Die Gartenlaube (1880)/Heft 29
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No. 29. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Am nächsten Morgen trafen sich nur die drei Herren beim Frühstück, obschon die Abreise Oswald's auf den Vormittag festgesetzt worden war. Graf Edmund kümmerte sich auch heute nicht um die ärztliche Verordnung, die ihn an das Zimmer fesselte. Er erschien mit verbundener Hand, sonst aber ganz wohl und munter, und lachte über die Vorwürfe des Baron Heideck, der eine größere Schonung verlangte. Die Gräfin dagegen blieb heute unsichtbar. Sie litt an einem heftigen Nervenanfall, wahrscheinlich in Folge des Schreckens über die erste übertriebene Nachricht von der Verwundung ihres Sohnes.
Edmund, der bereits bei seiner Mutter gewesen, hatte sie in sehr nervöser Aufregung gefunden, und auf seine Frage, ob Oswald kommen dürfe, um sich von ihr zu verabschieden, die entschiedene Erklärung erhalten, sie sei zu leidend, um irgend Jemand außer ihrem Sohne zu sehen. Der junge Graf war in einiger Verlegenheit, als er die Nachricht seinem Vetter mittheilte. Er fühlte, wie rücksichtslos es sei, dem Scheidenden das Lebewohl zu verweigern, und meinte, die Mutter hätte sich wohl so weit überwinden können, ihren Neffen für einige Minuten zu empfangen.
Oswald nahm die Nachricht, daß er seine Tante gar nicht mehr sehen werde, sehr ruhig und ohne jede Ueberraschung auf. Er mochte wohl errathen, welchen Antheil das spurlose Verschwinden des Bildes und dessen muthmaßlicher Verbleib an diesem „Nervenanfall“ hatten. Die Gräfin hatte jedenfalls von Eberhard erfahren, daß ihr Neffe unmittelbar nach ihrer Entfernung im Zimmer gewesen und dort allein geblieben war.
Die Unterhaltung bei dem Frühstück war ziemlich einsilbig. Baron Heideck, obgleich er schließlich selbst für Oswald's Entfernung eingetreten, zeigte doch keine besondere Herzlichkeit gegen den Neffen, der seinen Willen so entschieden durchkreuzt hatte. Edmund war verstimmt wegen der Trennung, die er erst jetzt, wo sie unmittelbar bevorstand, in ihrer ganzen Schwere empfand, nur Oswald bewahrte seine ernste Ruhe. Man stand eben vom Tische auf, als der junge Graf abgerufen wurde, um den soeben eingetroffenen Arzt zu empfangen. Baron Heideck wollte folgen und dem Doctor eine größere Strenge gegen seinen leichtsinnigen Patienten einschärfen, als eine leise Bitte Oswald's ihn zurückhielt. Sobald sie allein waren, zog der letztere ein kleines, sorgfältig versiegeltes Päckchen hervor.
„Ich hatte gehofft, meine Tante noch vor der Abreise zu sprechen,“ begann er. „Da das nicht mehr möglich ist, so möchte ich Sie ersuchen, ihr eine letzte – Mittheilung zu überbringen. Ich bitte aber ausdrücklich, dies Packet nur in die eigenen Hände der Gräfin, und nur dann zu übergeben, wenn sie allein ist.“
„Was ist das für ein geheimnißvoller Auftrag?“ fragte Heideck befremdet. „Und warum wählst Du mich, nicht Edmund?“
„Weil es wohl schwerlich in den Wünschen der Tante liegen möchte, daß Edmund von der Uebergabe oder dem Inhalte dieses Päckchens etwas erfährt. Ich wiederhole meine Bitte, es ihr nur unter vier Augen zu übergeben.“
Die eisige Kälte dieser Worte und der stolze, drohende Blick, der sie begleitete, waren die einzige Rache, die der junge Mann sich erlaubte. Heideck verstand ihn natürlich nicht, aber er begriff doch, daß es sich hier um etwas Ungewöhnliches handelte, und nahm das kleine Packet an sich.
„Ich werde Deinen Auftrag ausrichten,“ sagte er.
„Ich danke!“ entgegnete Oswald zurücktretend, aber so kurz und herb, daß jede fernere Entgegnung damit abgeschnitten war. Zu einem weiteren Gespräche kam es auch nicht, denn Edmund trat bereits wieder ein, in Begleitung des Arztes, den er durchaus zuerst zu seiner Mutter führen wollte, weil deren Zustand ihn besorgt machte.
Der ärztliche Ausspruch hinsichtlich der beiden Patienten lautete indessen sehr beruhigend. Die Wunde des Grafen erwies sich immer mehr als unbedeutend, und die Gräfin litt an einem gewöhnlichen Nervenanfalle in Folge des gestrigen Schreckens. Bei Beiden waren nur Ruhe und einige leichte Mittel nothwendig, und Edmund erzwang sogar die Erlaubniß, nach Belieben sein Zimmer verlassen und seinem Vetter bis zum Wagen das Geleit geben zu dürfen.
Der Abschied von dem Baron Heideck war sehr kurz und kalt, um so leidenschaftlicher erregt zeigte sich Edmund bei der Trennung. Er bestürmte Oswald mit Bitten, auf jeden Fall zu der bevorstehenden Vermählung nach Ettersberg zu kommen, und verhieß seinerseits einen baldigen Besuch in der Residenz. Oswald nahm das mit einem trüben Lächeln hin; er wußte, daß Eins so wenig geschehen würde, wie das Andere. Die Gräfin fand sicher ein Mittel, ihren Sohn von dem beabsichtigten Besuche zurückzuhalten. Noch eine letzte herzliche Umarmung, dann rollte der Wagen davon, und Edmund empfand, als er in das Schloß zurückkehrte, die ganze Leere, welche das Scheiden des Jugendfreundes zurückließ. –
Mehr als zwei Stunden waren seit der Abreise vergangen, als Baron Heideck sich zu seiner Schwester begab, um den übernommenen [466] Auftrag auszuführen. Er hatte keine besondere Eile damit gehabt, denn bei dem gespannten Verhältniß, das zwischen Oswald und seiner Tante herrschte, bot diese „letzte Mittheilung“ voraussichtlich nichts Erfreuliches und war vielleicht nur geeignet, das Unwohlsein der Gräfin noch zu steigern. Der Baron hatte deshalb auch anfangs im Sinne gehabt, das Ganze bis zum nächsten Tage zu verschieben, aber Oswald's Blick und Ton bei der Uebergabe des Päckchens waren ihm doch so bedenklich erschienen, daß er beschloß, auf alle Gefahr hin die Sache noch heute zu erledigen. Auf seinen Wunsch hatte die Gräfin ihre Kammerfrau fortgesandt mit dem Befehle, Niemand einzulassen, und die Geschwister waren längere Zeit allein geblieben.
Die Gräfin saß bleich und angegriffen auf der Chaiselongue. Man sah es ihr an, was sie seit gestern Abend gelitten hatte und noch litt, während sie widerstandslos die Vorwürfe des Bruders über sich ergehen ließ, der mit dem geöffneten Päckchen in der Hand vor ihr stand und, zwar mit gedämpfter Stimme, aber in der heftigsten Erregung zu ihr sprach:
„Also hast Du Dich wirklich nicht von diesem unglückseligen Bilde trennen können! Ich glaubte, es sei längst vernichtet. Wie konntest Du den Wahnsinn begehen, es aufzubewahren?“
„Schilt mich nicht, Armand!“ – die Stimme der Gräfin klang wie erstickt in Thränen. „Es ist das einzige Andenken, welches ich behalten habe. Ich erhielt es mit seinen letzten Grüßen, als er – gefallen war.“
„Und um dieser Sentimentalität willen beschworst Du eine so furchtbare Gefahr über Dich und Deinen Sohn herauf? Reden diese Züge denn nicht deutlich genug? Damals, als Edmund ein Kind war, trat die Aehnlichkeit nicht so deutlich hervor, jetzt, wo er genau in dem Alter steht wie – Jener, jetzt ist sie geradezu vernichtend. Du hast freilich eine harte Lehre für Deine Unvorsichtigkeit erhalten. Du weißt, in wessen Händen das Bild war.“
„Ich wußte es seit gestern Abend. O mein Gott, was wird darauf erfolgen!“
„Nichts!“ sagte Heideck in kaltem Tone. „Das beweist Dir ja die Rückgabe. Oswald ist zu sehr Jurist, um sich nicht zu sagen, daß ein bloßes Bild noch keinen Beweis bietet, und daß sich absolut keine Anklage darauf gründen läßt. Es war trotzdem ein Act der Großmuth, daß er es zurückgab. Ein Anderer hätte es wenigstens benutzt, um Dich zu quälen und zu ängstigen. Dies Bild darf nicht existiren.“
„Ich werde es vernichten,“ sagte die Gräfin tonlos.
„Nein, ich werde das thun,“ fiel der Bruder ein indem er die Kapsel sorgfältig in der Tasche barg. „Du könntest wieder irgend einer romantischen Anwandlung erliegen. Ich habe Dich schon einmal vor einer wirklichen Gefahr retten müssen, Constanze, jetzt muß ich es vor der Erinnerung thun, die Dir fast ebenso verhängnißvoll geworden ist. Der Schatten ist jahrelang begraben gewesen, laß ihn nicht wieder auferstehen, er könnte leicht alles Glück in Ettersberg zerstören. Das unselige Andenken soll noch heute verschwinden. Edmund darf nicht ahnen, was es verschließt, so wenig wie Dein Gemahl es je geahnt hat.“
Er hatte die letzten Worte unwillkürlich lauter, mit erhobener Stimme gesprochen, brach aber plötzlich ab, denn in demselben Momente wurde die Thür, die in das Nebenzimmer führte, aufgestoßen und Edmund stand auf der Schwelle.
„Was darf ich nicht ahnen?“ fragte er rasch und heftig.
Der junge Graf hatte natürlich nicht angenommen, daß das Verbot der Gräfin, irgend Jemand zu ihr zu lassen, auch ihn betreffe. Er war eingetreten und leise, um die Mutter nicht zu stören, durch das Nebenzimmer gegangen. Bei der geschlossenen Thür und dem sorgfältig gedämpften Tone des Gespräches war es freilich unmöglich, daß er mehr gehört haben konnte, als die letzten Worte seines Onkels. Das zeigte auch der Ausdruck seines Gesichtes, das wohl Erstaunen und Befremdung, aber keinen Schrecken verrieth.
Trotzdem war die Gräfin zusammengefahren, und es bedurfte der stummen, aber bedeutsamen Mahnung ihres Bruders, der mit schwerem Drucke seine Hand auf die ihrige legte, um ihr die Fassung zu wahren.
„Was darf ich nicht ahnen?“ wiederholte Edmund, indem er schnellen Schrittes näher trat und sich an den Baron wandte.
„Hast Du uns etwa belauscht?“ fragte dieser, und auch ihm stockte der Athem, als er an eine solche Möglichkeit dachte.
„Nein, Onkel,“ sagte der junge Graf unwillig. „Ich gebe mich nicht mit Horchen ab. Nur Deine letzten Worte habe ich gehört, als ich im Begriff stand, die Thür zu öffnen. Es ist doch wohl begreiflich, daß ich zu erfahren wünsche, was sie bedeuten, und was man bisher mir, wie einst meinem Vater, verborgen hat.“
„Du hörtest ja, daß ich meine Schwester bat, es Dir zu verschweigen,“ entgegnete Heideck. der seine ganze Ruhe wiedergefunden hatte. „Es handelt sich um ein trübes Ereigniß aus unserer Jugendzeit, das wir besser für uns allein behalten. Du weißt es ja, daß unsere Jugend ernster und entsagungsreicher gewesen ist, als die Deinige. Wir haben damals so Manches durchkämpfen müssen, wovon Du keine Ahnung hast.“
Die Erklärung klang sehr glaublich und schien auch geglaubt zu werden, aber in dem Tone Edmund's lag, trotz aller Zärtlichkeit, ein tiefer Vorwurf, als er jetzt zu seiner Mutter sprach:
„Mama, ich habe bisher nicht geglaubt, daß Du ein Geheimniß vor mir hättest.“
„Quäle doch Deine Mutter nicht,“ fiel Heideck ein. „Du siehst es ja, wie angegriffen sie ist.“
„Eben deshalb hättest Du sie schonen und nicht gerade heute trübe Erinnerungen wach rufen sollen,“ gab Edmund etwas gereizt zur Antwort. „Ich kam Dir mitzutheilen, Mama, daß meine Braut und ihr Vater soeben angelangt sind. Ich darf doch Hedwig zu Dir führen? Da Du wohl genug bist, den Onkel zu empfangen, wirst Du sie jedenfalls sehen können.“
„Gewiß, mein Sohn,“ stimmte die Gräfin hastig zu. „Ich fühle mich bedeutend wohler. Bringe Hedwig sofort zu mir!“
„Ich werde sie holen,“ sagte Edmund, indem er ging, aber er wandte sich noch einmal um, und ein seltsam forschender Blick streifte über die Mutter und den Onkel hin. Es lag kein Argwohn darin, aber doch eine unbestimmte Ahnung von irgend etwas Unheilvollem.
Der junge Graf hatte schon am vergangenen Abend einen Boten nach Brunneck gesandt, mit der Nachricht, daß er sich auf der Jagd eine leichte Verletzung der Hand zugezogen habe und deshalb nicht kommen könne, ohne daß darum etwas zu besorgen sei. Aus diesem Grunde war der Oberamtsrath mit seiner Tochter nach Ettersberg gekommen, und der Anblick Edmund's, der sie heiter wie gewöhnlich empfing, zerstreute den letzten Rest ihrer Besorgnisse. Fast gleichzeitig mit ihnen war auch der benachbarte Gutsherr, bei dem der „Unfall“ stattgefunden, mit seinem Sohne vorgefahren, um sich nach dem Befinden des Patienten zu erkundigen.
Das erste Zusammentreffen des Baron Heideck mit den neuen Verwandten gestaltete sich auf diese Weise zwangloser, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Die Schönheit der jungen Braut blieb keineswegs ohne Einfluß auf den gestrengen Onkel, der trotz all seiner aristokratischen Bedenken doch der Wahl seines Neffen nicht ganz den Beifall versagen konnte. Nur dem Oberamtsrath gegenüber behielt Heideck den etwas kühlen und gemessenen, wiewohl artigen Ton bei. Die Gegenwart der Fremden machte das Gespräch überhaupt lebhafter und allgemeiner; nur Edmund war ungewöhnlich schweigsam und zerstreut, wollte aber durchaus nicht zugeben, daß dies irgendwie mit seiner Wunde in Zusammenhang stehe, sondern schob seine Verstimmung auf die Trennung von Oswald. Er mochte sich selber nicht eingestehen, daß es noch etwas Anderes war, was ihn bedrückte.
