fugen ächzte. Darauf zog er den Schlüssel ab und steckte ihn in die Schlafrocktasche.

„Der Teufel soll die Wirthschaft holen,“ brummte er, in die Hausflur hinkend. Er streckte die Hand dem Gutsherrn hin, dem er in diesem Augenblicke vorkam wie ein schlechtspielender Poltron auf der Bühne. – „Liegen da, im offenen Speiseschrank, eine [155] mächtige Cervelatwurst und mindestens, drei Pfund vom allerbesten Schinken. Ein paar hübsche Bissen für die Strolche und Bettelkinder, die auf dem Vorwerk herumschnüffeln! Ei Herr Jesus! Ja, wenn freilich so in meiner Räucherkammer, mit meinen Vorräten gehaust wird, da braucht man sich nicht zu wundern, wenn der Prosit flöten geht. Und die Einmachbüchsen! Ein ganzes Regiment steht in dem einen Fache aufgepflanzt.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Ich darf meiner guten Frau gar nicht sagen, wie ihr schöner Keller geplündert wird – und weshalb nur in’s Henkers Namen? Ich wüßte nicht, daß wir ein Diner oder Souper anberaumt hätten. Na, wenn meine Nichte heimkommt –“

„Vielleicht kann Ihnen die Magd Auskunft geben,“ warf Herr Markus hin.

„Die dort?“ Er zeigte mit der Pfeife nach dem Anrichtetisch zurück, an dem „die Neue“ mürrisch und verdrossen hantirte.

„Ich bitte Sie, die ist ja kaum zwei Stunden im Hause.“

„Ich spreche von der anderen.“

Der Amtmann sah einen Moment wie abwesend in die Luft, als müsse er sich besinnen; dann bückte er sich plötzlich, um ein paar hängengebliebene Holzspähne von seinem zerfaserten Schlafrock abzuschütteln.

„Ach die? Die?“ brummte er ziemlich undeutlich – er hatte die Pfeifenspitze wieder zwischen den Zähnen. „Ist nicht mehr da – nicht mehr da! Ist fort mit Sack und Pack!“ Er richtete sich wieder auf – das Bücken hatte sein Gesicht braunroth gefärbt. „Aber kommen Sie doch herein, Herr Markus! Meine Frau wird sich freuen, und ich muß Sie nothwendig sprechen, des neuen Hauses wegen. Es sind mir da doch noch allerhand Bedenken aufgestiegen. Der Salon beispielsweise –“

„Wollen Sie mir nicht vorerst sagen, wohin sich das Mädchen gewendet hat?“ unterbrach ihn der Gutsherr höflich, aber nachdrücklich.

„Herr, das ist eine närrische Frage,” fuhr der Amtmann ganz unmotivirt auf. „Pardon, aber welcher Dienstherr kümmert sich um den Aufenthalt des entlassenen Gesindes! Ich bin gewohnt, meinen abziehenden Leuten ihren Lohn hinzuzahlen – und damit Punctum! Nachher sind sie absolut todt für mich; da scheer’ ich mich den Teufel drum, ob sie in einen anderen Dienst gehen oder in der Welt herumzigeunern. Für mich ist das Mädel eben fort, fort, als habe sie der Wind weggeweht, als wär’ sie nie dagewesen – ja, ja, nie dagewesen!“

„Aber Ihre Nichte, die das Mädchen mitgebracht hat, ist sie mit dieser plötzlichen Entlassung einverstanden?“

Wieder schoß dem alten Herrn das Braunroth über das ganze Gesicht. „Meine Nichte?“ wiederholte er gedehnt. „Bah, darnach wird nicht gefragt,“ polterte er. „Die Bedenken der Frauenzimmer kommen erst in zweiter Linie – Herr im Hause bin ich. … Aber – lächerlich! – da stehen wir Zwei und schwatzen wie die Spittelweiber über eine Bagatelle. Kommen Sie doch näher! Ich habe nämlich eine famose Idee! Das Parquet im neuen Salon –“

„Davon später, Herr Amtmann!“ unterbrach ihn der Gutsherr finster – er wich nicht von der Stelle. „Die Bagatelle interessirt mich. Ich will und muß aus Gründen Näheres wissen über das Mädchen, das auf dem Felde unverdrossen für Sie gearbeitet hat in Wind und Wetter und Sonnenbrand –“

„Ah bah, dummes Zeug! So schlimm ist’s nicht,“ stotterte der Alte grimmig verlegen.

„Gut denn!“ sagte Herr Markus – er trat unwillkürlich in brennender Ungeduld den Boden. „Lassen wir es sein! Ich werde an das Gerechtigkeitsgefühl Ihrer Damen appelliren.“

Er wandte sich nach der Stubenthür, allein der alte Herr vertrat ihm erschrocken den Weg. „Herr, sind Sie des Teufels?“ raunte er heftig abwehrend. „Wollen Sie mir mein armes krankes Frauchen mit Ihrem Inquisitorgesicht alteriren? Die ganze Geschichte ist auch für sie eine abgethane Sache, und daran wird nicht wieder gerührt. Ich bitte Sie, was schlagen Sie doch für einen Lärm um ein Frauenzimmer, das wie ein Schatten durch unser Haus gegangen ist und für uns nicht mehr existirt –“

„Auch für Fräulein Franz nicht mehr, der sie eine treuergebene Dienerin gewesen ist?“

„So? Wer hat Ihnen denn das Märchen aufgebunden?“ fragte der Amtmann, ihn seltsam von der Seite ansehend – ein heimliches, schlaues Lächeln, gleichsam ein Aufhellen, ging durch seine verwüsteten Züge.

„Das Mädchen selber –”

„Was der Tausend, sie hat mit Ihnen gesprochen? Und hat Ihnen selbst, wirklich selbst gesagt, daß sie speciell meine Nichte bedient habe?“ Das fatale Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. „Sieh, sieh! Na, meinetwegen auch! Ich hab’ das nicht gewußt – bis in die Mansarde versteigt sich mein miserables Fußgestell niemals. Also die Kammerjungfer!“ Er kicherte in sich hinein und zuckte die Achseln. „Ja, da wird sich meine schöne Nichte allerdings einstweilen behelfen müssen, bis sie wieder in die große Welt eintritt, oder besser noch, bis mein Goldjunge wieder da ist. Dann geht es freilich aus einem andern Tone, Herr. Der läßt sie nicht draußen, seine schöne Cousine, und wenn sie am Fürstenhofe lebte. Bah, dann sind wir selbst Regierende, Regierende von Goldes Gnaden. Dann fährt sie nicht mehr in fremder Equipage, sondern in unserer. … Herr, ich weiß ein paar Wagenpferde“ – er küßte sich auf die Fingerspitzen – „wahre Prachtkerle an Feuer und Schönheit! Aber in wessen Stalle sie stehen, das verrathe ich Ihnen nicht; Sie wären im Stande und kauften sie mir vor der Nase weg. … Ja, sehen Sie, das liegt Alles schon fix und fertig da in meinem Kopfe – ein magnifiques Programm! Das macht mir so leicht Keiner nach. Und wenn in diesem Augenblicke mein Sohn auf die miserable Schwelle da träte – in ein paar Tagen wollte ich ihm eine Umgebung gleichsam aus der Erde stampfen, wie sie sich für einen reichen Mann ziemt –“

Er kam nicht weiter. Der Gutsherr zog den Hut und schritt zur Hausthür hinaus.


16.

Verlorene Zeit! Er biß die Zähne zusammen vor Grimm und Aerger, während er quer über den Hof zum Thor hinaus eilte.

„Herr, machen Sie, daß Sie in ,Nummer Sicher‘ kommen!“ rief ihm der Amtmann nach. Er war unter die Thür getreten und zeigte mit der Pfeife nach dem Himmel, an welchem eben die Sonne völlig hinter den dunklen Wolkenmassen verschwand. Wie ein plötzliches Erlöschen ging es über die lechzende Erde hin, und ein schwach fauchender, heißer Odem strich an dem Gehöfte vorbei und hob die spärlichen weißen Haare an den Schläfen des alten Herrn. „Und sollten Sie einem jungen Frauenzimmer in grauem Schleierhute begegnen, so jagen Sie es heim, hierher auf’s Vorwerk!“ rief er, die hohle Hand an den Mund haltend. „Die vermaledeite Blumensucherei! Nun sitzen die Alten daheim und ängstigen sich.“

Die letzten Worte hörte der Fortgehende nur noch über die Hofmauer hinweg, hinter welcher er schritt. Er lachte zornig in sich hinein. … Wenn er ihr nur begegnete, der schönen Nichte! Er jagte sie nicht heim – ganz im Gegentheil, er vertrat ihr den Weg, und sie mußte ihm Rede stehen, ohne Gnade und Erbarmen, unter Blitz und Donner und strömendem Regen.

Die am Gehöfte hinführende Fahrstraße verlief sich draußen im Felde, oder vielmehr, sie wurde zum schmalen, das Grafenholz durchschneidenden Gehwege. … Da war das Mädchen jedenfalls gegangen, nachdem es „mit Sack und Pack“ das Vorwerk verlassen hatte – „in den Wald, in den grünen Wald!“ Hatte nicht auch der Amtmann vom „Herumzigeunern“ gesprochen? Stieg nicht aus den Wipfeln dort ein dünnes Rauchsäulchen von dem halbdürren, qualmenden Reisig, über welchem der Kessel des Nomadenvolkes hing? – Lächerlich! – die Wolken kämpften; da und dort schossen weißgraue Dunstgebilde schleierhaft an der compacten, schwarzen Gewitterwand empor. Ein Zigeunerlager wurde wohl auch schwerlich im wohlcultivirten Waldgebiete Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht geduldet. Aber die Fahrstraße war frei – dem Wagen mit der Leinwandplane, escortirt von den braunen Männern zu Pferde, war der Weg durch das kühle, labende Buchendüster in die weite Welt hinein unverwehrt. … Nun, eine solche Fahrt ging langsam von Statten – diese Heimatlosen reisen con armore – einem raschen Wanderer gelang es wohl, sie einzuholen und zu erforschen, ob unter dem weißen Leinendache wirklich die Schöne, Unbegreifliche sitze, wieder eingefangen in den Bann der Zusammengehörigkeit, den auch das gesetzlose Nomadenvolk festhält. – „Dummes Zeug“ sagte der Amtmann immer – [156] und jetzt sagte es auch Herr Markus, indem er heftig den Kopf schüttelte und mit dem Fuße einen Stein aus dem Wege schlenderte. Dummes Zeug! – Dieses züchtig verhüllte, stolze, tapfere Mädchen, unter der halbnackten Zigeunerjugend, unter wüsten Spitzbuben- und Hexenphysiognomien, durch die Welt ziehend! – Wie war es nur möglich, daß sich diese verrückte Vorstellung immer wieder einschleichen konnte in einen Kopf mit gesundem Menschenverstande!

In verdoppelter Eile schritt er weiter. Im Forstwärterhause mußte ihm Aufklärung werden, und war das Mädchen fort, nun – so schüttelte er den Staub von den Füßen und ging ihr unverweilt nach, bis er sie fand.…

Das grüne Leuchten der sonnenheißen Buchenwipfel war wie weggelöscht – dunkel und reglos stand der Wald unter dem tiefziehenden Gewitter, als hielte er mit Allem, was in ihm lebte und webte, bang den Athem an. Bis in sein Herz hinein war die sengende Gluth der letzten Tage gekrochen. Der schmale, sonst immer feuchte Weg sah gebleicht aus, dürres, knisterndes Gras stand an seinen Rändern, und die Farrenwedel hingen schlaff und saftlos darüber her. Und das Büchlein, das ihn quer durchschnitt, war nahezu versickert – das lose über das Uferbett gedeckte Bret lag wie zum Hohne da.

Herr Markus schritt darüber hin. Zur Rechten lief das Dickicht schnurgerade auf ebenem Boden weiter, links aber that sich der schmale, an die Berglehne geschmiegte Wiesengrund auf, in welchem das Waldhüterhaus lag. Ziemlich entfernt durchschnitt ihn die Fahrstraße in sanfter Krümmung, und weiterhin kamen die rothen Ziegelwände des einsamen Hauses in Sicht.

Bei diesem Anblicke blieb der Gutsherr überrascht stehen. Dort trat eben der nächtliche Reiter auf die Thürstufen und bestieg sein Pferd, das der Forstwärter hielt. Der stattliche, alte Herr im Sommerpaletot, mit seinem kurzgeschorenen grauen Haar und den Wildledernen über den Händen, würde sich wohl schönstens bedankt haben für die Rolle eines Zigeunerhauptmanns. – In ziemlich scharfem Trabe ritt er vom Hause weg; Mosje Dachs lief voraus, und der Forstwärter marschirte nebenher – nach wenigen Augenblicken waren sie im Walde verschwunden.

Was nun? – Im ersten Momente stürmte Herr Markus vorwärts – der Grünrock war der Einzige, der ihm Auskunft geben konnte, aber allmählich verlangsamte sich sein Eilschritt – er konnte doch unmöglich den Mann, der in sichtlicher Eile das Haus verließ, wie ein Wegelagerer stellen und ihm auf offener Straße eine Erklärung abzwingen. –

In diesem Augenblick sah er, wie eine Katze die Thürstufen herabschlich und quer über den Fahrweg in das Dickicht spazierte – die Thür mußte offen sein, und da waren auch Leute im Hause.…

Er ging unter den Eckfenstern hin; die blauen Rouleaux hingen noch hinter den Scheiben, aber die Thür klaffte in der That, und Herr Markus zögerte nicht, sie geräuschlos weiter zu öffnen und einzutreten.

Die Hausflur hatte keine Fenster, sie war kühl und dunkel, aber da zu seiner Rechten stand die Thür des Eßzimmers – wahrscheinlich der einströmenden Kühle wegen – weit offen, und ein bläuliches Licht floß heraus in den dämmernden Raum.

Nun überschlich ihn doch ein widerwärtiges Gefühl – er stand ja selbst wie ein eingedrungener Dieb in dem beargwohnten Hause; wie sollte er wildfremden Menschen sein Hiersein beim ersten Entgegentreten genügend motiviren? – Nichtsdestoweniger schloß er die Hausthür leise hinter sich und verharrte einen Moment beobachtend auf seinem Platze.

Im ganzen Hause herrschte Todtenstille, und zuerst ließ das ungewisse Licht alle Gegenstände vor dem Auge des Eingetretenen verschwimmen, aber auch nur für einen Augenblick; im nächsten machte er eine überraschende Entdeckung – Fräulein Gouvernante war da, sie war hier im Hause. Da auf einem Tische, nahe der Thür, lagen der graue Schleierhut und die Handschuhe, welche das friedfertige Gemüth der guten Griebel in Wallung gebracht hatten.… Ah, der Vogel war gefangen! Eine Art Triumph, ein rachsüchtiges Gefühl quoll heiß in ihm auf. Jetzt wollte er dem „Bild von Sais“ den Schleier vom Gesichte ziehen. Die grausame Egoistin sollte beichten und büßen; sie selbst sollte und mußte ihm dazu verhelfen, das Mädchen wiederzusehen, das sie in Noth und Entbehrung mit sich geschleppt hatte, um es dann erbarmungslos seinem Schicksal zu überlassen.

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 49. Mein erster Hirsch.


Ueber ein Menschenalter ist’s her, als ich zum ersten Mal in meinem Leben den Anstand auf Rothwild betrat, und zwar in einem der herrlichsten Hochwaldsreviere am nördlichen Hange des sächsischen Erzgebirges, das selbst heute noch einen recht guten Wildstand aufzuweisen hat. Damals aber, vor nun vierzig Jahren, wurde dieser noch durch das häufige Herübertreten von Wechselwild aus Böhmen erheblich vermehrt. Waren doch in jener Zeit die drüben liegenden, reichbesetzten Wildbahnen noch frei und nicht, wie jetzt, durch Drahtvergatterungen abgeschlossen. Nach jenem Jäger-Eldorado aber hatte mich zunächst die Einladung einer mir befreundeten, in dortiger Gegend ansässigen Familie geführt, deren Haupt ein anerkannt trefflicher Jäger, wenn auch keiner von Fach, war. Doch nicht etwa zur Jagd war ich eingeladen worden – nein, dazu sah der selbstbewußte und als ganz absonderlich jagdneidisch geltende, sonst aber höchst biedere Nimrod mich, das neunzehnjährige Bürschchen aus der Residenz, noch nicht für voll genug an – er hatte den angehenden Künstler die dortige malerische Natur, für welche er leidenschaftlich schwärmte, nur bewundern lassen wollen.

