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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[481]

No. 30.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Frühlingsboten.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Der nächste Tag brachte unfreundliches Herbstwetter. Nebel und Staubregen hüllten die Landschaft ein; an den Blumen und Gesträuchen zeigten sich die Spuren des ersten Nachtfrostes.

In Ettersberg steckte die Dienerschaft die Köpfe zusammen und fragte, was denn eigentlich vorgefallen sei; denn vorgefallen war etwas, das stand fest. Gestern Nachmittag, bei dem Besuche der Brunnecker Herrschaften, war noch Alles Heiterkeit und Eintracht gewesen; aber bald darauf, von dem Augenblicke an, wo der junge Graf aus dem Zimmer seiner Mutter gekommen war, herrschte eine völlige Zerstörung.

Der Graf hatte sich seitdem eingeschlossen und wurde nicht wieder sichtbar. Die Gräfin war, wie die Kammerfrau behauptete, sehr krank, ließ aber Niemand zu sich und hatte sogar verboten, den Arzt zu rufen. Baron Heideck endlich hatte heute Morgen schon zweimal vergebens versucht, Einlaß bei seinem Neffen zu erlangen. Auch für ihn blieb die Thür geschlossen. Je weniger man im Schlosse an Familienscenen gewöhnt war, desto freieren Spielraum hatten die Vermuthungen, die freilich auch nicht annähernd das Richtige trafen.

Jetzt war es beinahe Mittag geworden. Heideck hatte soeben einen dritten Versuch gemacht, zu dem jungen Grafen zu gelangen, aber auch diesmal ohne Erfolg. Der alte Eberhard stand rathlos und bestürzt neben dem Baron, der jetzt mit voller Entschiedenheit sagte: „Ich muß zu meinem Neffen, koste es was es wolle. Es ist unmöglich, daß er dieses Pochen und Rufen überhören kann. Es muß irgend etwas passirt sein.“

„Ich habe den Herrn Grafen unaufhörlich auf- und niedergehen hören,“ wandte Eberhard ein. „Erst seit einer halben Stunde ist es drinnen still geworden.“

„Gleichviel!“ erklärte Heideck. „Er kann in Folge seiner Wunde einen neuen Blutverlust, eine Ohnmacht gehabt haben. Es bleibt nichts Anderes übrig, als die Thür mit Gewalt zu öffnen.“

„Vielleicht gäbe es noch ein anderes Mittel,“ sagte Eberhard zögernd. „Die kleine Tapetenthür, die von der Garderobe des Herrn Grafen nach dem Schlafzimmer führt, ist wahrscheinlich nicht verschlossen; wenn wir –“

„Und das sagen Sie erst jetzt?“ unterbrach ihn Heideck heftig. „Warum erfuhr ich das nicht schon heute Morgen? Zeigen Sie mir sofort den Zugang!“

Der alte Diener ließ den Vorwurf schweigend über sich ergehen. Er glaubte nicht an den Vorwand von Ohnmacht und Blutverlust, mit dem man das gewaltsame Eindringen decken wollte; denn er hatte deutlich die Schritte seines jungen Gebieters gehört, aber auch gefühlt, daß dieser um jeden Preis allein sein wollte. Jetzt freilich blieb nichts übrig, als den Zugang zu zeigen, der sich in der That als unverschlossen erwies.

Heideck winkte dem Diener, zurückzubleiben, und ging allein zu seinem Neffen, indem er die kleine Tapetenthür sorgfältig hinter sich verriegelte. Das Schlafzimmer war leer, das Bett unberührt. Mit raschen Schritten trat der Baron in das anstoßende Wohngemach, und unwillkürlich entrang sich seiner Brust ein erleichternder Athemzug, als er Edmund erblickte. Er hatte einige Minuten lang das Aergste gefürchtet.

„Edmund, ich bin es,“ sagte er halblaut.

Es erfolgte keine Antwort. Der junge Graf schien die Schritte des Nahenden nicht vernommen, die Anrede nicht gehört zu haben. Er lag auf dem Sopha, das Gesicht in die Polster gedrückt, wie todtmüde hingeworfen. Die Stellung verrieth jene tödtliche Erschöpfung, die als ein Rückschlag nach der äußersten Anstrengung einzutreten pflegt.

„Wie konntest Du uns so ängstigen!“ sagte Heideck in vorwurfsvollem Tone. „Dreimal bin ich heute schon vergebens an Deiner Thür gewesen und habe mir endlich halb mit Gewalt den Eingang erzwingen müssen.“

Auch diesmal kam keine Erwiderung; Edmund verharrte in seiner unbeweglichen Stellung. Der Oheim trat näher und beugte sich über ihn.

„So gieb mir doch wenigstens eine Antwort! Du bist gestern Abend wie ein Wahnsinniger davon gestürzt, ohne zu hören, ohne Dich halten zu lassen. Hoffentlich bist Du jetzt ruhiger geworden und kannst mich wenigstens anhören. Ich komme eben von Deiner Mutter –“

Dieses letzte Wort schien endlich einige Wirkung zu äußern. Edmund zuckte leise zusammen und richtete sich empor; aber Baron Heideck fuhr erschrocken zurück bei seinem Anblick.

„Um Gotteswillen – was ist Dir? Wie kannst Du Dich so niederwerfen lassen?“

Die Züge des jungen Grafen waren in der That so verändert, daß man ihn kaum wieder erkannte. Der Blitzstrahl, der ihn getroffen, hatte mit einem Schlage alle Lebenskraft und allen Lebensmuth vernichtet; das zeigten seine erloschenen Augen und der Ausdruck völliger Gebrochenheit in Haltung und Sprache, als er erwiderte:

[482] „Was kann ich denn noch hören?“

„Du weißt noch gar nichts Näheres. Hast Du wirklich keine einzige Frage an mich?“

„Nein!“

Heideck blickte seinen Neffen unruhig an; ein leidenschaftlicher Ausbruch wäre ihm lieber gewesen, als diese starre Theilnahmlosigkeit. Er setzte sich neben Edmund und ergriff seine Hand; dieser ließ es ohne Widerstand geschehen; er schien kaum zu wissen, was um ihn her vorging.

„Ich habe gestern Alles aufgeboten, Dir die Wahrheit zu verhehlen,“ fuhr der Baron fort; „denn auch ich bin vielleicht nicht ohne Schuld in dieser unglückseligen Sache. Ich habe damals eigenmächtig und gewaltsam in das Schicksal zweier Menschen eingegriffen und das hat sich schwer gerächt. Meine Absicht freilich war die beste. Ich wußte, daß der junge Officier, der meine Schwester liebte und dem sie sich heimlich verlobt hatte, ebenso arm war, wie sie selber. Er konnte ihr keine Zukunft, konnte ihr überhaupt erst nach langen Jahren seine Hand bieten, und ich liebte Constanze zu sehr, um sie in Sorgen und Trauer verblühen zu lassen. Als ich sie von dem Jugendgeliebten losriß und sie bestimmte, die Hand des Grafen Ettersberg anzunehmen, geschah es in der festen Ueberzeugung, daß es sich nur um eine flüchtige, romantische Mädchenneigung handelte, die mit der Vermählung zu Ende sei. Hätte ich geahnt, wie tief diese Leidenschaft wurzelte, ich hätte niemals eingegriffen. – Erst nach Jahresfrist, als ich erfuhr, daß jenes Regiment in die Ettersberg zunächst liegende Garnison versetzt worden war, kam mir eine Ahnung der Gefahr, und mein nächster Besuch hier machte diese Ahnung zur Gewißheit. Die alte Jugendliebe war bei dem Wiedersehen in ihrer ganzen Macht wieder aufgeflammt und zur Leidenschaft geworden, die alle Schranken niederriß. Als ich das entdeckte, als ich zwischen die Beiden trat und sie gewaltsam zum Bewußtsein ihrer Pflichten zurückrief, da – war es bereits zu spät.“

Er hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten. Edmund zog seine Hand aus der des Oheims und stand auf.

„Weiter!“ sagte er mit halberstickter Stimme.

„Ich habe nichts weiter hinzuzufügen; mit jener Trennung war Alles zu Ende. Ich sagte Dir bereits gestern, daß das Bild einen Todten darstelle. Er fiel schon im nächsten Jahre, als eines der ersten Opfer des damals ausbrechenden Krieges. Meine Schwester hat ihn nie wiedergesehen. – Nun kennst Du den Zusammenhang, und nun versuche, Dich zu fassen! Ich begreife es ja, daß der Schlag Dich furchtbar trifft. Du mußt ihn eben als ein Verhängniß nehmen.“

„Jawohl, als ein Verhängniß!“ wiederholte Edmund. „Du siehst es ja, daß ich ihm erliege.“

„Man erliegt nicht so leicht dem ersten Sturm des Lebens,“ sagte Heideck ernst. „Du wirst es auch lernen zu tragen, was Du doch nun einmal tragen mußt. Aber jetzt raffe Dich auf und entreiße Dich diesem trostlosen Brüten über das Unabänderliche! Willst Du nicht endlich zu Deiner Mutter kommen?“

Der junge Graf machte eine heftig zurückweisende Bewegung.

„Nein, Onkel! Verlange das nicht von mir – nur das nicht!“

„Edmund, sei vernünftig! Du kannst Dich doch nicht ewig in Deinen Zimmern einschließen.“

„Ich verlasse sie noch heute. Ich reise in zwei Stunden ab.“

„Du willst fort? Wohin denn?“

„Nach der Residenz – zu Oswald.“

„Zu Oswald?“ rief Heideck, indem er jäh von seinem Sitze emporfuhr und seinen Neffen anstarrte, als habe er nicht recht gehört. „Bist Du von Sinnen?“

„Habt Ihr vielleicht geglaubt, ich werde mich zum Mitschuldigen des Verrathes machen?“ brach Edmund aus, dessen bisherige unheimliche Ruhe jetzt einem fieberhaften Aufflammen wich. „Habt Ihr es wirklich für möglich gehalten, daß ich schweigen und fortfahren würde, den Majoratsherrn zu spielen, während der rechtmäßige Erbe vertrieben und in ein Leben voll Entbehrungen hinausgejagt wird? Wenn Ihr das vermochtet – ich vermag es nicht. Wie ich das Furchtbare ertragen werde, und ob ich es überhaupt tragen kann, das weiß ich nicht. Aber eins weiß ich: ich muß zu Oswald, muß ihm sagen, daß er betrogen ist, daß ihm die Herrschaft in Ettersberg gebührt. Er soll Alles wissen und dann – werde aus mir, was da will.“

Heideck hatte mit tödtlichem Schrecken zugehört. Was er auch gefürchtet haben mochte – auf diese Wendung war er nicht gefaßt gewesen. Wenn Edmund erfuhr, daß Oswald das Geheimniß bereits kannte oder doch wenigstens ahnte, so war eine Erklärung zwischen den Beiden nicht mehr zu verhindern, und dann stürzte Alles zusammen. Der Oheim erkannte die unabsehbaren Folgen einer derartigen Katastrophe besser, als sein leidenschaftlicher Neffe, und war entschlossen, sie um jeden Preis abzuwenden.

„Du vergissest, daß es sich hier nicht um Dich allein handelt,“ sagte er mit Nachdruck. „Hast Du bedacht, wen Du mit diesem Geständniß anklagst?“

Edmund zuckte zusammen, und die fieberhafte Gluth, die eben noch sein Antlitz färbte, wich einer Leichenblässe.

„Oswald ist von jeher der Feind Deiner Mutter gewesen,“ fuhr Heideck fort. „Er hat sie stets gehaßt, und sie hat sich niemals darüber getäuscht. Willst Du wirklich ihm, gerade ihm das Geständniß machen, das sie vernichtet? Er wird triumphiren, wenn er die gehaßte Frau endlich im Staube vor sich sieht, wenn der eigene Sohn –“

„Onkel, hör' auf!“ unterbrach ihn Edmund mit einem wilden Aufschrei. „Ich ertrage das nicht.“

„Ich habe nicht geglaubt, daß Du auch nur einen Augenblick zwischen Deiner Mutter und Oswald schwanken könntest,“ sagte der Baron finster. „Du hast hier überhaupt keine Wahl; Du mußt Dich der Nothwendigkeit beugen.“

Edmund hatte sich in einen Sessel geworfen und das Gesicht in den Händen verborgen; ein leises Stöhnen rang sich aus seiner Brust hervor.

„Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, zu schweigen und das zu unterstützen, was Du Verrath nennst?“ fragte der Oheim nach einer kurzen Pause. „Aber ich wiederhole Dir: es gab und giebt hier keine Wahl für Dich. Das Majorat ist nicht übertragbar und haftet an Deiner Person. Du mußt entweder Herr in Ettersberg bleiben, oder aller Welt das Geheimniß aufdecken, und dann wird die Ehre der Ettersberg wie die der Heideck rettungslos preisgegeben. Einen anderen Ausweg giebt es nicht. Das habe ich damals meiner Schwester in's Gedächtniß gerufen, als sie auf dem Punkte stand, sich ihrem Gemahl zu entdecken, und das rufe ich Dir jetzt zu. Du mußt schweigen! Wenn Oswald's Zukunft dabei geopfert wird, so können wir das nicht ändern. Die Familienehre steht höher, als sein Recht.“

Er sprach mit eiserner Ruhe, aber eben deshalb wirkten seine Worte um so tiefer, und Edmund fühlte nur zu sehr deren Wahrheit. Es war ein verzweifelter Kampf zwischen dem Rechtsgefühl des jungen Mannes und der Nothwendigkeit, die man ihm so gebieterisch vor Augen hielt. In seinem Inneren klang noch Oswald's Frage: „Und wenn Du schweigen müßtest, um der Familienehre willen?“ Er war freilich weit entfernt, dieser Frage des Vetters eine tiefere Bedeutung beizulegen oder dessen Kenntniß der Wahrheit zu ahnen. Jenes Gespräch hatte sich ja ganz selbstverständlich und natürlich ergeben. Damals war der junge Graf in so leidenschaftlicher Empörung aufgeflammt, weil man es wagte, seiner Mutter eigennützige Berechnung vorzuwerfen. Er hatte so stolz und verächtlich erklärt, daß er keinen Schatten, keine Lüge in seinem Leben dulde, daß er der Welt mit freier Stirn gegenüber treten müsse. Das war vor zwei Tagen gewesen, und jetzt –?

Baron Heideck verlor keine Zeit, seinen Sieg zu einem vollständigen zu machen. Er ergriff das letzte und wirksamste Mittel dazu.

„Und nun komm zu Deiner Mutter!“ sagte er in weicherem Tone. „Du weißt nicht, in welchem Zustande sie seit gestern Abend ist. Sie wartet in Todesangst auf eine Nachricht von Dir, auf ein Wort aus Deinem Munde. Komm!“

Edmund ließ sich willenlos emporziehen und einige Schritte führen; an der Thür aber blieb er plötzlich stehen.

„Ich kann nicht.“

Heideck, der bereits die von innen verschlossene Thür geöffnet hatte, achtete nicht auf diesen Protest, sondern suchte seinen Neffen fortzuziehen; aber dieser widerstrebte jetzt entschieden.

„Ich kann die Mutter nicht sehen. Dränge mich nicht dazu, Onkel, zwinge mich nicht, oder – Du erlebst eine Wiederholung der gestrigen Scene!“

[483] Er machte sich los und riß an der Klingel. Eberhard trat ein.

„Mein Pferd!“ befahl der junge Graf. „Es soll augenblicklich gesattelt werden.“

„Aber ist denn Alles, was ich Dir vorgehalten habe, umsonst gewesen?“ rief Heideck verzweiflungsvoll, als der Diener sich entfernt hatte. „Kannst Du wirklich noch an die Abreise denken?“

„Nein, ich werde bleiben. Aber ich muß hinaus in’s Freie, wenn ich nicht ersticken soll. Laß mich, Onkel!“

„Erst gieb mir Dein Wort darauf, daß Du nichts Unsinniges, nichts Verzweifeltes unternehmen willst! Du bist jetzt zu Allem fähig. Was soll ich Deiner Mutter sagen?“

„Was Du willst. Ich habe nichts vor, als ein paar Stunden im Freien umherzujagen. Vielleicht wird es dann besser!“

Damit eilte Edmund davon. Der Oheim machte keinen Versuch mehr, ihn zu halten. Er sah, daß hier weder Zureden noch Beruhigen half. Vielleicht war es am besten, den Sturm austoben zu lassen.

Stunde auf Stunde verging, es war Nachmittag, war beinahe Abend geworden, und noch immer kehrte der junge Graf nicht zurück. Im Schlosse wuchs die Besorgniß über sein Ausbleiben mit jeder Minute. Baron Heideck machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er den Neffen in einer solchen Stimmung fortgelassen, und er durfte das nicht einmal zeigen, sondern mußte noch Kraft und Besinnung für seine Schwester haben, die der Angst zu erliegen drohte. Sie eilte von Zimmer zu Zimmer, von Fenster zu Fenster und hatte für die Trostesworte ihres Bruders nur ein stummes, verzweiflungsvolles Ablehnen. Sie kannte freilich ihren Sohn am besten und wußte, was zu fürchten stand.