Die fremden Gäste blieben nicht allzulange, und nach einigen Stunden fuhr auch Rüstow mit seiner Tochter wieder nach Brunneck. Edmund hatte seine Braut in den Wagen gehoben und zärtlich Abschied genommen. Er war jetzt in sein Zimmer zurückgekehrt, aber es litt ihn nirgend, eine eigenthümliche Unruhe trieb ihn umher. Er hatte sich schließlich auf das Sopha geworfen und versuchte zu lesen, aber es wollte ihm nicht gelingen, den Worten und Gedanken des Buches zu folgen. Auf der sonst so wolkenlosen Stirn des jungen Grafen stand heute ein ganz ungewohnter Ausdruck, ein finsteres, quälendes Grübeln, das sich mit peinigender Beharrlichkeit immer wieder an jene Worte heftete, die vorhin im Zimmer seiner Mutter gesprochen worden waren. Was durfte er nicht erfahren? Was verbarg man so sorgsam vor ihm?
Edmund war viel zu wenig gewohnt, sich von irgend etwas bedrückt zu fühlen, irgend etwas Räthselhaftes mit sich herumzutragen, um diesen Zustand nicht unerträglich zu finden. Er
[467] warf endlich das Buch hin, stand auf und ging geradewegs zu seinem Onkel.
Baron Heideck bewohnte die Fremdenzimmer, die im oberen Stockwerke lagen, und hatte sich bald nach der Abfahrt der Gäste dorthin zurückgezogen. Er stand vor dem Kamin und war beschäftigt, das in demselben lodernde Feuer heller anzufachen. Beim Eintritt seines Neffen wandte er sich überrascht um, aber es schien beinahe, als sei diese Ueberraschung keine angenehme.
„Störe ich Dich?“ fragte Edmund, der das bemerkte.
„O, durchaus nicht,“ sagte Heideck. „Aber ich finde es sehr leichtsinnig, daß Du so gar keine Rücksicht auf Deine Wunde nimmst und überall im Schlosse herumstreifst, anstatt ruhig auf Deinem Sopha zu bleiben.“
„Ich habe ja Erlaubniß, das Zimmer zu verlassen,“ warf Edmund ein, „und ich wünschte Dich auf einige Minuten zu sprechen. Du hast ein Feuer anzünden lassen? Ist Dir das nicht zu warm, bei der heutigen milden Witterung?“
„Ich finde es schon recht kühl hier in den hohen Zimmern, besonders gegen Abend,“ meinte Heideck, indem er sich auf einen der vor dem Kamin stehenden Sessel niederließ und seinen Neffen mit einer Handbewegung einlud, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Edmund blieb indeß stehen.
„Ich möchte Dich um nähere Auskunft über die Worte bitten, die ich zufällig beim Eintritt hörte,“ begann er, ohne weitere Einleitung. „Vorhin, in Gegenwart der Mama, wollte ich nicht ernstlich darauf dringen, sie ist in der That sehr angegriffen. Jetzt aber sind wir allein, und die Sache läßt mir nun einmal keine Ruhe. Was meintest Du mit jener Aeußerung?“
Heideck runzelte die Stirn. „Ich habe es Dir ja bereits gesagt! Ich sprach von Beziehungen in unserer Familie, die überdies längst gelöst und vergessen sind, und die Dich nur peinlich berühren würden.“
„Ich bin aber kein Kind mehr,“ sagte Edmund mit ungewöhnlichem Ernste. „Und ich darf wohl jetzt beanspruchen, in die sämmtlichen Familienbeziehungen eingeweiht zu werden. Es war von einem Schatten die Rede, der das Glück hier in Ettersberg zerstören könnte. Gegenwärtig bin ich Herr von Ettersberg, also geht die Sache auch wohl mich an, und ich habe ein Recht, darnach zu fragen. Ein für allemal, Onkel – ich will wissen, um was es sich handelt!“
Das Verlangen wurde mit einer Energie kundgegeben, die sonst gar nicht in der Art des jungen Grafen lag, Baron Heideck aber zuckte nur die Achseln und erwiderte ungeduldig:
„Laß mich endlich in Ruhe mit Deinen Fragen, Edmund! Wie kannst Du Dich mit einer solchen Hartnäckigkeit an ein bloßes Wort klammern! Es war eine Aeußerung, wie sie Einem oft im lebhaften Gespräch entfährt, die aber gar keine tiefere Bedeutung hat.“
„Du sprachst aber in sehr erregtem Tone.“
„Und Du scheinst trotz Deines Protestes gegen das Horchen doch einige Minuten hinter der Thür gestanden zu haben.“
„Wenn ich mich hätte so weit erniedrigen wollen, dann wüßte ich mehr und brauchte Dich nicht um Auskunft zu bitten,“ versetzte Edmund in gereiztem Tone.
Heideck preßte die Lippen zusammen. Er mochte daran denken, was geschehen wäre, wenn sein Neffe sich wirklich zum Horchen erniedrigt hätte, aber er sah auch die Nothwendigkeit ein, dessen fernere Fragen abzuwehren, und entgegnete daher mit der kältesten Entschiedenheit:
„Die Angelegenheit betrifft hauptsächlich mich, und deshalb wünsche ich, sie nicht weitläuftig zu erörtern. Ich denke, das wird Dir genug sein und Dich verhindern, auch Deine Mutter mit Fragen zu bestürmen. Und nun laß uns darüber schweigen!“
Auf diese mit voller Bestimmtheit und zugleich mit der ganzen Autorität des ehemaligen Vormundes gegebene Erklärung ließ sich füglich nichts erwidern. Edmund schwieg auch, aber er fühlte, daß man ihm nicht die Wahrheit sagte, ihn vielmehr davon abzulenken suchte. Trotzdem sah er ein, daß von dem Onkel nichts zu erreichen war, und daß er sein Forschen vorläufig aufgeben mußte.
Heideck schien geradezu jede Fortsetzung des Gespräches unmöglich machen zu wollen. Er hatte das Schüreisen ergriffen und begann in sehr geräuschvoller Weise das Feuer zu schüren. Die Art, wie er das that und wiederholt auf die Platte des Kamins und in die Flammen stieß, zeigte, daß die kalte Ruhe, die er zur Schau trug, nur eine äußerliche war. Seine Bewegungen verriethen die heftigste Ungeduld und eine nur mühsam verhaltene Gereiztheit. Dabei beugte er sich unvorsichtig allzu weit vor, und als das Feuer jetzt plötzlich mit voller Gewalt aufflackerte und sprühte, zog der Baron zusammenzuckend mit einem halb unterdrückten Schmerzenslaut die Hand zurück.
„Hast Du Dich verbrannt?“ fragte Edmund aufblickend. Heideck betrachtete seine Hand, an der sich allerdings eine leichte Brandwunde zeigte.
„Der Kamin ist höchst unpraktisch eingerichtet!“ rief er, seinem Aerger Luft machend, und riß mit derselben nervösen Hast wie vorhin das Taschentuch aus seiner Brusttasche, um es auf die kleine Wunde zu drücken. Mit dem Tuch zugleich wurde aber auch ein anderer Gegenstand hervorgerissen, der auf den Boden fiel und bis dicht vor Edmund's Füße rollte. Heideck bückte sich zwar sofort darnach, aber es war zu spät, sein Neffe war ihm bereits zuvorgekommen und hatte die Kapsel aufgehoben, deren längst schlaff gewordene Feder bei dem Fall nachgegeben hatte – der Deckel war aufgesprungen. Es mußte doch wohl ein Verhängniß über diesem unseligen Bilde walten. Unmittelbar vor seiner Vernichtung gerieth es in die Hände dessen, der es nie hätte erblicken sollen!
„Mein Bild?“ fragte Edmund mit dem äußersten Erstaunen. „Wie kommst Du dazu, Onkel?“
Aus dem Antlitz des Barons war alle Farbe gewichen, aber nur für einen Augenblick. Er wußte, was hier auf dem Spiele stand. Mit Aufbietung all seiner Willenskraft gelang es ihm, die Fassung zu behaupten, und so erwiderte er, den Irrthum benutzend:
„Nun ja! Weshalb soll ich Dein Portrait nicht besitzen?“
Zugleich machte er einen raschen Versuch, die Kapsel aus der Hand des jungen Grafen zu nehmen aber dieser trat zurück und verweigerte die Herausgabe.
„Aber ich habe ja niemals dazu gesessen?“ warf er ein. „Und was soll die Uniform, die ich nie getragen habe?“
„Edmund, gieb mir die Kapsel zurück!“ sagte Heideck kurz und befehlend, und streckte von Neuem die Hand darnach aus; allein vergebens. Wäre jener Vorfall im Zimmer der Gräfin nicht gewesen, so hätte sich Edmund wahrscheinlich leicht durch irgend eine Ausflucht täuschen lassen, denn Argwohn und Mißtrauen lagen seiner offenen Natur unendlich fern. Jetzt aber war ihm Beides eingeflößt worden, jetzt wußte er, daß irgend etwas Geheimnißvolles, Unheimliches über ihm schwebte. Sein Instinct sagte ihm, daß es in Zusammenhang mit diesem Bilde stehe, und er verfolgte hartnäckig die einmal gefundene Spur, freilich ohne vorläufig zu ahnen, wohin sie führte.
„Wie kommst Du zu dem Bilde, Onkel?“ fragte er zum zweiten Male, aber diesmal in gesteigertem Tone.
„Das werde ich Dir sagen, wenn Du es mir zurückgegeben hast,“ lautete die scharfe Erwiderung.
Statt aller Antwort trat Edmund aus der Mitte des dämmernden Zimmers an das Fenster, wo noch das volle Tageslicht weilte, und begann, wie Oswald es gestern gethan hatte, Zug um Zug und Linie um Linie zu prüfen.
Es folgte eine lange, schwere Pause. Heideck umfaßte krampfhaft die Lehne des Sessels, von dem er aufgespungen war. Er mußte schweigend zusehen, denn er sagte sich, daß ein gewaltsames Einschreiten seinerseits Alles verderben würde; aber es war eine Tortur, die er ausstand.
„Bist Du nun endlich fertig?“ fragte er nach Verlauf von einigen Minuten, „und werde ich die Kapsel zurück erhalten?“
Edmund wandte sich um.
„Das ist nicht mein Bild,“ sagte er langsam, jede Silbe schwer betonend. „Es ist nur eine unglaubliche, unerhörte Aehnlichkeit, die im ersten Augenblick täuscht. Wen stellt es dar?“
Baron Heideck hatte die Frage kommen sehen und sich darauf vorbereitet, er entgegnete deshalb ohne Zögern:
„Einen Verwandten, der seit langen Jahren todt ist.“
„Einen Ettersberg?“
„Nein. Ein Mitglied unserer Familie.“
„So? Und weshalb habe ich nie von diesem Verwandten und von dieser seltsamen Aehnlichkeit gehört?“
„Wahrscheinlich durch Zufall! Mein Gott, so starre doch nicht fortwährend auf das Bild! Solche Aehnlichkeiten kommen ja unter Verwandten öfter vor.“
[468] „Oefter?“, wiederholte Edmund mechanisch. „War dies vielleicht das ,unselige Andenken‘, das noch heute verschwinden sollte? Es sollte wohl in den Flammen dort verschwinden und Du hast deswegen das Feuer anzünden lassen?“
Die Todtenblässe des jungen Grafen, seine völlig erloschene Stimme zeigten, daß er Schritt für Schritt dem Abgrunde näher kam, wenn er auch wohl noch nicht dessen ganze Tiefe ermaß. Heideck sah das und machte einen letzten, verzweifelten Versuch, ihn davon zurückzureißen.
„Edmund, jetzt ist meine Geduld zu Ende!“ sagte er, zur anscheinenden Gereiztheit seine Zuflucht nehmend. „Du verlangst doch wohl nicht im Ernste, daß ich Dir auf dergleichen tolle Phantasiegespinnste antworte?“
„Ich verlange, daß mir das Geheimniß dieses Bildes gelöst wird,“ rief Edmund, sich gewaltsam zusammenraffend. „Ich will wissen, wen es vorstellt. Du wirst mir Antwort geben, Onkel! Jetzt, in dieser Minute wirst Du das thun, oder Du treibst mich zum Aeußersten!“
Heideck zermarterte vergebens seinen Kopf, um irgend eine Ausflucht zu ersinnen. Er war nicht geschickt im Lügen und fühlte überdies, daß sein Neffe sich nicht mehr täuschen ließ. Die einzige Möglichkeit, die ihm noch blieb, war, Zeit zu gewinnen.
„Du sollst es später erfahren,“ sagte er ausweichend. „Jetzt bist Du allzu sehr erregt, bist noch krank an den Folgen Deiner Wunde. Jetzt ist keine Zeit, dergleichen zu erörtern.“
„Du verweigerst mir also die Antwort?“ brach Edmund los, plötzlich zur wildesten Heftigkeit übergehend. „Du kannst und willst sie mir nicht geben? Nun denn, so werde ich meine Mutter fragen – sie soll mir Rede stehen!“
Er stürzte aus dem Zimmer und stürmte die Treppe hinab; ehe der Oheim es verhindern konnte. Dieser eilte zwar sofort nach, aber es war vergebens. Als der Baron die Zimmer seiner Schwester erreichte, hatte Edmund die Thür des Salons bereits hinter sich abgeschlossen. Es war unmöglich, auch nur zu hören, was in dem zweiten dahinter liegenden Gemache vorging. Heideck sah ein, daß er jede Einmischung aufgeben müsse. Das Verhängniß ging seinen Gang.
„Das giebt ein Unglück,“ sagte er dumpf. „Arme Constanze, ich fürchte, Du wirst in dieser Stunde schwerer gestraft, als Du je gefehlt hast.“
Eine Jubiläumshuldigung.[1]
Im Tübinger Ballhause, wo sich früher Samstag Abends die jüngeren Universitätslehrer zu treffen pflegten, sah man vor etwa fünfundfünfzig Jahren häufig zwei jugendliche Docenten der beiden theologischen Facultäten neben einander sitzen, in Gespräche über Vorzüge und Schattenseiten ihrer Kirchen vertieft. Der eine Dr. Adam Möhler aus dem württembergisch gewordenen Orte Mergentheim, ein feuriger Katholik, hatte sich damals mit voller Kraft auf das Studium der Systeme der protestantischen Theologen, vor Allem Schleiermacher’s, geworfen und glaubte aus ihnen mit wissenschaftlicher Folgerichtigkeit die innere Haltlosigkeit des Protestantismus, die Unmöglichkeit einer protestantischen Kirche erweisen zu können.
Der andere, Dr. Karl Hase, ein Sachse aus der Nähe des Erzgebirges, fand, obwohl Protestant und begeistert von der Heldengestalt Luther’s, doch eine besondere Lust daran, Glauben und Leben der katholischen Kirche, deren weltgeschichtliche Bedeutung er zu würdigen wußte, bis in’s Einzelnste kennen zu lernen, dessen gewiß, daß aus dem wissenschaftlichen und sittlichen Gesammtbewußtsein des Zeitalters die Nothwendigkeit des Protestantismus als ihres Gegensatzes von selbst hervorgehen müsse.