Doch was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und so ließ ich es denn, der ich mich damals in der That viel mehr für alles Jägerliche, als für meinen Künstlerberuf begeisterte, durchaus nicht dabei bewenden, nur alte Baumsturzel und Felsblöcke aufzusuchen und sie abzumalen, sondern bestrebte mich vielmehr, möglichst bald den ästhetischen Banden, in die mich das gastliche Haus zu schlagen gedachte, zu entrinnen, um dafür in den umliegenden Forsten bei den schlichten urwüchsigen Waidleuten Bekanntschaften anzuknüpfen, was mir auch durch die bereitwillige Vermittelung meines bisherigen freundlichen Wirthes recht bald gelang. Führte mich doch gleich dessen erste Empfehlung in eine hoch oben auf dem Gebirgskamm gelegene Oberförsterei, wo ich von dem dort hausenden alten, wackeren Grünrock und seiner trauten Familie so herzlich willkommen geheißen und aufgenommen ward, daß ich mich gern wochenlang an ihr waldeinsames Heim fesseln ließ.

Wie wohlgelitten ich aber in diesem Hause war, bewies mir der greise Oberförster mit dem jugendlichen Herzen am deutlichsten dadurch, daß er trotz seines hohen Alters meiner damals in vollen Flammen stehenden Jagdleidenschaft gern allen Vorschub leistete. Dafür that auch ich Alles, was ihn nur zu erfreuen vermochte, und suchte zu diesem Zwecke vornehmlich sein Wohnzimmer mit den Anfängen meiner Kunstleistungen auf dem Gebiete der Wildmalerei zu schmücken. Damit hatte ich mir denn allerdings sein Herz im Fluge erobert. So kam es, daß der Dankbare mich eines Abends hoch beglückte, indem er mir schmunzelnd die Erlaubniß ertheilte, des andern Morgens auf den von mir längst ersehnten Frühanstand auf Hochwild treten zu dürfen, wobei mich sein Gehülfe, dessen Zuneigung ich mir auch bereits erworben, begleiten sollte. Freilich erhielt ich hierzu auch noch den gemessenen Befehl: höchstens auf einen schwachen Hirsch, einen sogenannten Schneider, lieber aber nur nach einem Schmal- oder gelten (keine Milch gebenden, nicht trächtigen) Altthier zu schießen.

Mit dankbarem Herzen ging ich diesen Abend, nachdem mir mein lieber Gastgeber beim Gute-Nacht-Gruße noch den bekannten glückverheißenden, jägerlichen Hals- und Beinbruch-Wunsch zur morgigen Jagd nachgerufen, zu Bett. Doch kein Schlaf wollte mich hier umfangen; vielmehr hielt mich die freudige Aufregung bis zur Stunde wach, in welcher der Gehülfe zum Aufbruch mich [157] abzuholen versprochen hatte. Hierbei verging mir, trotz der wirbelnden Gedanken, die mir tausenderlei Phantasiegebilde glücklicher Jagdergebnisse vorgaukelten, doch die Zeit so unsäglich langsam, daß ich endlich, als die schnurrend aushebende Kukuksuhr aus der Treppenvorflur zweimal ihren Ruf ertönen ließ, aus dem aufgethürmten Gastbette sprang und mich vollständig ankleidete.

Dann aber öffnete ich das Giebelfenster meines hoch über allem Wald gelegenen Stübchens und kühlte mein heißwallendes Blut an der frischen Luft der reifkalten Nacht ab. Mein

Mein erster Hirsch.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

Blick schweifte, so weit dies das nächtliche Dunkel zuließ, über die unmittelbar unter mir beginnenden, nach dem Thale zu abfallenden Holzbestände hinweg, bis hinüber, wo der hoch emporsteigende waldige Gebirgsrücken den Horizont begrenzte. Tiefschwarz lag der weite Forst vor mir, über ihm aber, diesem schon tief zugeneigt, erglänzte am wolkenlosen Himmel die scharfgeschnittene Sichel des abnehmenden Mondes, während, mehr im Zenith stehend, ein paar auffallend hellleuchtende Sterne aus ihrem Aetherdunkel herniederstrahlten. Scharf strich ein eisiger Ost über die Wipfel der alten wettergezackten Tannen und Fichten und ließ sie ächzend sich hin und her neigen, durch ihr Gezweig aber erklang es bald rauschend und bald brausend, dann wieder nur in säuselndem Flüsterton, immer jedoch zu wunderbar melodischem Accord sich verschmelzend. Wenn sich zuweilen diese Klänge bis zu einem nur noch leisen Hauche verloren, dann hörte ich in solch stillen Augenblicken selbst ein einzelnes welkes Blatt, vom Froste geknickt, zur Erde fallen, während aus ätherreiner Luft das Gestimm nächtlich ziehender Vögel an mein Ohr schlug.

Unter solchen Betrachtungen verstrich die Zeit schneller, als ich erwartet, und geradezu überrascht wurde ich, als von Neuem der alte Seiger[1] seinen Ruf, nun dreimal, ertönen ließ und so die abgelaufene Frist verkündete, bis zu welcher mein Führer mich abzurufen versprochen hatte. Und mit der Minute erschien der pünktliche Jäger, um mich zunächst in die Burschenstube hinunter zu geleiten, wo wir einen bereits fertigen Kaffee einnahmen. Dann [158] aber überreichte er mir die bereits geladene gewichtige Pürschbüchse seines Herrn, in deren Kugelkasten noch ein paar Reservegeschosse nebst Pflastern sich befanden, dazu noch die Tasche mit dem übrigen Schießzeug, sowie einigen Mundvorrath, und ohne weiteren Verzug ging’s aus dem Hause über den geräumigen Hof, wo uns die Hunde aus ihrem Zwinger vergeblich bittend um Mitnahme anwinselten, hinaus in’s Freie, hier anfangs über eine vor der Försterei liegende, heute glitzernd bereifte Dienstwiese und dann über ein sich daran anschließendes Gehau, von da an aber hinein in den dicht geschlossenen Hochwald. Ein alter Bestand mächtiger Tannen und Fichten umfing uns zuerst, darinnen so rabenschwarze Finsterniß herrschte, daß ich kaum meinem langsam vor mir herschreitenden Genossen zu folgen vermochte. Doch bald lernte auch mein Auge sich zurecht finden, und auf weichem Moosboden strebten wir gemeinsam bedächtig vorwärts. Lautlos, die volle Aufmerksamkeit auf unseren pfadlosen Gang gerichtet, schritten wir dahin, und nur einmal fesselte mich auf Augenblicke ein plötzliches Rauschen und Poltern hoch über uns in dem Geäst der Tannen – der Flügelschlag eines vor uns abstiebenden Auerhahnes, wie mir mein kundiger Begleiter erklärte. Sonst erreichten wir ohne jedwedes weitere Vorkommniß die Grenze des Forstes, und vor uns lagen nun, von allen Seiten in Wald eingeschlossen, die reifüberzogenen Felder. An deren äußerstem Rande aber verrieth sich ein dort liegendes Dorf durch den blassen Lichterschimmer, der hier und da aus einem Fensterchen drang, sowie durch den herübertönenden Dreischlag schon fleißiger Drescher und das dazwischen laut werdende Hundegebell.

An einer übergehaltenen Randtanne, welche den dahinter liegenden jüngeren Wald hoch überragte, vor mir zur Deckung ein halbmannshohes Fichtenbüschchen, stellte mich jetzt mein Leibschütz an mit dem Bedeuten, er selber werde an jener seitwärts von meinem Stande sichtlich vorspringenden Holzecke Stellung nehmen. Noch fügte der praktische Jägersmann vor seinem Abgange hinzu: daß er zwar bei mir bleiben solle, er habe aber das Vertrauen zu mir, ich werde mich auch ohne ihn behelfen können, nur sollte ich gut Acht haben, bei einem etwa abzugebenden Schuß nicht nach ihm hinüber zu feuern, es möchte von dort her kommen, was da wolle. Nach dieser Warnung und mit einem „Waidmanns Heil!“ verließ mich mein Cumpan und schritt leise seinem mir bezeichneten Stande zu.

Wie klopfte mir jetzt vor Wonne und Bangen das erregte Herz! Hatte ich doch endlich das oft geträumte Ziel erreicht, möglicher Weise ein Stück Hochwild erlegen zu können. Fertig, nur noch bis zum Stechen, hielt ich die mordschwere Büchse schußbereit in krampfhafter Hand, dabei aber so regungslos stehend, als wäre ich dem Boden entwachsen. Nur das Auge wendete sich dabei nach allen Seiten und suchte das noch herrschende Dunkel zu durchdringen, um auf der vor mir liegenden nebelgrauen Fläche äsendes oder wohl gar schon zu Holze ziehendes Wild zu entdecken. Meine Phantasie arbeitete gewaltig, und als es im Osten zu dämmern begann und nach und nach ein immer lichter werdender Streif den Horizont scharf vom Himmel abgrenzte, da stieg die Spannung auf’s Höchste, trat doch nun der Zeitpunkt ein, wo ich gewärtig sein konnte, Wild in Sicht zu bekommen. Und wahrhaftig, jetzt regte sich da draußen etwas. Bald konnte ich auch, ohne an Sinnestäuschung glauben zu müssen, wahrnehmen – es war inzwischen nothdürftig Büchsenlicht geworden – wie drüben aus den Feldern mehrere Stücke Wild – von welcher Art sie waren, konnte ich bei der noch zu großen Entfernung freilich nicht unterscheiden – dem Walde zu zogen, leider nicht nach mir herüber, auch nicht der Ecke meines Gefährten zu, sondern mehr abwärts von diesem. Mit scharfem Auge verfolgte ich die ruhig Dahinwandelnden und konnte, schritten sie zuweilen hinter einander her, vier Stück zählen.

Manchmal glaubte ich auch, einen Hirsch darunter zu entdecken, doch dann entschwand plötzlich das vermeintlich gesehene Geweih dem Auge wieder, und ich nahm deshalb an, daß ein sich einstellendes Hirschfieber mich genarrt habe. Inzwischen kam der kleine Trupp – es war Hochwild; das erkannte ich nun am Gebahren wie an der Größe der einzelnen Stücke bestimmt – dem seitlichen, für mich nicht beschießbaren Waldrande so nahe, daß er dort gegen den dunkeln Hintergrund meinen Blicken gänzlich entrann und ich annahm, die Colonne sei in’s Holz hineingezogen. Da ich mich noch der Hoffnung hingeben durfte, daß doch noch ein oder das andere Stück Wild draußen sein und erst später, dann aber vielleicht auf mich zu, den Wald aufsuchen könne, ich auch Befehl hatte, nicht eher abzutreten, als bis mir abgepfiffen oder ich abgeholt werden würde, so beharrte ich getreulich auf meinem Posten, unterließ auch nicht, von Neuem scharf auszulugen, aber nirgends wollte sich noch etwas zeigen. Da, auf einmal, als mein Blick abermals die Runde machte, erschaue ich, kaum fünfzig Schritte seitwärts hin, ein mächtig großes Stück Wild, den Kopf und Hals hinter einem dichten Fichtenbusch verborgen. Es war ein Anblick, der mir vor Erregung das Auge fast lähmte. Wirklich und leibhaftig stand da eine „Großjacke“ vor mir, die ich natürlich, weil’s ja mein Herz so heiß begehrte, für nichts anderes, als eine recht alte und dabei gelte „Plautze“ hielt, die ich also schießen durfte. Darum zauderte ich auch nicht einen Augenblick, auf mein Opfer, sobald ich es nur auf dem Rohre hatte, Feuer zu geben; denn etwa genaues Korn zu nehmen und die Büchse erst zu stechen, hatte ich im Jagdfieber rein vergessen, ebenso, daß ich nach der Richtung hin – sie lag in der Linie nach der verpönten Waldecke hin, wo mein Warner stand – gar nicht hätte schießen dürfen. Nach dem scharfen Knall meines Donnerrohres, den die kalte Morgenluft weithin dröhnen ließ, war mein Wild im Nu verschwunden und die Aufregung hatte mich nicht einmal sehen lassen, ob es gezeichnet hatte und wohin es überhaupt die Flucht genommen. Von einem Kugelschlag wußte ich nun gleich gar nichts.

Verteufelt rasch war mein grüner Controlleur, der Forstgehülfe, bei mir, mich scharf nach Ursache und Wirkung meines Schusses ausforschend. Bald hatte ich ihm Alles nach besten Wissen und Gewissen berichtet, und mit bedenklicher, mich höchlichst beängstigender Miene fragte er: ich hätte doch nicht etwa gar auf den starken Hirsch, der am Waldrande hin, von ihm ab und nach mir zu gezogen sei, geschossen?

„Na,“ tröstete er, „Sie werden ja doch ein Stück Mutterwild von einem Hirsch unterschieden haben, wenn Sie auch den Kopf davon nicht zu Gesicht bekommen.“

Dies war wohl eine für mich recht schmeichelhafte Voraussetzung, aber der Gedanke, daß ich möglicher Weise doch den von meinem Tröster erwähnten Geweihten vor mir gehabt hätte, trieb mir schon jetzt das Blut heiß zu Kopfe. Ich verzagte bereits über die Dinge, die sich da am Ende gar noch herausstellen möchten und die in meiner einmal aufgeregten Phantasie sich schon zu vollen Thatsachen gestalteten.

Vor Allem gingen wir jetzt, zur Aufklärung der heiklen Sache, auf den Anschuß, den ich hinlänglich bezeichnen konnte, da die dunkle Fichtengruppe, hinter welcher mein Wild halb verborgen gestanden hatte, als ich nach ihm geschossen, mir ein unverkennbares Merkmal für die betreffende Oertlichkeit geworden war. Am Platze angekommen, fand mein Gefährte sehr bald den Eingriff und die weitergehende Fluchtfährte eines – starken Hirsches. Himmel, wie ward mir hierbei zu Muthe! Noch schlimmer aber, als sich bei näherer Untersuchung der Stelle auch noch ganz kurze Schnitthaare und zum Ueberfluß auch noch einzelne frische Splitter einer Knochenröhre vorfanden. Nach diesen schlimmen Zeichen war der Hirsch also schlecht lauftlahm angeschossen.

Dafür wurden mir freilich keine Schmeicheleien gesagt, wohl aber hörte ich kraftvolle Jägerwünsche betreffs meiner laut werden, die einem Waidmanns-Heil höllisch entgegen liefen. Doch was half dies jetzt alles? Geschehenes konnte eben nicht ungeschehen gemacht werden, und es handelte sich jetzt nur noch um die Frage: Was nun zu thun? Und hierüber wurden wir denn auch bald dahin einig, dem Angeschossenen vor Allem Ruhe zu lassen, damit er sich recht bald und womöglich noch in derselben Dickung „stecken“ möge, in die er nach dem Schuß geflüchtet. Später wollten wir ihn aber mit Waldine, des Oberförsters „Däbe“, die aber auch als niedliches und fermes Schweißhündchen sicher Fährte hielt und ganz vorzüglich stellte, aufsuchen. Ihre einzige, allerdings abscheuliche Untugend, verendet aufgefundenes Wild sofort anzuschneiden, kam im vorliegendem Falle kaum in Betracht, da der Hirsch ja leider nicht tödtlich verwundet war.

Zu unserem Zwecke kreisten wir zuvörderst in weitem Bogen die betreffende Dickung ein, um so zu erforschen, ob der Hirsch darin geblieben oder bereits durchgezogen sei, was bei dem starken Reif, der auf Büschen und Wegen lag, leicht zu erkunden war. Nachdem wir hierzu das nöthige Terrain umschlagen hatten und feststellen konnten, daß der Kranke wirklich noch in der Dickung stecke, blieb [159] ich auf Befehl an einem alten Wege stehen, von wo aus man bequem zu beobachten im Stande war, wohin der Getroffene, wenn er vielleicht doch noch einmal rege werden und dann voraussichtlich auf gewohntem Wechsel durch- und weiterziehen sollte, seinen weiteren Gang wenden würde. Auch stand bei etwaiger zutreffender Voraussetzung die Möglichkeit offen, noch eine Kugel auf ihn anbringen zu können. Mein Rathgeber eilte nach dem Forsthause zurück, um dort das Ereigniß zu melden und darüber zu berichten, darauf aber mit dem Hunde wieder herauszukommen und mit Hülfe dessen die Jagd zu Ende zu führen. Wie lang wurden mir inzwischen die paar Stunden, bis der Scheidende wieder zur Stelle sein konnte! Doch geduldig mußte ich, allein mit meinem Kummer, auf meinem verantwortlichen Posten ausharren. Endlich erreichte diese peinliche Zeit aber doch ihr Ende, und wahrhaft erlösend wirkte die Wiederkehr des rührigen Jägers auf mich, zumal dieser allein, ohne den von mir mit banger Sorge miterwarteten Oberförster kam. Letzterer war, nach Aussage des Zurückgekommenen, über den abgenommenen Rapport fuchswild geworden und, wie auch sehr natürlich, in Feuer und Flammen ob meines leichtsinnigen Schusses gerathen. Einen „Aasjäger“ hatte mich der brave Alte in seinem echt jägerlichen und gerechten Zorne betitelt – ein Ausdruck, mit dem er übrigens Jeden belegte, mochte er Fürst oder Bauer sein, welcher nicht soviel gute alte Waidmannsehre zeigte: einen jagdbaren Hirsch von der Brunstzeit ab nicht eher wieder zu beschießen, als bis zur Feistzeit über’s Jahr.