„Es nützt wirklich nichts, Constanze, wenn wir Boten aussenden,“ sagte Heideck, der jetzt neben ihr am Fenster stand. „Wir kennen ja nicht einmal annähernd die Richtung, die Edmund eingeschlagen hat, und das Aufsehen und Kopfschütteln unter der Dienerschaft wird dadurch nur größer. Der Tollkopf muß sich doch nun ausgejagt haben; jetzt, wo es dämmert, wird er sicher schon auf dem Rückwege sein.“

„Oder er ist dennoch abgereist,“ flüsterte die Gräfin, deren Blick nicht einen Moment die zum Schlosse führende Allee verließ.

„Nein!“ entgegnete Heideck mit vollster Bestimmtheit. „Seit ich ihm klar gemacht habe, wen sein Geständniß trifft, steht das nicht mehr zu fürchten. Zu Oswald ist er in keinem Falle, aber –“ Er unterdrückte die Fortsetzung mit Rücksicht auf die Gräfin. Auch er begann jetzt irgend einen Verzweiflungsschritt seines Neffen zu fürchten, eine Lösung, die noch schlimmer war, als das Geständniß an Oswald.

Es war wieder trostloses Schweigen eingetreten, wie so oft schon am heutigen Nachmittage. Da plötzlich fuhr die Gräfin mit einem Ausruf empor und beugte sich weit vor. Heideck, der ihrem Beispiel folgte, konnte nichts entdecken, aber das Auge der Mutter hatte trotz Nebel und Dämmerung den Sohn erkannt, der jetzt am Ende der Allee erschien. Die Selbstbeherrschung der Gräfin war zu Ende; sie dachte nicht daran, daß sie bei der Dienerschaft noch für krank galt, fragte nicht, wie Edmund ihr begegnen würde. Sie wollte ihn nur sehen, nur wieder haben und eilte ihm entgegen, so schnell, daß ihr Bruder kaum folgen konnte.

Sie mußten noch einige Minuten drunten im Vestibül warten, denn der junge Graf, der in rasender Carrière davongesprengt war, kehrte jetzt im Schritt zurück. Das über und über mit Schweiß bedeckte Pferd zitterte am ganzen Leibe, als es endlich stille stand. Es war augenscheinlich dem Zusammenbrechen nahe, und der Reiter schien in einem ähnlichen Zustande zu sein. Er, der sich sonst so leicht aus dem Sattel schwang, stieg heute beinahe mühsam ab, und es kostete ihn sichtliche Anstrengung, die wenigen Stufen bis zu dem Eingange hinaufzusteigen.

Die Gräfin stand an derselben Stelle, wo sie damals den Sohn bei der Rückkehr von seiner Reise empfangen hatte, wo er so stürmisch und glückstrahlend in ihre Arme geflogen war. Heute bemerkte er die Mutter nicht einmal. Seine Kleidung war völlig durchnäßt vom Regen, das Haar lag ihm schwer und feucht in der Stirn, und langsam, ohne aufzusehen, trat er ein und wandte sich nach der Treppe.

„Edmund!“

Der Ruf klang bebend, halb gebrochen. Edmund blickte auf und sah erst jetzt seine Mutter, die dicht vor ihm stand. Sie sprach kein Wort weiter, aber er las in ihrem Auge all die Todesangst und Todesqual der letzten Stunden. Und als sie jetzt die Arme nach ihm ausstreckte, da wich er nicht zurück, sondern beugte sich zu ihr nieder. Seine Lippen berührten feucht und eiskalt ihre Stirn, und leise, nur ihr allein verständlich sagte er:

„Sei ruhig, Mutter! Ich will versuchen, es zu tragen – um Deinetwillen.“




Oswald befand sich bereits seit zwei Monaten in der Residenz und hatte dort die freundlichste Aufnahme gefunden. Justizrath Braun nahm unter den dortigen Rechtsgelehrten eine der ersten Stellen ein und stand dem Sohne seines verstorbenen Freundes in jeder Beziehung helfend und fördernd zur Seite. Er hatte volles Verständniß für die Handlungsweise des jungen Mannes, der sich mit solcher Energie einem äußerlich bequemen und glänzenden Leben entriß, weil er es nicht ertragen konnte, seine Existenz als Wohlthat aus den Händen seiner Verwandten zu empfangen und dafür zeitlebens eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Der Justizrath und seine Gattin waren kinderlos, und der junge Gast wurde von ihnen fast wie ein Sohn empfangen und betrachtet. Oswald warf sich mit leidenschaftlichem Eifer in die Arbeit, und das unmittelbar bevorstehende Examen ließ ihm wenig Zeit, an das zurückzudenken, was er in Ettersberg verlassen hatte; aber es befremdete ihn doch, daß gar keine Nachricht von dort eintraf. Auf seinen ersten ausführlichen Brief hatte Edmund allerdings geantwortet – nur wenige Zeilen, die eigenthümlich gezwungen lauteten und ihre auffallende Kürze mit der noch immer nicht ganz geheilten Wunde an der Hand entschuldigten. Der zweite Brief dagegen harrte noch immer der Beantwortung; und doch waren schon Wochen seit seiner Absendung vergangen.

Oswald wußte freilich, daß er mit der Rücksendung jenes Bildes die Brücke zwischen sich und der Gräfin abgebrochen hatte und daß sie jetzt alles daran setzen werde, das Band zu lösen, das ihn noch mit ihrem Sohne verknüpfte; aber es war unmöglich, daß Edmund so schnell und vollständig diesem Einflusse erlag. Wie leichtsinnig der junge Graf sich auch oft zeigen mochte – an der Freundschaft für seinen Vetter hatte er stets treu und unverbrüchlich festgehalten. Er konnte den Jugendfreund nicht in wenigen Wochen vergessen haben. Es mußte etwas Anderes sein, was ihn am Schreiben hinderte.

Es war in den ersten Tagen des December. Oswald hatte das Examen glänzend bestanden und wollte nun sofort seine neue Laufbahn beginnen. Justizrath Braun aber forderte entschieden, daß der junge Mann sich nach den Anstrengungen der letzten Wochen einige Ruhe gönne und sich vorläufig noch als Gast in seinem Hause betrachte. Halb widerstrebend gab Oswald nach; er fühlte freilich selbst, daß er der Erholung bedurfte nach all dem rastlosen Studiren und Arbeiten seit dem vorigen Frühjahr. In dem leidenschaftlichen Ringen nach Selbstständigkeit hatte er seinen Kräften doch etwas zu viel zugemuthet.

Der Justizrath befand sich in seinem Arbeitszimmer und hatte soeben die Geschäftsstunden beendigt, als Oswald eintrat und einen Brief, den er in der Hand hielt, zu der übrigen Correspondenz legte, die gewöhnlich um diese Zeit von dem Diener zur Post befördert wurde.

„Haben Sie nach Ettersberg geschrieben?“ fragte der alte Herr aufblickend.

Oswald bejahte; er hatte Edmund die Nachricht von dem glücklich bestandenen Examen mitgetheilt. Darauf mußte doch endlich eine Antwort erfolgen; dieses lange Schweigen fing wirklich an, beunruhigend zu werden.

„Es war soeben hier von den Gütern Ihres Vetters die Rede,“ warf der Justizrath hin. „Einer meiner Clienten beabsichtigt, dort bedeutende Holzankäufe zu machen, und zog mich über einige Punkte des Vertrages zu Rathe.“

Oswald wurde aufmerksam. „Bedeutende Holzankäufe? Das muß ein Irrthum sein. In den Ettersberg’schen Waldungen ist während der letzten Jahre so viel niedergeschlagen worden, daß sie der äußersten Schonung bedürfen. Mein Vetter weiß das und kann sich unmöglich zu einem derartigen Schritte haben bestimmen lassen.“

Der Justizrath zuckte die Achseln. „Trotzdem kann ich Ihnen versichern, daß sich die Sache so verhält. Mein Client verhandelt allerdings nicht mit dem Grafen selbst, sondern mit dessen Administrator; aber dieser muß doch wohl zu solchen Abschlüssen ermächtigt sein.“ [484] „Der Administrator verläßt in Kurzem seine Stellung,“ fiel Oswald ein. „Er erhielt schon im Sommer die Kündigung wegen vollständiger Unzuverlässigkeit. Er kann unmöglich mehr im Besitze der allerdings sehr ausgedehnten Vollmachten sein, die Baron Heideck ihm vor Jahren ertheilt hat. Ich glaubte, Edmund hätte sie zurückgezogen, als er seine Güter selbst übernahm; sollte das dennoch nicht geschehen sein?“

„Das wäre aber eine unverantwortliche Nachlässigkeit von Seiten des jungen Grafen,“ meinte der Rechtsgelehrte. „Einem Beamten, den er entläßt und mit dem er unzufrieden ist, noch monatelang derartige Vollmachten in Händen zu lassen – halten Sie das wirklich für möglich?“

Oswald schwieg; er kannte Edmund’s unglaubliche Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit in geschäftlicher Hinsicht und war überzeugt, daß sich die Sache in der That so verhielt.

„Die in Rede stehende Summe ist bedeutend,“ fuhr der Justizrath fort, der dieses Schweigen verstand. „Gleichwohl ist der Kaufpreis, wie der Käufer selbst zugiebt, sehr niedrig, da sofortige baare Auszahlung verlangt wird.“

„Ich fürchte, es handelt sich hier um Schlimmeres, als einen bloßen Uebergriff des Administrators,“ sagte Oswald unruhig. „Er galt bisher für ehrlich, jetzt aber, wo ihm die Stellung doch verloren ist, erliegt er vielleicht der Versuchung, noch einen letzten betrügerischen Vortheil aus ihr zu ziehen. Mein Vetter kann zu einer derartigen Verwüstung seiner Forsten nicht seine Zustimmung gegeben haben; ich bin überzeugt, er weiß nichts von der Angelegenheit.“

„Das ist möglich. Wenn aber die Vollmacht wirklich nicht zurückgezogen ist, wird er trotz alledem den Vertrag anerkennen müssen, der in seinem Namen abgeschlossen ist. Sie sollten einmal telegraphisch in Ettersberg anfragen, wie sich die Sache verhält; vielleicht ist eine rechtzeitige Warnung nothwendig.“

„Gewiß; wenn sie nur noch rechtzeitig eintrifft. Wann soll der Kaufvertrag abgeschlossen werden?“

„In diesen Tagen. Wahrscheinlich schon übermorgen.“

„Dann muß ich selbst nach Ettersberg,“ sagte der junge Mann entschlossen. „Eine bloße Anfrage nützt nichts. Es muß sofort eingeschritten werden; denn wie ich die Sache beurtheile, gilt es hier, einem Betruge zuvorzukommen. Edmund ist leider allzuvertrauend in solchen Dingen und läßt sich nur zu leicht durch Ausflüchte hinhalten und täuschen, bis es zu spät ist. Ich bin für den Augenblick ja frei und kann in drei Tagen zurück sein. Es ist jedenfalls am besten, wenn ich selbst meinem Vetter die nöthigen Aufschlüsse gebe, damit er ohne Verzug handeln kann.“

Der Justizrath stimmte bei. Auch ihm erschien die ganze Angelegenheit und die Eile, mit der sie betrieben wurde, im höchsten Grade verdächtig, und es gefiel ihm, daß der junge Mann, der doch beinahe mit seinen Verwandten gebrochen hatte, so entschlossen und ohne eine Minute zu zögern, eintrat, als es galt, sie vor Schaden zu bewahren.

Oswald traf noch im Laufe des Abends die Vorbereitungen für die improvisirte Reise. Ettersberg lag nicht allzuweit entfernt; wenn er mit dem Morgenzuge abreiste, konnte er schon um die Mittagszeit dort sein. Er fand leicht irgend einen Vorwand, um den Aufenthalt auf einen oder zwei Tage zu beschränken, und die Vermählungsfeier, der er um jeden Preis ausweichen wollte, sollte ja erst um die Weihnachtszeit stattfinden.

In Ettersberg ahnte man natürlich nichts von dem bevorstehenden Besuche. Man hatte dort vollauf zu thun mit den Vorbereitungen für die Hochzeit und für den Einzug des jungen Paares in seine künftige Heimath. Die Einrichtungen im ersten Stockwerke des Schlosses, das der Graf mit seiner Gemahlin bewohnen sollte, waren noch immer nicht ganz vollendet; außerdem galt es noch, Schönfeld für die Gräfin Mutter in Bereitschaft zu setzen, die gleich nach der Hochzeit dorthin übersiedeln wollte.

Der Entschluß der Gräfin, Ettersberg bei der Vermählung ihres Sohnes zu verlassen, war sehr überraschend gekommen. Sie hatte wohl früher bisweilen davon gesprochen, aber es war ihr niemals Ernst damit gewesen, und sie fügte sich nur zu gern dem leidenschaftlichen Proteste Edmund’s, der nichts von der Trennung wissen wollte. Jetzt aber schienen Beide ihre Ansichten geändert zu haben. Die Gräfin erklärte auf einmal, sie werde in Zukunft das Gut bewohnen, das ihr Gemahl in seinem Testamente ihr ausdrücklich als Wittwensitz bestimmt hatte, und Edmund erhob nicht den mindesten Widerspruch dagegen. In Brunneck war man allerdings befremdet über diesen plötzlichen Entschluß, aber durchaus mit ihm einverstanden. Der Oberamtsrath hatte das Zusammenleben mit der Schwiegermutter stets für seine Tochter gefürchtet, und die unerwartete Wendung war ihm viel zu willkommen, als daß er darüber hätte nachgrübeln sollen, was sie veranlaßte.

Man war überhaupt in den letzten beiden Monaten gar nicht recht zur Besinnung gekommen. Die Uebernahme und Einrichtung von Dornau, das, als Hedwig’s Erbtheil, ja nun doch an Ettersberg fiel, die Vorbereitungen für die sehr glänzend projectirte Vermählungsfeier, die zahlreichen Einladungen und Besuche von allen Seiten brachten eine förmlich athemlose Unruhe hervor. In der Herbstzeit herrschte überhaupt ein regeres Gesellschaftsleben unter den Gutsherrschaften der Umgegend. Es fanden überall große Jagden statt, an die sich alle möglichen anderen Festlichkeiten anschlossen. Man hatte seit dem September in einem fast ununterbrochenen Wirbel von Zerstreuungen gelebt, und wenn man wirklich einmal zu Hause und ohne Gäste war, so gab es so viel zu besprechen und zu berathen, daß von einem ruhigen Zusammensein gar keine Rede war. Rüstow hatte mehr als einmal erklärt, daß er das auf die Dauer nicht aushalte und daß er wünsche, die Hochzeit sei vorüber, um nur endlich wieder Ruhe zu haben. Der Zeitpunkt war bereits festgesetzt worden; in drei Wochen sollte die Trauung in Brunneck stattfinden, und alsdann wollten sich die Neuvermählten nach ihrer künftigen Heimath begeben.

(Fortsetzung folgt.)




Präsidentenwahlen in der Union.
Streiflichter zum Verständniß des gegenwärtigen Wahlkampfes.


Es war eine verhängnißvolle Gabe, welche mit dem Institute der Negersclaverei den Vereinigten Staaten gleich bei ihrer nationalen Gründung in die Wiege gelegt wurde. Wohl fehlte es an eindringlich warnenden Stimmen nicht, wohl wiesen die Edelsten und Besten unter den Gründern der großen transatlantischen Republik mit beredten Worten auf das Unheil hin, das aus der gesetzlich sanctionirten Sclaverei entstehen müsse – die Freiheit wurde der Einheit zum Opfer gebracht, und in wenigen Jahrzehnten hatte jenes fluchwürdige Institut eine Ausdehnung und Machtstellung gewonnen, welche nicht nur die Freiheit, sondern auch die Einheit der nordamerikanischen Union zu Grunde zu richten drohten. Den heftigsten parlamentarischen Kämpfen in den Hallen des Congresses über die Ausdehnung oder Localisirung der Negersclaverei folgte im Jahre 1861 jener erbitterte Bürgerkrieg zwischen dem sclavenhaltenden Süden und dem freien Norden, der länger als vier Jahre hindurch die Union in ihren Grundfesten erschütterte, um schließlich nach unsäglichen Opfern an Gut und Blut den sittlichen Flecken der Leibeigenschaft aus der Bundesconstitution der Vereinigten Staaten zu tilgen. Allein die böse Saat der Sclaverei hatte zu tiefe Wurzeln geschlagen, als daß die schlimmen Folgen derselben durch das Schwert allein geheilt werden konnten. Der unterworfene und „reconstruirte“ Süden fügte sich nur unwillig den militärischen Gewaltmaßregeln des Nordens. Vielleicht wäre der versöhnliche und staatskluge Abraham Lincoln, dem eines ruchlosen Mörders Hand im entscheidungsvollen Momente das Leben raubte, im Stande gewesen, durch seinen persönlichen Einfluß die feindlichen Gegensätze allmählich auszugleichen; einem Andrew Johnson war dies nicht gegeben. Noch weniger gelang es dem Präsidenten U. S. Grant, der wohl eine Schlacht zu schlagen, aber kein leidenschaftlich erregtes Volk zu regieren verstand.