Das Nebeneinander katholisch- und protestantisch-theologischer Facultäten an einer und derselben Universität war damals noch neu in deutschen Landen und bestand ohne irgendwelche Trübung im collegialischen Verkehr; man hatte sich in den Jahren der Fremdherrschaft, welche die Zusammenwürfelung katholischer und protestantischer Landschaften und damit jene bedeutsame Universitätsreform, im Gefolge gehabt, vertragen gelernt. Und vielleicht fand Möhler bei seinem Gegner im Ballhause ein willigeres Ohr für seine theologischen Speculationen, als bei den meisten Autoritäten damaliger katholischer Wissenschaft, sicher aber fand Hase bei Möhler mehr Theilnahme, als bei den altväterischen Häuptern der Tübinger evangelisch-theologischen Facultät, die immer noch die Köpfe schüttelten, daß ein junger sächsischer Candidat, wo nicht von catilinarischer, doch von ungesicherter Existenz und jedenfalls sehr zweifelhafter Rechtgläubigkeit, es hatte wagen dürfen, mit nichts als dem leichten Ränzchen auf dem Rücken und den Hund zur Seite, in die schwäbische Universitätsstadt einzuwandern und hier, wo man nur von der Regierung besoldete Privatdocenten kannte, natürlich nur Inländer, es als Ausländer hatte durchsetzen können, bei der einzigen gläubigen Facultät Deutschlands als Privatdocent aufzutreten.
Die junge Universität aber hörte bei ihren Samstagzusammenkünften jene Beiden gern streiten, zumal sie sich inmitten der heiteren Umgebung immer wieder freundschaftlich zusammenfanden – höchstens, wenn der junge Dr. Autenrieth, der Sohn des Kanzlers, mit dem Worte in ihre Unterhaltung fiel: „Aber Möhler, heirathen darfscht doch nicht!“ wurde Möhler wehmüthig stille, und die Freunde flüsterten einander zu, daß er seinem Priesterthum eine tiefe Jugendleidenschaft geopfert hatte.
Zehn Jahre weiter – und Möhler, der stets den Geist der Duldung bewahrt, auch 1830 kein Bedenken getragen hatte, sammt den übrigen Mitgliedern der katholischen Facultät auf Einladung der evangelischen das Jubelfest der Augsburgischen Confession mitzufeiern, war durch seine „Symbolik“ und die ihretwegen mit den berühmtesten protestantischen Theologen ausgefochtenen Kämpfe der gefeiertste katholische Kirchenlehrer der Zeit, bis nach seinem frühen Tod (1841) die geistige Führerschaft in der katholischen Theologie auf seinen Freund Döllinger überging. Gleichfalls ein Jahrzehnt nach seiner Tübinger Begegnung hatte Hase mit seiner „Kirchengeschichte“ (1834), die, wie noch kein Werk auf diesem Gebiete, das Culturleben der Völker in weitestem Umfang in den Kreis geschichtlicher Betrachtung zog, auf einen Schlag seine Berühmtheit begründet. Fortan verbindet sich mit seiner Person der Begriff eines Mannes, der, wie nie vor ihm ein Protestant, den Geist der römischen Kirchenpolitik bis in die entlegensten Schlupfwinkel zu verfolgen verstand; und er hat später vor Allem in seinem „Handbuch protestantischer Polemik gegen die römisch-katholische Kirche“ das wissenschaftliche Waffenarsenal aufgespeichert, für den deutschen Culturkampf – der Moltke in der Geisterschlacht wider die römische Hierarchie.
Karl August Hase wurde am 25. August 1800 als der älteste Sohn des Pfarrers in Steinbach, an einem Abhang des Erzgebirges, geboren. Familienüberlieferung war, daß die Hases „von lauter Pfarrern“ stammen; in verschiedenen Zweigen, Pfarrer auf Pfarrer, hatten sie seit zwei Jahrhunderten in Sachsen und Thüringen geistliche Stellungen eingenommen. Bisweilen hatte wohl einer des Geschlechts den Ring durchbrochen, wie denn Karl Benedikt Hase, ein Vetter unseres Karl, in Jena 1802 die Theologie an den Nagel hing, mit wenigen Thalern nach Paris wanderte und sich dort allmählich zu einem der größten Sprachenmeister des Jahrhunderts herangebildet hat – von Napoleon dem Ersten bis Napoleon dem Dritten, dessen Lehrer er war, der Bewahrer aller handschriftlichen Schätze der Pariser Bibliothek. Indeß die meisten harrten im geistlichen Berufe aus. Auch unserm Hase, dessen Vater und Großvater Pfarrer im Patronate des Grafen von Einsiedel, dessen Mutter eine Pfarrerstochter aus
[469]Windischleuba, wird bei seiner Geburt in den Pathenbrief geschrieben: „Folge dem Beispiel Deines Vaters und verkündige einst die Lehren des göttlichen Heilands.“
Aber der kleine Karl steht erst im dritten Jahre, als der Vater stirbt; jedes Kindes Erbtheil beträgt – fünfzig Thaler.
„Sorgen Sie für meine Frau,“ hatte der Scheidende zu seinem Amtsnachbar gesagt; „und meine Kinder? Nun, Gott ist groß und die Welt ist überall.“
Ein Freund des Hauses, Gerichtsdirector Dienemann in Penig, nimmt das Knäbchen als Pflegekind in’s Haus, und so geht es ihm einige Jahre gut. Aber schon wirft der Weltkrieg auch hierher seine Schatten. Ein Sohn Dienemann’s, Buchhändler in St. Petersburg, hat unvorsichtiger Weise Exemplare von Bülow’s „Feldzug von 1805“ ausgelegt, das Geschäft wird ihm deshalb mit barbarischer Strenge confiscirt, der Vater verbürgt sich bei seinen Gläubigern und wird plötzlich von der großen Buchhandlung Breitkopf und Härtel in Leipzig mit Wechselarrest belegt. Als der Bevollmächtigte derselben in das Haus tritt, sitzt da ein armer um Gotteswillen ernährter Junge, der nicht ahnt, daß er einst Mitbesitzer dieser Firma werden und daß dieselbe seine Werke drucken soll.
Für’s Erste war sein Glück gestört. Ein Onkel in Altenburg nimmt ihn in’s Haus, wo er von einer launischen Cousine viel zu leiden hat, zum Lernen die Lust verliert und als ein kleiner Nichtnutz gilt. Bald stirbt der Onkel, das Hauswesen löst sich auf, die Cousine verabschiedet den kleinen Vetter: „Siehst Du, nun ist der [470] Vater todt; hättest Du etwas gelernt, so wärst Du was, so ist nichts aus Dir geworden!“ Die Mutter, wieder verheirathet, sucht ihn doch in Altenburg zu halten, wo er das Gymnasium besucht, bei einem Fleischer, dann bei einem Gensd’arm auf die Stube quartiert; einmal, im Herbste 1813, hat er mit zwei andern Schülern zusammen ein Stübchen gemiethet, als – nach der Schlacht bei Leipzig – Altenburg von Soldaten überschwemmt und auch ihnen eine Einquartierung von zwei Mann angesagt wird, deren Ernährung ihnen so unmöglich erscheint, daß alle Drei davonlaufen, Jeder in seine Heimath. Zurückgekehrt, übersteht Hase das Nervenfieber, an welchem sein in den Lazarethen beschäftigter Stiefvater stirbt. Die Mutter ist wieder hülflos; dennoch hat sie den Muth, den Sohn auf dem Gymnasium zu lassen – sie denkt ihn sich als zukünftigen Pfarrer in Steinbach. Sie hofft auf den Grafen von Schönburg, zu dessen Söhnchen, Erbgraf Alban, Karl als Gespiele zugezogen worden; auch setzt bald darauf der Graf, bei seinem Tode ihm fünfzig Thaler als jährliches Stipendium aus, und so ist es ihm vergönnt, das Gymnasium zu durchlaufen, das damals unter dem berühmten Matthiä in Blüthe stand. Hase gehört bald zu Matthiä’s Lieblingen, lernt correct lateinisch sprechen und schreiben, wenn es gleich „kein römischer, sondern Hasischer Stil ist“, und vertieft sich mit Vorliebe in die griechische Dichtung, besonders in Sophokles. Aber er wird auch in die deutsche Literatur eingeführt. Eine angeborene künstlerische Anlage macht sich geltend; der Aufenthalt in Dresden, wo sein Oheim, der Kriegsrath Hase lebt, der Herausgeber eines Musenalmanachs, giebt ihm die erste Ahnung von bildender Kunst und erfüllt ihn mit heftiger Sehnsucht nach Italien, und es reifen dichterische Neigungen in ihm: beim Reformations-Jubiläum 1817 tritt er im Schulactus mit einer selbstgedichteten Ode auf; er wagt sich an die Composition eines Dramas „Coriolan“; ein anderes, „Die Wage“, versucht den tragischen Wendepunkt im Schicksal des Hauses Oranien darzustellen – er ist auf die Kniee gefallen, als er es begonnen, und hat Gott um Beistand gebeten. Fest glaubt er an seinen Dichterberuf, und die Zeit war ganz dazu angethan, diesen idealen Schwung zu nähren. Es hatte ihn geschmerzt, als er reifere Mitschüler 1815 als Freiwillige in den Krieg ziehen sah, daß er zu jung für jene große Zeit; es erschütterte ihn, als sein geliebtes Sachsen durch Theilung verstümmelt wurde, und er nahm herzlichen Aerger an dem „preußischen Kukuk“ – alles das wies auf das größere Vaterland. Wie entzückte ihn da die Nachricht von der Stiftung der deutschen Burschenschaft, vom Wartburgfest, von künftigen allgemeinen Burschentagen! Jenseits aller Stammesunterschiede und des Zwiespalts der kirchlichen Bekenntnisse wollte die Jugend festhalten am gemeinsamen deutschen Vaterlande. Er hatte damals mit zwei Mitschülern, erlesenen Jünglingen, einen Freundschaftsbund für das Leben geschlossen, mit dem tiefsinnigen Ferdinand Herbst und dem heldenkühnen Robert Müller[2]; griechische Lebensherrlichkeit wollten sie mit christlicher Gläubigkeit und vaterländischer Gesinnung verbinden. Auf einer etwas hochgelegenen Wiese zwischen Altenburg und Zeitz weihen sie ein Plätzchen als ihren Lieblingsaufenthalt, und ahnungsvoll hat sich’s erfüllt im Leben, was Jeder nach dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens als Sinnwort in eine Erle schnitt: Fides, Constantia, Robur (Treu’ und Glaube, Beharrlichkeit, Kraft). Wir haben es mit dem Manne der Constantia, der Beharrlichkeit zu thun, deren er dringend bedurfte. Denn im Begriff, die Universität zu beziehen und nur auf die fünfzig Thaler des Grafen Schönburg gestellt, sah er „einiger Hungersnoth“ entgegen.
Ohne besondere Neigung zur theologischen Wissenschaft, dachte er doch, den Wünschen der Mutter gemäß und weil eine Landpfarrei ihm das glückliche Eiland zur Ausführung seiner dichterischen Pläne dünkte, das theologische Studium aufzunehmen. Aber der Pflegevater Dienemann, in dessen Hause er die Ferien verlebte, widerrieth: „Ein Theolog muß entweder heucheln oder verkümmern.“ Der angehende Student freute sich auf nichts so sehr, wie auf die Burschenschaft – der Pflegevater wußte nicht Worte genug der Zunge zu finden, um auf die unreifen Burschen zu schelten, die „ohne politische Kenntnisse über vaterländische Verhältnisse urtheilen wollen“.
Wirklich läßt sich Hase als Jurist in Leipzig einzeichnen und hilft seinem Pflegevater die Ferien über in dessen Expedition, wobei ihn dieser mit dem processualischen Formwesen gründlich bekannt macht, allein eben dadurch ihm die Rechtswissenschaft verleidet. Der Student der Rechte geht im Herbst 1818 nach Leipzig, um Theologie zu studiren.
Aber trübe genug lag’s auf seinen ersten Semestern; er hat lange einen Dolch bei sich getragen, für den Fall, daß es zu trübe komme. Er gehörte zu den sogenannten „Paulinermusen“, jenen in die Zellen des Paulinums für wenige Thaler aufgenommenen Studenten mit einem Stübchen, dahinein nie die Sonne geschienen. Auch hat er in seiner Armuth nie ein Collegienhonorar bezahlen können. In die Burschenschaft kaum eingetreten, hat er wieder austreten müssen, weil das schwarz-roth-goldene Band jede Unterstützung, deren er dringend bedurfte, zu vereiteln schien. An den theologischen Vorlesungen findet er keinem Geschmack; während der berühmte Hofrath Beck seine lateinische Gelehrsamkeit über die Korintherbriefe auskramt, schläft er regelmäßig ein. Seine Lieblingsbeschäftigung bleibt das Studium der Dichter, namentlich Goethe’s und Jean Paul’s, für den er besonders schwärmt. Um für die erwählte Wissenschaft doch etwas zu thun, liest er für sich das neue Testament griechisch und schreibt eine lateinische Auslegung dazu, und dies begeistert ihn zu einem Epos „Der Glaube“. Aber als er, um ein Urtheil über seinen Dichterberuf zu haben, anonym sein Trauerspiel: „Die Wage“ an Müllner, der damals für den ersten Dramatiker galt, gesendet und von diesem sehr ermunternde, doch keinen besonderen Erfolg verheißende Worte als Kritik erhalten, auch mit seinem kleinen Epos bei einer Preisbewerbung nicht die erwünschte Anerkennung gefunden hat, entsagt er für’s Erste der Poesie und wirft sich auf Philosophie. Er studirt Kant und Fichte, und namentlich die Bekanntschaft mit den Werken des Letzteren, die im Freiheitskriege so Viele zu Todesmuth begeistert, läßt ihn eine sittliche Erstarkung gewinnen, die entschlossen ist, alle Beschwerden der Armuth zu ertragen und sich ganz in den Dienst des vaterländischen Gedankens zu stellen.