Nach dieser mir am heutigen Morgen gewordenen zweiten Strafpredigt verließ mich mein Jägersmann abermals, Waldine auf den Anschuß zu tragen und dort auf die Fährte zu setzen. Ihr Pfleger hatte nämlich die Däbe nicht etwa an der Leine mit sich geführt, sondern diese steckte wohlverwahrt in einem gewaltigen sogenannten Büchsenranzen, aus welchem nur das intelligente Köpfchen des reizenden Geschöpfes herausschaute. Ich aber sollte vor der Hand – so lautete meine Instruction – meinen Stand noch inne behalten, um, ginge die Jagd nach vorwärts, Zeuge sein zu können, wohin sie sich wenden würde. Unter günstigen Umständen aber möchte ich nur keck noch einmal auf den so schon „Angeflickten“ schießen. Erwartungsvoll lauschte ich nun, bis ich den ersten Ton des Hundes vernehmen würde, und nicht lange brauchte ich darauf zu warten. Wie ein Glöckchen schlug plötzlich der helle Laut der jagenden kleinen Creatur an mein Ohr; sie war also bereits hinter dem Verfolgten her. Aber nur kurze Zeit verstrich, so wandelte sich das eifrige „kiff, käff, kiff, kaff“ in Standlaut um – das brave Thierchen hatte also den Angeschossenen vor sich und stellte ihn fest. Jetzt erwartete ich nun gespannt einen baldigen Schuß, da ich voraussetzte, mein Waidgesell werde sich schleunigst hinanmachen, seine Kugel anzubringen, und den Hirsch vor dem Hunde todtschießen. Doch rasch rückte die Jagd wieder vorwärts, und ehe ich mich dessen noch versah, hörte ich es auch schon brechen, dahinter her den „läutenden“ Hund – und der Hirsch, ein capitaler Bursche, kam mäßig flüchtig, den einen Vorderlauf schlenkernd, richtig auf dem vermutheten Wechsel aus der Dickung heraus, übereilte eine kleine Blöße mit einer verlassenen Kohlenstätte und verschwand hinter dem Rande einer abstürzenden Leite vor meinen erstaunt nachstarrenden Blicken. Geschossen hatte ich nicht, der jähe Anblick hatte auf mich geradezu bannend, bezaubernd gewirkt. Uebrigens hätte ich unter solchen Umständen auch sicher gefehlt.

Als nun mein Gefährte, der Flucht nachkommend, mich erreichte und von mir erfuhr, was ich gesehen, war er nicht allzuböse über meine bewiesene Befangenheit, zumal der Hund unterhalb des Hanges schon wieder brav stellte. Rasch eilten wir nun mitsammen dem Laute nach und kamen, gedeckt hinter Steinblöcken und von Stämmen eines lichtgewordenen alten Bestandes, welchen der abschüssige Hang noch trug, doch endlich soweit hinan, daß wir „guten Anblick“ bekamen und eben sehen konnten, wie der Hirsch ärgerlich seinen kleinen, stets behend ausweichenden Quälgeist abzuschlagen trachtete. Als wir uns aber vollends auf Schußweite an den Zornmüthigen herangepürscht hatten, zauderte ich keinen Augenblick mehr, die Büchse an den Kopf zu nehmen, zu zielen und Feuer zu geben.

Der offenbar abermals Getroffene ergriff wiederum die Flucht. Diese aber konnten wir, da hier die gerade sehr steil abfallende Lehne gänzlich abgeholzt war, ungehindert übersehen. Es bot sich uns nun eine tragische Scene dar. Durch den zerschossenen Lauf des nöthigsten Stützpunktes nach vorn beraubt, vom frischen Anschusse aber wahrscheinlich zu letzter verzweifelter Kraftanstrengung gedrängt, kam der edle Hochgeweihte erst in’s Gleiten, dann über einen sturmgebrochenen morschen astgezackten Stamm zum Sturze, unter dessen Wucht prasselnd das abspellende Gezweig umhersplitterte, und blieb momentan wie todt im Gewirre von Holz- und Steingetrümmer liegen. Noch einmal versuchte das königliche Thier sich zu erheben, kam aber dabei zum Ueberschlagen, und rollte nun unaufhaltsam der Tiefe zu, bis es auf halbem Wege ein vorliegender Windwurf aufhielt, während das mit ihm niederpolternde Geröll weiter zu Thale stürzte. Er aber, der dem Tode Verfallene, blieb in dem Holzgetrümmer liegen. Bei allem Graus hatte ihn die wieselflinke Waldine nicht einen Augenblick verlassen, sodaß sie, als der Hirsch nicht mehr entrinnen konnte, auch schon sofort dem Gestürzten auf dem Rücken saß und an ihm, ihrer Gewohnheit nach, herumschnitt, daß das bruchige Haar von der Haut des Hirsches in Büscheln herumflog. Ohne Verzug klommen wir hinab nach der grotesken Arena der ungleichen Gegner, und hier sahen wir nun erst, daß der bedauernswerthe Hirsch noch bei vollem Leben und von knorrigen Aesten fest umstrickt war, in die sich die eine Stange seines weit ausgelegten vielendigen Geweihes so festgeklammert hatte, daß der Verlorene seinen schönen, durch die ausstehende Pein märtyrerhaft verherrlichten Kopf nicht mehr vom Boden zu erheben vermochte. Und da auch sein übriger todeswunder Körper gebannt zwischen in einander geworfenen Stämmen lag, so mußte er, gleich einem gefesselten Prometheus, seinem kleinen Peiniger, der ihn, wie jenen der Adler, thatsächlich bei lebendigem Leibe mit gierigem Zahne zerfleischte, machtlos gewähren lassen.

Denke man sich aber den edelstolzen, freien Waldgeborenen in solch jammervoller Lage! Mehrfach angeschossen, vom Stürzen in das scharfe Astgezack ein Stück davon speerartig zwischen die Rippen eingebohrt, mit seinem Kronenschmucke fest in das Stammgewirr verkettet, auf ihm aber die giftwüthige, kleine Bestie sitzend, die sich in den Aermsten eingebissen hatte – und man wird mich nicht belächeln, wenn ich offen eingestehe, daß ich beim Anblicke dieses meines unglücklichen Opfers und im eigenen Schuldbewußtsein heiße Thränen vergossen habe.

Die Lage rasch und weniger erregt als ich überblickend, trat mein resoluter Jagdcamerad jetzt entschlossen hinzu, um dem in seiner mächtigen Umschlingung Festgebannten, aber noch immer nicht Verendeten den Gnadenstoß, den Nickfang, zu geben. Dann brach er den Hund von der Beute ab und schob ihn wieder in den Büchsenranzen, welchem das schweißschnauzige, vor heller Gier noch athemlos keifende Blitzköterchen nur allzu gern noch einmal entronnen wäre, um sich von Neuem auf den nun leblosen Gegner stürzen zu können. Von einem nahen Holzschlage herbeigeholte Waldarbeiter mußten den vorher gelüfteten Hirsch mit der Axt aus seinen Banden lösen und bis zum nächsten Wege heraus ziehen, dann aber auf einem Karren zur Försterei schaffen.

Mit schwerem Herzen, wie einem Leichenzuge, folgte ich der höchst malerischen Heimfuhre. Durch meine aufrichtige Reue über den verübten Frevel und im Hinblick darauf, daß ich ihn nicht absichtlich ausgeführt, fand ich Gnade vor dem wackeren waidgerechten Oberförster, sodaß ich später von dem herzigen Manne, der nun schon lange, lange in kühler Erde ruht, sogar noch das zehnendige Geweih und die Hacken meines ersten Hirsches zu bleibender Erinnerung erhalten habe.




Zur Hebung der deutschen Nessel-Industrie.


„Wache auf, urtica dioïca wache auf! Erhebe stolz dein Haupt! Du sollst jetzt aus deinem hundertjährigen Schlafe geweckt werden. Sollst wieder zu deinen alten Rechten erhoben sein, sollst wieder deine Kräfte im vielfach verschlungenen Tauwerk für Staats- und Volkswohl erproben, und sollst als feinstes Kleidungsstück dem Armen zum Verdienst, dem Reichen zum Schmucke prangen.“ Mit diesen Worten schloß die „Gartenlaube“ vor nahezu drei Jahren ihren Aufsatz „Ein Dornröschen der Cultur[160] (Jahrg. 1878, Nr. 12), in welchem sie zur Verarbeitung der Nesselfaser zu Garnen und Stoffen anregte.

Damals hatte das Ausland das Geheimniß, mit Hülfe von Maschinen die Nesselfaser zu verarbeiten; heute bringen wir den Lesern eine willkommene Nachricht von den ersten Anfängen einer deutschen Nesselindustrie. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es nämlich um die Mitte des Jahres 1879 einem intelligenten deutschen Geschäftsmanne nach großen Opfern aus der Nesselfaser ein Gespinnst herzustellen, das allen Ansprüchen an ein derartiges Fabrikat genügte, und so entstand endlich das erste Etablissement dieser Art auf vaterländischem Boden unter der Firma: Erste deutsche Chinagras-Manufactur, F. E. Seidel, zu Dresden.

Es war in den ersten Tagen des Januar, als ich, einer Einladung des technischen Leiters der Fabrik folgend, mich nach dem in der Nähe der neuen großartigen Militäretablissements gelegenen Grundstücke begab und sowohl von dem Chef als von dem Dirigenten mit großer Liebenswürdigkeit in den verschiedenen Räumen umhergeführt und mit dem Verfahren bekannt gemacht wurde. Das hier neben unserer gemeinen Brennnessel vorzugsweise verarbeitete Material ist die chinesische Nessel oder Chinagras, urtica nivea, die nach den bis jetzt vorliegenden Resultaten ein bei weitem festeres und schöneres Gespinnst liefert, als unsere deutschen Brennnesselarten. In Ballen zwischen Bambusstäben, die mit chinesischen Schriftzeichen bemalt sind, verpackt, wird das Chinagras in bedeutenden Quantitäten aus dem himmlischen Reiche eingeführt, ein Umstand, welcher der hohen Spesen wegen für jetzt noch einigermaßen hemmend auf die Concurrenzfähigkeit der Nesselgewebe einwirkt. Hoffentlich wird jedoch diesem Uebelstande bald abgeholfen werden, denn vielfache Versuche, urtica nivea, in Deutschland zu acclimatisiren, haben zu sehr erfreulichen Resultaten geführt, und besonders erzielte der Rittergutsbesitzer Adler auf Plohn im Voigtlande schöne und kräftige Gespinstpflanzen

Aber auch unsere gemeine Brennnessel, urtica dïoca besitzt bekanntlich eine sehr schätzenswerthe Faser, die sich bei richtiger Behandlung ganz vortrefflich zu Geweben mittelfeiner und stärkerer Art eignet. Nur in der Länge und Stärke der Faser steht sie ihrer chinesischen Rivalin nach, indessen läßt sich schon jetzt mit Sicherheit annehmen, daß durch sorgfältigere Pflege unsere Brennnessel ebenso gut wie die meisten anderen Pflanzen veredelt werden kann. Die praktischen Versuche, welche Frau Roeßler-Lade in Langenschwalbach, Frau von Polenz aus Cunewalde bei Bautzen und der schon erwähnte Herr Adler angestellt haben, lassen auch darüber keinen Zweifel zu.

In der Fabrik werden die verschiedenen Nesselarten, je nach Maßgabe der Güte der Faser, stärker oder milder mit Bädern oder Dämpfungen behandelt. Durch dieses Verfahren wird die Faser zunächst von dem ihr anhaftenden Gummistoffe befreit und dieselbe zugleich gespalten, während durch die nun folgende Behandlung mit Chlorverbindungen und schwefeligen Dämpfen die reine weiße Farbe und der seidenartige Glanz des Gespinnststoffes erzielt wird. Ganz besonders aber wird hierdurch ein Haupterforderniß für die Bearbeitung erreicht, nämlich die denkbar feinste Spaltung der Faser, welche jetzt ein Gespinnst bis zu Nr. 100, das heißt einen Faden von 100,000 Meter Länge aus ein Kilo Gewicht liefert.

Nach diesen Vorbereitungsstadien beginnt der eigentliche Spinnproceß, wobei das Hauptaugenmerk darauf zu richten ist, daß die Faser möglichst wenig zerreißt, vielmehr in ihrer ursprünglichen Länge gelassen wird. Nicht weniger als zwölf verschiedene Apparate und Maschinen hat der Rohstoff zu passiren, ehe er zur Verarbeitung geeignet ist. Schon nachdem die Stengel die ersten Kunstgetriebe durchlaufen haben, liefern sie eine Wolle von außerordentlicher Weiche und Feinheit, die durch jeden neuen Apparat, der den Faserstoff aufnimmt, erhöht werden.

Es ist hier nicht der Ort, die zum Theil äußerst sinnreich construirten Maschinen zu beschreiben, um so weniger, als damit doch nur ein unvollkommenes Bild entworfen werden könnte; nur so viel sei bemerkt, daß die Erzeugnisse dieser ersten Chinagras-Manufactur denen der englischen Fabriken in keiner Weise nachstehen, sie vielleicht sogar in der Festigkeit des Gespinnstes und der Sorgfalt der Bleiche noch übertreffen.

Die außerordentliche Verwendbarkeit der Nesselfaser ist bekannt, und es dürfte wohl keinen Zweig der Textilindustrie geben, in welchem dieselbe nicht mit glänzendem Erfolge benutzt worden wäre. Vom Schiffstau und Fischernetz bis hinauf zu der zarten, wie aus Sonnenfäden gewebten geklöppelten Spitze, die ganze lange Scala der verschiedenartigsten Stoffe hindurch, giebt die Faser ein brauchbares Material, dessen Festigkeit, wie es durch zahlreiche Versuche in englischen Arsenalen bewiesen worden, sogar die des russischen Hanfes bei Weitem übertrifft.

Eine weitere werthvolle Eigenschaft des Nesselgarnes besteht darin, daß es sich mit großer Leichtigkeit färben läßt und sowohl die feurigsten und brillantesten, wie auch die zartesten und empfindlichsten Farben annimmt. Eine Mustercollection von Garnen und fertigen Geweben welche mir in der Fabrik vorgelegt wurde, zeigte das prachtvollste Colorit in allen Schattirungen.

So dürfte denn jetzt, wo das Problem der Verspinnung gelöst ist, die Zukunft dieses neu anhebenden Industriezweiges in Deutschland gesichert sein und der Nessel, diesem Aschenbrödel der Pflanzenwelt, wieder derjenige Platz angewiesen werden, den sie tatsächlich verdient. Dem Landwirte, dem kleinen Garten- und Feldbesitzer aber eröffnet sich in dem Anbau der Urticeen eine Aussicht auf neuen lohnenden Verdienst, der auch namentlich den ärmeren Volksclassen zu Gute kommen wird.