Obschon ursprünglich der demokratischen Partei, wie Andrew Johnson, angehörig, warf er sich als Präsident doch vollständig dem radicalen Flügel der republikanischen Partei in die Arme. In der Finanzfrage, die seit dem Bürgerkriege eine Hauptrolle in der innern Politik der Vereinigten Staaten spielt, trat er mit der überwiegenden Mehrheit der republikanischen Partei für eine ehrliche Abzahlung der Nationalschuld und für möglichst baldige

[485]

„Nach gethaner Arbeit ist gut ruhen.“ Von W. Großmann.

[486] Wiederaufnahme der „Hartgeldzahlung“ ein, während die Demokraten in ihrer Mehrzahl und im Widerspruche zu der früher von ihnen befolgten Politik für die Vermehrung des uneinlösbaren Papiergeldes und für Zahlung der Nationalschuld und deren Zinsen in minderwerthigem Papiergelde stimmten. Nur ist es leider zu jener versprochenen Hartgeldzahlung unter ihm nie gekommen. Den Südstaaten gegenüber unterstützte er auf das Eifrigste die von den radicalen Republikanern empfohlenen, vielfach parteiischen und daher ungerechten „Reconstructionsgesetze“. Die unausbleiblichen Folgen seiner einseitigen Parteipolitik waren Conflicte ohne Ende, Mißregierung und steigende Verarmung des Südens der Union.

Am 30. März 1870 wurde jenes fünfzehnte Verfassungsamendement proclamirt, durch welches etwa vier Millionen Neger das volle politische Stimmrecht erhielten, ein Recht, zu dessen verständiger Anwendung die bis vor Kurzem in Unwissenheit und Knechtschaft versunkenen Schwarzen noch keineswegs befähigt waren. In Wahrheit sollte durch diese Maßregel auch nur der in ihrer großen Mehrheit der demokratischen Partei angehörenden weißen Bevölkerung der Südstaaten ein Paroli gebogen werden. Dazu kam, daß um diese Zeit nördliche Abenteurer, die sogenannten „Carpetbagger“, welche ihr ganzes Vermögen im Reisesacke mit sich trugen, in hellen Schaaren nach dem Süden zogen und mit Hülfe der unwissenden Neger zu Macht und Ansehen gelangten. Zu den Rückschlägen, welche eine solche Gesetzgebung und eine solche Art zu regieren nothwendiger Weise zur Folge haben mußten, gehört das Entstehen des gegen die Farbigen und jene nördlichen Aufwiegler gerichteten „Kuklux-Clan“, eines südstaatlichen Geheimbundes, der schließlich nur durch Anwendung der schärfsten Gewaltmaßregeln, welche seinem eigenen gewaltthätigen Auftreten übrigens vollkommen entsprachen, zu unterdrücken war. Derartige Ausbrüche des Rassenhasses konnten nicht wohl vermindert werden durch den parteiischen Schutz, welchen die Grant-Regierung den Negern und ihren demagogischen Leitern, den „Carpetbaggern“, angedeihen ließ.

Verschlimmert aber wurde die Lage der Dinge durch eine immer tiefer greifende Corruption in der staatlichen und communalen Verwaltung. Der Handel mit Staatsämtern und die Unterschlagung öffentlicher Gelder wurden nie so schamlos betrieben, wie unter Grant’s Regierung. In Grant’s nächster Umgebung, unter den Ministern und den persönlichen Rathgebern und Freunden des Präsidenten befanden sich die bestechlichsten und betrügerischesten Menschen. Die ehrlichen Leute schienen politisch mundtodt gemacht zu sein. Vergeblich bemühte sich die namentlich durch Karl Schurz in’s Leben gerufene Partei der „liberalen Republikaner“, die Wiedererwählung Grant’s im Jahre 1872 zu verhindern, eine Reform im Aemterwesen durchzusetzen und das jede locale Selbstregierung unmöglich machende Militärregiment im Süden aufzuheben.

Endlich trat der langerwartete Rückschlag ein. Eine Reihe öffentlicher Skandale trug wesentlich dazu bei, das Ansehen der Regierung in Washington-City und der herrschenden, das heißt der radicalen republikanischen Partei in der öffentlichen Meinung zu untergraben. Unter solchen Umständen kam die Präsidentenwahl des Jahres 1876 heran, und in diesem Jahre, in welchem die Republik der Vereinigten Staaten der Feier ihrer hundertjährigen Existenz durch Abhaltung einer internationalen Weltausstellung einen besonderen Glanz zu verleihen bestrebt war, versuchten die obengenannten „liberalen Republikaner“ oder „Unabhängigen“ abermals – diesmal mit mehr Glück, als vier Jahre zuvor, Einfluß auf die Präsidentwahl zu gewinnen.

Am 15. Mai (1876) trat zu New-York eine Conferenz der „Unabhängigen“ zusammen. Die Versammlung war zahlreich besucht, obschon nur achtzehn Unionsstaaten, darunter sehr wenige Südstaaten, Vertreter dorthin entsandt hatten. Im Namen eines von der Conferenz niedergesetzten Fünfer-Ausschusses trug Karl Schurz, der nebst dem hochgefeierten Dichter William Cullen Bryant zu den Hauptführern der unabhängigen Bewegung zählte, am folgenden Tage ein zum größten Theile aus seiner Feder stammendes „Manifest an das Volk der Vereinigten Staaten“ vor. Nach einem eindringlichen Vergleich der großartigen Vergangenheit der Union mit dem beklagenswerthen Zustande derselben in der Gegenwart ging der Aufruf zur Discussion der wesentlichsten Fragen über, welche bei der bevorstehenden Präsidentenwahl ihre Lösung finden müßten. Zunächst wurde eine versöhnliche Haltung den Südstaaten gegenüber, bei voller Wahrung der nationalen und freiheitlichen Errungenschaften des Bürgerkrieges, befürwortet, dann aber eine weise und ehrliche Lösung der Finanzfrage empfohlen.

Das System des uneinlösbaren Papiergeldes oder die sogenannte „Inflationstheorie“ wurde als eine der Hauptursachen nicht nur der schlechten Geschäftszustände in der Union, sondern auch der immer mehr um sich greifenden sittlichen Verkommenheit entschieden verurtheilt. Eine gründliche Reform des Civildienstes wurde verlangt und das corrumpirende System der Aemtervertheilung für geleistete Parteidienste offen als der Weg zum Untergange der Republik bezeichnet.

Dieser von den „Unabhängigen“ erhobene Ruf nach Reformen blieb in den nun folgenden „Nationalconventionen“ der beiden großen Parteien, der Republikaner und der Demokraten, nicht unbeachtet. Beide nahmen in ihren „Platformen“ oder politischen Glaubensbekenntnissen darauf Rücksicht.

Präsident Grant, der durch die massenhaften Schwindeleien seiner Anhänger selbst zu sehr compromittirt war, verzichtete auf eine dritte Candidatur für das Präsidentenamt, zu der er, wie die Folge gezeigt hat, sonst wohl geneigt gewesen wäre. Der Wahlkampf war ein äußerst harter, und nur mit einer Stimme (185 gegen 184) siegte der Republikaner Hayes, bis dahin Gouverneur von Ohio, über den Demokraten Tilden. Bekanntlich wurde die Wahl im Congresse von den Demokraten angegriffen, und erst nach langen und heftigen Debatten einigten sich beide Parteien dahin, die verhängnißvolle Streitfrage durch eine aus Senatoren, Repräsentanten und Mitgliedern des obersten Gerichtshofes der Union zusammengesetzte Fünfzehner-Commission entscheiden zu lassen. Der betreffende Schiedsspruch lautete zu Gunsten von Hayes, der denn auch im März 1877 das Präsidentenamt antrat.

In seiner „Inaugural-Adresse“, der Rede, mit welcher Hayes feierlich das Präsidentenamt antrat, nahm er die Reform auf sich. Versöhnung und Ausgleichung der zwischen dem Norden und Süden bestehenden Gegensätze; Beseitigung der Mißregierung politischer Abenteurer sowie der corrumpirenden Einwirkung der Militärherrschaft und Sicherung einer weisen, ehrlichen und friedlichen Selbstverwaltung in localen Angelegenheiten für alle Theile der Union; möglichst baldige Wiederaufnahme der Baar- oder Hartgeldzahlung – das war Hayes’ Programm. Und mit diesen trefflichen Grundsätzen standen auch die Amtshandlungen des Präsidenten in vollem Einklange. Er berief in sein Ministerium sechs gemäßigte Republikaner, Vertreter der die Reform fordernden Gruppe der republikanischen Partei – unter Anderem Karl Schurz als Minister des Innern – sowie einen Demokraten, den General-Postmeister David M. Key aus Tennessee. Im schneidenden Gegensatze zu Grant nahm er bei der Vertheilung von öffentlichen Aemtern in keinerlei Weise auf seine Verwandten und intimen Freunde Rücksicht; er sah weniger auf geleistete Parteidienste, als auf Fähigkeit und Charakterreinheit. Die arg verwickelten Verhältnisse in Süd-Carolina und Louisiana führte er schnell einer friedlichen Lösung dadurch entgegen, daß er das Bundesmilitär aus jenen Staaten zurückzog und die republikanischen Gouverneure Chamberlain und Packard bewog, ihren demokratischen Gegnern Hampton und Nicholls Platz zu machen. Das bedeutendste Ereigniß der Hayes-Administration ist die am 1. Januar 1879, trotz der Opposition der Demokraten, vorgenommene Wiederaufnahme der Hartgeldzahlung, welche für den Aufschwung des Handels, der Industrie und des Geschäftslebens überhaupt, sowie für den Nationalcredit der Vereinigten Staaten von den segensreichsten Folgen begleitet war.

Allein die wahrhaft patriotische Regierungspolitik dieses Präsidenten fand weder bei dem radicalen Flügel der Republikaner, noch bei der Masse der Demokraten Anklang und Unterstützung. Die Freunde des alten Grant-Regiments, die Meister in der sogenannten „Maschinenpolitik“ waren und sich weniger um das Gemeinwohl, als um ihre Sonderinteressen kümmerten, wandten sich kühl von der Hayes’schen Reformpolitik ab oder traten derselben auch wohl direct entgegen. Die demokratische Partei aber, welche, Dank der corrupten Grant-Regierung, im Laufe der Zeit in beiden Congreßhäusern, im Senat und im Repräsentantenhause, die Majorität erlangt hatte, lohnte die Versöhnungspolitik des Präsidenten Hayes mit dem schnödesten Undank. Nicht zufrieden damit, daß sie der ehrlichen und durch das Gesetz vorgeschriebenen Finanzpolitik des Präsidenten die heftigste Opposition machten und sich dabei mit der inzwischen aufgetauchten, communistischen Ansichten [487] huldigenden „Papiergeld-Arbeiterpartei“ verbanden, waren die Demokraten eifrig bestrebt, diejenigen Gesetze unwirksam zu machen, welche bestimmt waren, bei nationalen Wahlen, das heißt bei Präsidenten- und Congreßwahlen, die Reinheit der Stimm-Urne zu schützen und Gewaltthätigkeiten und Betrügereien bei der Stimmabgabe zu verhindern.

Innerhalb wie außerhalb des Congresses regte sich wieder der alte unionsfeindliche Rebellengeist, und wie unter Grant nördliche Abenteurer in den Südstaaten das freie Stimmrecht mit Füßen getreten hatten, so machten jetzt die südlichen Demokraten, die früheren Sclavenhalter, mit den wildesten Drohungen, mit List und Gewalt jenes Recht illusorisch. Unionsbeamte, welche das Gesetz aufrecht erhalten wollten, wurden in das Gefängniß geworfen. Die entrechteten Neger verließen den Süden und zogen zu Hunderttausenden im Anfang des Jahres 1879 nach dem Norden und Nordwesten der Union. In den Gesetzgebungen verschiedener Südstaaten, z. B. in Virginien und Alabama, wurden Beschlüsse gefaßt, welche das dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Verfassungs-Amendement, wodurch die Farbigen gleiche politische Rechte mit den Weißen erhalten hatten, für „null und nichtig“ erklärten. Die Organe der südlichen Demokraten wagten es, mit einer „neuen Rebellion“ zu drohen, und in den Hallen des Congresses selbst hielten am 4. März 1879 südliche Bundessenatoren bei Berathung der berüchtigten, nur auf politischen Stimmenfang abzielenden „Pensionsbill“ die wärmsten Lobreden auf den Erzrebellen Jefferson Davis, den Ex-Präsidenten der südlichen Conföderation, und verglichen ihn mit den größten Helden des alten Griechenlands und Roms. Senator Hoar aus Massachusetts protestirte gegen die Ungeheuerlichkeit, daß Jefferson Davis, der Todfeind der Union, weil er einmal im mexikanischen Kriege die Uniform der Union getragen, aus dem Bundesschatze eine Pension beziehen sollte, aber er rief damit nur unter den demokratischen Senatsmitgliedern die wüthendsten Zornausbrüche hervor. Da erhob sich, es war bereits 3 Uhr Morgens geworden, der leider nunmehr verstorbene Zacharias Chandler, Senator aus Michigan, von seinem Sitze und sprach unter Anderem folgende Worte:

„Es sind jetzt ungefähr zwanzig Jahre her, als ich mit Herrn Jefferson Davis in dieser Kammer aufstand und mit ihm beim allmächtigen Gott schwor, die Verfassung der Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten. Vier Jahre hindurch saß ich mit Jefferson Davis in dieser Körperschaft und sah, wie Tag für Tag Anstalten gemacht wurden, diese Regierung niederzubrechen. Mit Verrath im Herzen und Meineid auf den Lippen leistete er den Schwur, die Regierung zu stützen, deren Sturz er beabsichtigte. Herr Präsident, es war Methode in diesem Wahnsinn. Im Bunde mit anderen Männern des Südens und mit Ministern des Präsidenten James Buchanan wurden die sorgsamsten Vorkehrungen von ihm für das, was folgen sollte, getroffen. Der Schatz der Union wurde geleert, das Bundesheer über das ganze weite Land hin zerstreut, sodaß es in der Noth keine Hülfe leisten konnte. Unsere Kriegsschiffe wurden in entfernte Meere gesandt, wo immer die Winde sie hinwehten und die Wogen sie trugen, sodaß sie zum Niederwerfen der Rebellion nicht benutzt werden konnten. Herr Präsident, im letzten Februar waren es achtzehn Jahre, da saß ich in diesen Hallen und hörte, wie Jefferson Davis seine Abschiedsrede hielt, uns über die Pflichten belehrte, die wir nach der Verfassung dieser Regierung schuldig wären, uns dann verließ und die Rebellion gegen die Regierung begann, der zu dienen er geschworen. Ich blieb hier während der ganzen Dauer des Rebellionskrieges. Ich sah unsere braven Soldaten bei Tausenden, fast möchte ich sagen bei Millionen, auf den Schauplatz des Krieges ziehen. Ich sah ihre gelichteten Reihen wiederkehren. Ich sah Dampfboot nach Dampfboot, einen Eisenbahnzug nach dem andern die Verwundeten heimbringen. Ich besuchte meinen Freund, den General Burnside, der jetzt Senator ist, als er die Potomac-Armee commandirte, und ich sah Schmerzensscenen, die das Herz erzittern machen. Ich sah Wittwen und Waisen, die jener ruchlose Krieg geschaffen. Zu jener Zeit dachte ich nicht, daß die Zeit kommen würde, wo ich es erleben sollte, im Senate der Vereinigten Staaten Jefferson Davis bei seinen Lebzeiten lobpreisen zu hören, den noch lebenden Rebellen hier in diesen Hallen des Senates der Vereinigten Staaten. Wahrlich, Herr Präsident, ich bin darüber fast betäubt, aber ich kann den Herren aus dem Süden hier sagen, daß sie den Geist des Nordens der Union wenig kennen, wenn sie hierher kommen mit hochtönenden Redensarten auf den Lippen und Lob häufen auf Denjenigen, welchen jeder Mann und jede Frau und jedes Kind im Norden für einen doppelten und dreifachen Verräther erklärt.“

Kein Senator wagte es, Chandler’s Rede zu unterbrechen. Niemand fühlte sich beleidigt. Die Worte des republikanischen Senators enthielten eine niederschmetternde Wahrheit – aber das von den Demokraten beantragte Pensionsgesetz wurde doch angenommen, wenn auch die auf Creirung neuen Papiergeldes abzielenden Vorschläge des demokratischen Senators Voorhees aus Indiana keinen Anklang fanden.

Das hier kurz geschilderte unionsfeindliche Auftreten der Demokraten rief jedoch in der Stimmung des amerikanischen Volkes bald wieder einen Umschwung zu Gunsten der republikanischen Partei hervor, nicht minder die ruhige und feste Haltung des Präsidenten Hayes, der in allen Hauptfragen unentwegt das Interesse des ganzen Volkes im Auge behielt und sich weder von den heißblütigen Südländern, noch von den hab- und herrschsüchtigen Grant-Leuten auf Irrwege führen ließ. Die Verfassung aber setzt auch dieser anerkennenswerthen Regierung ein Ziel. Im bevorstehenden November muß vom Volke ein neuer Präsident erwählt sein, und die Zurüstungen für den großen Wahlkampf haben bei sämmtlichen Parteien dieses Mal früher begonnen, als es sonst wohl zu geschehen pflegt.