Die Burschenschaft war seit der Sand’schen That, die auch in Leipzig ungeheuere Erregung hervorrief, verfolgt; sehr im Stillen bestand sie weiter, aber gleich der erste deutsche Burschentag war nicht zu Stande gekommen. Jetzt tritt Hase in die aufgegebene Verbindung zurück, entschlossen, alle Gefahren mit ihr zu theilen; bald gehört er zu ihren Vorstehern und zu ihren ersten Rednern. Damit das Band zwischen allen deutschen Burschenschaften erhalten bleibe, läßt er sich die Mission zu einer Rundreise an die deutschen Universitäten, soweit sie Burschenschaften in ihrem Schooße beherbergen, ertheilen, verkauft, was er hat, und tritt mit fünf in den Hosenträgern eingenähten Goldstücken die Reise an. Er wandert durch das Oster- und Voigtland, in der durch ihn und neuerlich durch Heinrich Ranke’s „Jugenderinnerungen“ berühmt gewordenen Wunnerlich’schen Papiermühle bei Hof idyllische Rasttage haltend. Ueber Erlangen geht’s nach Tübingen und Stuttgart, dann über Heidelberg nach Bonn und zurück über Würzburg und Jena. Als in der Maingegend das letzte Goldstück aus dem Hosenträger geschält ist, quartiert er sich bei den katholischen und protestantischen Pfarrern am Wege als „Bettelstudent“ ein und hat auch da keine Noth gelitten. Es sind die mächtigsten Eindrücke vom schönen Vaterland, die nun auf der Jünglingsseele lagen, er liebt es fortan wie eine Braut. Kaum nach Leipzig zurückgekehrt, pilgert er, nichts als ein Schnupftuch in der Tasche, nach Berlin und besorgt auch hier seinen Auftrag; auf sämmtlichen Universitäten nimmt man, trotz der Mainzer Untersuchungscommission, die Einladung zu einem Burschentag in Dresden mit Freuden am. Um die Dresdner Polizei zu täuschen, tagen sie in einem Gasthof der Polizei gegenüber, Hase mit seinem Freund Herbst als Deputirte der Leipziger Burschenschaft, begleitet von dem dritten im Bunde, Robert Müller, dem Heros des Fechtbodens; auch die Söhne des Fürsten Schwarzenberg, des Siegers von Leipzig, sind als Mitglieder der Burschenschaft zugegen. Mit diesen – der eine ist nachmals der „Landsknecht“ des Sonderbundes geworden! – wandert Hase, zurück; der Weg der Brüder führt sie an das Todtenbett ihres Vaters, dem unser Dichter einen poetischen Nachruf widmet, wie er bald darauf den aus dem burschenschaftlichen Kreise scheidenden Freunden, die das spätere Leben ihm weltenweit entfremdet hat, als Vorstand der Burschenschaft einen Abschiedsgruß, dichtet.
So gewinnt die verpönte Verbindung ein neues Leben. Um aber dem Vorwurf, daß ihre Mitglieder unbekümmert, um die [471] nöthigen politischen Kenntnisse politisiren, ein für alle Mal zu entgehen, hat er in jenen Semestern in eifriger Benutzung der Bibliothek des Professor Pölitz alle bedeutenderen politischen Werke von Macchiavelli bis zur neuesten Zeit gelesen oder durchmustert und den geistigen Ertrag den Genossen mitgetheilt. Eine Sammlung von seinen Reden im Burschenhause bringt er zu Papier, und in allen kehrt die Mahnung wieder, wissenschaftliche Bildung und thatkräftige Gesinnung zu vereinen: „nicht Buchgelehrte, sondern Männer braucht die Zeit“. Freilich ist diese seine Thätigkeit seinem theologischen Studium nicht eben günstig gewesen. Mit den Professoren ist unser Studiosus kaum in nähere Berührung gekommen, außer wenn sie über ihn zu Gericht saßen. Nur Tzschirner, damals der Wortführer des freisinnigen Protestantismus und glühender Patriot, hat ihn durch seine festliche Kanzelberedsamkeit gewaltig angezogen, und für des gelehrten und klugen Winer’s Art hatte er nachhaltige Sympathie und erkannte in ihm sein Vorbild für künftige Studien. Aber die Reisen und die Leitung der Burschenschaft hatten ihn dem Collegienbesuch ziemlich entfremdet, die letztere, den Behörden nicht unbekannt geblieben, ihn verdächtigt. Carcer und Wegweisung von Leipzig waren die Folge. Als man auf sein Bitten nach Jahresfrist in Dresden die Wegweisung zurücknahm, hat dennoch der Leipziger Senat auf ihr bestanden: der Zurückkommende – so machte man geltend – würde doch wieder in die alten Verbindungen treten. Er hatte sich im Uebrigen gleich am Schlusse des ersten Semesters mit Glück als Prediger versucht und war als solcher in der Heimath und in vielen Pfarrhäusern gerühmt; die Leipziger Professoren freilich haben ihm damals wenig zugetraut, und Niemand hat seine künftige Bedeutung geahnt.
Der Weggewiesene hatte sich Ostern 1821 nach Erlangen gewendet und war hier, wo unter dem biederen König Max die Burschenschaft sich noch frei bewegen durfte, als Märtyrer derselben ehrenvoll aufgenommen, ja sofort einstimmig als ihr geborenes Haupt anerkannt worden. Bei der scherzhaften Stiftung eines Kaiserreiches mit vollständigem Apparat der Reichsämter, bis auf den Reichsnachtwächter herunter, ist er, wie billig, zum Kaiser gewählt worden und hat als „Karl der Rothbart“ über Jahr und Tag regiert; ein „Fastnachtsspiel“, das an diesem Hofe 1822 aufgeführt wurde, ist seine erste Druckschrift. Bei dem berühmten Auszuge nach Altdorf war er der Staatsmann der Burschenschaft, der Alles leitete und mit den Behörden unterhandelte. War der zweite Burschentag in Streitberg, auf dem er mit Eisenmann, dem Freiherrn von Rotenhan, Julius Stahs und Anderen zusammentraf, ohne Störung verlaufen, so war’s zum guten Theil sein Werk. Dann aber brachte der heimlich auf Karl Follen’s Anregung gestiftete „Jünglingsbund“, der den Geheimbünden Italiens nachgebildet war und auf der Illusion beruhte, es stehe ihm ein über ganz Deutschland verbreiteter Männerbund zur Seite, einen Riß in die Burschenschaft. Hase, allmählich eingeweiht und ohne Vertrauen zur Sache, auch allem revolutionären Wesen und Allem, was nach Verschwörung aussah, herzlich feind, ließ sich doch bereden, einzutreten, bis er auf dem dritten Burschentag in Würzburg seinen Austritt anzeigen ließ.
Inzwischen hatte er schöne Tage in Erlangen gesehen; ein ungleich frischerer Geist herrschte hier, als in dem zopfigen Leipzig. Baiern erfreute sich in noch ungetrübter Glorie seiner Verfassung, mit Katholiken und Protestanten aus den verschiedensten reichsständischen Territorien saß Hase traulich zusammen, Alles schwärmte für Kaiser und Reich. Er lernt, zumal in Nürnberg, das ehemals reichsstädtische Leben kennen, wandert nach München und Tirol, wo ihm Andreas Hofers Tochter ein Band an die Mütze näht und ein Wegweiser „Nach Italien“ die alte Sehnsucht erneuert. Bildungsmomente aller Art treten an ihn heran, wie er denn eifrig Nationalökonomie und selbst Landwirthschaft gehört hat.
Für ihn das Wichtigste war der Aufenthalt in Gotthilf Heinrich Schubert’s Hause. Der Patriarch der Altgläubigen, jener frommen Gemeinde, die sich über ganz Deutschland erstreckte, nahm sich in seiner unendlichen Gutmüthigkeit des jungen Landsmannes von Herzen an, gern des Glaubens, daß seine damalige religiöse Anschauung nur ein „Durchgangspunkt“ sein werde. In Schubert’s Nähe eine Stunde gewesen zu sein, mache Einen mindestens für einen Tag besser – dies Studentenwort fand Hase bewährt: eine solche Kindlichkeit des Wesens, eine Reinheit und Hoheit der Gesinnung, wie bei diesem so ganz altkirchlich gerichteten Manne war ihm kaum je noch begegnet.[3] An Selbstlosigkeit hat Schubert wohl nie seines Gleichen gehabt. So kaufte er einem armen brauberechtigten Erlanger, dessen Bier mißrathen war, dasselbe ab und trank es mit seinen jungen Freunden, damit der Mann nicht zu Schaden komme, und bei dem Auszuge der Studenten nach Altdorf sendete er Hase einige hundert Gulden mit den Worten: „Es wird Euch an Gelde fehlen, ich hab’s geborgt, sorgt, daß ich’s dereinst wieder bekomme.“ Durch Schubert wurde Hase mit Schelling bekannt, dem „großen Philosophen“, wie er allgemein in Erlangen genannt wurde, und hörte dessen berühmte Ferienvorlesungen. In solcher Umgebung trat er auch der Theologie näher, „würgte“ sogar hebräische Psalmen hinter, vor Allem ging ihm ein Licht auf über seine theologische Bestimmung. Winer und – Schubert standen ihm vor Augen, rücksichtslose Forschung – und Vermittelung ihrer Ergebnisse mit dem christlichen Gefühl, das wurde die Aufgabe, an der er jetzt zu arbeiten beschloß und zu arbeiten begann.
Noch hat er es nur auf eine Landpfarrei abgesehen, denn dichterische Entwürfe, wie ein Roman „Die Troubadours“, beschäftigen ihn noch immer. So gilt es denn, in Dresden das Examen zu bestehen. Aber die Meldung zum Examen hatte ihre Schwierigkeiten: daß er ein aus Leipzig relegirter Student war, durfte in Dresden auf keinen Fall zur Sprache kommen. Zum Glück war durch das Ableben des Prorectors in Erlangen sein Leipziger Zeugniß verlegt worden, und man gab ihm, dasselbe „in bester Voraussetzung nehmend“, ein günstiges Abgangszeugniß in Erlangen. Zwar kommt in letzter Stunde vor seinem Scheiden die Kunde vom Dresdener Burschentag an die Behörden, er hat eine scharfe Untersuchung zu bestehen und wird polizeilich ausgewiesen. Doch in höchstem Ansehen bei Professoren, Bürgern und Studenten, scheidet er unter dem Ehrengeleite der Letzteren voll herzlicher Dankbarkeit für die ihm so liebgewordene Stadt. Die Hoffnung, in Baireuth sich einige Tage für das Examen vorbereiten zu können, wird durch sofortige Ausweisung vereitelt. Er eilt in die Heimath, von da nach Dresden. Nicht glänzend, aber doch genügend hat er das Candidatenexamen bei dem Oberconsistorialrath Ammon bestanden, ohne daß Bedenken wegen des fehlenden Leipziger Zeugnisses aufgetaucht wären.
Aber was nun? Schon in Erlangen hatte ihm der übergläubig gewordene junge Graf Schönburg das Stipendium von fünfzig Thalern entzogen, und selbst den Koffer hatte er dort lassen müssen. Die kleinen Gläubiger regen sich, die Geldklemme ist groß. Er meldet sich zu einer Pfarrei bei dem Grafen Einsiedel, dem Patron, seines Vaters, G. H. Schubert empfiehlt aus dem Vollen – aber er wird als zu jung abgewiesen. Er gedenkt als Lehrer nach Paris zu gehen und wendet sich an seinen berühmten Vetter; der antwortet, deutsche Lehrer seien in Frankreich, was Polnische in Deutschland. Alles schlägt fehl. Seine Schwester verkauft ihr einziges Schmuckstück und legt ihm die dafür errungenen acht Thaler auf den Tisch: „Suche Dir damit zu helfen; was ich vermöbelt habe, das habe ich nicht gebraucht.“ Er geht nach Leipzig, um aus einem in Erlangen verfaßten theologischen Werkchen ein Stück Geld herauszuschlagen – jeder Buchhändler weist ihn höflich ab. Zum letzten Male umarmt er im Carcer seinen heroischen Freund Robert Müller, der einen Gegner im Duell erschossen hat. Als er vernimmt, daß Professor Winer, den er so hoch hält, nach Erlangen berufen ist, aber noch mit der Annahme schwankt, eilt er zu ihm, lobt Erlangen so von Herzensgrund, daß Winer sofort annimmt, und wird dadurch unbewußt zum Ehestifter, während er selbst, in ärmster Armuth umherirrend, von der Geliebten seiner Jugend, die nicht den Muth hat, sich dem Flüchtlinge anzuvertrauen, für immer Abschied nehmen muß. Tief unglücklich hat er einen Entschluß gefaßt: mit den fünfzig Thalern väterlichen Erbes, die zusammenzubringen der Mutter herzlich sauer wird, verschwindet er aus Sachsen; Niemand ahnt, wohin.
Es hat gar oft ein ernst Gesicht
Gewiesen mir schon früh das Leben:
Ich käm’ so bald zu Ende nicht,
Wollt’ ich davon Bericht euch geben.
Gar oft um mich stieg hoch die Fluth;
Gar oft umfing mich Nacht und Grauen,
Doch blieb, gottlob, mir frischer Muth
Trotz alledem und Gottvertrauen.
Jedoch zur Sache! – Laßt euch nur
Erzählen heut, wie mir’s im Leben
Durch’s Herz zum ersten Male fuhr,
Wie’s mir den ersten Stich gegeben.
Mag Mancher drum sentimental
Mich schelten: sei’s! – Ich fühl’ die Wunde
Noch heut nach Jahren jedes Mal,
Wenn ich gedenk’ an jene Stunde. –
Der Vater war seit Jahren todt,[4]
Und wiederum war nun gekommen
In unser Haus des Todes Noth
Und hat die Mutter mitgenommen.
Uns Kindern ließ ein neues Glück
In neuem Heim die Liebe finden –
Der alte Hausrath Stück für Stück,
Der ging, verkauft, nach allen Winden.
Den Bücherhaufen unterm Arm,
Grad’ aus der Schule kam ich eben.
Vor unserm Haus ein Menschenschwarm –
Was geht da vor? Was hat’s gegeben?
Ei ja, Verkauf sollt’ heute sein!
Mir war’s um’s Herz so weh und eigen,
Und doch zog mich’s mit Macht hinein;
Ich will hinan die Treppe steigen.
Da plötzlich steh’ ich wie gebannt;
Ein Weib tritt eben aus der Thüre
Mit unserm Schlitten in der Hand –
Mir war’s, als ob der Schlag mich rühre.
Mit unserm Schlitten! (Heute noch
Seh’ ich ihn nach so vielen Jahren.)
Was scheert das Weib der Schlitten doch?
Just der, drauf wir so oft gefahren?
Vor den – das Schwesterlein darauf –
Ich mit dem Bruder oft mich spannte:
Hei! wie dahin in raschem Lauf
Das Paar der muth’gen Renner rannte!
Mit dem wir in den tiefen Schnee
Gepurzelt oft und umgeschlagen;
Den einmal gar beinah – o weh! –
Uns ein Gensd’arm davongetragen!
Den Schlitten kannt’ ich zu genau,
Er war es, unser grüner Schlitten –
Nun trug ihn fort die fremde Frau – –
Wie das mir durch das Herz geschnitten!
Wie das die Brust mir eingepreßt! –
Sie haben später mich gefunden
Hinstarrend nach der Ecke fest,
Wo Schlitten längst und Frau verschwunden.
Dann ging ich – doch in’s Haus hinein,
In’s alte, bin ich nicht gegangen.