Wie viel Land giebt es nicht, das unbenutzt liegt! Halden Raine, Hecken, nicht mehr abbaufähige Stein- und Sandgruben wenn sie eine auch noch so dünne Humusschicht haben, sind die Stätten welche durch Anbau der Nessel ertragsfähig gemacht werden können Und wie leicht ist dabei die Cultur der gewöhnlichen großen Brennnessel, die von den in Deutschland vorkommenden Arten für die Zwecke der Textilindustrie allein zu verwenden ist! Die Anpflanzung muß im Frühjahr geschehen, und der Garteninspector Bauché giebt darüber folgende kürze Anleitung: „Die zum Anpflanzen erforderlichen Nesselpflanzen werden im Frühlinge, sobald sie an den natürlichen Standorten erkennbar sind, mit dem Spaten ausgehoben, in kleine Stücke mit vier bis sechs Trieben getheilt und alsdann gepflanzt, was in lockerem Boden mit der Hand oder in schwerem mit Hülfe eines Spatens geschehen kann. Bei einiger Sorgsamkeit ließe sich das Anpflanzen auch wohl dadurch bewirken, daß mit dem Pfluge sechszehn Centimeter tiefe Furchen gezogen würden, um die Pflanzen einzulegen. Beim Pflanzen ist darauf zu achten daß die Pflanzen weder zu hoch noch zu tief zu stehen kommen und möglichst fest angedrückt oder behutsam angetreten und begossen werden, damit sich die Erde zwischen den Wurzeln einschlemmt.“

Das Schneiden der Stengel hat nach den bisherigen Erfahrungen am zweckmäßigsten kurz vor der Samenreife, also Ende August oder Anfang September, zu erfolgen. Zu dieser Zeit hat dann nicht nur die Pflanze ihr Wachsthum beendet, sondern auch die Faser ihre größte Festigkeit erlangt, sodaß eine weitere Vervollkommnung nicht mehr zu erwarten steht. Das Gefühl des Brennens, welches die Nessel der menschlichen Haut bei der Berührung erregt, könnte Manchen abschrecken, sich ihrer Cultur zu widmen, indessen verliert die Nessel im welken Zustande sofort ihre unangenehme Eigenschaft und kann also bald nach dem Schneiden, das am besten mit der Sense geschieht, ohne die Gefahr des Brennenerregens, mit den Händen angefaßt werden.

Lohnender freilich, aber auch viel mühsamer, dürfte der Anbau der chinesischen Nessel sein, von welcher durch die Firma: Erste deutsche Chinagras-Manufactur in Dresden, Lärchenstraße 4, Samen zu beziehen ist. Die Versuche mit dieser Art sind indessen noch nicht abgeschlossen, und es ist daher auch noch nicht erwiesen, welcher Boden und welche Behandlung ihr am meisten zusagt.

Die Schwierigkeit, das gewonnene Product zu verwerten, ließ eine Massencultur der Nessel bis jetzt nicht aufkommen. Inzwischen hat sich die Sachlage sehr bedenkend verbessert, die junge Industrie blüht und erstarkt immer mehr, und die bis jetzt noch einzige deutsche Fabrik dieser Gattung sieht sich durch die immer steigende Nachfrage nach Nesselgarn genötigt, nicht nur das eigene Etablissement wesentlich zu vergrößern, sondern auch an geeigneten Plätzen weitere Anlagen derselben Art in's Leben zu rufen Also hat die Nessel auch auf deutschem Boden den Kampf mit der amerikanischen Baumwolle aufgenommen, und vielleicht wird bald der Zeitpunkt eintreten, wo ein Theil der jährlich für Baumwolle in's Ausland fließenden Millionen zum Nutzen unserer schwer bedrängten Ackerwirthschaft im Lande verbleibt.

Moritz Lilie.



[161]

Ein „nordischer Grimm“.

Von Dr. Fr. Winkel-Horn.[2]

Am 15. Januar 1870 war es, als die Studenten der Universität Christiania den Mann, dem diese Zeilen gewidmet sind, mit einer Ovation ehrten, die für das geistige Leben des europäischen Nordens eine gewisse Bedeutung hat; galt es doch an jenem 15. Januar, dem achtundfünfzigsten Geburtstage Asbjörnsen’s, ein Ehrenfest der nordischen Literatur zu feiern; denn fünfundzwanzig Jahre waren mit diesem Lebensabschnitte des Gefeierten verflossen, seitdem er seine „Norwegischen Waldgeistersagen“ herausgegeben hatte. Der „Studentenverein“ der norwegischen Hauptstadt hielt am Abende jenes 15. Januar gerade eine Sitzung ab, und Björnsterne Björnson, der damals schon berühmte Dichter, welcher als Präsident des Vereins fungirte, schlug der Versammlung vor, dem Jubilar durch eine Massendeputation einen Glückwunsch zu überbringen, ein Vorschlag, der begeisterte Aufnahme fand.

Vierhundert Mann stark, begab sich der improvisirte Zug vor Asbjörnsen’s Wohnung, wo zur Feier des Tages ein Kreis von Freunden des Jubilars versammelt war, und brachte ihm „den Dank der Jugend – käme er auch spät, so sollte er dafür den Abend seines Lebens überdauern und von dem einen jungen Geschlecht nach dem andern wiederholt werden“. Björnson führte sebstverständlich im Namen der Jüngeren das Wort und benutzte die Gelegenheit, um über sein eigenes Verhältniß zu Asbjörnsen die bedeutungsvollen Worte zu sprechen: „Es wäre fürwahr nicht viel aus mir geworden; wenn Du nicht gewesen wärest.“ Der nachstehende kurze Umriß von dem Leben und der schriftstellerischen Thätigkeit Asbjörnsen’s dürfte den Beweis liefern, daß diese Worte Björnson’s nicht übertrieben sind, insofern sie nämlich die Andeutung enthalten, daß die neuere norwegische Literatur zum großen Theil jenem Manne ihr eigenthümliches Gepräge verdankt, aber damit nicht genug: während Asbjörnsen für sein eigenes Volk von hervorragender Bedeutung ist, hat er sich durch eine Seite seiner schriftstellerischen Thätigkeit sogar einen Platz in der Weltliteratur erworben, und weil er das allgemein Menschliche zu ergründen weiß, das von Jedem verstanden wird, welcher Sinn dafür hat, verdient er von Allen gekannt zu werden.

Peter Christen Asbjörnsen wurde in Christiania am 15. Januar 1812 geboren. Er war ein begabter, aufgeweckter Knabe, und seine Eltern wollten ihn daher studiren lassen; seine Kränklichkeit aber und beschränkte häusliche Verhältnisse verzögerten seine Ausbildung, sodass er erst nach dem einundzwanzigsten Jahre die Universität beziehen konnte. Die Noth zwang ihn jedoch alsbald, eine Hauslehrerstelle auf dem Lande anzunehmen, und erst nach vier Jahren konnte er zu seinen Studien zurückkehren. Jener Aufenthalt auf dem Lande war aber von entschieden günstiger Einwirkung auf die Entwickelung der geistigen Anlagen und der Persönlichkeit Asbjörnsen’s, der schon früh einen offenen Blick für die Natur und das Menschenleben in seinen verschiedenen Formen an den Tag legte.

Diese glückliche Begabung des Knaben fand reiche Nahrung auf den Wanderungen in den an Naturschönheiten so reichen, bald wildromantischen, bald anmuthigen norwegischen Landschaften und in dem Umgang mit den natürlichen unverdorbenen Menschen, welche die von den Vätern ererbte Eigenthümlichkeit in Sitten und Anschauungsweise sich noch ziemlich ungeschwächt erhalten haben.

So wurde Asbjörnsen mit der Natur und den Bewohnern seines Landes auf’s Innigste vertraut, und die tiefe Kenntniß aller ihrer Eigenschaften, die er durch zahlreiche Reisen stets wieder auffrischte, ist einer der Züge, welche seinen Schriften ihren hohen Werth verleihen.

Schon in seinem zwanzigsten Jahre, also ehe er noch Student geworden war, hatte Asbjörnsen sich mit der Aufzeichnung norwegischer Volkssagen beschäftigt. Der nächste Anlaß dazu war die von den Brüdern Grimm am Schluß der zwanziger Jahre unter dem Titel „Irische Elfenmärchen“ herausgegebene Bearbeitung von Crofton Croker’s „Fairy Legends“, durch welches Buch er zuerst auf die Bedeutung dieser Art von Volksdichtung aufmerksam gemacht wurde. Sein mehrjähriger Aufenthalt auf dem Lande gab ihm dann die beste Gelegenheit, seine Forschungen und Sammlungen zu erweitern und zu vermehren, und es zeigte sich bald, daß Norwegen ein außerordentlich sagenreiches Land sei.

An seinen Schulcameraden und Jugendfreunde, dem jetzigen Bischof in Christianssand, Jörgen Moe (geboren 1818), fand Asbjörnsen einen ebenso eifrigen wie tüchtigen Mitarbeiter, und im Jahre 1840 ließen sie im Vereine eine Aufforderung zur Subscription auf eine Sammlung „Norwegischer Volks-und Kindermärchen“ ergehen. Diese wurde aber von dem norwegischen Publicum so kühl aufgenommen, daß man die Ausführung des Planes vorläufig aufgeben mußte. Nur sehr Wenige hatten eine Ahnung davon, daß beim gemeinen Volke reiche Schätze der Poesie [162] verborgen seien, die nur darauf warteten, daß man sie zu Tage förderte, um allgemein anerkannt zu werden; die Märchen, denen Niemand große Beachtung geschenkt hatte, wurden gemeiniglich für müßiges Ammenstubengeschwätz angesehen, das nicht von verständigen Leuten beachtet zu werden verdiente, und es ist deshalb sehr erklärlich, daß das Interesse, mit welchem Asbjörnsen und Moe die Sache erfaßten, von den Meisten als ein wunderlicher Einfall betrachtet wurde. Die beiden Männer aber ließen sich nicht abschrecken und erkalteten in ihrem Eifer nicht, bis sie die materiellen Schwierigkeiten, die sich der Ausführung des Werkes entgegengestellt, überwunden hatten.

Im Jahre 1842 ward das erste Heft „Norwegische Volksmärchen, gesammelt von P. Chr. Asbjörnsen und Jörgen Moe“ herausgegeben. Sobald dies geschehen war, schlug die Stimmung des Publicums, die dem Unternehmen so abhold gewesen war, völlig um. Dieselben Leute, die bisher von diesen Offenbarungen der im Volke lebenden Poesie nichts hatten wissen wollen, mußten jetzt erkennen, daß hier eine Goldmine entdeckt sei, und daß die beiden Männer, die es unternommen hatten, sie auszubeuten, in einem seltenen Grade im Besitz der zur Hebung der Schätze nothwendigen Bedingungen seien.

Dem ersten Hefte folgten schnell zwei andere, sodaß schon im nächsten Jahre das Buch abgeschlossen werden konnte. Später sind mehrere neue und vermehrte Auflagen desselben erschienen. Auch außerhalb Norwegens wurde es mit großem Beifall aufgenommen. Deutsch kam es 1847 in Berlin, mit einem Vorwort von Ludwig Tieck versehen, heraus, nachdem schon die Gebrüder Grimm (in der Vorrede zur deutschen Mythologie und zur 6. Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen) sich mit größter Wärme vortheilhaft über dasselbe ausgesprochen hatten, als eine Sammlung, „die mit ihrem frischen vollen Vorrath alle Sammlungen fast überboten hat“. Im Jahre 1871 erschien eine neue Collection norwegischer Volksmärchen, von Asbjörnsen allein herausgegeben, aber mit Beiträgen von Moe’s Reisen und Aufzeichnungen versehen. Sein großes Talent als selbstständiger Dichter legte Asbjörnsen durch seine Sammlungen „Norwegischer Waldgeistermärchen und Volkssagen“, welche er schon 1845 zu publiciren anfing, an den Tag. Von diesen erschien 1870 eine vollständige Ausgabe, und 1879 gab er einen Auszug aus seiner ganzen Märchenproduction mit trefflichen Illustrationen der hervorragendsten norwegischen Künstler heraus. Dieses in jeder Beziehung ausgezeichnete Buch liegt jetzt auch in deutscher Uebersetzung[3] vor.

Leider gestatteten Asbjörnsen’s Verhältnisse es ihm nicht, sich ganz und gar der Erforschung der norwegischen Volksdichtung zu widmen. Es fehlte ihm allerdings nicht an mannigfacher Anerkennung; auch fanden seine Bestrebungen theilweise Unterstützung, sodaß er sogar einige Reisen zum Behufe der Märchenforschung auf öffentliche Kosten unternehmen konnte, allein dies reichte doch bei Weitem nicht aus, um ihm eine unabhängige Stellung zu schaffen, in der er sich ganz jener Thätigkeit hätte hingeben können.

Nachdem Asbjörnsen 1837 das zweite (sogenannte philosophische) Examen an der Universität bestanden hatte, mußte er sich für ein Brodstudium entscheiden. Er wühlte die Medicin, zunächst wohl darum, weil die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Studien, die ihm stets besonders zugesagt hatten, ihm die Gelegenheit boten, seiner Lust, im Walde und auf dem Felde umherzustreifen, volle Befriedigung zu gewähren. Doch brachte er es nie zur Ablegung des medicinischen Examens, mit um so größerem Eifer aber widmete er sich der Zoologie, und die Früchte seiner Forschungen traten in einer ganzen Reihe populärer Darstellungen hervor, welche ungemein viel dazu beigetragen haben, den Sinn der Norweger für die sie umgebende Natur zu wecken. Besonders dazu geeignet war seine „Naturgeschichte für die Jugend“ (6 Bände, 1839 bis 1849), welche eine anregende Einwirkung auf mehrere der tüchtigsten jüngeren Naturforscher Norwegens hatte. Alle diese Schriften Asbjörnsen’s zeugen von seiner scharfen Beobachtungsgabe und von klarer geistvoller Auffassung der Erscheinungen, während die Darstellung selbst lebhaft und anziehend ist.

Besondere wissenschaftliche Bedeutung erhielten seine Forschungen in dem Thierleben des Meeres, und ein von ihm in großer Meerestiefe gemachter Fund gab einen der ersten Anstöße zu einer Menge weitgehender Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten vorgenommen worden sind. Asbjörnsen fand nämlich 1853 im Hardangerfjord einen prachtvollen bis zu der Zeit unbekannten Seestern, welchen er nach dem (wie die Sage erzählt) von Lote auf dem Meeresgrunde verborgen gehaltenen Busenschmuck Freja’s „Brisinga“ nannte. Es ergab sich, daß dieser Seestern in so fern einer sonst ausgestorbenen Thierwelt angehörte, als er in gerader Linie von der Fauna der Tertiärperiode abstammte. Dadurch und durch andere ähnliche Funde ward ein eigenthümliches Licht auf die Kreidebildung der Vorzeit und der Jetztzeit geworfen, was wiederum zum Theil den Anlaß gab, daß der Professor Wyville Thomson bei der Royal Society in London den Vorschlag einbrachte, die erste Expedition zur Erforschung des Thierlebens im Meere in großen Tiefen auszurüsten.

Asbjörnsen war jedoch genöthigt, sich nach einer festen Lebensstellung umzusehen, und mußte daher seine zoologischen Studien allmählich einschränken, um sich praktischen Beschäftigungen zuzuwenden, die allerdings mit seinen Neigungen und seiner bisherigen Thätigkeit übereinstimmten. Mit einem reichlichen Staatsstipendium ausgerüstet, begab er sich 1856 nach Deutschland, um das Forstwesen zu studiren. Etwas über ein Jahr hielt er sich auf der Forstakademie zu Tharand auf und bereiste dann ebenso lange die interessantesten Wald- und Berggegenden Deutschlands. Nach seiner Rückkehr ward er zum Forstmeister ernannt, eine Stellung, die er noch jetzt bekleidet, und in welcher er ganz außerordentlich viel zur zweckmäßigen Ordnung des Forstwesens in Norwegen, sowie überhaupt zur verständigen Ausnutzung der reichen natürlichen Hülfsquellen seines Vaterlandes beigetragen hat. Von besonderer Wichtigkeit waren seine Untersuchungen der norwegischen Torfmoore, über welche er ein höchst gediegenes, auf öffentliche Kosten herausgegebenes Werk verfaßt hat.

Wir sehen, wie verschiedenartig und vielseitig die Thätigkeit Asbjörnsen’s bisher gewesen ist und wie sich stets an seine praktischen Beschäftigungen eine ihnen entsprechende literarische Darstellung schloß. Bisweilen erschien er als Schriftsteller sogar auf Gebieten, die ihm scheinbar sehr fern lagen. So gab er eine Beschreibung von der Expedition eines norwegischen Kriegsschiffes nach dem Mittelländischen Meere im Jahre 1849, an welcher er theilgenommen, heraus, und 1864 erschien ein von ihm verfaßtes „Zeitgemäßes Koch- und Haushaltungsbuch“. Beide Schriften machten ein ganz außerordentliches Aufsehen, die erste namentlich darum, weil sie außer sehr lebendigen Schilderungen der Gegenden, welche die Expedition berührt hatte, eine Menge von Enthüllungen über die damals in der norwegischen Marine herrschenden lächerlich kleinlichen Verhältnisse enthielt.