Den Anfang machten die drei Bundessenatoren Conkling aus New-York, Cameron aus Pennsylvanien und Logan aus Illinois, ein „Grant-Triumvirat“, welches, wohlbewandert in allen Künsten der politischen „Drahtzieherei“, mit verblüffender Dreistigkeit das Project in Angriff nahm – den General U. S. Grant zum dritten Male in das „Weiße Haus“ einziehen zu lassen. Diese Edlen wußten, daß sie im Falle des Gelingens nicht nur selbst eine maßgebende Rolle spielen, sondern auch ihren dienstwilligen Werkzeugen und Helfershelfern einen lohnenden Preis in fetten Bundesämtern würden gewähren können. Schon im Februar eröffneten sie lebhaft ihre Operationen, um drei der einflußreichsten Staaten der Union möglichst zeitig für Grant zu gewinnen; sie hofften, daß es ihnen dann nicht schwer fallen würde, auch in anderen Staaten die Grant-Fahne siegreich zu erheben und so bis zum 2. Juni, der für die allgemeine republikanische Vorwahl angesetzt war, die Majorität für ihre Pläne zusammenzubringen. Allein diese Rechnung war doch eine trügliche. Ihr Spiel in New-York, Pennsylvanien und Illinois gelang, aber nun rührten sich auch die Gutgesinnten. Allen voran war es das deutsche Element in den Vereinigten Staaten, welches sich weigerte, zum dritten Male einen Mann auf den Präsidentenstuhl zu erheben, dessen Regierung in mehr als einer Beziehung dem amerikanischen Namen nicht eben Ehre gebracht hatte. Bald schlossen sich ähnlich denkende Amerikaner an, und so trat am 6. Mai dieses Jahres eine Nationalconvention „unabhängiger Republikaner“ zu St. Louis im Staate Missouri zusammen und erklärte: daß eine dreimalige Präsidentschaft desselben Mannes das ungeschriebene, aber durch Gebrauch geheiligte Gesetz der Union verletze und gegen das republikanische Princip sei, und daß eine dritte Wahl Grant’s mit allen gesetzlichen Mitteln auch deshalb bekämpft werden müsse, weil dadurch die von Hayes so erfolgreich begonnene Reformpolitik gefährdet werde. Diese Beschlüsse fanden in der ganzen Union den lautesten Wiederhall, und gerade die besten Mitglieder der republikanischen Partei traten für die Ansicht ein, daß, was ein George Washington, ein Thomas Jefferson, ein Madison, ein Monroe sich nicht erlaubt haben, einem Grant am allerwenigsten zu erlauben sei.

Als daher am 2. Juni die Nationalconvention der Republikaner zur Wahl ihres Präsidentschafts-Candidaten in Chicago zusammentrat, da zeigte es sich, daß die Grant-Fraction, allen angewandten politischen Künsten zum Trotz, nicht im Stande war, das Feld zu beherrschen. Abgesehen davon, daß nicht Cameron, dem Vorsitzenden des republikanischen Central-Wahlcomités, sondern dem früher genannten Hoar die Leitung der Versammlung übertragen wurde, beschloß die Convention auch, daß nicht nach Staaten abgestimmt werden sollte, sondern daß jeder einzelne Delegat berechtigt sei, sein Votum „nach seiner eigenen freien Meinung abzugeben“. Es war vorauszusehen, daß nunmehr eine ganze Anzahl von pennsylvanischen und neu-yorker Delegirten gegen Grant stimmen würde. Die Grant-Männer ergingen sich in glänzenden, aber leidenschaftlichen Reden. Nur um so sympathischer berührte die [488] Mäßigung auf der andern Seite, namentliche in der Person Garfield’s, der als Obmann der Ohio-Delegation für Sherman einzutreten gekommen war und sich bald als den eigentliche Führer der Anti-Grantleute erwies. Garfield ist eine imponirende Erscheinung, mit einer ausdrucksvollen Kopfbildung und intelligenten Gesichtszügen. Er sprach stets ruhig und versönlich, ohne alle persönlichen Angriffe, und die Rede, welche er zu Gunsten seines Freundes Sherman hielt, war vielleicht die beste und wirksamste, welche überhaupt in der Convention gehalten wurde.

Montag, den 7. Juni, fanden zwei Sitzungen der Convention statt, in denen nicht weniger als achtundzwanzigmal über den Präsidentschafts-Candidaten abgestimmt wurde. Die Gesammtanzahl der Stimmen betrug 756, sodaß zur Ernennung 379 nothwendig waren. Anfangs kamen in der Zahl der auf die einzelnen Candidaten fallenden Stimmen nur geringe Veränderungen vor. Noch dachte kaum Jemand an eine Candidatur Garfield’s. Von der zweiten bis zur dreizehnten Abstimmung stimmte ein einziger Delegat für ihn, dann wurden es zwei, dann wieder einer; bis zur neunzehnten Abstimmung verschwand er ganz, um von da an bis zur dreißigsten wiederum mit einem oder zwei Anhängern aufzutauchen. Endlich gaben die Anhänger von Windom, Edmunds und Blaine nach, und nun kam das Ende schnell heran. Dienstag, den 8. Juni, füllte sich Garfield’s Liste, bis er in der sechsunddreißigsten Abstimmung mit 399 Stimmen, also zwanzig mehr als zum Siege nöthig waren, die Ernennung erhielt, die nun auf – Conkling’s Antrag zu einer einstimmigen gemacht wurde. In der Abendsitzung des 8. Juni wurde dann General Chester A. Arthur aus New-York, dem Grantflügel angehörig, beim ersten Wahlgange mit 468 Stimmen als republikanischer Vicepräsidentschafts-Candidat gewählt; auch seine Ernennung wurde zu einer einstimmigen erhoben.

Auf der Nationalconvention der demokratischen Partei, die am 22. Juni zu Cincinnati sich versammelte, ging die Ernennung der betreffenden Candidaten schnell und ohne nennenswerthen Kampf vor sich. Es wurden nach kurzem Ringen General Winfield Scott Hancock für das Amt des Präsidenten und William H. English, für das des Vicepräsidenten ernannt.

Werfen wir einen Blick auf die Vergangenheit der beiden Präsidentschafts-Candidaten! James Abraham Garfield, in dessen Adern nach einigen Nachrichten deutsches Blut fließen soll, gehört zu den in Amerika so häufigen „self-made men“. Arm geboren (am 19. November 1831), in Dürftigkeit aufgewachsen, hat er sich durch angestrengte Arbeit, große Sparsamkeit und eisernen Fleiß eine ziemlich gute Bildung, namentlich in national-ökonomischen Fragen erworben. In den Jahren 1857 und 1858 betheiligte er sich zuerst lebhaft an politischen Dingen, trat mit Erfolg als öffentlicher Redner auf und wurde 1859 in den Senat des Staates Ohio gewählt. Beim Ausbruch des Bürgerkrieges trat er als Oberst in die Unionsarmee und zeichnete sich wiederholt durch Umsicht und Tapferkeit aus; wegen seines ebenso kaltblütigen, wie muthigen Benehmens in der blutigen Schlacht bei Chicamauga wurde er zum Generalmajor befördert.

Seit 1862 wurde er neun Mal hinter einander von demselben Wahldistricte Ohio’s in das Repräsentantenhaus des Congresses gewählt, wo er zuletzt die Führerschaft der republikanischen Partei übernahm. In der so wichtigen Geldfrage hat er zu allen Zeiten eine gesunde und ehrliche Finanzpolitik vertheidigt. Seine achtzehnjährige hervorragende Thätigkeit in der Bundeslegislatur hat ihm eine genaue Kenntniß der politischen und socialen Verhältnisse seines Vaterlandes verschafft. Eine Reise nach Europa, die er im Jahre 1867 unternahm, hat seinen geistigen Blick auch nach anderer Richtung hin erweitert. Von seinen demokratischen Gegnern wird ihm der Vorwurf gemacht, daß er sich 1872 bei den nicht immer ganz sauberen Unternehmungen des amerikanischen „Credit Mobilier“ betheiligt habe; doch liegt Grund zu der Annahme vor, daß dieser Vorwurf mehr eine gehässige Parteianklage, als thatsächlich begründet ist; andernfalls hätte Karl Schurz nicht folgenden telegraphischen Glückwunsch an Garfield nach Chicago senden können: „Empfangen Sie meinen Glückwunsch zur Nomination; dem Lande ist ebenso wohl Glück zu wünschen, wie Ihnen selbst.“

Was nun Garfield’s Gegencandidaten, den General Winfield Scott Hancock, anbetrifft, so wurde derselbe am 14. Februar 1824 in Montgomery County, im Staate Pennsylvanien, geboren und genoß eine militärische Erziehung. Er zählt zu den unionstreuen Demokraten und kämpfte mit großer Auszeichnung während des Bürgerkrieges in der Unionsarmee. Der glückliche Ausgang der entscheidungsvollen Schlacht bei Gettysburg ist vornehmlich sein Verdienst und trug ihm auch den Dank des Congresses ein. Nach dem Kriege hat er sich durch thatkräftige und unparteiische Leitung der Dinge in der Verwaltung verschiedener Militärdepartements im Süden und Osten der Union einen achtungswerthen Namen erworben. Sein Charakter ist vollkommen makellos.

Nicht allein die Republikaner, sondern auch die Demokraten haben also, hinsichtlich ihres Präsidentschafts-Candidaten eine glückliche Wahl getroffen. Beide Männer haben eine ruhmvolle Vergangenheit hinter sich; beide haben sich in Krieg und Frieden um ihr Vaterland wohlverdient gemacht; beide waren stets der Union getreu, und ihr Name ist überall in den Vereinigten Staaten bekannt und geehrt. Dennoch neigen wir uns der Ansicht zu, daß Garfield vor Hancock als Präsident den Vorzug verdient, sowohl wegen seiner persönlichen Eigenschaften, wie wegen seiner politischen Parteistellung. Mag immerhin Hancock als General und Soldat höher stehen, so übertrifft ihn Garfield doch als Staatsmann und erfahrener Politiker im höchsten Grade. Der erste Beamte der Republik soll aber vor allen Dingen und in erster Linie staatsmännische Kenntnisse und politische Erfahrung besitzen. Er soll nicht Schlachten schlagen, sondern mit Weisheit und Gerechtigkeit das Land regieren. Ein in politischen Dingen unerfahrener Präsident wird nur zu leicht ein Spielball gewandter, ehrgeiziger, selbstsüchtiger und gewissenloser Politiker; zu dieser Classe von Politikern zählt aber die große Mehrzahl der Führer der gegenwärtigen demokratischen Partei in Amerika. Während Hancock dem politischen Parteikampfe innerhalb und außerhalb des Congresses ziemlich fern stand, hat Garfield in den Vorderreihen der politischen Kämpfer gestanden und die nicht nur in finanzieller, sondern auch in national-freiheitlicher Beziehung verderblichen Bestrebungen der früheren Sclavenbarone mit Kraft und Geschick bekämpft. Wie sehr diese noch immer den Kern der demokratischen Partei bilden, das zeigt die Wahl des demokratischen Vicepräsidentschafts-Candidaten: der Ernannte, English, hat seinerzeit durch die berüchtigte „English-Bill“ in raffinirter Weise das Territorium Kansas bei dessen Aufnahme in die Union zu einem Sclavenstaat machen wollen. Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten steht, wie zur Zeit des Bürgerkriegs, so auch heute in seiner großen Mehrzahl auf Seiten der unionstreuen und freiheitsliebenden Republikaner; es wird daher auch im kommenden November seine Pflicht thun und Garfield zum Präsidenten wählen helfen, der nach seiner Vergangenheit verspricht, ein würdiger Nachfolger von Rutherford B. Hayes zu sein.

Rudolf Doehn.




Der Burschenschafter auf dem theologischen Lehrstuhl.
(Fortsetzung.)


Hase traf 1823 in Tübingen ein. Auf dem Wege dahin hat er die Nächte über in Dorfschenken auf einer Streu gelagert, und seine erste Wohnung in der Neckarstadt, ein von einem Freunde nur für dessen Gepäck gemietheter Raum, den ihm derselbe überließ, ist etwas „hundestallmäßig“. Der Prälat von Bengel, der erste Professor der Theologie, dem er sich vorstellt, hat nicht den Muth, für ihn bei der Universitätsbibliothek zu bürgen, damit er sich dort Bücher leihen kann. Indessen geht der Flüchtling den Cultusminister in Stuttgart, von Schmidlin, an, sich habilitiren, das heißt das Recht zur Abhaltung von Vorlesungen erwerben zu dürfen – ein unerhörter Fall, da die freie Habilitation in Tübingen ganz unbekannt geworden war. Nach langem Erwägen giebt man nach. Er läßt sich examiniren, promovirt, was sein bischen Vermögen fast verschlingt, und disputirt. Zum Glück kommt gerade Professor Winer auf einer Durchreise an, wohnt der Disputation bei und betrachtet Hase als seinen Schüler; das wirkt auf [489] die schwäbischen Professoren, die Winer’s Gelehrsamkeit bewundern. Allmählich fassen die Schwaben Vertrauen zu ihm, selbst der Kanzler von Autenrieth wird sein entschiedener Gönner, und der Präsident des obersten Gerichtshofes vom Schwarzwaldkreise, der damals die Vertretung des Criminalrechts an der Universität übernommen, liest ihm sein Heft über Criminalrecht vor. Wurm, der nachmals so berühmte Staatsrechtslehrer in Hamburg, den er sein „schwäbisches Schatzkästlein“ tauft, und Wilhelm Hauff, der frühvollendete Dichter, nächst ihnen Wächter, Robert Mohl, Paul Pfizer wurden unter den jüngeren Schwaben seine Freunde. Eine immerhin ansehnliche Studentenschaar hörte seine Vorlesungen. Bald fühlte er sich so heimisch in Tübingen, daß er gern für immer hier geblieben wäre.

Als er von Stuttgart mit der Gewißheit, seinen Habilitationsplan ausführen zu können, in einer schönen Frühlingsnacht nach Tübingen zurückreiste, stand ihm plötzlich seine Lebensaufgabe in Gestalt eines kleinen Romans vor der Seele, den er in glücklichen Stunden rasch vollendete und „Des alten Pfarrers Testament“ betitelte. Das Büchlein, alsbald gedruckt, zündete wenigstens in den schwäbischen Kreisen. Was hier ahnungsvoll angedeutet war, entschloß er sich voll jugendlicher Kühnheit in zwei größeren Werken auszuführen. In einem „Leben Jesu“ wollte er – der erste, der das versuchte – ein streng kritisches Lebensbild des religiösen Genius, dem achtzehnhundert Jahre hindurch Glaube und Anbetung der Gemeinde in wechselnder Gestalt gegolten, für die religiöse Gemeinde des neunzehnten Jahrhunderts zeichnen. In einer „Dogmatik“ oder Glaubenslehre beabsichtigte er den Tiefsinn der alten Kirchenlehre mit dem geistigen Licht der Gegenwart zu beleuchten.

So waren zwei ungeheuere Stoffe auf seine Seele gelegt, und es handelte sich nun um die Muße zur Bearbeitung. Aber längst waren die Zeichen da, die eine finstere Zeit in Deutschland ankündeten. Mit dem Beginn des Jahres 1824 häuften sich die Verhaftungen ehemaliger Burschenschafter und sonstiger Vaterlandsfreunde. Hase selbst, als er in Augsburg seinen Freund Herbst besuchen wollte, der ihm nach Süddeutschland gefolgt war, wurde dort ausgewiesen – Herbst war bereits ausgeliefert. In Tübingen dachte man für’s Erste an keine Verfolgung, noch war Wangenheim (vergl. „Gartenlaube“ 1873, Nr. 14) Bundestagsgesandter. Doch eine Zigeunerin weissagt Hase bereits: „Glück und Unglück liegen bei Dir noch im Streite, Du wirst aber bald erhöht werden.“ Und wirklich wird er – der Anstoß kam von außen – kurze Zeit später aus seinem Wirkungskreise gerissen und auf die Festung Hohenasperg abgeführt.