Im neuen Heim, wo Sonnenschein
Der warmen Liebe mich umfangen,
Vergaß ich allgemach den Schmerz,
Doch sah den Schlitten ich im Traume. –
Das war – wer lächelt? – für mein Herz
Der erste Stich. Ein Reif im März
Auf meines Lebens jungem Baume.
Wenn irgend ein Räuberthum mit dem Glanze des Erfolges und mit der Verklärung durch die Poesie einer romantisch gestimmten Nachwelt belohnt worden ist, so geschah das dem von der altgermanisch-heidnischen Bevölkerung Skandinaviens geübten. Diese normannischen „Wikingar“, das heißt Krieger, welche von den skandinavischen Küsten aus unter Anführung von „Heer“- oder „Seekönigen“ in kleinen, aber flinken und bis weit in die Flußmündungen hineintragenden Schiffen, den „schaumhalsigen Wellenrossen“, die See pflügten und plötzlich irgendwo landend, mit oder ohne Kampf Beute machten, um dann ebenso plötzlich wieder zu verschwinden – diese Wikinger sind Jahrhunderte lang die Verzweiflung Englands, Frankreichs, der Niederlande und zahlreicher anderer Küstengebiete gewesen. Tief im Lande oft trugen sie Tod und Verwüstung in Städte und Dörfer, nichts Transportables von Werth verschmähend, selbst nicht die überlebende Bevölkerung, welche in Sclaverei geschleppt ward – ein todtschlaglustiges Volk von rücksichtsloser Rohheit, durchsättigt mit der ganzen altgermanischen Kraft, Wander- und Abenteuerlust und Begier nach kriegerischem Ruhm.
Sie drangen auf der Seine bis Paris vor und haben es drei Mal geplündert (in der Mitte des neunten Jahrhunderts), sie liefen in die Garonne ein bis Toulouse. Sie fuhren die Maas hinauf und brandschatzten die Gegend von Aachen, Köln, Trier, Mainz, Worms, ja sie sollen den Rhein hinauf sogar in die Schweiz eingedrungen sein und sich im Haslithal festgesetzt haben. An den Flußmündungen verschanzten sie sich und gewannen durch Landabtretungen immer festere Positionen, zuletzt gar die Normandie, von wo sie nach der Hastingsschlacht ihre Herrschaft über ganz England trugen, nachdem sie dasselbe durch Jahrhunderte wie eine periodisch wiederkehrende Heuschreckenplage heimgesucht hatten.
Sie fuhren in das Mittelmeer ein und vergewaltigten die Küsten bis nach Kleinasien hin; sie eroberten das südliche Italien und Sicilien, wo ihre Herrschaft erst mit den Hohenstaufen endigte. Von Schweden aus bezwangen sie als „Waringer“ oder „Waräger“ die Ostseeküsten bis weit in das jetzige Rußland hinein und fügten unter Rurik den Grundbau des späterer russischen Reiches, auf dem Dnjepr bis in das Schwarze Meer dringend und Constantinopel bedrohend. Sie sind die Entdecker und Besiedler der Inseln auf dem Wege von Norwegen nach Grönland, ja sie wurden, indem sie dieses entdeckten, lange vor Columbus die Auffinder des amerikanischen Festlandes, das sie bis Carolina streiften.
Es ist eine fast räthselhafte Kraft und Unverwüstlichkeit, welche aus diesem in dreihundert Jahren etwa sich abspielenden Stück Geschichte redet. Die schwerlich allzu dichte Bevölkerung eines eben nicht fruchtbaren Landes, wie Skandinavien, giebt einen Ueberschuß an Menschen ab, welche solcher Vermehrung und solcher Kraftentfaltung fähig sind, daß sie unter der würgenden Hand beständiger Kämpfe und maritimer Gefahren dennoch eine Eroberungszone um ganz Europa, mit einem Streifen nach Amerika hinüber, zu schlingen vermögen und erst in dreihundert Jahren sich erschöpfen! Schon diese einzigartige Vergangenheit, welche eine Fülle der großartigsten geschichtlichen Bilder in sich schließt und Stoff zu einem Dutzend Epen bietet, muß einen romantischen Zauber üben. Aber auch in Art und Wesen, in Cultur und Sitte der alten Wikinger tritt uns, soweit wir hier einen Blick frei haben, soviel Originelles entgegen, daß die ärmlichste Dichterphantasie sich davon mühelos für eine ganze Lebensthätigkeit mit Stoffen versorgen kann. In Bezug auf die heidnische Vergangenheit des Germanenthums wären wir ohne die Edda-Aufzeichnungen der norwegisch-isländischen Wikinger fast ohne directe Quellen; zugleich aber braucht einer nur diese Ueberlieferungen zu studiren, um wie im Spiegel ein Bild von dem ganzen Empfindungsleben jenes historischen Heroenthums zu erblicken, welches als Pole hier, man möchte sagen: mammuthhafte Gewalt der Rohheit, dort das rührendste Fühlen kraftvoller Frauenherzen aufzeigt.
Es ist ohne Zweifel nöthig, das Alles in lebendiger Erinnerung zu haben, und vielleicht noch jenen glücklichsten poetischen Griff in das Wikingerleben: Esaias Tegner’s „Frithjofssage“, dazu, wenn man ganz das Interesse begreifen will, welches das jüngste Ereigniß auf dem Gebiete archäologisch wichtiger Ausgrabungen in
[473]Anspruch nimmt: nämlich die Auffindung eines Wikingerschiffes in einem norwegischen Grabhügel.
In der Nähe des norwegischen Seebades Sandefjord in Sandehered liegt das Landgut Gokstad, und zu ihm gehörte ein Hügel von beträchtlicher Größe, welcher im Volksmunde „der Königshügel“ hieß. Im vergangenen Winter ging man an ein Ausgraben desselben und stieß dabei auf Balken und anderes Holzwerk. Das Ungewöhnliche dieser Thatsache gab Veranlassung, mit der weiteren Förderung einzuhalten und den Reichsantiquar Nicolaysen zur Leitung der Arbeit herbeizurufen, worauf unter [474] dessen Augen der leidlich gut erhaltene Körper eines Schiffes bloßgelegt wurde, jedenfalls eines Wikingerschiffes.
Man kannte bereits die Abbildung solcher Schiffe auf einer alten, sehr merkwürdigen Tapete – Wollgarnstickerei auf dickem Leinen – welche, zu Bayeux in der Normandie gefunden und aus dem Ende des elften Jahrhunderts stammend, den Zug Wilhelm’s des Eroberers abgebildet zeigt. Man hat sogar früher bereits im Kirchspiel Tune in Smaalenene (Norwegen) ein kleines Wikingerboot gefunden, welches, wenn auch gut erhalten, doch zu unbedeutend war, um wichtigere Aufschlüsse zu geben. Hier stand man auf einmal vor einem der größten und vollständigst ausgerüsteten, dem Schiffe eines jener Seekönige, welche ihre Würde dem Umstände verdankten, daß sie alle ihre Gefährten an Kraft, an Rücksichtslosigkeit, Todesverachtung und Rohheit übertrafen, welche es für eine Schande gehalten haben würden, „unter rauchgeschwärzten Balken zu schlafen und am häuslichen Herd ihr Trinkhorn zu leeren“, und welche sonst gern, wenn der Tod des Alters über sie kam, auf ihrem Schiff hinausfuhren in das Meer, um dort mit dem liebsten Besitz in Flammen unterzugehen.
Die gewöhnlichen Wikingerschiffe waren flach (daher ohne Verdeck) und klein, so klein, daß ihrer drei- bis vierhundert zu einem Raubzuge gehörten; hier aber hatte man einen Riesen von zweiundzwanzig Meter Länge und etwa fünf Meter Breite vor Augen!
Flach muß das Schiff freilich auch gewesen sein, nicht viel höher als anderthalb Meter, was ungefähr zu dem älteren, in Tune gefundenen stimmt; freilich ist anzunehmen, daß der Druck der Erde beide flacher gestaltet hat, als sie ursprünglich waren; beide sind übrigens in blauem Thon gebettet gewesen, was sich für ihre Conservirung als ganz besonders günstig erwies.
Das Schiff besteht aus an einander genagelten Brettern; im Innern laufen zwanzig Rippen, welche von oben durch Nägel, von unten durch Reifen an die Bretter geschlagen sind, und sie schließen an einen der Länge nach durch das Boot laufenden Balken, dessen Enden fischschwanzförmig zugeschnitten erscheinen. Auf dem Balken erhebt sich noch ein Stück des Mastes, welcher, wie es scheint, sechs Meter lang gewesen ist und dessen oberes Ende abgehauen im Schiffe vorgefunden ward, ebenso wie eine Reihe anderer Ausrüstungsgegenstände: Ruder in verschiedener Größe, aber in der Form nicht viel von einander abweichend, Reste von Segel- und Tauwerk, das Seitensteuer des Schiffes, eigenthümlich geformte Holzstückchen von einem halben Meter Länge mit kreisrunden Ausschnitten, durch welche einst Taue gelaufen sind und welche ganz abgenutzt erscheinen. Ferner entdeckte man merkwürdige Einrichtungen von Manneslänge, welche möglicher Weise als Bettstellen gedient haben. An sonstigen Geräthen fanden sich vor: ein großes Gefäß aus Holzstäben, mehrere Spaten, ein Kupferkessel mit zwei Traghenkeln, ein genieteter Eisenkessel von trefflicher Arbeit, Trinkkellen mit kurzen geschnitzten Handgriffen etc. Der Schiffsbord muß ganz mit Schilden bedeckt gewesen sein, von denen der ganze Eisenbeschlag, auch breite Schildbretter mit Spuren von Farbe sich erhalten haben. Außer dem großen Schiff sind aber noch Theile von zwei bis drei kleineren Booten an der Seite desselben ausgegraben worden.
Von menschlichen und thierischen Resten zeigten sich Spuren verbrannter Knochen, sowie die Gebeine von drei Pferden und einem oder zwei Hunden.
Soviel hatte sich ergeben, als man daran ging, einen eigenthümlichen auf dem Schiffe sich erhebenden Verschlag zu öffnen, welchen man nicht mit Unrecht für die eigentliche Grabkammer hielt. Derselbe befand sich in Form eines Daches mit zwei bretternen Giebelwänden hinter dem Mast; als man eindrang, zeigte sich, daß durch den Druck der Erdmasse die Sparren auf der einen Seite zerbrochen waren; zugleich aber noch etwas anderes: daß man auf eben dieser Seite schon früher einen Einbruch in die Grabkammer bewerkstelligt hatte.
Es ist anzunehmen, daß bei dieser Gelegenheit der größte Theil des Inhalts entführt wurde. Gleichwohl fand sich noch Mancherlei vor: zerstreute Gebeine der Todten, Stücke von lebhaft gefärbtem Seidenzeug, ein kastenförmig ausgehöhlter Baumstamm mit stark durch eingedrungenen Lehm verdorbenem golddurchwirktem Stoff, Reste von Riemen- und Sattelzeug, vor Allem aber, neben einigen kleinen Gegenständen aus Eisen, an die fünfzig Beschlagstücke von vergoldetem Silber und vergoldeter Bronze, zu Gürtel- und Reitzeug gehörend, von denen die ersteren einfach, mit geometrischen Motiven und en face-Portraits, ornamentirt sind, wogegen die letzteren zum Theil eine vorzügliche Arbeit zeigen. Ein paar kleinere Beschläge, von welchen der schönste einen mit eingelegter Lanze dahergaloppirenden Reiter bis in die kleinsten Details erkennen läßt, gehören zu dem Besten, was von Kunst aus der nordischen Heidenzeit erhalten ist.
Vielleicht wird nachträglich noch dies oder das gefunden. Das Schiff hat indeß die Bestimmung erhalten, unterbaut, auf Rollen gesetzt, und so auf die Höhe geschafft zu werden, um dann zur See nach der Landeshauptstadt zu gelangen. Die beigegebene, dem „Norsk Familjeblad“ entnommene Abbildung mag einigermaßen die Fundstätte zur Anschauung der „Gartenlauben“-Leser bringen.
Was er wohl sagen würde, wenn er heute wiederkehrte in die Stadt seiner Väter, der große Goethe – in die Stadt, die man „der Städte Blume und des Reiches Stolz“ genannt hat? Er, der einst voll Enthusiasmus die schmucklose Stadt an der Pleiße zum „Klein-Paris“ erhob, sie über alles lobte und ihr damit ein Ehrenmal aufdrückte für alle Zeiten – er hatte kein ähnliches Wort der Auszeichnung für die Stadt, die ihn geboren. Man erzählt sich darüber Mancherlei. Er soll in der That nicht gut auf Frankfurt zu sprechen gewesen sein, der stolze Olympier, seit er in Weimar eine zweite Heimath gefunden hatte. Es soll ihn Etwas dort verdrossen haben, und was dem Frankfurter von damals als das höchste Kleinod galt, sein freireichsstädtisches Bürgerrecht, das soll er nicht respectirt, ja sogar im Unmuth zurückgegeben haben.
Doch das sind alte, vergessene Geschichten. Im Grunde hatte er die altehrwürdige Stadt, in der er geboren und erzogen war und von der er so viel zu erzählen wußte, doch herzlich lieb, und käme er heute wieder, sicherlich, er würde ohne jeglichen Groll – doch, was sage ich! Zu allererst würde er ein „Ah!“ der Bewunderung ebenso wenig unterdrücken können, wie jeder andere Sterbliche, der die alte Reichs- und Krönungsstadt längere Zeit nicht gesehen. Staunen würde er, wenn er die breiten, schönen Straßen erblickte, durch die ein ewig reger Strom des Verkehrs bequem dahinfluthet, wenn er vor die vielen Prachtbauten träte, die im Laufe der Jahre emporgewachsen sind, wenn er sähe, wie die Stadt nach allen Richtungen hin sich ausgedehnt hat, wie die umliegenden Ortschaften im Westen und Nordosten zu Vorstädten herangewachsen sind, und ihm das Ganze als ein Gemeinwesen vor Augen träte, das mit seinen mehr denn 125,000 Einwohnern immer mehr der Großstadt zusteuert.
Gerade in der Umgebung seines Geburtshauses würde sich der Altmeister am schwersten zurechtfinden: dort, wo man den engen Mauerbann des ehemaligen Frankfurt durchbrochen, die alten Häuser großentheils ganz hinweggeräumt hat, wo um den jetzigen Kaiserplatz herum ein völlig neues Stadtviertel im großartigsten Stil emporgewachsen ist, wo Palast an Palast sich reiht und die nahen Bahnhöfe – die nun auch bald zu einem großen Centralgebäude vereinigt werden – tagtäglich mit einem bunten Gemisch von Reisenden aus aller Herren Ländern die Straßen beleben. Und weiterhin: der frische, grüne Kranz der Promenaden, der sich im weiten Bogen um die Stadt zieht, geziert mit stattlichen Monumenten, umsäumt von herrschaftlichen Villen mit den prachtvollsten Gartenanlagen, und mitten darin die jüngste grandiose Schöpfung bürgerlichen Gemeinsinns, das neue große, schöne Opernhaus!