Die rücksichtslose Satire der Schrift trug viel dazu bei, daß jenen Uebelständen abgeholfen wurde, während die Marine selbst natürlich von einem Unwillen gegen den Verfasser erfüllt wurde, der sich erst allmählich verlor. Auch das Kochbuch erregte anfangs Erbitterung, und zwar bei der Damenwelt, weil aber die in demselben ausgesprochenen Grundsätze höchst verständig waren, legte sich der Sturm bald, und das Buch hat sowohl in Norwegen wie in Dänemark und Schweden zur Einführung einer rationelleren Speisebereitung ungemein viel beigetragen.

Asbjörnsen gehört zu den angesehensten und populärsten Schriftstellern seines Landes. Seine größte Bedeutung aber für die norwegische Literatur hat er durch seine Märchenerzählung erlangt, und auf diesem Gebiete hat sich sein großes Talent am reichsten entfaltet. Mit vollem Rechte kann man ihn als den „nordischen Grimm“ bezeichnen, nicht allein weil er seinem Volke zuerst die Sagenwelt erschlossen hat, sondern auch weil seine Erzählungen vollendete Kunstwerke sind. Es ist eine sehr schwere Aufgabe, diese Art der Volksdichtung in der rechten Weise wiederzugeben, und derjenige, welcher sie lösen soll, muß viele seltene Eigenschaften in sich vereinigen. Die Märchen sind zum großen Theil Gemeingut der ganzen Welt, in den verschiedenen Ländern aber der Individualität des Volkes gemäß ausgebildet und ihr angepaßt. Wenn die Arbeit des Märchensammlers daher wissenschaftlichen [163] Werth haben soll, und zwar einen höheren, als ihn die treue und genaue Aufzeichnung dessen, was dem Volksmunde unmittelbar abgelauscht ist, immerhin besitzt, so setzt sie ein umfassendes, weit über die Grenzen des betreffenden Landes hinausgehendes Wissen voraus. Für die richtige Behandlung dieser vom Volksgeiste durchdrungenen Dichtungen ist es aber andererseits nicht minder nothwendig, daß der Forscher das eigenthümliche Wesen seines Volkes aus dem Grunde kennt, und daß er mit den Naturverhältnissen, die es bedingen, vertraut ist.

Diese durchaus unerläßlichen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Seite der Thätigkeit eines Märchensammlers besitzt Asbjörnsen in hohem Grade. Er hat aber nicht blos ein Material gesammelt, welches für die vergleichende Märchenerforschung von Bedeutung ist, sondern er hat den Stoff auch der gebildeten Leserwelt in einer Form vorgelegt, die ebenso kunstvoll wie echt volksthümlich ist. Hier genügte es nicht, die Märchen ganz so in der Fassung wiederzugeben, wie der Sammler sie seinen Quellen entnahm; denn seine Gewährsmänner waren meistens ganz ungebildete Leute, und auch die Zeiten waren nicht spurlos an diesen im Volksmunde bewahrten Dichtungen vorübergegangen. Um die Aufgabe, die Asbjörnsen sich gestellt hatte, in der rechten Weise zu lösen, war es nothwendig, daß er sich so in den Geist des Volkes und der Volksdichtung hineingelebt hatte, daß er, aus dem vollen Verständnis; derselben heraus, der ursprünglichen Form des Märchens, trotz aller willkürlichen Zusätze und verschiedener Versionen in den einzelnen Gegenden des Landes, auf den Grund gehen konnte. Nur wenn man, wie Asbjörnsen, die Bildung des Gelehrten und das unmittelbare Gefühl des Poeten für die idealen Forderungen der Dichtung in sich vereinigt, kann man den Schatz der Volkspoesie heben und seinem Volke das Märchengold zurück geben, welches so oft mit Moos und Staub überdeckt ist, daß es sich für den Uneingeweihten wie werthloses Gestein ausnimmt.

Von Asbjörnsen’s poetischer Begabung legt jede seiner „Waldgeistersagen“ Zeugniß ab. Während die „Volksmärchen“ sich unmittelbar an die Volkstradition anschließen, führen die „Waldgeistersagen“ in dichterischem Gewande dem Leser eine Reihe von Bildern aus der Natur und dem Volksleben vor, und die Bilder sind mit wirkungsvollster realistischer Sicherheit in allen Einzelnheiten entworfen, zugleich aber von einer solchen Stimmung durchdrungen, daß die alten Märchen und Sagen, denen sie als Rahmen und Hintergrund dienen, wie natürlich aus den Umgebungen hervortreten. Als Muster dieser Art können wir auf das auch in die illustrirte deutsche Ausgabe aufgenommene Stück „Eine Sommernacht im Krogwalde“ hinweisen. Mit wahrer Meisterschaft sind hier die Sagen mit der Schilderung der Gegend und der Personen verflochten, sodaß ein harmonisches, in hohem Grade stimmungsvolles Kunstwerk daraus entsteht. Und mehr oder weniger gilt dies von Allein, was Asbjörnsen von dieser Art geschrieben.

Die literarischen Verhältnisse Norwegens waren zu der Zeit, wo die Volks- und Waldgeistersagen erschienen, ganz eigenthümlicher Art. Bis 1814 war Norwegen bekanntlich mit Dänemark verbunden, und die gemeinschaftliche Literatur hatte ein durchaus dänisches Gepräge; ein exclusiv norwegisches Element war nur im Keime vorhanden. Als das Land dann seine Selbstständigkeit erhielt, versuchte man es alsbald, sich von der literarischen Verbindung mit Dänemark völlig frei zu machen. Die Voraussetzungen für die Entwickelung einer selbstständigen norwegischen Literatur fehlten aber gänzlich, und die Bestrebungen, eine solche zu schaffen, führten zunächst nur zu einer rhetorischen bombastischen Poesie, welche in der lächerlichsten Weise Norwegen als das herrlichste Land und seine Bewohner als die vortrefflichsten Menschen der Welt darzustellen sich bemühte. Erst in den dreißiger Jahren fing die Erkenntniß an sich geltend zu machen, daß eine norwegische Literatur nicht aus dem Nichts emporwachsen könne, und daß man, um ein ergiebiges Material zu beschaffen, die Vorzeit und das Leben des gemeinen Volkes gründlich erforschen müsse. Für diese Studien, welche die nationalen Eigenthümlichkeiten Norwegens nach allen Richtungen hin zu ergründen strebten, war Asbjörnsen’s literarische Thätigkeit, namentlich als Märchenerzähler, von der größten Bedeutung. Nachdem erst Asbjörnsen und sein Mitarbeiter Moe den Sinn ihrer Landsleute für die Natur und das Volk Norwegens geweckt hatten, fanden sie bald Nachfolger, welche von verschiedenen Seiten bis zum Kern eindrangen, und die poetische Literatur Norwegens schlug die Bahn ein, auf der sie einen hohen Grad von Originalität und eine stets wachsende Fülle erreichte. Björnson hatte Recht, als er in die Worte ausbrach: „Es wäre fürwahr nicht viel aus mir geworden, wenn Asbjörnsen nicht gewesen wäre,“ und die übrigen norwegischen Dichter der Jetztzeit könnten dasselbe sagen. Der Märchenerzähler ist auch für sie der Bahnbrecher gewesen.




Der Dresdener Todtentanz.

Eine kunsthistorische Skizze..

Schon um die Wende des dreizehnten Jahrhunderts machte sich in Deutschland bekanntlich jene Gährung bemerkbar, welche die neuen politischen und religiösen Ideen verbreitete, die im Beginn des sechszehnten Gestalt und Leben gewinnen sollten. Mit dem vierzehnten Jahrhundert begann eine Epoche des Übergangs, eine Zeit der Auflösung und Verwirrung aller sittlichen Anschauungen. Die bis dahin für heilig und unverletzlich gehaltenen Autoritäten, Kaiser und Papst, Geistliche und Ritter, waren zum Gegenstande schnöder Angriffe geworden, und unter ihrem heftigen Anprall war manche morsch gewordene Institution in Trümmer gesunken. In Folge dessen nahm die Zügellosigkeit im niederen Volk überhand; Jeder wollte seinen Platz an der reichbesetzten Tafel einnehmen; Recht und Sitte wurden mit Füßen getreten, und die Befriedigung sinnlicher Leidenschaften galt als das höchste Ziel menschlichen Strebens. In diese Zeit der Rechtlosigkeit und des Sinnentaumels brach das Schreckgespenst des schwarzen Todes hinein, gleich als wollte es die entartete Menschheit an die Eitelkeit aller irdischen Genüsse mahnen, und hielt, Elend und Hungersnoth im Gefolge, seinen schauerlichen Triumphzug durch Deutschland und das übrige Europa. Zu wiederholtem Male kehrte die Pest das dreizehnte und das ganze vierzehnte Jahrhundert hindurch wieder, eine unablässige Mahnung für das geängstigte Volk, an die letzten Dinge zu denken, und was keine menschliche Autorität vermocht hätte, brachte der unheimliche Sieger zuwege: die Rückkehr zu Gott und zum Ewigen. In den Kirchen wurden die Bilder des Todes errichtet, welche den Sinn der Andächtigen beständig auf die Vergänglichkeit alles Irdischen hinlenkten und zur Buße mahnten. In die geistlichen Schauspiele und in die feierlichen Reigentänze, welche unter dem Schutze der Geistlichkeit in den Gotteshäusern aufgeführt wurden, trat der Tod ein und spielte neben den Engeln und Heiligen seine furchtbare Rolle. Man wird ihn bei dieser Gelegenheit als vermummte Gestalt dargestellt haben, ohne sich um eine strengere Charakteristik viel zu kümmern. Dagegen fiel der bildenden Kunst, die sich des Gegenstandes ebenfalls schon frühzeitig bemächtigte, die Aufgabe zu, eine Personification des Todes zu erfinden, und sie stellte ihn so dar, wie er dem Auge des Menschen erscheint, als verwesten Leichnam. Statt der Ursache mußte also die Wirkung, statt des Todes der Todte eintreten. Aus dem Todten wurde allmählich ein entfleischtes Gerippe und daraus im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts der Knochenmann, der uns noch heute als das Symbol des Todes gilt.

Das Mittelalter begnügte sich aber nicht mit dem Tode als einer Person. Der Tod ist mannigfaltig, und so stellte sich die menschliche Phantasie ein ganzes Heer von Todtengerippen vor, die unablässig auf der Jagd sind, um ihre Opfer in blühender Lebenslust wie die Jäger das Wild zu überfallen.

In jenen kirchlichen Reigentänzen traten, diesen Anschauungen zufolge, die Tänzer paarweise auf, immer ein Todter und ein Lebender, und um Abwechslung in den Zug der Tanzenden zu bringen, und andererseits auch die demokratische Idee des alles nivellirenden Todes zu versinnlichen, waren unter den Partnern der Todtengerippe alle Stände vom Kaiser und Papst bis zum krüppelhaften Bettler vertreten. Die Kunst ergriff, wohl direct durch die Kirche dazu aufgefordert, diese dramatischen Schaustellungen und hielt sie zu noch eindringlicherer Mahnung an passenden Orten fest. Die Wände der Klöster als der Stätten stiller Beschaulichkeit [164] waren hierzu sicherlich geeignete Stellen, und so wird uns denn auch berichtet, daß schon im Jahre 1312 ein solcher „Todtentanz“, wie die Franzosen zuerst derartige Darstellungen nannten, das Nonnenkloster Klingenthal bei Basel schmückte, während mehr als hundert Jahre später ein anderer in dem Predigerkloster ebendaselbst gemalt wurde. Der ältere ist nicht mehr vorhanden. Noch günstiger für die Anbringung dieser Sinnbilder der irdischen Vergänglichkeit waren die Vorhallen der Gotteshäuser, in welchen das Volk täglich zur Andacht zusammenströmte. In den Marienkirchen zu Berlin und Lübeck und in der alten Dominikanerkirche zu Straßburg sind uns noch solche Todtentänze erhalten, und manch ein anderer mag noch hier und da unter der Tünche verborgen sein, mit welcher ein barbarisches Zeitalter die bemalten Wände der ehrwürdigen gothischen Kirchen bedeckte.

Als Holzschnitt und Kupferstich um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts begannen, ihre bedeutsame, culturverbreitende Rolle zu spielen, gehörten sowohl die Todtentänze wie einzelne „Bilder des Todes“ zu den populärsten Darstellungen. Damals suchte zuerst auch die Ironie dem allgewaltigen Tyrannen beizukommen.


Der „Todtentanz“ auf dem Neustädischen Kirchhofe zu Dresden. Nach der Natur aufgenommen von Rudolf Cronau.


Man löste den feierlichen Reigen, den die gothische Kunst in ihren Frescogemälden aufgezogen hatte, in einzelne Gruppen auf. Die Sitten waren freier, die Tänze wilder und üppiger geworden, und diese Veränderung im Volksleben blieb auch nicht ohne Einfluß auf die Kunst. Holbein führt uns in seinen weltberühmten „Bildern des Todes“, welche den Namen des großen Meisters durch alle Zeiten und zu allen gebildeten Völkern getragen haben, die ganze Scala der Stände vor, die mit Todtengerippen zu Paaren gruppirt sind. Aus diesen durch den Holzschnitt zum Gemeingut des Volkes gemachten Blättern tritt auch schon der Gedanke des Tanzes selbst in seiner grotesken Ausartung in den Hintergrund. Zwar spielt noch hier ein Gerippe einem wandernden Krämer zum Tanz auf und auf einem zweiten Blatte ein anderes der im Bette liegenden Herzogin, aber im Allgemeinen faßt Holbein den Gedanken des Todes schon tiefer als einen furchtbaren Kampf, welcher zwischen dem Menschen und dem personificirten Naturgesetz ausgefochten wird. Dürer verschmäht es bereits gänzlich, in feinen Stichen das alte Thema zu behandeln. Die Mannigfaltigkeit der Figuren des Todes hat sich bei ihm zu einer einzigen, grauenerregenden Person vereinfacht, die zwar noch in verschiedenen Gestalten, aber stets allein erscheint.

Auf dem tiefsinnigen Kupferstiche, der uns einen Reiter zeigt, der unerschrocken zwischen Tod und Teufel seine Straße reitet – „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“ –, auf dem grandiosen Holzschnitte mit den vier apokalyptischen Reitern hat Dürer den Tod in abenteuerlicher Gestalt personificirt.

Neben dieser Umwandlung und Umgestaltung, welche der alte Gedanke durch die Bahnbrecher der Kunst erfuhr, ging die ursprüngliche Auffassung des Todesreigens auch im sechszehnten Jahrhundert noch einher. Je seltener die monumentalen Darstellungen des Todes in dieser späteren Zeit wurden, desto interessanter und lehrreicher sind die übriggebliebenen für uns. Die figurenreichste und vielseitigste ist der „Todtentanz“ auf dem Neustädtischen Kirchhofe zu Dresden (vergl. unsere heutige Abbildung!) der sich durch viele Unbilden der Zeit und durch die wechselvollsten Schicksale bis auf unsere Tage hinübergerettet hat, zwar stark beschädigt und zum Theil auch zerstört, aber in den Grundzügen noch so wohl erhalten daß man über die Erklärung der einzelnen Figuren nirgends im Zweifel bleibt.

Herzog Georg der Bärtige von Sachsen (1500 bis 1539), welcher das Dresdener Schloß durch den Anbau des nach Norden vorspringenden, im Stile der edelsten Frührenaissance ausgeführten Georgenflügels vergrößerte, ist auch der Stifter des „Todtentanzes“. Die Tradition meldet, daß der Tod in seiner Familie eine furchtbare Ernte hielt, daß ihm nach einander sechs Kinder und zu Anfang des Jahres 1534 seine Gemahlin Barbara entrissen wurden. Diese Jahreszahl 1534 finden wir nun über dem mit einem Todtenkopfe versehenen Schlußsteine des Mittelportals und darunter die Inschrift. Per invidiam diaboli mors intravit in mundum (Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt“). Zwischen dem zweiten und dritten Geschosse war an der Außenseite der aus Sandstein gemeißelte „Todtentanz“ als Fries eingelassen. Da liegt denn der Gedanke nahe, daß der ohnehin zu Ernst und Schwermuth geneigte Herzog durch die schweren Schläge des Schicksals veranlaßt wurde, auch seinem Volke eine ernste Mahnung an die Vergänglichkeit alles Irdischen im Sinnbilde zu täglicher Betrachtung vor Augen zu führen. Wer die Elbbrücke passirte, der richtete unvermeidlich seinen Blick auf das steinerne „Memento mori“, dessen Figuren sich wirkungsvoll von dem mit blauer Farbe gedeckten Hintergrunde abhoben.