Der Jünglingsbund war verrathen worden. Wie Hase, so befanden sich alle schwäbischen Mitglieder – darunter Kolb und Mebow, die nachmaligen Redacteure der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, Rödinger und Tafel, die späteren Parlamentsdeputirten – auf der Festung, und ein carrierebegieriger Assessor von Prieser aus Eßlingen inquirirt frisch drauf los. Es hilft Hase nichts, daß er nachweisen kann, nie mit den schwerwiegendsten Paragraphen des Bundes einverstanden gewesen und aus diesem bald ausgetreten zu sein; bei seiner Weigerung, Mitschuldige zu nennen, die ihm sogar Wochen lang ein härteres Gefängniß, als das für Diebe und Mörder übliche, einbringt, wird er als gravirt betrachtet. Ein von Berlin ausgehendes Druckstück über den hochverrätherischen Bund nennt unter den „lasterhaften Verbrechern“, die der Nation zum Abscheu hingestellt werden, auch seinen Namen. Da hat er in der Einsamkeit des Kerkers – Papier und Schreibzeug waren am Studium des Spinoza, das mit der Lectüre Walter Scott’s abwechselte, Trost gefunden. Erst als das Urtheil über Hase und seine Genossen gefällt war, das ihn selbst zu Entsetzung von seinem Lehramt und zu mehrjähriger Festungshaft verurtheilte, umwanden sich die Ketten der Gefangenen, die nun frei unter einander Verkehren durften, mit Rosen. Die „Gogs auf dem Aschberg“ wie die schwäbischen Bauern die gefangenen Demagogen hießen, erfuhren allseitig die Sympathieen der Gebildeten, und der Verfasser von „Des alten Pfarrers Testament“ erfuhr sie doppelt. Allen gemeinsam senden die Liberalen des Landes ein Faß Wein nach dem andern, sodaß sie stets einen hübschen Vorrath haben. Wenn sie dann aus einem eichenbekränzten Fasse in einer Grotte lustig drauf los zechen, liest ihnen Rödinger, der in Jena studirt hat, sein Heft von Luden’s Geschichte der französischen Revolution vor. Allwöchentlich sendet der Altvater der württembergischen Liberalen, der treffliche Schott, der häufig mit Frau und Tochter die jungen Märtyrer besucht, an Hase eine runde Magenwurst und andere Gaben. Die schwäbischen Buchhändler schicken Bücher und zahlen Honorar voraus. Hase schreibt jetzt eine anonyme Schrift „Die Proselyten“, eine alte Sage behandelnd, nach welcher zwei Brüder, der eine Protestant, der andere Katholik, sich wechselseitig zu bekehren suchen und zwar mit solchem Erfolg, daß der Protestant Katholik und der Katholik Protestant wird – ein für Hase charakteristisches Thema. Andere Schriften hat er hier entworfen. Das „Leben Jesu“, von dem der Buchhändler Cotta schon einen Bogen gedruckt, giebt er für’s Erste auf, um wenigstens die „Dogmatik“ zu vollenden. Plötzlich wird er auf ein eingereichtes Gesuch vom König begnadigt, nur daß ihm Tübingen verboten wird. Nassen Auges nimmt Hase von dem liebgewordenen Schwabenlande Abschied und denkt: „Sie haben Dich von drei Universitäten fortgejagt, nun sollen sie Dich an drei berufen.“

So muß er wieder nach Sachsen zurück, wo damals unter dem allmächtigen Minister Einsiedel die Reaction ganz anders Boden gewonnen hatte, als in Schwaben. Er sieht Mutter und Schwestern wieder, deren Freude, von Tübingen aus über den Verschwundenen so viel Gutes zu erfahren, durch die Gefangenschaft arg getrübt worden war. Um unter den Augen der Behörden und in der Nähe einer großen Bibliothek zu leben, zieht er nach Dresden: aber sobald die Polizei davon Kunde erhält, wird er ausgewiesen; auch das glänzendste Zeugniß der Tübinger theologischen Facultät rettet ihn nicht: Da wendet er sich direct an den Minister Grafen Einsiedel, dem ja sein Vater und Großvater so treu gedient und dem ihn vor drei Jahren Schubert so warm empfohlen. Nicht ohne die Ermahnung, „nie zu vergessen, daß die Philosophie eine Magd der Theologie sein müsse, und sich ja nicht wieder um Politik zu bekümmern, wovon er nichts verstehe“, hat ihn dieser aus den Krallen der Polizei errettet. Aber die ängstlichen Sachsen weichen ihm aus, und nur in nächtlicher Stille hat ihn Frau Elise von der Recke, die Freundin Tiedge’s, die ihn kennen zu lernen wünschte, empfangen mögen.

Er lebt in tiefer Stille von den Honoraren der schwäbischen Buchhändler, anonym vielerlei schreibend. Ein glänzend abgefaßtes Werkchen „Vom Justizmord“, das die Unchristlichkeit der Todesstrafe zu erweisen versucht, macht in den höchsten Kreisen Dresdens Sensation; selbst Prinz Friedrich August, der nachmalige König, ladet ihn zu sich nach Pillnitz, und Ludwig Tieck’s Cirkel und mancher andere steht ihm nun offen. Mittlerweile ist die „Dogmatik“, die in Dresden gedruckt wird, vollendet. Der hochgebildete Ammon, dem Minister Einsiedel gegenüber kleinlich feige, hat als Censor Berge von Bedenken. Selbst der Setzer macht zu einer Stelle in Hase’s Manuskript die Anmerkung: „Diese Stelle wird die Censur wohl nicht passiren!“ So erscheint denn das Schubert und Winer zugeeignete Werk, die erste größere Geistesthat des Verfassers, im Herbste 1826 mit den offenen Wundmalen der Censur, deren Striche Hase nicht ausgefüllt hatte. Als er kurz darauf Ammon fragt, ob er sich nun um eine Pfarrstelle bewerben dürfe? und die Antwort empfängt: „Wenn Sie nur nicht die ,Dogmatik’ geschrieben hätten!“ – entgegnet er bitter: „Da hätte ich die Pfarre allerdings wohlfeiler haben können.“ Ammon räth, er soll nach Leipzig gehen und sich dort habilitiren.

Er geht nach Leipzig. Da er den überängstlichen Professoren immer noch als der weggewiesene Student gilt, will er sich vor der Habilitation, durch ein lateinisch geschriebenes Kirchenrecht der katholischen wie der protestantischen Kirche in Leipzig zünftig machen und lebt einstweilen in tiefer Verborgenheit. Inzwischen wird Ostern 1827 vom Minister Einsiedel der Professor Hahn aus Königsberg berufen, um das, was Einsiedel Christenthum nennt, in Leipzig zu lehren. Der tritt seine Professur mit einer Disputation an, in der er die Behauptung vertheidigt: die Rationalisten seien aus der Kirche auszuschließen. Und dabei war der Rationalismus, die etwas spießbürgerliche Freisinnigkeit jener Tage, die eigentliche Glaubensrichtung der deutschen Bürger! Professor Krug und Andere opponiren heftig, die ganze Stadt nimmt an der Sache Theil. Hase wirft anonym ein Schriftchen dazwischen: „Die Leipziger Disputation“, in welcher er mit vernichtender Schärfe das Unprotestantische jener Behauptung darthut. Er wird bald errathen und ist mit einem Schlage bei Bürgern und Studenten ein hochgeschätzter Mann; Tzschirner, immer noch der Hort des freisinnigen Protestantismus, widmet ihm herzliche Theilnahme.

[490] Jetzt beginnt auch die „Dogmatik“ Aufsehen zu machen. Die ersten Theologen der verschiedensten Richtungen fangen an, sich für den Verfasser zu interessiren, Angriffe erfolgen, aber achtungsvolle, sodaß sich Hase urplötzlich aus der Zahl der Demagogen in die der Theologen versetzt sieht. Die kirchliche Reaction im politischen Interesse war damals oben auf. In Preußen das Bestreben, eine Königskirche zu begründen, Gottesdienst und Königsdienst in einander verwoben; daher die Agende und die Union. Dem gegenüber in Sachsen, und nun auch (seit König Ludwig) im katholischen Baiern, wie im griechischen Rußland künstliche Wiedererweckung der alten Lutherkirche, zu der Klaus Harms schon 1817 aufgerufen hatte. Das Unerhörte, daß in Preußen das Wort „protestantische Kirche’“, in Baiern das Wort „evangelische Kirche“ verboten war, bezeichnet jene Zeit. Allen diesen Gegensätzen gemeinsam war der Abscheu vor dem Rationalismus. Wer damals Carriere machen wollte – und zahllose junge Theologen machten ihre demagogischen Sünden auf diese Weise vergessen – eiferte gegen den Rationalismus und ging auf seine Vernichtung um jeden Preis aus. „Die Larven kriechen aus,“ schrieb damals Schleiermacher; und in der That: bei dem entschiedenen Widerwillen Friedrich Wilhelm’s des Dritten, bei dem noch größeren Abscheu des Kronprinzen gegen den Rationalismus war es nur dem milden Cultusminister von Altenstein zu danken, daß man in Preußen nicht noch offener gegen die verpönte Richtung vorging. Aber schon stand die rationalistische Facultät in Halle in höchster Ungnade, schon wurde Tholuck hierher berufen, um das „wahre Christenthum“ zur Geltung zu bringen, schon begann Hengstenberg in Berlin die „Evangelische Kirchenzeitung“ (1822). Da mußte ein Werk, wie Hase’s „Dogmatik“, nach allen Seiten hin frappiren, ein Werk, welches der Vernunft ihr Recht wahrt, dabei die Berechtigung der Altgläubigkeit anerkennt wie kein rationalistisches Werk und hohe Toleranz athmet; nur das Frivole will Hase ausgeschlossen wissen von Kanzel und Lehrstuhl. So war er gerade für die Häupter der Rationalisten, die ihn sonst bekämpfen zu müssen meinten, der rechte Mann; denn ihre Tage auf den Kathedern, das wußten sie, waren gezählt; Hase aber trat, wenngleich in ihnen fremder Verhüllung, für ihr gutes Recht ein. „Sein System taugt den Teufel nichts,“ rief der Generalsuperintendent Röhr in Weimar aus, der schroffste aller Rationalisten, „aber nach Jena muß er doch!“

Aber auch die Gegenpartei machte Anstrengungen, den geistvollen Kopf für sich zu gewinnen. Tholuck, der Hase von Halle aus kennen gelernt, konnte ihm das Anerbieten machen, ihn unter günstigen Bedingungen nach Rom zu begleiten, wohin er selber sich auf ein Jahr als Gesandtschaftsprediger begab. Hase, ohne Mittel und ohne Aussichten, von Jugend auf die Sehnsucht nach Italien mit sich tragend, schwankte. Da aber erhob sich Tzschirner, der Unrath witterte, und riß ihn für immer aus jenen Umarmungen los. Er setzte durch, daß Hase in Leipzig als Privatdocent auftreten durfte; all die schamlosen Intriguen einzelner Professoren, zumal Beck’s, der nicht verwinden konnte, daß der „weggewiesene Student“ gegen einen ordentlichen Professor, wie Hahn, aufgetreten war, machte er zu Schanden. Schon hatte der Treffliche mit dem Tode zu ringen; das Treppensteigen ward ihm sauer; aber er ist zu sämmtlichen Senatoren die Treppen hinaufgestiegen, bis er Alle gewonnen hatte. Er starb, noch ehe Hase’s Habilitationsfeierlichkeit stattfinden konnte, seinem „Schätzchen“, wie er den jungen Freund gern nannte, die Anwartschaft auf die einstige Führung des Protestantismus hinterlassend. Es war eine glänzende Disputation, mit der Hase bald darauf in Leipzig sich habilitirte, und eine glänzende Zuhörerschaft, vor welcher der Verfasser der „Leipziger Disputation“ seine Lehrthätigkeit von Neuem begann. Zwar die Intriguen der vornehmen und frommen Kreise währten fort; aber Studenten, jüngere Docenten und vor Allem die Leipziger Bürger hielten um so fester an ihm. Als er vergebens bei einem Kürschner etwas von dem begehrten Preise eines Pelzes abzuhandeln sucht und seinen Namen nennt, wird ihm die Antwort: „Sie sind der Herr Magister Hase? Der gegen Hahn? Von Ihnen nehme ich keinen Profit. Das mich der Pelz gekostet, dafür haben Sie ihn auch.“

Mittlerweile war er, da er von der Feder leben mußte, mit eisernem Fleiße schriftstellerisch thätig gewesen. Drei Bände einer „Gnosis. Glaubenslehre für die Gebildeten“; die erste diplomatisch genaue Ausgabe der symbolischen Bücher der evangelischen Kirche, auf Zureden des ihm warm zugethanen Probstes und späteren Bischofs Neander Friedrich Wilhelm dem Dritten zugeeignet; eine kurze Zusammenstellung der altlutherischen Kirchenlehre des sechszehnten Jahrhunderts mit Hinzufügung der späteren Abweichungen unter dem Titel „Hutterus redivivus“, aus der klar hervorging, wie weltenweit verschieden die moderne Orthodoxie von jener der Väter der lutherischen Kirche war; endlich ein knappes „Leben Jesu“ – das Alles entstand bis 1829. Die Gestalt Christi erschien zwar in idealer Verklärung, aber doch so menschlich gezeichnet, daß allen Ernstes der Frage ein Paragraph gewidmet wird: warum der Herr nicht geheirathet habe? Und die Antwort lautet: „Weil er wahrscheinlich kein ebenbürtiges Herz fand.“

An eine akademische Beförderung Hase’s war unter dem Ministerium Einsiedel zunächst nicht zu denken; desto mehr wünschten ihn die Häupter des Rationalismus in Halle, Wegscheider und Gesenius, nach Kanzler Niemeyer’s Tode dorthin. Der berühmte Kanzler hatte Hase wohlgewollt, war, obschon hochbetagt, zu dessen Disputation nach Leipzig gekommen, selbst die alte Frau Kanzlerin hatte sich einen Augenblick auf der Gallerie gezeigt; um so erwünschter erschien die Berufung eines Mannes von so geistesverwandter Richtung zur Professur des Verewigten. Hase wird aufgefordert, sich direct in Berlin dem Minister von Altenstein und dessen Rathe Johannes Schulze vorzustellen. Er kommt zu spät, bereits ist Ullmann von Heidelberg nach Halle berufen worden; der Minister aber fragt ihn:

„Wollen Sie nicht hierher nach Berlin?“

Die Antwort ist ein freudiges: „Wie gern!“ In froher Hoffnung kehrt Hase von dieser Weihnachtsfahrt 1828 nach Leipzig zurück; auch Schleiermacher hat er kennen lernen und ist mit Auszeichnung von ihm aufgenommen worden; er hofft in Berlin schöne Tage zu erleben. Da kommt nach wenigen Wochen der Donnerschlag: der Polizeimeister von Kamptz, der Demagogenriecher, hat gegen seine Berufung ein Veto eingelegt. In Hoffnung auf dieselbe hatte er mit seinem Freunde Dr. Hermann Härtel, dem Mitbesitzer der Firma Breitkopf und Härtel, eine Reise nach Italien projectirt; nun giebt er sie auf. Allein der reiche Freund hält ihn fest; ob er ihm die Reisekosten in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren oder am jüngsten Tage wieder erstatte, sei gleichgültig. Noch ehe die Freunde ziehen, ist Hase, der inzwischen mit einer unbesoldeten, außerordentlichen Professur der Philosophie bedacht worden, zu einer theologischen Professur in Jena durch Röhr berufen worden. Welcher Jubel! Und unmittelbar nach der Reise sollte noch ein Ruf nach Gießen kommen, sodaß die drei Universitäten, an die er beim Abschiede von Tübingen einst berufen zu werden hoffte, sich in der That früh genug gefunden haben.

So zieht er jetzt mit dem Freunde, an dessen jüngste Schwester ihn längst eine tiefe Neigung fesselt, in das Land seiner Jugendsehnsucht, nach Italien, und diese Reise wird der große Wendepunkt seines Lebens. Von Venedig und Genua bis Palermo sind sie all die herrlichen Städte des Wunderlandes durchpilgert, in Erinnerung seiner großen Vergangenheit, im Anschauen aller Denkmäler der Kunst, doch auch mit lebhaftem Genusse an Land und Leuten. Und wie einst Gibbon auf den Zinnen des Capitols, als er die ewige Stadt zu seinen Füßen liegen sah, den Gedanken faßte, der Geschichtschreiber ihres Verfalls zu werden, so begriff Hase, als er Vatican und Peterskirche und die übrigen Denkmäler des katholischen Rom sah, seine Aufgabe, einst der Kirchengeschichtschreiber des Zeitalters zu werden. Segen und Fluch, welche die katholische Kirche über die Völker gebracht, gingen ihm wie vor den Augen auf.

Ein Königreich von Ideen in sich tragend, verließ er das herrliche Land und den Freund, der dort zurückblieb, um die Schwestern zu erwarten; in Constanz traf Hase mit diesen zusammen, und Pauline Härtel sank als Braut in seine Arme. So kam er voll tiefen Glückes und froher Zuversicht über Stuttgart nach Leipzig zurück und begab sich von da nach Jena, um seine Professur anzutreten (Juni 1836).