Unwillkürlich würde er sich umsehen, der gute Vater Goethe, was denn eigentlich geblieben von seinem Frankfurt, dem alten Frankfurt, und er würde nur Weniges noch finden. Dort, über die Dächer ragend, wie ein Denkmal für die Ewigkeit, steht noch [475] der Dom mit seiner mächtigen Kuppel – aber auch er ist nicht mehr ganz der alte, auch ihm hat die Gegenwart eine neue Krone aufgesetzt; dann dort der romantische Eschenheimer Thurm, dieser Rest mittelalterlicher Baukunst mit seiner dichten Epheu-Umrankung; hier und da im Innersten der Stadt noch eine Gasse, die ihren alten Charakter gewahrt, und einzelne Häuser, die aus Pietät unberührt geblieben – im Ganzen aber hat Frankfurt ein durchaus neues Gewand angezogen, und wenige Städte dürfte es geben, die in den letzten Jahrzehnten so eifrig und gründlich, wie diese, an ihrer Verschönerung gearbeitet haben.
Und doch ist die Stadt in ihrem eigentlichen Wesen sich treu geblieben. Vor 370 Jahren war es, da besang der edle Ritter Ulrich von Hutten Frankfurt wie folgt (wir geben seine Worte in D. F. Strauß’ Uebersetzung des lateinischen Originals):
„Wohl ja kennst du die Stadt, vorlängst in den Kriegen der Franken
Ward sie erbauet und heißt nach den Erbauern noch jetzt.
Sie durchschneidet der Main, der unter der Brücke dahinfließt,
Und nicht ferne des Rheins mächtigem Strome sich eint.
Hoch aufragen die Mauern, es prangen die stolzen Gebäude,
Stolz auch ist auf den Ruhm ihrer Bewohner die Stadt …
Weither suchen die Völker sie auf und wandern die Menschen,
Denn für die Waaren der Welt ist sie der wimmelnde Markt.“ –
Das trifft Alles heute noch zu; nur daß aus der einen Brücke, welche ehedem den Zugang zum jenseitigen Main-Ufer vermittelte, im Laufe der Jahrhunderte nicht weniger denn fünf geworden sind – ein laut sprechendes Zeugniß für den Aufschwung, den die Stadt mittlerweile genommen hat. Heute wie ehedem bildet ihre überaus günstige Lage und ihr gesundes, mildes Klima die Basis ihrer Reize; alles Uebrige kann nur als Pflanzung auf diesem von der Natur verliehenen fruchtbaren Boden bezeichnet werden. Wie vor Zeiten erscheint Frankfurt auch heute noch einer Fürstin ähnlich, umgeben von ihren diensteifrigen Trabanten: die Wetterau ist ihr Speicher, der Rheingau ihr Keller, die Gerau ihre Küche; aber mehr denn je ist Frankfurt heute ein kosmopolitischer Centralpunkt für den internationalen Verkehr. Die großartigen Etablissements, wie der zoologische und der in seiner Art wahrhaft einzige Palmen-Garten, dazu das seiner Vollendung nahe Sechs-Millionen-Theater, sie mögen zunächst für Frankfurt selbst geschaffen sein; ihr gedeihliches Fortbestehen aber gründet sich zu einem guten Theile auf das beständig im größten Maße hier ab und zu strömende Fremdenpublicum; denn Frankfurt repräsentirt eine der dichtesten Eisenbahnverknotungen des ganzen deutschen Reiches, den Brennpunkt vieler der frequentesten Verkehrswege nach und von dem Auslande.
Aber all der Glanz, mit dem sich Frankfurt umgeben hat, er wäre doch nur eine werthlose Schale, wenn ihm nicht zugleich ein Lebenskern inne wohnte, der mit dieser strahlenden Außenseite harmonirte. Ich habe noch Niemand Einspruch erheben hören gegen die Behauptung, die man häufig und gerade von vielgereisten Leuten vernimmt, daß sich an wenigen Plätzen so angenehm leben lasse wie in Frankfurt. Dieses Urtheil stützt sich nicht nur auf den äußeren Comfort, es stützt sich vor Allem auch auf die eigenthümliche Art des Verkehrs, die etwas biderb Gemüthliches hat und die Leichtlebigkeit des Rheinländers mit einem tüchtigen Zusatz von Intelligenz und Bildung verbindet. Der augenfällige Wetteifer des gesammten Gemeinwesens, der Behörden, Vereine und Privaten, um die fort und fort im Wachsthum begriffene Stadt auch äußerlich und innerlich auf der Höhe der Zeit zu halten, kommt natürlich dazu. Wer von Frankfurt sprechen hört, verbindet damit unwillkürlich die Vorstellung riesiger Geldsäcke und nicht mit Unrecht. Es ist viel, viel Geld in Frankfurt, wenn es auch andererseits nicht an Armen mangelt. Aber dieser Reichthum liegt nicht brach unter Schloß und Riegel, er kommt der Stadt, die ihn birgt, wirklich zu Gute. Was Frankfurt zu leisten vermag, das hat es oft und in eclatanter Weise erst neuerdings wieder gezeigt. Namentlich zu künstlerischen und zu wohlthätigen Zwecken hat es immer Geld. Für ersteres zeugt das mehrerwähnte neue Opernhaus, für letzteres spricht das Ergebniß bei jeder Sammlung zu milden Zwecken, zuletzt wieder bei der Collecte für die Nothleidenden in Schlesien. Dazu kommen eine lange Reihe wohlthätiger Anstalten in der Stadt selbst, und Privatsammlungen über Privatsammlungen, wovon in weitere Kreise keine Kunde dringt. Ja, es ist kein leeres Compliment: die Stadt der Millionen ist zugleich die Stadt des Wohlthuns; schade nur, daß die großen Summen, welche hier jahrein jahraus dem Drachen des Elends in den Rachen geworfen werden, das Ungeheuer doch nicht zu tödten vermögen.
Während im Sommer die Reize der Natur den Aufenthalt in Frankfurt würzen, vereinigen sich während des Winters Kunst, Wissenschaft und geselliges Leben, um ein wahres Füllhorn über die Unterhaltung suchende Bewohnerschaft auszuschütten. Da sind die Theater, da winken die Concertsäle, da reiht sich ein öffentlicher Vortrag an den anderen, Soirée an Soirée, sodaß man Wohl in Verlegenheit geräth, wohin man seine Schritte lenken soll. Bei dieser Pflege der Geselligkeit macht sich aber besonders ein Moment bemerklich, das von unschätzbarem Werthe ist. Man muß Plätze wie München, Köln, Mainz und andere kennen, um so recht tiefinnerlich den einen Vorzug Frankfurts würdigen zu können, daß hier, obwohl sämmtliche Confessionen, von der strenggläubigsten bis zur freisinnigsten, neben einander wohnen, doch keine Spur jenes ebenso häßlichen als gehässigen Fanatismus zu finden ist, der das Leben in anderen Städten vergällt; vielmehr herrscht in dieser Beziehung eine wahrhaft musterhafte Eintracht. Glaube Jeder was er will, sei er in diesem seinem Glauben so selig wie möglich, aber behellige er Andere nicht damit! Das ist hier die allgemeine Parole.
Im politischen Glaubensbekenntniß hat freilich nicht immer die gleiche Toleranz gewaltet. Es gab eine Zeit, in welcher es für den Nichteingeborenen schwer war, in Frankfurt Boden zu fassen und Fühlung zu gewinnen, eine Zeit, in welcher jeder Fremde wie ein Eindringling betrachtet wurde, der das gute Einvernehmen der Einen großen Familie, Frankfurt genannt, zu stören drohe; wo einem Zugereisten, mochte er auch Jahrzehnte lang bei musterhafter Aufführung das Gastrecht genossen haben, kein Bürgerrecht zugestanden wurde, es sei denn, daß eine Eingeborene durch Verheirathung mit ihm gewissermaßen Bürgschaft für ihn leistete. Und dann kam eine Zeit, die man heute nur ungern berührt, eine Zeit, in der das gewaltsame Zerreißen dieser altväterischen, durch die Tradition festgeknüpften Bande Jung und Alt mit Erbitterung erfüllte, in der man den Namen Preußen nur nennen durfte, um einen Ausbruch des Abscheus zu erleben. Auch diese Zeit ist vorüber, und die überstandene Krisis ist entschieden zum Guten ausgeschlagen.
Das moderne Frankfurt hat seine Thore weit geöffnet, ein Jeder kann unbeanstandet seinen Einzug halten und, wenn’s ihm gefällt, sich niederlassen. Und wer umgänglicher Natur ist, der fühlt sich bald heimisch unter dieser Bürgerschaft, die sich längst nicht mehr auf verschimmelte Rechtstitel steift, sondern dem frischen fröhlichen Fortschritt huldigt und, wo es gilt, das Herz auf dem rechten Flecke hat, nicht nur für die Interessen ihrer vier Pfähle, sondern für das ganze Vaterland, ja, wo’s erforderlich, für die ganze weite Welt.
Hat aber auch die alte ehemals freie Reichs- und Krönungsstadt am Main mit den Jahren manche Wandlung erfahren, an einem Punkte hat die Zeit nichts zu ändern vermocht: das ist die glühende Liebe des Frankfurters zu seiner Vaterstadt. Man wird vielleicht einwerfen, ein jeder Deutsche liebe den Ort, wo seine Wiege gestanden. Gewiß! Aber doch nicht Jeder, wie der echte Frankfurter.
Um dem freundlichen Leser davon einen Begriff zu geben, und um gleichzeitig ein Pröbchen der heimischen Mundart vorzuführen, mag Frankfurts gefeiertster Localdichter Friedrich Stoltze – selbst ein urwüchsiges Stück Alt-Frankfurt – hier das Wort nehmen und uns sagen, wie er – und mit ihm jeder echte Frankfurter – von seiner Vaterstadt denkt:
„Un dhät des Glick, Gott wääß wie weit,
Bis nach Dripsdrill mich stumbe,[6]
Wo die berihmt Babbiermihl leiht,[7]
Die Dhaler mecht aus Lumpe;
Un käm ich iwwer Buxtehud
Bis zu de Hottendotte,
Un hätt merr dort ihr Herz und Schnud[8]
Die Kronprinzeß gebotte;[9]
Und säß ich in der Schlaraffei,
Wo’s Wei und Bratwerscht regent,
Kää Paff is un kää Bollezei –
Gewiß e glicklich Gegend!
Un wär’ ich bis am End der Welt
Un noch e bissi driwwer,
Wo’m liewe Gott sei Postkutsch hält
For’s selige Eniwer;[10]
[477] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [478]
Ja, säß ich selbst im Himmel drei,
Wo se den Nektar schenke:
Bei jedem Troppe Aeppelwei
Mißt ich an Frankfort denke!
Wer könnt aach je sei Vatterstätt,
Sei Frankfort je vergesse,
Un wenn er Gott zum Schwager hätt
Un pure Gold zu fresse?
Ja, Frankfort! wo is da e Wahl
Trotz de Erunnerhunzer?[11]
Wo fihrt e Määbrick[12] noch emal
In’s Paradeis, wie unser?
O Frankfort! wo aäm des Geschick
Aach immer hingetriwwe,
Mit goldner Schrift und pathornsdick[13]
Bleibst de in’s Herz geschriwwe.“
So sind die Frankfurter, und so waren sie alle Zeit. Wer die Stadt kennt, wird diese Anhänglichkeit begreifen. Auch Fremde, wie ich schon oben erwähnte, fühlen sich von ihr meist mächtig angezogen. Was Wunder, daß die Stadt der Gärten und der Millionen, die Stadt der glanzvollen historischen Vergangenheit und der mächtigen Entfaltung in der Gegenwart zugleich die Stadt der Congresse ist! Sie eignet sich dazu wie wenige.
Auch jetzt wieder rüstet sich Frankfurt zu einem großen nationalen Stelldichein. Viel tausend frisch-fromm-fröhlich-freie Herzen schlagen ihm erwartungsvoll entgegen, und in wenigen Tagen wird die Stadt in festlichem Schmucke prangen. Möge sich jeder Festtheilnehmer dort so wohl aufgenommen finden, daß er mit vollem Herzen einstimmen kann, wenn man Frankfurt preist als „der Städte Blume und des Reiches Stolz“!
Nun galt es aber, des Vertrags vom 25. Mai des vorhergegangenen Jahres sich zu erinnern. Oder vielmehr, die polnischen Herren, welche mit ihren kriegerischen Gefolgschaften zugleich mit Dmitry in die russische Hauptstadt eingezogen waren und daselbst Standquartiere bezogen hatten, zögerten gar nicht lange, den Pseudozaren an seine schweren, in Polen eingegangenen Verbindlichkeiten zu mahnen. Er konnte sich von der Erfüllung derselben nicht lossagen und wagte nicht einmal den Versuch einer Lossagung. Hieraus ergab sich aber mit Nothwendigkeit, daß seine Stellung vom ersten Augenblick seiner gelungenen Usurpation an eine ganz schiefe und unhaltbare und der Zarenthronsitz für ihn ein sehr unbequemer und ungemüthlicher war. Der Schwindler befand sich ja, so zu sagen, zwischen zwei Feuern. Auf der einen Seite seine polnischen Helfershelfer, welche in Moskau geradezu die Herren spielten, durch ihren Hoch- und Uebermuth das Russenthum kränkten und herausforderten und die Stadt mit dem Geräusche ihrer Ausschweifungen erfüllten und ärgerten. Auf der andern Seite die russischen Großen, welche in dem Prätendenten zunächst nur einen Hebel zum Sturze des verhaßten Boris gesehen hatten, jetzt aber erfahren mußten, daß der neue Usurpator auf ihre nationalen Gefühle und Anschauungen, auf ihre stupiden Vorurtheile, auf ihren echtbarbarischen Haß gegen alles Fremde und auf ihre wildselbstsüchtige Abneigung gegen alle und jede Neuerung noch weit weniger Rücksicht nahm, als Boris gethan hatte, ja daß der Eindringling geradaus so schaltete und waltete, als wäre er eigens hergekommen, um alles Russische zu verhöhnen und auszutilgen, als wäre er nicht so fast ein Zar des rechtgläubigen, heiligen Russlands, als vielmehr der Statthalter des Polenkönigs im Reußenland und das bereitwillige Werkzeug der Jesuiten, um die orthodoxe russische Nationalkirche zu vernichten und an die Stelle derselben das zu setzen, was alle Russen den ketzerischen Gräuel Roms nannten und als eine Todsünde verabscheuten.