Dieser „Todtentanz“ war nicht die einzige Beziehung auf den Tod, welche die Schloßfacade enthielt. Ueber dem Portal sah man noch eine Relieftafel mit „Kain’s Brudermord“ und darüber die Statuen von „Adam und Eva“. Verbindet man diese Darstellungen mit der des „Todtentanzes“, so ergiebt sich als Grundgedanke des Ganzen, daß der Tod durch die Sünde des ersten Menschenpaares in die Welt gekommen, und dem entsprechend war auf der anderen Facade als Versöhnungsabschluß „die Geburt oder die Menschwerdung“ und „das Leiden Christi“ dargestellt.

Wir wissen über den Baumeister, von welchem der Georgs-Flügel herrührt, ebenso wenig etwas Sicheres wie über den Schöpfer des Todtentanzes. Doch soll nicht unerwähnt bleiben, daß Hasche im ersten Theile seines „Magazins für die sächsische [165] Geschichte“ den Brückenmeister und Steinmetz der Kreuzkirche, Schikketanz, als den Verfertiger desselben nennt, ohne jedoch urkundliche Beweise für seine Behauptung beizubringen.

Einhundertundsechszig Jahre lang blieb der Todtentanz unangetastet – nur der blaue Anstrich des Hintergrundes mußte während dieser Zeit einem rothen weichen – an seinem ursprünglichen Orte. Aber am 25. März des Jahres 1701, an einem Charfreitage, brach im Schlosse Feuer aus, das sich bald über den ganzen Georgs-Flügel verbreitete und den Todtentanz so sehr beschädigte, daß man bei einem Wiederaufbaue des Schlosses von seiner Verwendung für den alten Zweck Abstand nahm. Als man die dem Einstürze drohenden Mauern der Brandruine abtrug, stellte man das ehrwürdige Kunstwerk bei Seite, und es wäre auch sicherlich in Vergessenheit gerathen, wenn sich der Pastor der Kirche zu Neustadt-Dresden, Magister Hilscher, nicht seiner eifrig angenommen hätte. Hilscher’s Name ist mit dem Dresdener Todtentanze auf das Engste verknüpft. Zu wiederholten Malen suchte er beim Kurfürsten August dem Starken um Restaurirung des Denkmals nach, aber vergeblich. Nun suchte er durch Herausgabe einer Beschreibung des Totentanzes das Interesse für denselben lebendig zu erhalten, und endlich schenkte der Kurfürst das Werk der Kirchengemeinde Neustadt-Dresden, welche seine Wiederherstellung auf eigene Kosten unternahm. Im Jahre 1721 wurde der Todtentanz durch den Bildhauer Brückner restaurirt. Da die vier letzten Figuren durch den Brand bis auf wenige Reste vernichtet waren, wurden dieselben neu angefertigt. Auch hat man oben und unten einen Streifen angesetzt und auf demselben das Symbol des Todes mit der Umschrift „Der einzig Unfehlbare“, sowie die vom Prediger Hilscher gedichteten Verse angebracht.

In solcher Gestalt wurde der Todtentanz noch 1721 an der Mauer des Begräbnißplatzes der Neustädter Kirchengemeinde, der sich zwischen dem Rhänitzthore und dem sogenannten schwarzen Thore erstreckte, aufgestellt, nachdem noch aus dem rothen Hintergründe ein gelber geworden war. Aber auch diese Stelle sollte dem Todtentanze nicht lange eingeräumt bleiben. Wegen des Baues der jetzigen Neustädter Drei-Königskirche ging der Friedhof ein und wurde in die Nähe der sogenannten Scheunenhöfe verlegt, wohin auch der Todtentanz im Jahre 1733 überführt wurde. Seine Leiden waren damit jedoch noch nicht beendigt. Vermuthlich um ihn recht gespenstisch wirken zu lassen, wurde er mit weißer Oelfarbe überzogen, und schließlich fügte eine patriotische Hand noch einen grünen Hintergrund hinzu, sodaß das Werk nunmehr die sächsischen Landesfarben zeigte. In neuester Zeit hat man auch diese entfernt und die natürliche Farbe des Sandsteins wieder zum Vorscheine gebracht.

Nach so wechselvollen Schicksalen ist es nur zu bewundern, daß die einzelnen Figuren der Erklärung keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Nur einige Attribute sind undeutlich geworden. So ist das Gefäß, welches das den Zug eröffnende Todtengerippe in der Hand trägt, nicht, wie man nach der Abbildung glauben sollte, ein Pokal, sondern eine Sanduhr, und der spitze Auswuchs an seinem Hinterhaupte ein Büschel Haare, welchen sich der Künstler im Winde flatternd dachte.

Die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des Dresdener Todtentanzes bestehen darin, daß der Zug der beiläufig vierzig Centimeter hohen siebenundzwanzig Figuren in zwei Gruppen getheilt ist, deren eine den geistlichen Stand umfaßt, während die andere aus den weltlichen Ständen zusammengesetzt ist. Wie das Todtengerippe, welches die ganze Procession anführt, gleichsam zum Tanze auf einer Flöte aufspielt, so schlägt auch das zweite, vor der Gruppe der weltlichen Figuren, mit zwei Todtenbeinen die Trommel. Den Beschluß des Zuges macht ein dritter Knochenmann mit der Sense, der gleichsam aufpaßt, daß ihm Niemand entrinne.

Während die meisten übrigen Todtentänze an der Idee des Tanzes noch in so fern festhalten, als jeder Figur noch ein Gerippe als Partner beigesellt ist, hat sich der Dresdener Künstler auf drei Knochenmänner beschränkt, welche gewissermaßen die Escorte des schrecklichen Zuges bilden. Derselbe bewegt sich übrigens, wenn man von der etwas lebhaften Fußbewegung des Bischofs absieht, in feierlichem Tempo dahin. Die Composition ist durchaus würdevoll – nichts von jenem wilden Humor, jener fast burlesken Ausgelassenheit, jenem ironischen Zuge, welche wir als charakteristische Merkmale früherer und späterer Darstellungen dieser Art ansehen müssen. Eine solche etwas frivole Auffassung mochte dem ernsten Sinne des Stifters widersprechen.

An das Gewand des Zugführers, um dessen knöcherne Beine sich zwei Schlangen winden, hält sich der Papst, welcher als der oberste Würdenträger der Kirche, wie billig, den Reigen eröffnet. Ihm folgt sein Hofstaat, die ganze ecclesia militans, die streitbare Kirche: Cardinal, Erzbischof, Bischof, Prälat, Domherr und in gebückter, demüthigen Stellung der Kapuziner, den das Buch in seiner Linken als Predigermönch charakterisirt, während der Foliant in der Hand des Prälaten vielleicht auf die diesem hohen Kirchenbeamten zustehende Gerichtsbarkeit deutet. Der zweite Knochenmann, den wie den ersten ein weites Leichentuch umflattert, blickt sich vorsorglich nach seiner Cohorte um, ob sie ihm auch willig folge. Mit zwei Todtenbeinen trommelt er dem Zuge der weltlichen Stände, welchen der Kaiser eröffnet, den Marsch. Auf den Kaiser, in welchem man Karl den Fünften erkennen will, folgt der König, unter dem dann Ferdinand der Erste zu denken wäre. Die nächste Gestalt, der Kurfürst mit dem Orden des goldenen Vließes um den Hals, wird auf Herzog Georg den Bärtigen von Sachsen selbst gedeutet,

Geschichte“ den Brückenmeister und Steinmetz der Kreuzkirche, Schikketanz, als den Verfertiger desselben nennt, ohne jedoch urkundliche Beweise für seine Behauptung beizubringen.

Einhundertundsechszig Jahre lang blieb der Todtentanz unangetastet – nur der blaue Anstrich des Hintergrundes mußte während dieser Zeit einem rothen weichen – an seinem ursprünglichen Orte. Aber am 25. März des Jahres 1701, an einem Charfreitage, brach im Schlosse Feuer aus, das sich bald über den ganzen Georgs-Flügel verbreitete und den Todtentanz so sehr beschädigte, daß man bei einem Wiederaufbaue des Schlosses von seiner Verwendung für den alten Zweck Abstand nahm. Als man die dem Einstürze drohenden Mauern der Brandruine abtrug, stellte man das ehrwürdige Kunstwerk bei Seite, und es wäre auch sicherlich in Vergessenheit gerathen, wenn sich der Pastor der Kirche zu Neustadt-Dresden, Magister Hilscher, nicht seiner eifrig angenommen hätte. Hilscher’s Name ist mit dem Dresdener Todtentänze auf das Engste verknüpft. Zu wiederholten Malen suchte er beim Kurfürsten August dem Starken um Restaurirung des Denkmals nach, aber vergeblich. Nun suchte er durch Herausgabe einer Beschreibung des Totentanzes das Interesse für denselben lebendig zu erhalten, und endlich schenkte der Kurfürst das Werk der Kirchengemeinde Neustadt-Dresden, welche seine Wiederherstellung auf eigene Kosten unternahm. Im Jahre 1721 wurde der Todtentanz durch den Bildhauer Brückner restaurirt. Da die vier letzten Figuren durch den Brand bis auf wenige Reste vernichtet waren, wurden dieselben neu angefertigt. Auch hat man oben und unten einen Streifen angesetzt und auf demselben das Symbol des Todes mit der Umschrift „Der einzig Unfehlbare“, sowie die vom Prediger Hilscher gedichteten Verse angebracht.

In solcher Gestalt wurde der Todtentanz noch 1721 an der Mauer des Begräbnißplatzes der Neustädter Kirchengemeinde, der sich zwischen dem Rhänitzthore und dem sogenannten schwarzen Thore erstreckte, aufgestellt, nachdem noch aus dem rothen Hintergründe ein gelber geworden war. Aber auch diese Stelle sollte dem Todtentanze nicht lange eingeräumt bleiben. Wegen des Baues der jetzigen Neustädter Drei-Königskirche ging der Friedhof ein und wurde in die Nähe der sogenannten Scheunenhöfe verlegt, wohin auch der Todtentanz im Jahre 1733 überführt wurde. Seine Leiden waren damit jedoch noch nicht beendigt. Vermuthlich um ihn recht gespenstisch wirken zu lassen, wurde er mit weißer Oelfarbe überzogen, und schließlich fügte eine patriotische Hand noch einen grünen Hintergrund hinzu, sodaß das Werk nunmehr die sächsischen Landesfarben zeigte. In neuester Zeit hat man auch diese entfernt und die natürliche Farbe des Sandsteins wieder zum Vorscheine gebracht.

Nach so wechselvollen Schicksalen ist es nur zu bewundern, daß die einzelnen Figuren der Erklärung keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Nur einige Attribute sind undeutlich geworden. So ist das Gefäß, welches das den Zug eröffnende Todtengerippe in der Hand trägt, nicht, wie man nach der Abbildung glauben sollte, ein Pokal, sondern eine Sanduhr, und der spitze Auswuchs an seinem Hinterhaupte ein Büschel Haare, welchen sich der Künstler im Winde flatternd dachte.

Die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des Dresdener Todtentanzes bestehen darin, daß der Zug der beiläufig vierzig Centimeter hohen siebenundzwanzig Figuren in zwei Gruppen getheilt ist, deren eine den geistlichen Stand umfaßt, während die andere aus den weltlichen Ständen zusammengesetzt ist. Wie das Todtengerippe, welches die ganze Procession anführt, gleichsam zum Tanze auf einer Flöte aufspielt, so schlägt auch das zweite, vor der Gruppe der weltlichen Figuren, mit zwei Todtenbeinen die Trommel. Den Beschluß des Zuges macht ein dritter Knochenmann mit der Sense, der gleichsam aufpaßt, daß ihm Niemand entrinne.

Während die meisten übrigen Todtentänze an der Idee des Tanzes noch in so fern festhalten, als jeder Figur noch ein Gerippe als Partner beigesellt ist, hat sich der Dresdener Künstler auf drei Knochenmänner beschränkt, welche gewissermaßen die Escorte des schrecklichen Zuges bilden. Derselbe bewegt sich übrigens, wenn man von der etwas lebhaften Fußbewegung des Bischofs absieht, in feierlichem Tempo dahin. Die Composition ist durchaus würdevoll – nichts von jenem wilden Humor, jener fast burlesken Ausgelassenheit, jenem ironischen Zuge, welche wir als charakteristische Merkmale früherer und späterer Darstellungen dieser Art ansehen müssen. Eine solche etwas frivole Auffassung mochte dem ernsten Sinne des Stifters widersprechen.

An das Gewand des Zugführers, um dessen knöcherne Beine sich zwei Schlangen winden, hält sich der Papst, welcher als der oberste Würdenträger der Kirche, wie billig, den Reigen eröffnet. Ihm folgt sein Hofstaat, die ganze ecclesia militans, die streitbare Kirche: Cardinal, Erzbischof, Bischof, Prälat, Domherr und in gebückter, demüthigen Stellung der Kapuziner, den das Buch in seiner Linken als Predigermönch charakterisirt, während der Foliant in der Hand des Prälaten vielleicht auf die diesem hohen Kirchenbeamten zustehende Gerichtsbarkeit deutet. Der zweite Knochenmann, den wie den ersten ein weites Leichentuch umflattert, blickt sich vorsorglich nach seiner Cohorte um, ob sie ihm auch willig folge. Mit zwei Todtenbeinen trommelt er dem Zuge der weltlichen Stände, welchen der Kaiser eröffnet, den Marsch. Auf den Kaiser, in welchem man Karl den Fünften erkennen will, folgt der König, unter dem dann Ferdinand der Erste zu denken wäre. Die nächste Gestalt, der Kurfürst mit dem Orden des goldenen Vließes um den Hals, wird auf Herzog Georg den Bärtigen von Sachsen selbst gedeutet, [166] und in der Hand des durch Frömmigkeit ausgezeichneten Fürsten wäre dann der Rosenkranz ein charakteristisches Symbol, um so mehr, als Herzog Georg, ein entschiedener Gegner der Reformation, fest an den Bräuchen der alten Kirche hielt. Die Deutung ist sehr wahrscheinlich, da man sonst nicht wüßte, wie gerade der Kurfürst zu dein Rosenkranz käme. Mit geringerer Sicherheit ist die folgende Figur, der Graf, für Georg’s einzigen, an Geistesschwäche leidenden Sohn Friedrich, der 1539 starb, erklärt worden. Der geharnischte Ritter, der Edelmann, der Rathsherr, der Handwerker mit Schurzfell, Winkelmaß und Hacke, der Landsknecht mit der Hellebarde, der Bauer mit Dreschflegel und Schwert sind durch Tracht oder Attribute deutlich charakterisirt. In der Bewaffnung des Bauern wird man vielleicht eine Anspielung auf die Bauernkriege zu erkennen haben. Die lebhafte Handbewegung des lahmen Bettlers deutet darauf hin, daß der Tod ihm willkommen ist. Der blinde, von dem Knaben geführte Greis, welcher den Schluß des Zuges bildet, schwenkt dem erlösenden Tode sogar jubelnd den Hut entgegen. Zwischen diesen beiden Unglücklichen befinden sich noch vier Figuren: die Aebtissin eine Frau in vornehmer Tracht, welche man für die Herzogs-Gemahlin, Barbara, hält, eine Bäuerin mit einer Hocke auf dem Rücken, aus der zwei Gänse hervorgucken, eine Figur von besonders glücklicher Erfindung, und ein Kaufmann, den ein Geldsack als solchen charakterisirt. Der Knabe, dessen Kleidung der Restaurator des Werkes einen etwas wunderlichen Schnitt gegeben, streckt die Hand nach dem Geldsacke aus. Ein Knochenmann mit umgekehrter Sense, die wohl andeuten soll, daß er sein Werk gethan, beschließt den Zug.

Der gegenwärtige Zustand des Dresdener Todtentanzes erlaubt uns nicht, ein Urtheil über die künstlerische Ausführung des Einzelnen zu fällen. Nur so viel läßt sich noch mit Sicherheit erkennen, daß sich der Schöpfer des Werkes auf eine lebendige und treffende Charakteristik sehr wohl verstand, und daß er sich in der Composition des Ganzen nicht allzu streng an die Ueberlieferung hielt. Es ist ihm gelungen, die Trockenheit der Allegorie glücklich zu vermeiden und aus seinem Todtentanze ein Bild von hohem kulturgeschichtlichem Werthe zu schaffen, das uns mit der Denkungsart und dem Leben seiner Zeit vertraut macht.