Es gab in der That nur einen Fleck Erde in Deutschland, wo er damals, ohne sich selbst aufzugeben, unangefochten leben und wirken konnte, und das war Jena. Hier waren die Traditionen Karl August’s lebendig, Goethe noch Chef der Oberaufsicht für Wissenschaft und Kunst, und Röhr leitete die Landeskirche. Die Wellen der Juli-Revolution, die in Hase’s erste [491] Jenaer Wochen fiel, wühlten sich nach Deutschland hinüber – eine Bewegung, ungleich radikaler, als die, welcher seine Jugend gehört hatte; aber er hörte sie hier ebenso fern grollen, wie den Todeskampf der alten populären kirchlichen Freisinnigkeit in Preußen. Die Jenaer theologische Facultät war theils rationalistisch, theils supranaturalistisch – die beiden Strömungen der älteren, von Pietismus und Orthodoxie noch nicht berührten Kirchlichkeit; Alles athmete hier den Geist der Toleranz. Allerdings die Kirchengeschichte, die Hase nun zu lesen begann, hatte einen Vertreter, wie er in größerem Gegensatze zu ihm nicht gedacht werden konnte. Es war der unter der Misere der Jenaischen Verhältnisse verkümmerte grundgelehrte Professor Lobegott Lange, dem sein „deutsches Maul“ so viel Schaden gethan; er redete von keinem Papste anders, als mit der Bezeichnung: „der Hallunke“; von Gregor dem Siebenten erzählte er: „Der Schurke machte selbst den Wunderthäter;“ eine Würdigung der katholischen Kirche des Mittelalters, wie man sie von Hase hörte, war ihm in der Seele zuwider. Mit den übrigen Collegen aber, vor Allem mit dem ehrwürdigen Baumgarten-Crusius, der Vielen als der gelehrteste Theolog der Zeit galt, begründeten sich die freundschaftlichsten Beziehungen. Der Philosoph Jenas war der edle Jacob Friedrich Fries; auch zu ihm und gleichzeitig zu seiner Philosophie gewann Hase bald ein näheres Verhältniß. Nicht minder berührte er sich in seinen politischen und kirchlichen Anschauungen mit dem Historiker Luden, dem glänzendsten Lehrer der Universität, der in der katholischen Kirche des Mittelalters das Bollwerk gegen die Tyrannei der Fürsten und selbst in der gegenwärtigen katholischen Kirche bei dem Mangel an politischer Bedeutung und der Fürstendienerei des protestantischen Kirchenwesens ein zuweilen der politischen Freiheit nützliches oppositionelles Element erkannte, ohne darum die Kehrseite dieser Medaille zu übersehen. (Vergl. sein Lebensbild in Nr. 15 dieses Jahrgangs.)

Seit dem Jahre 1831 mit Pauline Härtel verheirathet, konnte er sich so recht seiner Unabhängigkeit freuen, welcher allmählich die wachsenden Erträge der Firma Breitkopf und Härtel zu Gute kamen. „Absonderlich frei“ nennt er seine Stellung, und sicher hat er hier in Wort und Schrift nie von einer Behörde das Mindeste zu befahren gehabt. Mit nur 300 Thaler berufen, auch, als er 1836 ordentlicher Professor wurde, nur mit dem gewöhnlichen Gehalt eines damaligen Jenaischen ordentlichen Professors dotirt, hat er es bis in seine alten Tage auf eine Besoldung von nur 700 Thalern gebracht. „Man muß in Jena laufen können, wenn man Zulage haben will,“ sagte ein College; „Hase kann nicht laufen.“ Dennoch konnte er sich bald ein Wohnhaus bauen, und hier hat er seitdem gelebt. Im Erdgeschoß liegt der ausreichend große Hörsaal, dessen Wände mit den Bildern aller möglichen kirchlichen und theologischen Größen geschmückt sind. Die Bücher, die Hase in seinen Vorlesungen erwähnt, liegen auf einem Tische aus, und jeder Hörer kann davon mitnehmen, was er will; eine Notiz an den Famulus genügt.

Eine Wirksamkeit im großen Maßstabe war in Jena unmöglich; die Universität hatte durch die Demagogenverfolgungen ungeheuer gelitten; sie war Jahre lang allen Preußen verboten, und die Süddeutschen blieben gleichfalls weg. Bei der Begünstigung der Orthodoxie seitens der meisten Regierungen konnte die Jenaer theologische Facultät wenig Anziehungskraft besitzen. So waren es außer den meist sehr armen Thüringern nur Oldenburger, Braunschweiger, Hanseaten, Schweizer und Ungarn, die in Jena Theologie studirten. Wer aber hier Theologie studirte, hat Hase gehört.

Regelmäßig früh zehn Uhr, bisweilen auch noch in einer früheren Morgen- oder in einer Abendstunde füllt sich das Auditorium, bis sich etwa zehn Minuten nach dem Schlag die Hausthür schließt. Dann tritt der verehrte Lehrer ein, eine kräftige edle Gestalt, von feinster Haltung, das sinnige Auge streift die Zuhörerschaar; auf dem Katheder ist sein Vortrag melodisch und von schönstem Fluß, meist in kurzen Sätzen sich bewegend, mit einer Fülle der glücklichsten Bilder. Jeder seiner Studenten hat bei ihm Zutritt; zu seinen großen Abendgesellschaften, welche die Elite der Jenaer Gesellschaft versammeln, sind stets ihrer viele geladen. Und wie er selbst in den Ferien auf Reisen nicht nur jede größere Stadt, jede wichtigere Landschaft Deutschlands und einen guten Theil des Auslandes besucht, sondern namentlich auch alle für ihn wichtigen Männer kennen gelernt hat, so ist auch wiederum sein Haus in Jena ein Sammelpunkt geworden aller bedeutenden Menschen, welche seit fast fünfzig Jahren die thüringische Musenstadt besucht haben. Jetzt repräsentirt Hase gleichzeitig in lebendiger, wenn auch nicht ganz unmittelbarer Ueberlieferung Fremden gegenüber, die großen Tage von Weimar-Jena. Als er kam, waren die letzten Repräsentanten derselben noch am Leben. Er ist unter Goethe’s Ministerium berufen worden und hat an dessen Sarge gestanden; Knebel und Frau hat er noch oft erzählen hören, und zur Schwägerin Schiller’s, Frau von Wolzogen, kam er in so freundschaftliche Beziehungen, daß ihm die Herausgabe ihres Nachlasses übertragen wurde.

Nicht mehr in der Lage, um „Geld und Gut“ schreiben zu müssen, obendrein als Mitbesitzer einer Buchhandlung fortan sein eigener Verleger, konnte Hase nun auch mit voller Muße an sein eigentliches Lebenswerk gehen, an seine „Kirchengeschichte“. Sie erschien 1834 und wurde sofort mit dem lautesten Beifall begrüßt, der sich in immer neuen Auflagen kundgab. Ihm schwebte vor, wenn auch in der spröden Form eines Compendiums, doch in großem historischem Stil eine Kirchengeschichte zu schreiben, die den mustergültigen Darstellungen weltlicher Geschichte ebenbürtig sei. Aus der Fülle der Erscheinungen jedes Zeitalters sollten, unmittelbar aus den Quellen geschöpft, die charakteristischsten, individuellsten Züge mitgetheilt werden, sodaß die Vergangenheit dem Leser zur unmittelbaren Gegenwart werde. Dies ist auch meisterlich gelungen. Es hat sicher vor und vielleicht neben Hase gelehrtere Kirchenhistoriker gegeben, aber keinen, der einen so äußerst reichen Inhalt so künstlerisch zu gruppiren, der kernig und schlagend mit wenigen Worten so viel zu sagen verstanden hätte. Dazu kam, daß Hase die Kirchengeschichte bis zum Erscheinungsjahre des Werkes darstellte und in jeder neuen Auflage weiterführte, sodaß es für die neueste Zeit, bei des Verfassers eingehender Kenntniß aller Personen und Verhältnisse, geradezu zur Quelle wird.

Aus den verschiedensten theologischen Lagern her wurden diese Vorzüge des Werkes anerkannt. Der katholische Theolog Hefele (der jetzige Bischof, von Rottenburg) verglich es in einer geistvollen Recension einem Meisterwerke der Florentinischen Malerschule, zu welchem sich ein katholisches Kirchengeschichtswerk wie ein Gemälde der römischen Schule verhalte. Der große Urkundenforscher Böhmer fand hier erreicht, was er in den Werken über deutsche Geschichte vergebens gesucht. Hegelianer – unter ihnen Baur – und Schüler von Neander fanden bei manchem Tadel, der Auffassung doch das Epochemachende des Buches sofort heraus. Im niederländischen Lager ward es von Herzog Bernhard und Friedrich von Gagern gelesen, in Dänemark und Schweden, später auch anderwärts übersetzt; es bürgerte sich ein in Palästen und Pfarrhäusern. Unzufrieden war im Grunde nur Einer, und gerade derjenige Mann, welcher Hase berufen hatte – Röhr.

(Schluß folgt.)




Wien auf dem Lande.
Von Balduin Groller. Mit Illustrationen von J. J. Kirchner.
I.

Wien ist im Hochsommer nicht zu Hause; es ist ausgegangen, ausgeflogen, ausgezogen, man könnte fast meinen ausgestorben. Und doch ist Wien wahrlich eine Stadt, in welcher es sich auch im Sommer sehr wohl existiren läßt, eine Stadt, die auch in sanitärer Beziehung vor vielen Großstädten so Manches voraus hat.

Durch eine großartig angelegte Wasserleitung bezieht sie ein klares, gesundes, erfrischendes Trinkwasser direct von den nur wenige Meilen entfernten Hochgebirgsquellen; Reservoirs für frische, stärkende, würzige Luft hat sie gleich vor der Thür an dem unvergleichlichen Prater, und im Hause selbst, um im Bilde zu bleiben, an dem Stadtpark, diesem köstlichen, funkelnden Smaragd an dem „Ringe“ Wiens; ferner an den weitläufigen Gartenanlagen längs der Ufer des Donaucanals und der Wien, an dem schattigen, düftereichen Schwarzenberg-Garten, dem Belvedere- [492] und dem vornehmen Volksgarten, dem Rathhauspark mit seinen stark besuchten Kinderspielplätzen, dem majestätischen Augarten, endlich an dem Liechtenstein- und dem Schönbornpark. Auch die Plätze vor der Votivkirche, dem akademischen Gymnasium mit dem jüngst enthüllten Beethoven-Denkmal und dem Polytechnicum, endlich der Rudolphs-Platz – sie alle präsentiren sich als freundliche und einladende Gartenanlagen. Dazu ist die Stadtvertretung unablässig bemüht, Raum zu schaffen für neue Gärten im Innern der Stadt. Zwei ehedem kahle Plätze, der Börsen- und der Schlickplatz, sind allein in diesem Jahre mit dem jungen Lenze zu einer neuen schönen Blüthenexistenz erwacht – und trotz alledem und alledem ist es nach der Meinung des Wieners nicht möglich, den Sommer in Wien zu verbringen. So schafft sich der Reichthum seine Bedürfnisse. Ja, der Reichthum! Aber nicht der allein; denn in der That: all diese Gartenjuwele und die ganze imposante und freundliche Ringstraße, die auch nur eine prächtige Doppelallee ist – sie wollen nur wenig bedeuten im Vergleiche zu der wahrhaft einzig schönen Umgebung Wiens.

Hätt' man's nicht, so thät' man's nicht; und: läge Einem diese Umgebung in all ihrer berauschenden Schönheit nicht so dicht vor der Nase, man müßte dann eben auch ohne sie existiren können. So aber geht es absolut nicht; man kann unmöglich den Sommer über in Wien bleiben – und damit Basta!

Wenn im jungen Jahr der Schnee schmilzt und die ersten Grashalme neugierig die Spitzen hervorstrecken, dann beginnt die große Suche nach den Sommerwohnungen, und die Suche dauert fort bis tief in den Sommer hinein, bis Mitte Juli, wo die Schulferien beginnen. Viele Familien sind genöthigt, so lange in der Stadt zu verbleiben, weil die Schulbehörden für die Kinder keinen Dispens vom Schulbesuch ertheilen, es müßte denn sein, daß ein ärztliches Zeugniß producirt würde, welches die unumgängliche Nothwendigkeit der Luftveränderung für den Petenten bestätigt. Solche Zeugnisse sind wohl erfahrungsmäßig nicht allzu schwer zu erlangen; allein es verdient doch constatirt zu werden, daß die meisten Eltern einerseits es ehrlich wünschen, daß ihre Kinder etwas lernen, und andererseits schon aus pädagogischen Gründen Bedenken tragen, „falsches Zeugniß“ zu geben. Andere Eltern wieder schicken ihre Kinder mit dem Fiaker vom Lande herein in die Schule und lassen sie auf dieselbe Art abholen. Das ist nun freilich ein sehr kostspieliges Auskunftsmittel und daher auch nicht eben häufig. Häufiger dagegen ist es, daß die jungen Staatsbürger Eisenbahn, Omnibus und Tramway benützen, um zur Schule zu gelangen, und es ist nicht uninteressant, zu beobachten, mit welcher Sicherheit und Selbstständigkeit die bildungsbeflissene Jugend sich auf diesen kurzen Reisen bewegt, auf welchen sie hinreichend Gelegenheit hätte, die schönsten Confusionen anzurichten. Sie brauchte zu diesem Zwecke unter den zahllosen Wagen nur den unrichtigen zu besteigen.

Wiens Umgebung ist herrlich, das ist unbestritten, aber es ist auch nicht zu bestreiten, daß das Landleben für einen geplagten Wiener Familienvater seine zahlreichen und sehr bedenklichen Schattenseiten hat. Zunächst kommt der Kostenpunkt in Betracht; oft beträgt der Miethzins für die Landwohnung nicht weniger, als der für die Stadtwohnung; der Preis der ersteren ist natürlich sehr verschieden und hängt von der Größe, Ausstattung, Lage und nicht zum wenigsten von der Beschaffenheit des zu ihr gehörigen Gartens ab. Hat das Sprüchwort: „Zweimal ausziehen ist soviel wie einmal abbrennen“, Recht, dann brennt ein großer Theil der Wiener Familien jährlich einmal ab. Denn der Auszug auf's Land und die Rückkehr ist ein doppeltes Ausziehen unter erschwerenden Umständen. Wechselt man innerhalb der Stadt die Wohnung, so weiß man, daß der Möbelwagen über ein großstädtisch gepflegtes Pflaster zu fahren hat und daß er selbst im ungünstigsten Falle doch kaum mehr als eine Stunde unterwegs sein wird. Anders ist es aber, wenn er über Land geht. Da kann er, den Launen der Witterung ausgesetzt, auch einen halben Tag und noch mehr auf der Reise sein, ehe die mit ihrer heiklen Last naturgemäß nur bedächtig Schritt für Schritt dahintrollenden Pferde am Ziele anlangen. Und wenn sie dann angekommen sind, geht das große Jammern an; der sorgsamen Hausfrau blutet das Herz, und dem Manne regt sich die Galle. Vom schönen Salontisch oder dem werthgehaltenen Wäschkasten, dem Stolz der Hausfrau, ist die Politur weggewetzt; an dem Divan ist gerade in der Mitte das Tuch durchgerieben, und vom Kinderbett ist ein Fuß abgeschlagen. Das pflegt die Regel zu sein, gewissermaßen der feste Punkt, an welchen sich die übrigen kleineren und abwechselungsreicheren „Malheure“ Krystallen gleich ansetzen. Daß unter Gypsfiguren und Blumenstöcken Verheerungen angerichtet werden, das ist am Ende noch natürlich; daß aber unter den vorsichtshalber zwischen die Wäsche gepackten Glassachen es immer just die Oelflasche sein muß, die zerschlagen wird, das ist doch schon etwas wunderbarer. Und die volle Oelflasche muß mit; wer anderer Ansicht ist, mag's nur einer sparsamen Hausfrau sagen, wenn er die Courage hat. Auf dem Lande ist Alles theuer, es muß also von Allem ein großer Vorrath mitgenommen werden, und selbst wenn das nicht gethan wird – man kann doch die Reste der Vorräthe nicht in der leeren Stadtwohnung zurücklassen!

War der Wagen nicht gut gedeckt, so geschieht es wohl, daß die Strohsäcke, Matratzen und Polster vom Regen gründlich durchnäßt ankommen, was dann immer höchst erbarmungswürdig anzuschauen ist. Vielgestaltig, wie der Tod, ist auch das tückische Unglück, das bei jeder Straßenbiegung auf die Siebensachen eines armen in die Sommerfrische hinausziehenden Wieners lauert; doch da nützt keine Klage – es muß ja sein, und Jahr für Jahr zieht ja doch ganz Wien wieder hinaus.

Endlich verstummt der Jammer; der Aerger setzt sich; man richtet sich ein. Der Flieder duftet zu den Fenstern herein, die Luft ist so gut und so frisch, der Wald und die Berge grüßen vertraut herüber, das Grün ist so saftig – dafür kann man schon Manches in den Kauf nehmen; nur ist das manchmal recht, recht viel. Mit der Einrichtung beginnen auch die Mißhelligkeiten; man beginnt Dinge zu bemerken, auf welche man bei der Aufnahme der Wohnung nicht gerechnet hatte. Im Hause nebenan wohnt ein Schlosser, ein Klempner oder ein Faßbinder, und es wird den ganzen Tag gehämmert, daß Einem, wenn schon nicht Hören und Sehen, so doch gewiß das Hören vergeht. Noch ist Mama mit dem Auspacken beschäftigt, und schon kommt ein Kind schreiend hereingelaufen, weil es von den Kindern des bäuerlichen Gutsherrn durchgeprügelt worden ist. Merkwürdig: von diesen Kindern war auch nichts wahrzunehmen, als die Wohnung aufgenommen wurde. Freilich giebt es auch vornehme Hausherren, Villenbesitzer, die ihren Miethsparteien, wenn es gerade Differenzen giebt, nicht mit bäuerlicher Grobheit entgegenkommen; dafür nehmen hier die Differenzen numerisch zu. Diese Herren halten etwas auf ihre Gärten; sie dulden nicht, daß die Kinder der Parteien sich auf den Rasenplätzen tummeln; sie legen der Hausfrau Hindernisse in den Weg, wenn sie das Fest der großen Wäsche zu Hause feiern will, und sie erlauben unter keiner Bedingung, daß die herrliche Natur profanirt werde, indem man Wäsche im Garten zum Trocknen aufhängt.