Bei alledem und bei der gänzlichen Abwesenheit von Ehre und Treue unter den russischen Magnaten ist es ganz in der Ordnung gewesen, daß sich in den Kreisen dieser Aristokratie schon wenige Monate nach Dmitry’s Krönung ein Komplott anspann, welches die Entthronung und selbstverständliche Ermordung des Eindringlings zum Zwecke hatte. An der Spitze dieser Verschwörung stand das Haupt des Hauses Schuisky, der Fürst Wassily, welcher selber nach der Zarenkrone gierte und strebte. Allein das Komplott wurde verrathen und durch Dmitry mit Hilfe der noch immer scharenweise und wohlgerüstet in Moskau anwesenden Polen unschwer vereitelt und niedergeschlagen. Den Fürsten Wassily Schuisky ließ der Pseudozar zum Tode verurtheilen, aber unkluger und leichtsinniger Weise begnadigte er den Verurtheilten auf dem Schaffot und angesichts von Block und Beil; ja, er rief den Verschwörer nach kurzer Verbannung an den Hof zurück und setzte ihn wieder in alle seine Ehren und Würden ein, welche thörichte Großmuth der Begnadigte, wie er nun einmal war, natürlich damit vergalt, daß er vorsichtiger als früher seine Minirarbeit weiterführte.
Die Leichtigkeit, womit diese Gefahr beschworen worden, mußte den glück- und machtberauschten Dmitry in seiner leichtsinnigen und leichtfertigen Art, die Sachen zu nehmen und zu führen, noch bestärken. Er stand demzufolge nicht an, große Summen dem russischen Staatsschatze zu entnehmen und nach Polen zu schicken, daß damit die Schulden der Mniszek und Wiszniewiecki bezahlt würden. Auch die Herholung seiner Verlobten, der schönen Panna Marina Mniszek, welche mit unerhörtem Prunk umgeben wurde, verursachte schweren Aufwand. Am 1. Mai von 1606 zog die Zarenbraut in Moskau ein, in polnischer Staatstracht, in einer mit rothem Atlas ausgeschlagenen, mit perlengestickten Sammetkissen gepolsterten und von 12 Tigerschecken gezogenen Karrosse, begleitet von einem ganzen Schwarm polnischer Herren und Damen und gefolgt von mehreren Tausenden reichgerüsteter Hussaren.
Acht Tage später wurde die Hochzeit im Kremlin gefeiert, für die Russen kein Freudenfest, sondern nur ein neues und großes Aergerniß. Denn niemals noch hatte ein Reußenzar, statt unter den Töchtern des Landes zu wählen, mit einer Fremden sich vermählt, wie Dmitry that – und vollends gar mit einer Fremdgläubigen, mit einer Ungläubigen, die, weil eine römische Ketzerin, eigentlich noch schlimmer denn eine Heidin. Mit der Vermählung des Zaren sollte aber auch – so wollte es der polnische Stolz – die Krönung der Zarin verbunden werden, eine Ehre, welche bislang noch keiner Zarin widerfahren war und welche, noch dazu einer Fremden und Heidin angethan, Stockrussen schlankweg als eine ruchlose Gotteslästerung erschien.
Bei Gelegenheit dieser Haupt- und Staatsaktion gab es eine komische Episode und schüttelte der Narr, welcher in der sogenannten Weltgeschichte herumspringt, lustig seine Schellenkappe. Denn die Frage, wie Marina an ihrem Vermählungs- und Krönungstage angezogen sein sollte, wurde zu einer förmlichen Staatsfrage aufgebauscht, welche im Reichsrath zur Erörterung kam. Die schöne Polin wollte in ihrer gewohnten polnischen oder vielmehr französischen Modetracht zur Kirche gehen. Aber davor schlugen die Russen ein Kreuz und verlangten, daß Marina schlechterdings in russischer Nationaltracht vermählt und gekrönt werden müßte, also mit unter dem „Kakoschnik“ verborgenem Haupthaar, wie verheirathete Frauen denselben trugen, in einem weiten, oberhalb des Busens gegürteten Rock und in großen Stiefeln mit eisenbeschlagenen Absätzen. Die Braut entsetzte sich vor diesem ihr zugemutheten An- und Aufzug, aber sie mußte sich fügen; denn die Herren Bojaren verstanden in dieser Kleiderfrage keinen Spaß und wiesen alle von Dmitry und Marina zu Gunsten eines kleidsameren Anzuges vorgebrachten Argumente zurück.
Nachdem diese wichtige Frage also erledigt worden, ging die Doppelceremonie am 8. Mai in der Kathedralkirche von Moskau pomphaft in Scene. Dieser Tag bezeichnete den Höhepunkt, so recht die Peripetie der verwegenen Komödie und zugleich den Wendepunkt zur tragischen Katastrophe.
Beschleunigt wurde diese durch den mehr und mehr sich steigernden Uebermuth der Polen, von welchen der Zarenhof wimmelte. Ihre Frivolität hielt es gar nicht der Mühe werth,
[479] der Verachtung, welche sie für die Russen und alles Russische hegten, Zaum und Zügel anzulegen. Sie verhehlten auch nicht, nein, sie bramarbaseten laut, daß der Zar Dmitry eigentlich ein Zar von ihrer Mache wäre, verpflichtet und willig, demnächst diese oder jene russische Provinz an Polen abzutreten. Das mußte die Russen wüthend machen und den im Dunkeln und Stillen emsig weitergesponnenen Ränken der Schuisky und ihrer Freunde sehr zu gut kommen. Rechnet man dazu die Unklugheit des Pseudozaren, welcher ernstlich Anstalt machte, an und in den Pfaffensack zu greifen, d. h. den reichen Grundbesitz der russischen Kirche einzuziehen, um die Erträgnisse desselben auf die Bildung eines zahlreichen und tüchtigen Söldnerheeres verwenden zu können, und rechnet man weiter dazu noch das siegesgewisse Auftreten der mit den Polen gekommenen Jesuiten in der Hauptstadt Rußlands, so wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Macht und Pracht des falschen Dmitry ein rasches Ende nahm, ein Ende mit Schrecken, und der Schwindel, wie billig, mit einem erschrecklichen Krach zerbarst.
Schon neun Tage nach dem Vermählungs- und Krönungsfest trat diese Verkrachung ein, während die Reihenfolge rauschender Vergnügungen im Kremlin noch im vollen Zuge war. Da tanzte man „auf einem Vulkan“. Der verblendete Pseudozar und seine gleichverblendete Umgebung, sie wurden vollständig überrascht durch den Losbruch des Orkans, welcher am 17. Mai über sie hereinstürzte – in Gestalt eines allgemeinen und darum unwiderstehlichen, von dem Fürsten Wassily Schuisky und dem Bojaren Tatischtschew geleiteten Aufstandes des gesammten moskauischen Moskowiterthums.
Von einem erfolgreichen Widerstande konnte dem bis zur Raserei erhitzten Zorn eines ganzen Volkes gegenüber gar keine Rede sein. Aber es ist nur gerecht, zu sagen, daß der Schwindler von falschem Dmitry wenigstens am Ende seiner Laufbahn einigermaßen zur Höhe eines Helden emporwuchs. Obzwar durch den plötzlichen Ansturm der Empörer vollständig überrascht, raffte er sich doch energisch zusammen und stemmte sich, den Säbel in der Faust, an der Spitze der wenigen treulich zu ihm Haltenden, dem wüthend in den Kremlin einbrechenden und alles vor sich niederwerfenden Volksstrom entgegen. Ein eitel und vergeblich Wagen und Ringen! Der General Basmanow, seinen an Boris begangenen Verrath mittels seiner dem Dmitry bis zuletzt bewahrten Treue sühnend, fällt an der Seite des Zaren, und nun wirft sich dieser aus einem Fenster, bricht bei dem Sturz ein Bein, wird drunten von einem Volkshaufen aufgefangen, erkannt, verhöhnt, mißhandelt, von einem Edelmann angeschrieen: „Hund von einem Bastard, sag’ uns, wer du bist und von wem du stammst!“ und endlich von dem Kaufmann Walujew mit den Worten: „Seht, wie ich diesem ketzerischen Hund von polnischem Gaukler die Absolution gebe!“ durch’s Herz geschossen.
Dann schleppte der Pöbel den Todten durch die Straßen, alle seine kanibalische Rohheit an dem Leichnam auslassend, wobei sich die Weiber durch gräuliche Schamlosigkeit hervorthaten.
Die Zarin Marina wurde vor dem ersten Ausbruch des Volksgrimms nur dadurch bewahrt, daß sie sich unter dem ungeheuren Reifrock ihrer Oberhofmeisterin, einer resoluten alten Dame, versteckte. Dann wurde sie zwar mit allen ihren polnischen Damen gefangen, und wurden die Armen vonseiten der siegreichen Rebellen mit unbeschreiblichen Beschimpfungen in Worten und Werken überhäuft, doch kamen sie mit dem Leben davon. Marina’s Vater, der Woiwode Mniszek, und alle in Moskau befindlichen Polen scharten sich zusammen und leisteten tapferen Widerstand. Viele von ihnen wurden erschlagen, die übrigen schließlich gefangen. Etwas später jedoch entließ man die Gefangenen, darunter auch Marina, in ihre Heimat.
Eine Nachricht will, unmittelbar nach der Ermordung Dmitry’s hätten die Empörer an die Zarin-Witwe Marfa die Frage gethan, ob der Ermordete ihr Sohn wäre. Worauf Marfa: „Das hättet ihr mich fragen sollen, als er noch lebte. Jetzt ist er es nicht mehr.“
Gerade hier also mag die Frage platzberechtigt sein: Wer war denn der falsche Demetrius eigentlich? Man weiß es nicht. Denn bis zur Stunde ist es der Geschichtswissenschaft noch nicht gelungen, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um diese Frage mit Bestimmtheit oder auch nur mit einiger Sicherheit beantworten zu können. Auch die fünfbändige, im Jahre 1837 durch Ustrialow in Petersburg veröffentlichte „Sammlung von zeitgenössischen Berichten über den falschen Dmitry“ hat hieran im Grunde wenig geändert und gebessert.[14] In der amtlichen Welt Rußlands gilt die, wie wir sahen, zuerst durch Boris Godunow aufgestellte Behauptung, der falsche Dmitry wäre ein entlaufener russischer Mönch gewesen und hätte eigentlich Grischka Otrepiew geheißen, noch jetzt. Darum ist es in der orthodoxen russischen Kirche noch heute Brauch, alljährlich an einem bestimmten Tage über diesen Grischka Otrepiew als über den falschen Dmitry eine feierliche Verfluchung zu sprechen. Das beweis’t aber gar nichts, beweis't gerade so wenig wie der Umstand, daß der russische Dichter Puschkin in seinem Trauerspiel „Boris Godunow“ die herkömmliche Legende an- und aufnahm. Ein stichhaltiger Beweis für die Dieselbigkeit des Grischka und des Dmitry ist nie beigebracht worden. Im Gegentheil, gerade die älteste und unverdächtigste Quelle, die handschriftlichen Denkwürdigkeiten des Konrad Bussow, sie meldet ausdrücklich und bestimmt, daß der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew nur einer der Handlanger des falschen Dmitry gewesen sei, und benamset diesen Handlanger nicht gerade schmeichelhaft, aber doch auszeichnend „des Teufels Instrument“. Auch der Franzos Jacques Margeret, welcher im Jahre 1601 nach Rußland gekommen und zuerst in den Diensten von Boris, dann in denen Dmitry’s gewesen ist, 1606 nach Frankreich zurückkehrte und 1607 in Paris sein Buch „Estat de l'empire de Russie“ drucken ließ, berichtet als Augenzeuge, daß Grischka Otrepiew ein Helfershelfer des Pseudozaren gewesen und von diesem, welchem der wüste Trunkenbold und Aergernißgeber lästig geworden, aus Moskau nach Jaroslaw verbannt worden sei.
Der russische Geschichtschreiber Karamsin hatte in seinem großen Werke der gäng und gäben Legende von der Identität des Grischka und des Dmitry sich bequemt. Dann aber sind ihm Zweifel aufgestoßen und er schickte sich an, die Sache einer neuen und genaueren Untersuchung zu unterziehen. Der Zar Alexander der Erste untersagte das jedoch ausdrücklich dem Historiker. Alexander nämlich stand dazumal in der Blüthe seiner Vorliebe für Polen und wollte daher nicht, daß die Polen mittels Wiederaufrührung der alten Stänkerei unangenehm berührt würden.
Wenn es nun wahrscheinlich für immer verborgen bleiben wird, wer der Betrüger und Schwindler eigentlich gewesen, so steht dagegen sein Betrüger- und Schwindlerthum fest. Aber war er ein Betrüger aus eigenem Antrieb? Oder ein künstlich zubereiteter, sorgfältig dressirter? Auch das ist ein zur Stunde noch ungelöstes Problem. So ich alles zusammenhalte, was die echten Quellen und ältesten Zeugnisse ergeben, bin ich geneigt, zu glauben, der Abenteurer, welcher die Rolle des falschen Demetrius spielte, müßte ein geborener Pole gewesen sein. Die polnische Sprache war ihm notorisch geläufiger als die russische; auch zog er polnisches Wesen, die polnische Art, das Leben zu fassen und zu führen, der russischen entschieden vor. Viele von den polnischen Edelleuten, welche sein Unternehmen unterstützten, sprachen es ganz offen aus, daß sie ihn für einen Bankert des verstorbenen Königs von Polen, Stephan Bathory, hielten. Ein von mir gemachter Versuch, diese Spur weiter zu verfolgen, ist resultatlos geblieben.
Aber war die Rolle, welche der Schwindler spielte, eine spontane, eine von ihm selbst ausgeheckte, oder war es eine ihm von anderer Hand überbundene, eine angelernte? Wenn ich recht erwäge, lassen sich die beiden Seiten der Frage etwa so mitsammen vermitteln, daß wir annehmen, der junge Mann sei von sich aus auf die abenteuerliche Idee verfallen, als der ermordete Zaréwitsch Dmitry sich aufzuspielen, sofort aber auch von den Jesuiten, welche dazumal am Hofe Sigismunds allmächtig waren, als ein vortreffliches Werkzeug für ihre Pläne erkannt und als solches gehandhabt worden, d. h. als ein Werkzeug zur Inswerksetzung des [480] großen jesuitischen Plans, das russische Zarenthum und folglich Russland vom griechisch-anatolischen Glaubensbekenntniß zum römisch-katholischen herüberzubringen. Freilich muß ich beifügen: schon das erste Auftreten des falschen Dmitry in Lithauen war von so verdächtigen Umständen begleitet gewesen, daß man in der vorhin geäußerten Ansicht doch wieder wankend und zu dem Glauben getrieben wird, der Betrüger habe von Anfang an nicht aus eigenem, sondern aus fremdem Antriebe geredet und gehandelt. Eine vollständige Klarstellung des geschichtlichen Problems vom falschen Demetrius zu Anfang des 17. Jahrhunderts ist wohl erst dann eine Möglichkeit, wann einmal das Geheimarchiv der Gesellschaft Jesu der historischen Forschung zugänglich sein wird. Dort ist die endgültige Lösung der Frage zu suchen.