Adolf Rosenberg.





Erinnerungen an Goethe und Preller.

Von Robert Keil.

Der geistvolle Director der königlichen Nationalgallerie in Berlin, Max Jordan, sprach einmal gelegentlich eines Vortrages den Gedanken aus, Goethe’s „Iphigenia“ und Preller’s „Odyssee“-Landschaften seien Kinder des nämlichen Geistes, und in der That, die Schöpfungen des großen Weimarischen Malers, der durch seine genialen „Odyssee“-Gemälde die Gesetze für den historischen Stil in der Landschaftsmalerei gegeben hat, beruhen ebenso auf der Antike, wie jene vollendet schöne dramatische Dichtung Goethe’s. Beide Werke sind geistig mit einander verwandt, wie Preller und Goethe selbst in ihrer Welt- und Kunstanschauung. Unverkennbar ist aber auch der gewaltige Einfluß, welchen Goethe und dessen Poesie auf die Richtung und Ausbildung Prellers geübt haben. Einige Belege hierzu aus eigener Erinnerung, theils aus ungedrucktem Quellenmaterial zu bieten, ist der Zweck dieser Zeilen. Enthalten sie charakteristische Momente für den Entwickelungsgang des Malers, so sind sie nicht minder bezeichnend für die klare Erkenntniß, das lebhafte Interesse und die rege Forderung, welche Goethe gegenüber den aufstrebenden Talenten der bildenden Kunst bis in sein höchstes Greisesalter bethätigt hat.

Friedrich Preller, am 25. April 1804 in Eisenach geboren, kam schon im Herbst desselben Jahres nach Weimar, und besuchte als vierzehnjähriger Knabe die unter Meyer’s Leitung und Goethe’s Fürsorge blühende Zeichenschule, dieselbe Schule, an welcher er selbst später als Lehrer segensreich wirkte. Goethe, dem die talentvollen Zeichnungen des Knaben aufgefallen, beauftragte ihn schon im folgenden Jahre zum Zweck von meteorologischen Untersuchungen mit der Zeichnung von Wolkenbildungen. Eifrig entsprach der junge Preller diesem Auftrage und trat dadurch zu dem Altmeister deutscher Dichtung in Beziehungen, welche bis zum Tode Goethe’s fortdauerten. Von Dresden, wo er im Museum nach Ruysdael und P. Potter fleißig copirt hatte, nach Weimar zurückgekehrt, wagte er sich im Jahre 1825 an das erste selbstständige Gemälde. Es war das Bild, welches sich noch jetzt in Weimar in Privatbesitz, befindet: „Die Eisfahrt auf dem Schwansee bei Weimar“. Eine Menge von Portraits belebt das Gemälde, und auch sich selbst hat der Künstler in langem braunem Rocke, in die Hände hauchend, darauf dargestellt. Von Goethe wurde der junge Maler dem Herzog Karl August empfohlen, und dieser bestellte ihn eines Tages zu sich in das römische Haus im Parke, „hier aber,“ so erzählt das „deutsche Kunstblatt“ von Friedrich Eggers in drastischer Weise, „begab sich einer jener Auftritte, wie der alte Herr in seiner lakonischen Art sie liebte, und dessen Resultat war, daß Preller sich am nächsten Morgen mit seinem Päckchen auf dem Schloßhofe einzufinden hatte; dies geschah; ein Reisewagen stand angespannt; Karl August stieg ein; der junge Mann mußte ihm folgen, und ‚Wir reisen nach den Niederlanden,‘ hieß es; so begleitete Preller seinen Fürsten bis nach Antwerpen, wo ihn derselbe bei van Bree, dem Direktor der Antwerpener Akademie, zurückließ“. Dort, in der Heimath eines Rubens, eines van Dyk, bildete sich der Jüngling zum Künstler.

Wie klar Goethe die große Begabung Preller’s erkannte, wie er der Entwickelung desselben sich freute, erhellt aus den Aeußerungen, die er am 5. Juni 1826 gegen Eckermann über ihn that. Er nannte ihn „ein geborenes Talent“ und bemerkte:

„Ich habe ihm gerathen, sich nicht verwirren zu lassen, sich besonders an Poussin und Claude Lorrain zu halten und vor Allem die Werke dieser beiden Großen zu studiren, damit ihm deutlich werde, wie sie die Natur angesehen und zum Ausdruck ihrer künstlerischen Anschauungen und Empfindungen gebraucht haben. Preller ist ein bedeutendes Talent, und mir ist für ihn nicht bange. Er erscheint mir übrigens von sehr ernstem Charakter, und ich bin fast gewiß, daß er sich eher zu Poussin als zu Claude Lorrain neigen wird. Doch habe ich ihm den letztem zu besonderem Studium empfohlen und zwar nicht ohne Grund. Ich bin gewiß, daß Preller einst das Ernste, Großartige, vielleicht auch das Wilde, ganz vortrefflich gelingen wird. Ob er aber im Heitern, Anmuthigen und Lieblichen gleich glücklich sein werde, ist eine andere Frage, und deshalb habe ich ihm den Claude Lorrain ganz besonders an’s Herz gelegt, damit er sich durch Studium dasjenige aneigne, was vielleicht nicht in der eigentlichen Richtung seines Naturells liegt.“

In gleicher Weise sprach sich Goethe auch gegen Preller selbst aus, als dieser, von seinen fleißigen Antwerpener Studien nach Weimar zurückgekehrt, sich zur ersten Reise nach Italien rüstete und den Altmeister, seinen freundlichen Gönner, besuchte.

In Mailand und mehr noch während seines dreijährigen Aufenthaltes in Rom ging dem jungen Maler das volle Verständniß der Kunst auf, der er sein Leben gewidmet. Wohl zog es ihn vor Allem zu Poussin, dem Vater der historischen Landschaftsmalerei, und die von der Preller’schen Familie bewahrte heroische Landschaft, Copie nach Poussin’s Gemälde in der Gallerie Corsini zu Rom, ist ein sprechendes Zeugniß hierfür, aber wie Preller’s Schöpfungen aus jener Zeit bekunden, war sein Sinn auch dem anmuthig Schönen zugewandt.

Und mitten unter den großen Anregungen, welche die ewige Stadt mit ihren Kunstschätzen, ihren historischen Erinnerungen, ihrem regen Kunstleben und dem ganzen Reiz der südlichen Natur ihm bot, mitten unter seinen Studien und Arbeiten war es ihm vergönnt, dem greisen Altmeister in Weimar einen wenn auch schmerzlichen Dienst zu erweisen. Der Sohn des Dichters, August von Goethe, kam von Neapel im October 1830 nach Rom und wurde von den deutschen Künstlern, Preller voran, freundlichst, aufgenommen, aber der lange schon Leidende verfiel in Fieber, und unter Preller’s Pflege verschied er in dessen Armen. Wo sein Vater einst zu ruhen gewünscht hatte, bei der Pyramide des Cestius, wurde er am Morgen des 29. October 1830 bestattet.

[167] Sieben Monate später kehrte Preller nach langer Abwesenheit nach Weimar zurück. Er besuchte auch den allverehrten Dichter, und hochinteressant sind die Bemerkungen, welche Goethe, wie über zwei andere weimarische Maler, so kurz darauf auch über Preller in sein Tagebuch schrieb. Ich bin in der Lage, diese Stellen wörtlich mittheilen zu können. Am 1. April 1831:

„Maler Kaiser, die Unterstützung Serenissimi notificirend. Ich sagte ihm gute Wahrheiten. Das junge Volk hört aber nicht mehr. Zum Hören gehört freilich auch eine besondere Bildung. Nachher der junge Martersteig, ein frohes entschiedenes Talent. Würde der in einer rechten Werkstatt zum Nothwendigen und Rechten gedrungen, so könnte irgend was daraus werden.“

Unter dem 17. Mai 1831 aber schrieb er über Preller:

„Der junge Maler Preller zeigte sich, kranken Ansehens, durch den widerwärtigen Schnurrbart noch unglücklicher aussehend. Leider deutet mir so fratzenhaftes Aeußere auf eine innere Verworrenheit. Wer sich in einer solchen unnützen Maskerade gefällt und sich zu den hergebrachten Formen nicht bequemen mag, der hat sonst was Schiefes im Kopfe; den Baiern mag’s verziehen sein, dort ist’s eine Art von Hofuniform.“

Wie lachte Preller, als ich ihm einst diese Tagesnotiz mittheilte! „Goethe ahnte nicht,“ bemerkte er, „daß es die Pockennarben waren, die ich mit dem Barte zu verdecken suchte.“ Hatte das damalige Aeußere des Künstlers den altem Herrn unangenehm berührt, so war doch sein Interesse für ihn, seine Anerkennung von Preller’s Talent und Streben gleich warm geblieben wie ehedem, und am 29. Juli desselben Jahres schrieb er über ihn an Kestner nach Rom: „Der gute Preller scheint sich hier ganz thätig einzurichten, ist schon durch einige Bestellungen in Beschäftigung gesetzt, und ich werde nicht verfehlen, ihm, nach Gelegenheit der Umstände, treulich beizustehen. Das einzige Bedenkliche find’ ich, daß auch er seiner eigenen Neigung zu sehr nachgegeben, die ihn in’s Einsame, Wüste hintreibt, was er auch ganz wacker und tüchtig darstellt, was aber den gebildeten Menschen der neueren Zeit nicht gerade zusagt; und am Ende will denn doch der Künstler Abnehmer haben, auf deren Wünsche, die nicht immer ganz unvernünftig sind, er doch einige Rücksicht zu nehmen hätte.“

Goethe war und blieb der Freund und Beistand Preller’s. Als der Dichter schon im nächsten Jahre starb, war Preller der einzige, der die Erlaubniß erhielt, den Entschlafenen auf dem Paradebett zu zeichnen. So entstand die unvergleichlich schöne, künstlerisch vollendete und zugleich treue und charaktervolle Umrißzeichnung von dem mit dem Lorbeerkranz geschmückten Haupte des Dichters. Verehrung und Liebe haben dabei den Bleistift geführt. War der große Mann, der auf Preller’s Leben so anregend und leitend eingewirkt hatte, dahingeschieden, die empfangenen Anregungen, die unter seiner Leitung gewonnenen Natur- und Kunstanschauungen blieben ihm, und in diesem Geiste erklomm er immer höhere Stufen künstlerischer Bildung. In diesem Geiste vertiefte er sich in die Antike und schuf in den Jahren 1832 bis 1834 die sieben Odyssee-Fresken im Römischen Hause zu Leipzig – in diesem Geiste schmückte er im Jahre 1836 das Wieland-Zimmer im Schlosse zu Weimar mit jenen reizenden Darstellungen aus dem Oberon aus, die zu dem Schönsten gehören, was die sogenannten Dichterzimmer bieten. Hier wie dort war mit tiefem Sinn, mit Großartigkeit der Anschauung und Ausführung die Heiterkeit, Anmuth und Lieblichkeit, welche Goethe einst in den Werken des jugendlichen Maler vermißt und so dringend empfohlen hatte, auf das Glücklichste vereint. Das Jahr 1837 führte Preller nach Rügen, das Jahr 1840 mit seinen Freunden, den talentvollen Weimarischen Malern Hummel und Thon, noch Holland und Norwegen, und beide Reisen boten ihm, der mit echt künstlerischem Auge die charakteristischen Seiten der Natur zu erfassen wußte, reiche Motive zu neuen künstlerischen Schöpfungen, zu jenen Bildern, auf denen die markige und gewaltige Natur des Nordens kraftvoll und doch poetisch hervortritt.

Von demselben edlen, harmonischen Geiste ist auch Preller’s Meisterwerk, der Cyklus von Wandgemälden zur Odyssee durchdrungen, welcher die nördliche Gallerie des Weimarischen Museums als dessen höchste Zierde einnimmt – jene gewaltige Schöpfung, die, um mich eines treffenden Ausdrucks Jordan’s zu bedienen, als eine der genialsten Thaten des deutschen Geistes den Namen Preller’s denen der erlauchtesten Meister beigesellt.

Die Dankbarkeit und Verehrung, welche Preller für den Altmeister deutscher Dichtung allezeit hegte, hat er bei jeder Gelegenheit durch künstlerische Nachbildung Goethe’scher Ideen bekundet; eine Zeichnung vom Erlkönig, eine andere zum Gedicht „Der Fischer“ und die schöne Bleistiftzeichnung des Innern von Goethe’s Garten am Park, die er „als Wehrmann der zweiten Compagnie 1848“ dem damaligen wackern Commandanten der Weimarischen Bürgerwehr, seinem Freunde Major Kämpfer, widmete, sind Zeugnisse hiervon.

Er bekundete jene Dankbarkeit und Verehrung für Goethe noch im Alter auch durch das warme und lebhafte Interesse, welches er meiner kleinen Sammlung von Erinnerungen an Goethe, Schiller und Karl August schenkte. Bald besuchte er mich allein, um alles Einzelne mit mir durchzugehen und zu besprechen, bald führte er mir seine Familie oder Freunde zu, und immer liebenswerther, immer verehrungswürdiger erschien er mir als Mensch wie als Künstler. Jedes seiner Worte war geistreich und bedeutend, jede seiner Aeußerungen von der innigsten Hingebung an Goethe und dessen Poesie erfüllt.

Bekanntlich hat Goethe von Jugend auf auch Zeichnen und Malen mit Eifer und Liebe geübt. Eine größere Anzahl von Handzeichnungen, die er in Italien geschaffen, hat er meinem Oheim, Rath Kräuter, seinem ehemaligen Secretär, am 28. August 1825 als Andenken geschenkt; sie bilden einen wesentlichen Theil meiner Sammlungen. Sie waren es, welche das Interesse Preller’s zunächst auf sich zogen. Es fesselte ihn der poetische Gedanke, der jedem dieser Bilder zu Grunde liegt, und an mehreren derselben, wie namentlich an dem reizenden Portrait der schönen Mailänderin (von welchem die „Gartenlaube“ im Jahrg. 1869, Nr. 51 eine Copie von Thumann’s Meisierhand gebracht hat), an der Federzeichnung eines Dörfchens und derjenigen eines prächtigen Säulencapitäls rühmte Preller auch die sorgfältige, echt künstlerische Ausführung. Sein Interesse war hiernächst der Sammlung von Goethe-Portraits, sowie der Portraitbüste Goethe’s, zu deren Herstellung der Dichter dem Bildhauer Weißer die Abformung des Gesichts gestattet hatte, vor Allem aber den Manuskripten Goethe’scher Dichtungen und den treuherzigen Briefen der guten Frau Rath in Frankfurt zugewandt. Als werthes Freundschaftsgeschenk Preller’s bewahre ich die von ihm mit den prächtigen Compositionen versehene Odyssee, welche er mir heimlich unter den Christbaum hatte legen lassen; er verrieth mir bei dieser Gelegenheit, daß sein Lieblingsbild die Scene der Nausikaa wäre, die auf Motiven von dem bei wiederholtem Aufenthalte in Italien stets gern von ihm besuchten Bajä beruht. Aber auch meine Goethe-Sammlung wollte er vermehren, er versprach mir eine Copie seines vorerwähnten Goethe-Bildes, indem er mir über das letztere in seiner eigenthümlichen kernigen Art Folgendes mittheilte: Die Zeichnung des lorbeergeschmückten Hauptes des todten Dichters hätte er in einem Skizzenbuche verwahrt und als ein Heiligthum gehütet. Eine mit Empfehlungen von Bettina von Arnim ihn besuchende Berliner Dame hatte aber, wie er mir erzählte, bei Durchgehung seiner Skizzenbücher mittelst rascher, heimlicher Durchzeichnung dem Buche eine sehr schlechte Copie jenes Bildes unberechtigter Weise entnommen und darauf Bettina einen Stich nach dieser Copie dem von ihr anonym herausgegebenen „Tagebuch“ beigegeben. Der erzürnte Maler hatte sodann Bettina, als sie ihn einige Zeit nachher besuchen wollte und auf seinen Vorhalt den Mißbrauch seines Bildes zugestehen mußte, in seiner originellen und derben Weise fortgewiesen.