Zu diesen Annehmlichkeiten kommen vielerlei andere. „Unsere biederen Landleute“ beweisen ihren Ruf auch in der Umgebung Wiens. Gemüse und alles Grünzeug, das sie berufsgemäß in die Stadt hinein auf den Markt führen, verkaufen sie ihren Sommerparteien entweder gar nicht, oder zu weit höheren Preisen, als sie in der Stadt dafür verlangen; so kommt es, daß alle an Ort und Stelle producirten Victualien theurer sind, als in der Stadt. Das ist absurd, aber es ist so, und man kann sich demgemäß das Lamento der malträtirten Wiener Hausfrauen denken. Aber auch alle Händler und Kaufleute, der Greisler, wie der Milchmann und der Fleischer, sie haben doppelte Tarife, einen billigen für die Eingeborenen und einen besonderen und besonders theueren für die Eingewanderten. Diese müssen es büßen, daß sie nicht auch im Winter da wohnen, indem sie dafür diese beträchtliche ausgleichende Steuer bezahlen.

Man wohnt im Allgemeinen in unbequemen, schlechteren, ja oft auch ungesünderen Wohnungen, als in der Stadt. Der Comfort, die Behaglichkeit, die Wohnlichkeit, die man zu Hause hat, ist auf dem Lande, wo man sich doch nur gleichsam ein Nomadenzelt aufschlägt, nicht zu erreichen. Die Zimmer sind weniger hoch und weniger luftig, als in den Stadthäusern, und dazu sehr häufig feucht, sodaß die Sommerfrische bei schlechtem Wetter, welches auf dem Lande doch noch etwas ganz Anderes bedeuten will, als in der Stadt, geradezu zu einer Poenitenz werden kann. Man ißt schlechter, man trinkt schlechter, man wohnt schlechter, man ist tausend Unannehmlichkeiten ausgesetzt – und man zieht doch auf's Land. [493] Ein Familienvater übernimmt mit der Villeggiatur ein wahres Martyrium; er selbst hat von der Sommerfrische nur Plagen und Kosten.


Hütteldorf.


In aller Gottesfrühe muß er aufstehen, um bei Zeiten in sein Amt, sein Bureau, sein Geschäft, sein Atelier, seine Werkstatt zu gelangen; den Tag über ist er in seinem Berufe thätig, um Abends wieder heimzureisen. Zu den bereits erwähnten Auslagen kommt für ihn speciell noch die Bestreitung der anstrengenden täglich zweimaligen Fahrt, und dann die besondere Auslage für seine Verköstigung in der Stadt. Aber er trägt gern all die Lasten, im Vollbewußtsein seines Martyriums, weil – trotz alledem und alledem die Landluft ein Segen für Weib und Kind ist.


Purkersdorf.


Wo also ist Wien zu finden, wenn es im Sommer ausgeflogen ist? Ja, wo? Das ist leicht gefragt, und auch leicht beantwortet, wenn man sich mit der Antwort: In der Umgebung Wiens, begnügt. Die Zahl der bekanntesten und populärsten Ortschaften in der Umgebung Wiens, die mit Vorliebe von dem Wiener zu Sommerfrischen gewählt werden, beträgt wohl an hundert, allein man greift schwerlich zu hoch, wenn man noch weitere hundert Ortschaften annimmt, die ebenfalls den Wienern Sommerasyle bieten, die jedoch, weil sie etwas abseits von der großen Verkehrsstraße liegen, weniger bekannt und weniger frequentirt sind, als die hundert ersterwähnten Ansiedelungen. Es giebt reizend gelegene Dörfchen kaum eine Stunde von Wien entfernt, die höchstens fünf bis zehn Sommerparteien beherbergen. –


Mödling-Klause.


Meister J. J. Kirchner, einer der geschicktesten, jedenfalls der fruchtbarste unter den deutschen Landschaftszeichnern – hat er doch seiner großen Jugend schon vor mehreren Jahren das Fest seines tausendsten Holzstockes gefeiert – hat sich nun kürzlich, mit seinem Skizzenbüchlein bewehrt, aufgemacht, um eine Reihe der beliebtesten Sommerfrischen der Wiener für die „Gartenlaube“ aufzunehmen. Uns sei es gestattet, zu diesen Bildern kurze Commentare zu liefern.


Baden.


Wir beginnen mit Hütteldorf. Hütteldorf gilt, und mit Recht, für einen der fashionablesten Sommersitze. Es hat eine prächtige Lage und ist gerade eine Meile von Wien entfernt, daher mit der Westbahn, auf welcher es von Wien aus die zweite Station ist, in kaum einer Viertelstunde zu erreichen. Stündlich kommt und geht ein Localzug, und Omnibusse, die allerdings eine gute Stunde brauchen, um die Meile zurückzulegen, verkehren in Zwischenräumen von je einer halben Stunde. Hütteldorf hat, wie fast alle Sommerfrischen, ein gutes Kaltbad, zu welchem das Wienflüßchen das Wasser liefert; es weist eine Fülle von reizvollen Gärten und zierlichen Villen auf; es bildet ein Centrum, von welchem aus in aller Bequemlichkeit die schönsten und lohnendsten Ausflüge gemacht werden können, und es hat – last not least – ein weit berühmtes Brauhaus, wo gar köstlicher Stoff geschänkt wird. An schönen Sonntagnachmittagen pilgern denn auch immer Tausende von Wienern hierher, um sich an der herrlichen Gottesgabe, die hier frisch vom Zapfen läuft, zu erlaben; wenn dann spät Abends die letzten Züge heimwärts gehen, pflegt es ein gewaltiges Gedränge zu geben, und es wird bei dieser Gelegenheit so mancher schwere Haarbeutel verfrachtet, ohne daß dafür eine Ueberfracht bezahlt würde.


Kalksburg.


Die höchstgelegene Villa auf der Abbildung, mit dem schlanken Thürmchen, das weit hineinlugt in das Land, ist die sogenannte „Villa Dietz“. Ihr Erbauer, der [494] wackere Zimmermeister Dietz, der im Jahre 1873 die Zimmerarbeiten für die Wiener Weltausstellung besorgt hatte, ist schon seit mehreren Jahren todt. In seinem Testamente hatte er in wahrhaft fürstlicher Weise eine Reihe von Wohlthätigkeits-Instituten bedacht; das Findelkinderasyl hat er durch sein Legat geradezu vor dem Untergange gerettet. Darum sei denn auch in Ehren seiner Erwähnung gethan.

Fahren wir von Hütteldorf eine Station weiter, so sind wir in Weidlingau. „In Weidlingau, da ist der Himmel blau“, singt der Barde des Wiener Orpheums, und ganz Wien singt es mit ihm. Dann noch eine Station weiter, und wir sind in Purkersdorf. Um mit der Eisenbahn hierhin zu gelangen, dazu bedarf es schon einer halben Stunde. Dafür gehört Purkersdorf zu den schönsten Ortschaften des Wienthales; es steckt tiefer in den Bergen des Wienerwaldes, als Hütteldorf, und liegt daher auch malerischer. In historischer Beziehung wäre zu bemerken, daß der freundliche Ort vor zweihundert Jahren viel von den Türken zu leiden hatte, die im Jahre der Belagerung Wiens hier die Kirche zerstörten und auch sonst wie Vandalen hausten.

Noch stärker als die Westbahnstrecke wird die Südbahnstrecke von den Wienern während des Sommers frequentirt. Es sind wahrhaft kolossale Menschenmassen, welche die Südbahn täglich mit erstaunlicher Präcision befördert. Da geht es, die kleineren Stationen nicht mitgerechnet, nach Liesing, mit einer ebenfalls beliebten, sehr exportfähigen Bierbrauerei, nach Mödling, Baden, Vöslau etc. Mödling ist die jüngste Stadt des Reiches; daß es Stadt geworden, hat es zu nicht geringem Theile der Energie seines schneidigen Bürgermeisters Schöffel zu verdanken. Mit Mödling verbunden ist die kleine, aber überaus malerische Ansiedelung „Klause“, die eine wahrhaft romantische Verbindung mit dem womöglich noch romantischeren Brühl (Vorder- und Hinterbrühl) bildet. Die Fürsten Liechtenstein, die hier ausgedehnte Besitzungen haben, waren von jeher darauf bedacht, durch eine wahrhaft großartige Munificenz die romantische Natur dem Publicum möglichst bequem zugänglich zu machen. Sie haben Wege gebaut und die bewaldeten Berge zu großen Parkanlagen mit wunderbaren Spaziergängen eingerichtet. Das Bildchen Kirchner's giebt, so klein es ist, doch recht wohl einen Begriff von den hier zusammengedrängten Naturwundern.

Einen der hervorragendsten Plätze unter den Sommerfrischen der Wiener, wenn nicht den hervorragendsten, nimmt die Stadt Baden ein, die von Wien aus mit der Eisenbahn in einer Stunde zu erreichen ist. Die Anzahl der Sommergäste hier ist mit zehntausend nicht zu hoch angegeben. Diese Beliebtheit verdankt Baden seinen warmen, schwefelhaltigen und sehr heilkräftigen Quellen, deren Existenz nachweisbar schon den Römern bekannt war. Der Ort wurde bereits vor vierhundert Jahren zu einer Stadt erhoben, ist in stetigem Aufblühen begriffen, hat eine wohlhabende Bürgerschaft und erfreut sich als Bad einer internationalen Beachtung. Im Sommer wird es, trotz der nicht unbeträchtlichen Entfernung von der Hauptstadt, fast als eine Vorstadt von Wien betrachtet, an das es die verschiedenartigsten Interessen und nahen Beziehungen knüpfen. Eine eingehende Schilderung Badens, das in historischer, culturgeschichtlicher, balneologischer und landwirthschaftlicher Hinsicht so viel des Interessanten aufweist, liegt nicht in der Tendenz dieses Aufsatzes, der ja nur ungefähr andeuten soll, wo Wien sich im Sommer eigentlich befindet – zum Theil also, und nicht zum schlechtesten, in Baden.

Das letzte Bild auf unserem heutigen Tableau zeigt den Lesern Kalksburg, das zu dem ferneren Umkreise der Gegenden des Wienerwaldes gehört und das, obschon es nicht direct an der Eisenbahn liegt, doch von der Stadt aus in einer Stunde erreicht werden kann. Kalksburg ist ein uralter Ort und hat schon, wie ich im guten Glauben einem „verläßlichen Führer“ nacherzähle, im zwölften Jahrhundert seine Rolle gespielt. Gegenwärtig wird das finstere Mittelalter nur durch eine bekannte Jesuitenschule repräsentirt, die hier von den im Jahre 1855 eingewanderten Jesuiten errichtet worden ist und die sich insbesondere in den klerikalen Kreisen einer sehr lebhaften Beachtung und Unterstützung zu erfreuen hat.

Balduin Möller.




Fortschritte der Neuzeit in der Bienenzucht.
Ein volkswirthschaftliches Capitel.[1]


Wenn Gärten, Felder, Wiesen und Wälder in vollstem Blüthenschmuck prangen und das Auge des sinnigen Beschauers mit Wohlgefallen auf dieser Herrlichkeit ruht, so denkt er wohl nur in seltenen Fällen daran, daß diese Millionen lieblicher Blüthen sehr werthvolle Schätze bergen, Schätze, die, wenn gehoben, ganz respectable Summen repräsentiren, die gleichsam so nebenbei am Wege liegen, weil Niemand das geringste Eigenthumsrecht daran geltend macht, und die von Jedermann, wer nur Lust und Befähigung dazu hat, eingeheimst werden können. Eine Erinnerung an dieselben dürfte dankenswerth für Viele sein, welche unter dem Drucke der schlechten wirthschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit sich gern durch eine Nebenbeschäftigung den harten Kampf um’s Dasein erleichtern möchten.

Die reichen Schätze, welche wir im Auge haben, sind die oft winzig kleinen Nektartröpfchen, die sich meistens tief versteckt in den Blüthenkelchen finden und welche allein durch die kleine fleißige Biene zusammengetragen und von ihr alljährlich zu vielen tausend Pfunden Honig und Wachs verarbeitet werden.

Schon im grauen Alterthume kannte und schätzte man diese köstlichen Producte der Bienenzucht, und gar bald hatte man es herausgefunden, daß es bequemer und vortheilhafter war, wenn man, anstatt mit vieler Mühe und Gefahr Honig und Wachs aus den Felsenspalten und hohlen Bäumen zu holen, die Bienen in geeignete Wohnungen brächte und auf ihre Behandlung die gehörige Sorgfalt verwendete. Bei der verhältnißmäßig geringen Mühe, welche die Wartung und Pflege der Bienen beansprucht, und bei der großen Einträglichkeit derselben war es kein Wunder, daß sich die Bienenzucht schon in früher Zeit eines hohen Aufschwunges erfreute.

Die alten Römer lösten aus ihrer von Sclaven geleiteten Bienenwirthschaft im Verhältniß höhere Erträge, als aus allen anderen Unternehmungen auf landwirthschaftlichem Gebiete; nicht minder unsere alten deutschen Vorfahren, bei denen Honig und Wachswaaren von jeher sehr geschätzte und gesuchte Artikel gewesen sind. Seit dem Dreißigjährigen Kriege gerieth jedoch in Deutschland die Bienenzucht für lange Zeit in Verfall. Besonders nachtheilig wirkten die sich immer mehr verändernden Bodenculturverhältnisse. Viele Waldstrecken fielen unter den Schlägen der Axt; die Wälder wurden besser durchforstet; Anger und Wiesen, bisher vielfach nur zur Weide benutzt, wurden in Aecker verwandelt, diese wieder sorgfältig von honigenden Unkräutern reingehalten und mehr mit Hackfrüchten bestellt etc. Das alles schmälerte die Bienenweide, und wenn auch mit der Zeit dieser Ausfall durch den Anbau sehr gut honigender Pflanzen, wie Raps, Esparsette etc., überreichlich ersetzt wurde, so erwies sich doch die Ausnutzung der Weide in althergebrachter Betriebsweise als unzulänglich, um einträglich genug zu erscheinen. Indeß wie der Menschengeist immer und überall mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen und da neue Bahnen aufzusuchen weiß, wo die alten ausgetreten worden sind, so geschah es auch bei der Bienenwirthschaft.

Den ersten und wichtigsten Schritt vorwärts, der die Grundlage aller weiteren Fortschritte auf dem Gebiete der Bienenwirthschaft bildete, that der katholische Pfarrer Dr. Dzierzon. Er kam auf den sehr glücklichen Gedanken, die Bienen ihren Bau derart einrichten zu lassen, daß man ohne irgend welche Nachtheile für sie den Wachsbau in gesonderten Tafeln (Waben) dem Bienenstocke beliebig entnehmen und wieder einfügen konnte.

Diese Beweglichkeit des Bienenbaues – der Wachswaben – ermöglichte es, ohne viel Umstände den Ueberschuß recht starker Stöcke an Bienen sowie junger Brut schwächern Stöcken zuzutheilen, wodurch diese schnell zur größtmöglichen Ausnutzung der Honigquellen fähig werden. Ebenso war es jetzt eine Kleinigkeit, [495] die Königin eines Stockes herauszufangen und durch eine andere, bessere zu ersetzen, die Vermehrung durch künstliche Schwärme je nach Bedürfniß zu beschaffen, kurz, jeden Augenblick bald helfend und fördernd, bald hindernd, je nachdem es die Interessen des Züchters bedingten, in den Bienenstaat einzugreifen. Durch die Beweglichkeit der Waben allein gelang es vollkommen, das Leben der Bienen, deren Stock bisher dem Züchter ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war, genau zu beobachten, die Eigenheiten des wundervollen Gemeinwesens zu erforschen und eine Theorie als Grundlage eines neuen zeitgemäßen Betriebes aufzustellen, der dem Menschen die vollkommenste Herrschaft über die Bienen sichert.

Die Beweglichkeit der Wabe hat auch zur Construction neuer Bienenwohnungen, die dem Bienenwesen angemessen und für den Bienenzüchter vortheilhaft sind, geführt. Zu den anerkannt besten gehören jetzt der Dzierzon'sche Zwillingsstock, die Berlepschbeute, der Dathestock und der aus Stroh gefertigte und deshalb billigere Gravenhorst'sche Bogenstülper.

Wie nun eine wichtige Erfindung meistens die Mutter einer zweiten, ja oft vieler anderer wird, so auch hier. Die bewegliche Bienenwabe führte gar bald zu der höchst wichtigen Erfindung der sogenannten Honigschleuder, einer Maschine, die durch Centrifugalkraft den Honig aus den Zellen wirft.