Mit dem Trauerspiel vom 17. Mai 1606 war übrigens nur die Laufbahn des ersten falschen Dmitry zu Ende, nicht das Stück selber. Man weiß ja, daß, so in der unendlichen Tragikomödie „Weltgeschichte“ der Unsinn oder das Unheil einmal recht im Zuge sind, sie nicht bald wieder aufhören. Ein baldiges Aufhören ginge ja der bekannten „sittlichen Weltordnung“ zu sehr wider den Strich. Nachdem die russischen Magnaten und Prälaten den Fürsten Wassily Schuisky zum Zaren gewählt hatten, trat ein zweiter falscher Dmitry auf und zwar zu Putiwl an der lithauischen Gränze. Dieser zweite Schwindler, welcher sich für den am 17. Mai zu Moskau ermordeten und zerfetzten, angeblich aber wunderbarer Weise geretteten Dmitry ausgab, stand in jeder Beziehung weit unter seinem Vorbild und Vorgänger. Aber trotzdem fand „der Dieb von Tuschino“, unter welchem Namen er in der Geschichte Russlands verrufen ist, Glauben, Anhang und Unterstützung. König Sigismund und die polnischen Magnaten benützten ihn als Werkzeug der polnischen Politik. Aber die stärkste Leistung von Schamlosigkeit in dieser schamlosen Posse von Kabale war doch, daß Marina Mniszek in dem Dieb von Tuschino ihren „wiedererstandenen“ Gemahl erkannte und anerkannte, mit ihm lebte und einen Sohn von ihm hatte. Nun folgte ein grauenhaftes Wirrsal, ein Bürgerkrieg in Russland, ein polnischer Einbruch, in dessen Verlauf König Sigismund nahe daran war, erst seinen Sohn, dann sich selber zum russischen Zaren zu machen. Endlich wurde auch der zweite falsche Demetrius getödtet, sein Sohn erwürgt, und verscholl Marina in einem russischen Klosterkerker. Russland aber erhob sich aus allen diesen Trubeln und Trübsalen erst 1613 wieder zu einer festen Staatsordnung und zwar mittels der Gründung der Dynastie Romanow, welche in der Person von Michail Fedrowitsch Romanow am 21. Februar des genannten Jahres auf den Zarenthron gelangte.
Unsere Abbildung von Frankfurt am Main. In der auf Seite 476 und 477 gegebenen Illustration entrollt unser Zeichner ein sehr anschauliches Bild von dem heutigen Frankfurt am Main. Mit Recht hat derselbe das linke untere Mainufer (Schaumainquai) nahe der (hier nicht sichtbaren) Eisenbahnbrücke als Aussichtspunkt gewählt, denn von hier aus präsentirt sich die Stadt am vortheilhaftesten. Was sich zunächst im Vordergrunde des Bildes ausbreitet, die Dürerstraße mit ihren stattlichen Villen und Gärten, gehört zu der Vorstadt Sachsenhausen, welche von Frankfurt durch den Main geschieden ist. Der große Bau, welcher links vom Beschauer die Ecke des Vordergrundes füllt, enthält das erst seit Kurzem dahin verlegte Städel'sche Kunstinstitut, eine weitberühmte Gemälde- und Kupferstichsammlung. Lassen wir von hier aus den Blick auf das andere Stromufer wandern und den Ziffern folgen, womit der Zeichner über dem gegen Berge und Himmel sich abgrenzenden Stadtprofil die bemerkenswertesten Gebäude hervorgehoben hat, so finden wir weiter links zunächst die Irrenanstalt, einen Prachtbau im gothischen Stil, genannt „zum Affenstein“; ferner das großartige der Vollendung nahe neue Opernhaus am Bockenheimer Thor, mit Raum für mehr als 2000 Zuschauer, dessen Bau an 6 Millionen Mark gekostet. Ein Stück weiter rechts ragt die neue Börse (hinter dem alten Theater), welche den Erbauern auch nicht eben billig zu stehen kam – der Bau verschlang 3 Millionen. Der Eschenheimer Thurm ist ein Ueberbleibsel der alten Stadtbefestigung, um 1350 erbaut; die Katharinenkirche, inmitten der Stadt an der Zeil gelegen, entstand zwischen 1678 und 1680; die Friedberger Warte, ein Wartthurm aus dem Mittelalter, begrenzt das Weichbild der Stadt im Norden. Ein den Lesern der „Gartenlaube“ vertrauter Name ist derjenige der Paulskirche, welche der Sitz des ehemaligen deutschen Parlaments in den Jahren 1848 und 1849 gewesen ist; nicht minder aber derjenige des weltberühmten Römers, der einst mit seinem Kaisersaal die Stätte der Krönungsmahle war und jetzt der Stadt als Rathhaus dient. Die nahebei gelegene katholische Leonhardskirche, die lutherische Nicolaikirche und die Hauptsynagoge am Ausgange der Judengasse zählen zu den hervorragenderen kirchlichen Gebäuden der Stadt; der benachbarte Kirchthurm gehört zur Vorstadt Bornheim (ehedem selbstständige Ortschaft, jetzt zur Stadt gehörig). Der Saalhof, das heißt die einstige Sala Ludwig's des Frommen, ist die Geburtsstädte Karl's des Kahlen, zugleich der Sterbeort Ludwig's des Deutschen; später Kaufhalle, birgt er jetzt das Conservatorium für Musik. Der Dom ist, als Wahl- und Krönungskirche der deutschen Kaiser, wohl das historisch merkwürdigste Gebäude Frankfurts; sein Thurm heißt im Volksmunde „Pfarrthurm“. Das städtische Archivgebäude am Weckmarkt enthält ein historisches Museum, während das Fürsteneck am Farthor ein altes herrschaftliches Absteigequartier ist. Ein Stück weiter hin folgt der neue zoologische Garten, im Ostend, auf der ehemaligen Pfingstweide. Der „Palmengarten“, eines der berühmtesten Institute Frankfurts, ist, weil im äußersten Westende gelegen, auf unserem Bilde nicht sichtbar. Die alte Mainbrücke, aus dem Jahre 1342 stammend, ist dieselbe, welche Hutten in seinen Distichen erwähnt. Die städtische Bibliothek bietet nichts besonders Bemerkenswerthes, wogegen die Gerbermühle am jenseitigen Ufer, oberhalb Sachsenhausens, durch Goethe's Verkehr mit Marianne v. Willemer („Suleika“) bekannt ist. Das Deutschherren-Haus an der alten Brücke war im Mittelalter ein unantastbares Asyl für verfolgte Ritter des deutschen Ordens. Die Wasch- und Bade-Anstalt mit dem hohen Schornstein sowie die Dürerstraße gehören zu Sachsenhausen, und die letztere führt uns wieder zu unserem Ausgangspunkte, dem Städel'schen Institut, zurück.
Dom Pedro der Zweite und die brasilianischen Protestanten. In Bezug auf das Verhalten des brasilianischen Monarchen zu dem gescheiterten Versuch, den deutsch-protestantischen Brasilianern das passive Wahlrecht neben dem activen zu verschaffen erhielten wir aus dem kaiserlich brasilianischen Generalconsulat zu Hamburg die nachfolgende Zuschrift:
„Ein unter der Ueberschrift 'Von unseren Landsleuten in Rio Grande do Sul' in Nr. 4 des laufenden Jahrgangs der 'Gartenlaube' erschienener Artikel hebt die Zurücksetzung und Benachtheiligung der deutschen Protestanten Brasiliens durch das im Reiche geltende Wahlgesetz hervor. Zugleich aber bemerkt der Verfasser über den im Ministerrath und in den Kammern gescheiterten Antrag auf Beseitigung jenes Wahlsystems: 'Ein Wort des Kaisers hätte genügt, die Frage zu Gunsten der Protestanten zu erledigen.' Diese Auffassung ist nicht zutreffend. Durch zuverlässige Erkundigungen fühlt sich vielmehr der Unterzeichnete zu der Entgegnung ermächtigt: Nein, ein Wort des Kaisers hätte nicht genügt, die Frage der Wählbarkeit der Nichtkatholiken zur Entscheidung zu bringen, und eben nur weil der Kaiser hierüber keiner Täuschung sich hingeben konnte, wurde das betreffende Wort von ihm nicht gesprochen. Nicht minder als Herr Silveira Martins erkannte Dom Pedro der Zweite die Gerechtigkeit der Forderung des gleichen Wahlrechts der Protestanten an. Erklärte er gleichwohl, in Uebereinstimmung mit der Majorität des Ministeriums Sinimbú, der aus den Herren Silveira Martins und Baron von Villa-Bella bestehenden Minorität gegenüber sich gegen Aufnahme einer bezüglichen Bestimmung in die Wahlreform-Vorlage, so war, was ihn dazu veranlaßte, die Rücksicht auf die Schwierigkeiten, denen eine derartige Bestimmung bei der Mehrheit des Senats zu begegnen und an welchen dann das ganze Gesetz zu scheitern drohte.
Vor Allem gelte es, das war die klar ausgesprochene Tendenz des kaiserlichen Votums, die Wahlreform in ihren Hauptpunkten unter Dach zu bringen, und sei deshalb vorerst alles von ihr abzuscheiden, was ihren Erfolg, sei es in dem einen, sei es in dem andern Hause des Parlaments, in Frage stellen könne. Seien deren Hauptpunkte erst einmal in's Leben getreten, so werde in den auf Grund derselben gewählten Kammern nur um so leichter und sicherer auch den Nichtkatholiken ihr augenblicklich noch nicht durchzusetzendes Recht verschafft werden können. – Gewiß ist, daß irgend welche Mißgunst oder auch nur Gleichgültigkeit gegen das Recht der nichtkatholischen Bürger des Reiches an der fraglichen Entschließung des Kaisers keinen Theil hatte, und somit auch zu dem 'bitteren Grolle gegen die Krone', von welchem der Artikel spricht, ein Grund nicht gegeben war.
Daß im Gegentheil es des Kaisers Ernst ist und war, auch den Nichtkatholiken Brasiliens politische Gleichberechtigung zu gewähren, dafür spricht die Thatsache, daß der Ex-Ministerpräsident Sinimbú in dem veröffentlichten Schreiben an seinen Amtsnachfolger Saraira (wegen Bildung eines neuen Ministeriums) Letzteren im Namen des Kaisers ausdrücklich auffordert, durch das Wahlreform-Gesetz die Wählbarkeit der Nichtkatholiken festzustellen, welcher Umstand in der That nunmehr bestätigt wird durch den vom jetzigen Ministerium am 25. Mai dieses Jahres der Deputirten-Kammer zur Berathung vorgelegten Wahlreform-Gesetzentwurf, dessen Artikel lautet:
'Wähler ist jeder brasilianische Staatsbürger, eingeboren oder naturalisirt, katholisch oder nichtkatholisch, frei geboren oder frei gelassen; erstens wenn er über einundzwanzig Jahre alt etc.
Es bestimmt nämlich Artikel 8 des neuen Regierungsentwurfes, daß 'wählbar zum Amte eines Senators, eines General-Deputirten, eines Mitgliedes der gesetzgebenden Provinzial-Versammlung, eines Municipalrathes, eines Friedensrichters, oder zu einem jeden anderen gesetzlich geschaffenen Amte jeder in Artikel 2 einbegriffene Staatsbürger sei, unter einigen Beschränkungen in Bezug auf Alter, Stellung etc., aber durchaus nicht in Bezug auf das Glaubensbekenntniß.'
Hamburg, im Juni 1880. Baron von Paraguassú.“
Zu erinnern ist hier, daß der betreffende, das Verhalten Dom Pedro's rügende Artikel bereits in der letzten Januar-Nummer der „Gartenlaube“ erschienen ist, also vier Monate vor Erlaß des genannten neuen Gesetzvorschlages. Die Folge muß es ja nun zeigen, ob die in dem obigen Berichtigungsschreiben von officiöser Seite her so ausdrücklich erklärte und versicherte Theilnahme des Kaisers für die Forderungen der Toleranz und des gleichen Rechts sich fortan auch thatsächlich und in entschlossenem Widerstande gegen die Ansprüche des Fanatismus erweisen wird. Wir werden diese wichtige Angelegenheit jedenfalls im Auge behalten.
- ↑ Am 15. dieses Monats feiert der kernig deutsche, geistvolle Vorkämpfer eines gesunden Protestantismus und tapfere Märtyrer für die Volkssache in schwerer Zeit, von welchem obiger Aufsatz handelt, das fünfzigjährige Jubiläum des Antritts seiner Lehrthätigkeit an der Universität Jena. Den Glückwünschen, welche dem in seltenem Maße von der Liebe und Verehrung weiter Kreise getragenen Manne zuströmen werden, fügt auch die „Gartenlaube" den ihrigen hinzu. D. Red.
- ↑ Letzterer, unter dem Namen „Flauschmüller“ bekannt, ist schon öfters in der „Gartenlaube“ erwähnt worden.
- ↑ Man kennt Platen’s Worte im „Romantischen Oedipus“:
„Hast Du denn auf Deinen Reisen nichts als Heuchlervolk erblickt,
Auch nicht Einen, der zum Himmel brünstige Gebete schickt? –
Ein einz’gen Frommen sah ich, den das Erzgebirg gebar,
Der, was Andre tölpisch äffen, wirklich in der Seele war.“ - ↑ Der bekannte Wupperthaler Dichter Adolf Schults (vergl. „Gartenlaube“ 1858, Nr. 34).D. Red.
- ↑ Vergl. dazu die Notiz: „Unsere Abbildung von Frankfurt am Main“ unter „Blätter und Blüthen“.
- ↑ stoßen.
- ↑ liegt.
- ↑ Mund.
- ↑ dargeboten.
- ↑ Hinüber.
- ↑ Herunterhunzer, Tadler.
- ↑ Mainbrücke.
- ↑ pfarrthurmsdick.
- ↑ In dieser Denkschriftensammlung befinden sich auch zwei von Deutschen herrührende: „Die Chronik von Moskau“ von Martin Bär und die „Denkwürdigkeiten“ von Georg Peyerle. Martin Bär hat zur Zeit des falschen Demetrius als lutherischer Pastor in Moskau gelebt. Es stellte sich aber heraus, daß die Bär’sche Chronik größtentheils nur die Abschrift der Aufzeichnungen eines andern Deutschen ist, des Konrad Bussow, welcher ebenfalls zur Zeit der Dmitry-Episode zu Moskau und Kaluga sich aufgehalten hat. Hanns Georg Peyerle war ein augsburger Kaufmann, welcher zur gleichen Zeit von geschäftswegen in Rußland sich befand. Für eine Quelle zweiten Ranges kann gelten das bald nach den bezüglichen Ereignissen, 1620, in Leipzig erschienene Buch: „Historien und Berichte von dem Großfürstenthum Muschkow“, publicirt durch Petrum Petrejum von Erlesunda!