Für meine Sammlung fertigte er jetzt mit eigener Hand nach dem Originale (dessen photographische Vervielfältigung zu mildem Zwecke er darauf der Frau Arnemann überließ) eine treue Copie des Goethe-Bildes. Sie hat unter anderen Goethe-Andenken den Ehrenplatz von mir eingeräumt erhalten – ist sie mir doch eine dreifach theuere Erinnerung: an den zehn Jahre später heimgegangenen großen Künstler, an den dargestellten Dichterfürsten und an eine unvergeßliche Stunde meiner eigenen frühesten Kindheit.

Es war im Frühjahr 1832 (wie ich später erfuhr: am. Montag, 26. März 1832), als mein Vater mich, den fast sechsjährigen Knaben, eines Morgens nach dem „Frauenplane“ in Weimar führte. Mein Onkel Kräuter empfing uns und geleitete uns in ein großes Haus. Dort, wo viele Leute zusammengedrängt standen, nahm mich mein Vater auf den Arm, damit ich freien Blick haben möchte, und athemlos sah ich ein mir völlig neues, [168] feierliches Bild. In schwarz ausgeschlagener Halle lag auf einem Paradebett ein Greis in weißem, glänzendem Anzuge, den unteren Theil des Körpers mit schwarzem Sammet bedeckt, das Haupt mit einem Lorbeerkranz umwunden. Dahinter glänzte von einem Postament ein Lorbeerkranz aus Gold und Smaragden, und von einem hoben Altar, umgeben von Cypressen, eine mit Blumen umwundene goldene Lyra. Rechts und links vom Bett stand eine Reihe schwarzgekleideter Männer als Ehrenhüter, und die Lichter auf Armleuchtern neben dem Paradebette verbreiteten über die ganze Scene ein wunderbares Licht. Alles war so still, so stumm – auch der Mann auf dem Bette regte sich nicht. Man flüsterte, er sei todt; ich verstand es nicht – mir schien es, als ob er sanft schlummere. Tiefergriffen verließ ich mit dem Vater wieder das Haus. Die Scene hat sich unauslöschlich meiner Seele eingeprägt; noch jetzt sehe ich sie vor mir wie damals; war es doch der erste Todte, den ich in meinem Leben gesehen, und dieser erste Todte war – Goethe.

Ich besitze noch ein Blatt von jenem Lorbeerkranz, den der große Dichter damals trug, noch eine Locke, die ihm im Tode abgeschnitten worden, doch das volle, ganze Bild des Entschlafenen in all seiner Würde, die ganze Scene der Ausstellung in der schwarz ausgeschlagenen Hausflur des Goethe-Hauses wird von Preller’s Zeichnung hervorgezaubert. Er übersandte mir dieselbe am 14. Mai 1868 mit den Zeilen:

„Sie haben mir erlaubt, Ihre unvergleichliche Goethe-Sammlung durch einen kleinen Beitrag zu vergrößern, und so möge denn das lange Zeit gewanderte Portraitchen bei Ihnen einziehen und das Plätzchen einnehmen, welches ihm eigentlich gehörig ist. Ich wünschte wohl einen Theil von dem beifügen zu können, was mir die kleine Zeichnung seit einer Reihe von Jahren in stillen Stunden erzählt hat. Einiges davon habe ich in meinen künstlerischen Arbeiten festzuhalten versucht, und damit will ich auch fortfahren, so lange ich noch den Pinsel halten kann.“

Wie hat er bis zu seinem am 23. April 1878 eingetretenen Tode treulich Wort gehalten, der wackere Meister! Auf der Antike wie auf Goethe’schem Geist beruhend, prangt dort, wo Goethe’s „Iphigenie“ entstand, die großartige Wiedergabe von Homer’s Epos als das größte Meisterwerk des genialen Malers.




Blätter und Blüthen.



Eine Säcularfeier eigener Art wird am 4. März in der Stadt Magdeburg stattfinden. An diesem Tage begeht daselbst der Buchhändler Wilhelm Heinrichshofen in seltener Frische und Rüstigkeit seinen hundertsten Geburtstag, der auch weit über die Grenzen der Stadt Magdeburg hinaus, zumal in buchhändlerischen und künstlerischen Kreisen, rege Theilnahme finden wird.

Der Säculargreis wurde am 4. März 1782 zu Müllverstädt bei Mühlhausen in Thüringen geboren und stammt aus einer ursprünglich österreichischen Adelsfamilie. Einer seiner Vorfahren verließ im Anfang des vorigen Jahrhunderts Heimath und Besitz, um nach Sachsen auszuwandern und daselbst zu Luther’s Lehre überzutreten. Seitdem wandten sich die Vorfahren des Jubilars ausschließlich dem geistlichen Stande zu. Auch er selbst wurde dazu bestimmt, als ein Brief des dem Vater befreundeten Buchhändlers G. C. Keil in Magdeburg eine plötzliche Wendung in seinem Leben herbeiführte. „Wilhelm mag nur,“ heißt es in diesem Briefe aus dem März 1797, unverzüglich nach Magdeburg kommen. Er wird auf dem Wege des Buchhandels leicht mehr finden, als ihm die Laufbahn des Theologen je gewähren kann.“ Der Vorschlag wurde angenommen, und nach einer sechstägigen Reise auf einem mit Leinwand überzogenen Karren gelangte der fünfzehnjährige Knabe mit zehn Thalern in der Tasche mehr todt als lebendig in Magdeburg an. Daselbst stieg er im Gasthof zum „Großen Christoph“ ab, welcher später sein Eigenthum und von ihm zur Buchhandlung umgewandelt wurde.

Im Jahre 1807 kam er nach dem Tode G. C. Keil’s in den Besitz der Buchhandlung und hat dieselbe bis 1876, seit 1840 im Verein mit seinem Sohne Theodor, verwaltet. Sein Hauptfeld buchhändlerischer Verlagsthätigkeit war das theologische. Predigten von Ahlfeld, Schleiermacher, Arnd, Dräseke, Eylert, Theremin, Westermeyer, Krummacher, Tholuck und Andern sind bei ihm erschienen. Auf seinen Betrieb entstand das große Handwörterbuch der deutschen Sprache von Heyse, sowie die „Encyklopädie der classischen Alterthumskunde“ von Schaaff. Die „Betrachtungen über die trostvollen Wahrheiten des Christenthums bei der letzten Trennung von den Unsrigen“ von Eylert, dem Biographen Friedrich Wilhelm’s des Dritten, erlebten fünf Auflagen und machten die Königin Luise zuerst mit dem Verfasser bekannt. Auch der dritte Band von Goethe’s Gesprächen mit Eckermann erschien anfangs bei ihm. Ebenso trugen die pädagogischen Schriften von Probst Zerenner, sowie gute Uebersetzungen Plutarch’s, Tibull’s und Anderer, die Werke Delbrück’s, des Erziehers des Königs Friedrich Wilhelm’s des Vierten, wesentlich dazu bei, seine Firma zu einer der geachtetsten in Deutschland zu machen.

Eine Reihe Buchhändler ist aus seiner Schule hervorgegangen, unter Anderen Brockhaus (Korn) in Breslau, Weber in Bonn, Büchting in Nordhausen, Al. Cosmar in Berlin, Hänel in Berlin, Morin in Stettin, Jul. Schuberth in Hamburg, G. Schlawitz in Berlin, Otto Meißner in Hamburg, G. Reusche in Leipzig, E. Focke in Chemnitz, Th. Kay in Cassel. Dazu machte sein regelmäßiger Besuch der Leipziger Messe den alten Herrn mit der Zeit zu einem wahren Mittelpunkt der deutschen Buchhändler. Das Vertrauen, welches ihm entgegengebracht wurde, beweist seine vielmalige Wiederwahl in den Vergleichsausschuß, sowie eine große Anzahl von Anerkennungsschreiben. „Wir haben in die Tafeln der Geschichte unseres Handelsplatzes.“ heißt es in einem derselben, welches der Rath der Stadt Leipzig den 1. Januar 1858 an Heinrichshofen richtete, als dieser die Leipziger Messe zum fünfzigsten Male besuchte, „die seltene Thatsache einzutragen, daß Sie ein halbes Jahrhundert hindurch die Buchhändlermessen unserer Stadt besucht und während dieses langen Zeitraumes durch den Umfang wie die Ehrenhaftigkeit Ihres Geschäftsbetriebes zur Erhöhung der Bedeutsamkeit dieser alljährlichen Vereinigung deutscher Buchhändler wesentlich mit beigetragen haben.“ Seitdem ist er noch achtzehnmal in Leipzig gewesen.

Trotz dieser großen Thätigkeit im Geschäft wußte er sich zu einem Hauptförderer der Kunst aufzuschwingen. Sein Haus war lange Jahre hindurch der Mittelpunkt des musikalischen Lebens der Stadt, und fast alle Künstler, welche unser Jahrhundert auf diesem Gebiete hervorgebracht hat, sind, soweit sie sich vorübergehend in Magdeburg aufhielten, in seinem Hause eingekehrt: in seiner Autographensammlung finden sich Namen wie Iffland, Holtei, Immermann, Henriette Sontag, Catalani, Schroeder-Devrient, Paganini, Lortzing, Marschner, Liszt, Spohr, R. Wagner, Rubinstein, Hummel und andere. Diese Vorliebe des Vaters für die Musik gab auch dem Sohne den Anstoß, den Verlag mehr der musikalischen Seite zuzuwenden.

Was aber den Greis Allen, welche ihn näher kennen, lieb und werth macht, ist sein wohlthätiger Sinn und eine seltene Bescheidenheit. Abgesehen davon, daß er von dem Adel seiner Vorfahren nie Gebrauch gemacht hat, lehnte er auch den Titel eines Commerzienrathes ab, und der Adlerorden, welcher ihm darnach verliehen wurde, hat nie seine Brust geziert. Ein Armer aber, der ihn ansprach, fand stets eine offene Hand. Ehre dem wackeren Alten!





Das elektrische Licht im Dienste der Photographie. Die Sonne, bisher das Symbol und Wappenbild der Photographen, läuft Gefahr, einen Concurrenten im elektrischen Lichte zu erhalten. Es ist bekannt, daß man seit langen Jahren in den Pyramiden, Katakomben und Grottentempeln Aegyptens, Indiens und Europas, sowie in Höhlen und Bergwerken photographische Aufnahmen bei elektrischem oder Magnesiumlichte bewirkt hat, die in ihrer Art sehr effectvoll waren. Für Portraitaufnahmen eignete sich das Verfahren insofern wenig, als diese künstlichen Beleuchtungsmethoden doch nur einen Bruchtheil der Sonnenhelligkeit erreichten und zu lange Sitzungen erforderten. Wer nun aber weiß, wie schwer es den meisten Personen wird, auch nur die wenigen Secunden, die bisher erforderlich waren, „stillzuhalten“, der begreift, daß die Portraitaufnahme bei elektrischem Lichte erst nach Erfindung der viel empfindlicheren Gelatine-Trockenplatten in die Praxis eingeführt werden konnte. Aber seit mehreren Jahren bereits bewirken die Photographen van der Weyde in London und Levitzky in Petersburg, woselbst sich die Sonne oft wochenlang hinter Wolken und Nebel verbirgt, Aufnahmen bei elektrischem Lichte, und die Maskenbälle haben einen neuen Reiz dadurch erhalten, daß ein Photograph in einem Nebencabinet ein mit elektrischen: Lichte erhelltes Atelier aufschlägt, um Einzelnpersonen und Gruppen in ihren phantastischen Trachten alsbald zu verewigen. Kürzlich ist nun auch in Berlin durch den Photographen van Ronzelen ein derartiges Atelier eröffnet worden, in welchem bis in die späte Nacht hinein, völlig unabhängig von Nebel und Sonnenschein, Aufnahmen bewirkt werden. In großen Städten giebt es Personen genug, die bei Tage schlechterdings nicht die Zeit gewinnen können, um sich photographiren zu lassen. Außerdem kann das elektrische Licht im Winter beim Copiren gute Dienste thun; man weiß ja, welche Noth die Photographen zur Weihnachtszeit zu haben pflegen, um durchreisenden oder verspäteten Bestellern ihr Dutzend Bilder in kurzer Frist zu liefern; das mit einer elektrischen Lampe ausgestattete Atelier kann dagegen Tag und Nacht copiren ohne Unterbrechung. In dem genannten Berliner Atelier (Friedrichs-Straße 60) dient zur Erzeugung des elektrischen Stromes im Keller des betreffenden Hauses – das Atelier befindet sich nicht mehr zum Schrecken. der Corpulenten fünf Treppen hoch auf dem Dache, sondern im ersten Stock – eine Siemens’sche elektrodynamische Maschine, welche durch eine Gasmaschine in Bewegung gesetzt wird. Starke Drähte leiten den Strom in die an der Decke des Ateliers aufgehängte Lampe, deren Licht aber nur, wenn sogenannte „Rembrandt’sche Effecte“, das heißt starke Lichter und Schatten gewünscht werden, unmittelbar auf die zu photographirenden Personen oder Gruppen fallen darf. Für gewöhnliche Aufnahmen, die den bei Tageslicht bewirkten nicht nachstehen, wird reflectirtes Licht benutzt, das einem milden Tageslichte gleichkommt und mittelst eines überallhin drehbaren Hohlspiegels nach jeder Richtung geworfen werden kann.





Ein todtkrank darniederliegender Vater bittet, ihm seinen Sohn noch einmal im Leben vor Augen zu führen. Derselbe heißt Jacob Schwarz, wurde zu Rödelhausen, Kreis Zell (Rheinprovinz), geboren, ist jetzt etwa achtzehn Jahre alt, conditionirte bis Juni 1880 als Kellner in dem „Hotel zum Anker“ in Coblenz und ging ohne polizeiliche Abmeldung nach Köln, wo er, trotz aller Nachforschungen, bis jetzt nicht ermittelt werden konnte. Möchte diese Nachricht ihn recht bald finden!



  1. „Seiger“ nennt man in Meißen und Schlesien Uhren von jeder Größe. Das Wort wird von sîgen, d. h. sinken, tröpfelnd sich abwärts bewegen, abgeleitet; es bedeutete ursprünglich wohl: Sand- oder Wasseruhr.
    D. Red.
  2. Wir ergreifen mit Vergnügen die sich uns bietende Gelegenheit, um auf das neueste wissenschaftliche Werk unseres geschätzten Mitarbeiters kurz hinzuweisen. Dr. Fr. Winkel Horn hat sich im vergangenen Jahre dem Publicum eine „Geschichte der Literatur des skandinavischen Nordens von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (Leipzig, Bernhard Schlicke) übergeben und damit dem deutschen Volke die erste erschöpfende Literaturgeschichte der Stammesgenossen eines Tegner und Runeberg geboten. War, was wir über die Wesen und Charakter der nordischen Literatur und ihrer Repräsentanten bisher im deutschen Schriftthum überliefert erhielten, ausschließlich in kurzgefaßten Charakteristiken und Würdigungen einzelner nordischer Dichter oder in allgemein gehaltenen, fragmentarischen Untersuchungen über die skandinavische Literatur niedergelegt, so begegnen wir in dem oben genannten Werke einem systematisch geordneten und feinen Gegenstand umfassend behandelnden Gesammtgemälde des literarischen Schaffens in Schweden, Norwegen und Dänemark. Deutsches Denken und Fühlen ist dem skandinavischen in vielen Punkten so verwandt, daß eine Geschichte der Literatur des Nordens dem deutschen Volke mit Naturnothwendigkeit eine Fülle von Berührungspunkten bieten muß, und dieses Band geistiger Zusammengehörigkeit, das unser Volk mit den Bewohnern jener nördlichen Himmelsstriche Europas verbindet, giebt dem ebenso gediegenen wie interessanten Buche unseres verehrten Mitarbeiters die sichere Anwartschaft auf eine allgemeine Verbreitung in deutschen Landen.
    Die Redaction.
  3. Auswahl norwegischer Volksmärchen und Waldgeistersagen von P. Chr. Asbjörnsen. Aus dem Norwegischen übersetzt von H. Denhardt. Mit 106 Illustrationen nach Arboe, Gude, Lerche, Petersen, Schneider, Sinding, Tidemand, Werenskiold. Leipzig, Adolph Refelshöser, 1881.) – Mit gütiger Erlaubniß des Herrn Verlegers entnehmen wir diesem durch seinen werthvollen Inhalt wie durch seine künstlerische Ausstattung gleich empfehlenswerthen, hochinteressanten Werke das dem gegenwärtigen Artikel beigefügte Portrait Asbjörnsen’s. Möchte diese verdienstvolle deutsche Ausgabe norwegischer Volksmärchen den Sinn für die Poesie des Nordens in unserm Vaterlande kräftig wecken helfen!
    D. Red.