Zwar gestattete die an ein Stäbchen oder in ein Rähmchen gebaute Wabe ihre Herausnahme zu beliebiger Zeit, sodaß der Ueberschuß an Honig seit Dzierzon bequem zu gewinnen war; allein man mußte doch, wollte man den Honig von dem Wachse trennen, fortdauernd den Wachsbau zerstören, während es ohne Zweifel viel vortheilhafter sein mußte, wenn man die Honigwaben ohne Zerstörung oder Beschädigung vom Honig entleeren und alsdann den Stöcken wieder zurückgeben konnte. Man weiß nämlich, daß die Bienen aus ungefähr zehn Pfund Honig erst ein Pfund Wachs zu bereiten vermögen, ungerechnet daß der Neubau des Werkes auch Zeit in Anspruch nimmt, die für das Honigsammeln verloren geht. Das Problem nun, die vollen Honigwaben unbeschädigt vom Honige entleeren zu können, wurde vom Major von Hruschka durch die Erfindung der Honigschleuder vollständig gelöst. Der nach der Aufdeckung der Honigzellen ausgeschleuderte Honig wird in einem untergesetzten Gefäße aufgefangen, worauf die vollständig entleerten Tafeln den Stöcken zum abermaligen Volltragen wieder eingeschoben werden. Dabei trat die so erfreuliche Erscheinung zu Tage, daß, je mehr man Honig entnahm, desto mehr die Bienen bestrebt waren, den Abgang an Honig durch regeren Fleiß wieder zu decken. In ausgezeichneten Jahren kann man von einem einzigen Stocke oft über hundert Pfund ausschleudern, ohne ihn dadurch bei Schmalhans in die Kost zu schicken. So etwas war bei altem Betriebe gar nicht möglich. Und was für köstlicher Honig ist dieser sogenannte Schleuderhonig gegen das Product, welches man nach Altväter-Weise gewinnt und welches, aus den zerquetschten und erwärmten Wachswaben herausgepreßt, seine Farbe und sein Arom verliert! Dabei ist zudem gar nicht zu vermeiden, daß sich beim Pressen viel Blumenstaub, den die Bienen oft in großer Menge als stickstoffhaltige Zukost zwischendurch in den Zellen aufstapeln, sowie Wachstheilchen mit durchpressen und sich dem Honige beimischen. Dergleichen gemischter Honig verursacht hin und wider bei einzelnen Menschen nach dem Genusse Magenbeschwerden, wohingegen der geschleuderte ohne Unterschied höchst wohlthätig auf den menschlichen Organismus einwirkt. Indeß die Gewinnung des reinsten Honigs nebst den andern erwähnten Vortheilen ist es nicht allein, was die Honigschleuder so werthvoll für den Imker macht: sie setzt ihn sogar in den Stand, den Honig nach der Blüthe, aus der er stammt, zu sortiren. Blüht die Linde, die Akazie etc., so giebt er seinen Stöcken entleerte Wachstafeln zum Volltragen aus der Blüthe, die gerade Honig spendet. Schleudert er dann, bevor wieder eine andere Blüthe von den Bienen beflogen wird, so kann er sagen: das ist reiner Linden-, das Akazienhonig etc. Der Schleuderhonig behält sogar für die erste Zeit nach dem Schleudern noch das Arom der Blüthe, aus der er stammt. Die Gewinnung bestimmter verschiedener Honigsorten hat aber wieder ihren großen Werth. Da der Honig in Bezug auf Farbe, Geschmack, Arom und sonstige Eigenschaften sehr verschieden ist, so wird zum Genusse oder zu gewerblichen Zwecken bald diese, bald jene Honigsorte vorgezogen und demnach auch besser bezahlt.

Eine weitere bedeutsame Errungenschaft war die Erfindung der Kunstwaben von Mehring, das heißt künstlicher Bienenwachstafeln, die, vermittelst der Maschine gepreßt, die Zwischenwand der Waben nebst Zellenanfängen auf beiden Seiten darstellen. Die Bienen haben nur die Zellenanfänge fertig zu bauen, brauchen somit weniger Wachs zu schaffen und können viel mehr Honig tragen; zugleich – was gleichfalls wesentlich mit in's Gewicht fällt – verhindert man auf diese Weise den überflüssigen Drohnenbau, den die Bienen zu Zeiten gar zu gern aufführen.

Neben diesen hochwichtigen Erfindungen, die den Betrieb der Bienenwirthschaft ganz umgestalteten, ist auch die Entdeckung eines Heilverfahrens hervorzuheben, nach welchem die bisher für unheilbar gehaltene pestartige, oft plötzlich auftauchende Krankheit der Bienenvölker, die sogenannte Faulbrut, curirt wird. Viele Tausende von Stöcken hat diese bitterböse Krankheit jährlich allein in Deutschland ruinirt, und schon seit undenklichen Zeiten hatte man sich vergebens um ein sicheres Heilmittel bemüht. Da war es eben die „Gartenlaube“, welche die Bienenzüchter auf die rechte Fährte brachte. In Folge eines Artikels derselben über die antiseptischen Wirkungen der Salicylsäure stellte der Gutsbesitzer Hilbert umfassende Versuche mit dieser Säure bei seinen an der Faulbrut erkrankten Bienenvölkern an und war so glücklich, ein sicheres Vorbeugungsmittel wie Heilverfahren ausfindig zu machen. Das war wieder ein bedeutender Schritt vorwärts, dem ein anderer gleichfalls wichtiger an die Seite zu stellen ist.

Schon früher hatte Hilbert ein rationelles Verfahren bekannt gemacht, die Bienen mit Ei und Milch zu füttern. Diese Fütterung, die jedoch mit großer Vorsicht und gehöriger Sachkenntniß ausgeführt werden muß, bezweckt, durch die Darreichung stickstoffhaltiger Nahrung den Bienen die Stoffe, die zum Aufbau des Bienenkörpers etc. nöthig sind, zu liefern und den Brutansatz zu fördern. In letzter Zeit hat auch zu gleichem Zwecke der Pfarrer Weygandt eine Fütterung mit Mehl im Stocke, was bis dahin nie hatte gelingen wollen, ausfindig gemacht. Beide Fütterungsarten sind insofern von großer Bedeutung, als sie die Züchter in den Stand setzen, zur Zeit der Honigernte recht viele Arbeiter in den Stöcken zu haben.

Bei der Darlegung der großartigen Fortschritte in der Bienenzucht darf es hier nun auch wohl nicht unerwähnt bleiben, daß die Blutauffrischungen mit heimischen und die Kreuzung mit verschiedenen ausländischen Bienen, wie der italienischen und cyprischen etc., gleichfalls nicht ohne Vortheil für die Bienenzucht gewesen sind. So wurde die Leistungsfähigkeit der heimischen Bienen erhöht, und die Züchtung der italienischen Rasse hat nicht unwesentlich zur Lösung wichtiger theoretischer Fragen beigetragen. Allein es läßt sich auch nicht leugnen, daß bisher mehr als nöthig Geld für fremde Bienen in's Ausland gesandt worden ist, welches ohne Zweifel, besonders bei Anfängern, in heimischen Bienen besser angelegt worden wäre. Wir haben in Deutschland selbst genug gutes Zuchtmaterial, wenn es gilt, was ja die Hauptsache ist, auf Leistungsfähigkeit zu züchten. So ist z. B. die Haidbiene, die sich in den hannoverschen Haidegegenden bis Braunschweig und wohl etwas darüber hinaus vorfindet, unzweifelhaft eine durch besondere sorgfältige Züchtung entstandene Culturrasse. Nicht minder gut ist die allgemeine deutsche Biene in den Gegenden, in welchen eine zu starke Inzucht nicht getrieben wird. Die Kreuzung beider hat stets einen vorzüglichen Mittelschlag gegeben.

Nach den obigen Darlegungen wird Jeder, auch wer sonst nichts von der Bienenzucht versteht, leicht herausfinden, wie sehr die in den letzten Decennien gemachten Fortschritte die Einträglichkeit und Annehmlichkeit der Bienenzucht befördert haben müssen. Freilich ist es jetzt mehr als früher nöthig, sich die gehörigen Vorkenntnisse durch ein anerkannt gutes Lehrbuch der Bienenzucht zu verschaffen, ohne daß man dabei, mindestens anfangs, die Vorschriften erfahrener und bewährter Züchter entbehren könnte. In jedem Fall bleibt die Bienenzucht eine ebenso interessante Beschäftigung, wie sie als ein lohnender Nebenverdienst, welcher äußerst wenig Capitalanlage beansprucht, immer wieder empfohlen werden sollte.
C. J. H. Gravenhorst.



[496]
Blätter und Blüthen.


Nach gethaner Arbeit ist gut ruhen. (Vgl. das Bild auf S. 485.) Ein launiges Lied singt: „’s giebt kein schönres Leben, als das Räuberleben“ etc. Diese Behauptung ist ebenso gewagt, wie man ein Recht hätte, dafür zu setzen: „’s giebt kein schönres Leben, als das Künstlerleben“. Wer je in einer Malerstadt gelebt, je eines der alljährlich stattfindenden Künstlerfeste mitgefeiert hat, die in übermüthig ungebundener Laune eine Fülle lustiger Ideen mit jenem geläuterten Geschmack zu verkörpern wissen, welcher zu den Ausbildungszielen des Künstlers gehört, der wird eine Empfindung haben, daß in des „Künstlers Erdenwallen“ etwas ganz besonders Beneidenswerthes steckt. Worin es liegt? Nun – zunächst im Berufe selber. Es giebt gewiß keinen höheren Reiz, als den, welcher dem künstlerischen Schaffen und Gestalten innewohnt, welcher mit dem Bewußtsein der Herrschaft über die Welt der Formen, der Farben, der Klänge verbunden ist. Die Stunden hohen geistigen Aufschwungs, wie solcher der künstlerischen Befähigung frei zu Gebote steht, während er den weniger bevorzugten Sterblichen erst durch das Kunstwerk vermittelt wird – diese Stunden tragen nicht nur ihren Zauber in sich selbst; sie hinterlassen auch bei dem arbeitsmüden Künstler ein Gefühl tiefster Befriedigung, einen Nachklang von fröhlicher Stimmung, der die Muße desselben verklärt.

Davon wissen die Freunde des Künstlers, davon wissen die Wirthe in den Gegenden zu berichten, welche das lustige Malervölkchen auf Sommerfrische oder zu Naturstudien sammeln. Davon erzählt auch unser heutiges Bild, das uns in das Malerland Italien, in die Gegend von Rom führt, von dessen deutscher Malercolonie seinerzeit Ernst Eckstein den Lesern der „Gartenlaube“ eine farbige Schilderung gegeben hat (vergl. 1878, Nr. 32). Feierabend im Atelier! Verlassen steht die Staffelei; die Freunde sitzen beisammen um das frugale Mahl, welches ein feueriger Tropfen südlichen Rebenblutes würzt; die gute deutsche Pfeife dampft, und die italienische Laute klingt unter den Fingern ihres offenbar lyrisch angehauchten Besitzers, und mit entsagungsvollem Lächeln blickt der die Palette säubernde Schüler auf den muntern Gesellen, welcher der Ueberzeugung praktisch Ausdruck geben zu wollen scheint, daß die vollen rothen Lippen der jungen Modellsteherin noch zu etwas Besserem gut seien, als um mit Pinsel und Farbe auf grundirter Leinwand verewigt zu werden. Ein Kuß in Ehren – wer will’s verwehren?




Ein Aufruf an die gesammte deutsche Nation ist am 5. Juni in der Berliner geographischen Gesellschaft berathen worden. Die Opferwilligkeit der Deutschen soll in Anspruch genommen werden für Zwecke, denen sie schon früher ihre Theilnahme in rühmlicher Weise zugewandt hat, für – Forschungen an beiden Polen unserer Erde, in den arktischen und antarktischen, jenen nördlichen und südlichen Polarzonen, die seither Millionen an Werth und Tausende von Menschenleben verschlungen haben. Diesem Uebel soll nunmehr entgegengetreten werden. Man will sich nämlich nicht mehr mit der bloßen Entdeckung der Configuration von Land und Meer begnügen. Es soll vielmehr der Schlüssel zu den meteorologischen und anderen Geheimnissen gesucht werden, deren Lösung alle Menschen praktisch und theoretisch berührt. Dieser Schlüssel liegt in jenen hohen Breiten des Nordens und Südens, und von Deutschland aus hat sich der Gedanke und der Plan verbreitet, denselben aufzusuchen, die civilisirten Nationen zu einer internationalen Junta zusammenzurufen, um zu berathen, in welcher Weise der gefaßte Plan ausgeführt werden soll.

Die Wichtigkeit des Planes tritt mahnend hervor bei Erwägung der großen Verluste, welche schon deutsche Schiffe allein in nur sechs Jahren erfahren haben. Von 1873 bis 1878 gingen 1005 Schiffe mit einem Gesammtinhalt von 225,554 Register Tons und 2204 Menschenleben verloren. Der Verlust der anderen Nationen wird diese Zahlen wohl noch übersteigen. Alle diese Verluste aber würden bei besserer Kenntniß der meteorologischen Vorgänge unserer Atmosphäre sehr wesentlich verringert worden sein.

Es richteten sich daher schon lange die Blicke der Meteorologen aller Länder nach den höchsten geographischen Breiten, wo sehr wahrscheinlich der Ausgangspunkt jener wirbelartigen Luftströmungen zu suchen ist, die oft plötzlich, und ohne daß Vorbereitungen getroffen werden können, über das Meer und die Länder der gemäßigten Zone daherbrausen, vernichtend und zerstörend, was die menschliche Cultur aufgebaut hat.

Diese Vorgänge zu erforschen, ihr Entstehungsgebiet mit einer Reihe fester, wissenschaftlicher Stationen zu umgeben, ihr Vorgehen, Ankommen und Verschwinden zu registriren und in erweiterter Kenntniß daraus Grundgesetze der praktischen Wetterkunde abzuleiten, das ist allein schon eine Aufgabe, welche die höchste – auch pecuniäre – Bedeutung für den Wohlstand der ganzen Menschheit hat. Darum hatte die Berliner „Gesellschaft für Erdkunde“ es übernommen, für die Realisirung dieser sehr bedeutsamen Ideen mit ihrem Einflusse einzutreten und den Appell an die deutsche Nation von Berlin aus ertönen zu lassen.

An der Spitze der Agitation stehen keine geringeren Männer, als der berühmte Führer der „Gazelle“ auf der ersten wissenschaftlichen deutschen Erdumseglung, Capitain zur See Freiherr von Schleinitz, und der kenntniß- und erfahrungsreiche Director der deutschen Seewarte in Hamburg, Professor Dr. Neumayer.




Die drollige Randbemerkung Friedrich's des Großen, mit welcher derselbe das Ersuchen des Ichthyologen Marcus Elieser Bloch um behördliche Beihülfe zur Herausgabe einer Naturgeschichte der Fische abweisend beschied – wir theilten dieselbe im Artikel über die Berliner Fischerei-Ausstellung, Nr. 25 dieses Jahrgangs mit – gelangte, wie uns ein Verwandter Bloch’s, Herr Richard Lesser in Leipzig, schreibt, in der erweiterten Form folgenden Cabinetsschreibens an den Bittsteller:

„Seiner Königlichen Majestät von Preußen, Unser allergnädigster Herr, lassen den Doktor Bloch, auf seine allerunterthänigste Anzeige vom 25. dieses, und in Ansehung des darin gethanen Antrages, hierdurch zu erkennen geben, daß es nicht nöthig ist, von denen Cammern eine Liste von den Fischen zu erfordern, denn das wissen sie schon aller Weges, was es hier im Lande vor Fische giebet, das sind auch durchgehends dieselbe Arthen von Fischen, ausgenommen im Glatzischen, da ist eine Arth die man Kaulen nennet, oder wie sie sonst heißen, die hatt man weiter nicht, sonsten aber sind hier durchgehends einerley Fische, die man weiß und kennet: Und darum ein Buch davon zu machen, würde unnöthig seyn, denn kein Mensch wird solches kauffen: die zugleich mit eingereichte Kupfer-Abdrücke, von einigen Fischen, erfolgen hierbei wieder zurück.

     Potsdam, den 27. Martz 1781.
Friedrich.“

So ist der Text, dessen Handschrift sich im Besitz des Herrn Lesser befindet, auch 1856 in den 3. Theil des 27. Bandes der „Oeuvres de Frédéric le Grand“ aufgenommen worden.–

Diese Ablehnung des Bloch’schen Gesuches war aber, wie Herr Lesser weiter berichtet, nur eine anfängliche, denn der König erließ am 13. November 1781 an sämmtliche Kriegs- und Domänen-Kammern, auch Deputationen, mit Ausschluß Schlesiens, die Verfügung, dem Doctor Bloch zur vollständigen Ausarbeitung der ökonomischen Naturgeschichte das Verzeichniß der Namen aller Fische in den Gewässern der königlichen Provinzen zuzufertigen und diesem Verzeichnisse instructive Bemerkungen beizufügen. Auch findet sich im Staatsarchive das französische Originalschreiben des Doctor Bloch vom 12. Mai 1782, in welchem derselbe dem Monarchen über den glücklichen Fortgang seines Werkes Bericht erstattet und die Erlaubniß nachsucht, sich für den Illustrator seines Werkes einige Exemplare des Sterlets beschaffen zu dürfen, welche ihm auch gewährt wurde. In den Mühlenteich bei Küstrin, wie in den Gierland-See im pommerschen Amte Colbatz hatte der König nämlich seit dem Jahre 1774 mit großer Mühe und vielen Kosten den Sterlet aus Rußland verpflanzen lassen, der sich übrigens bis heutigen Tages in beiden Gewässern erhalten hat.




Eine neue Sehenswürdigkeit des baierischen Hochgebirges. Die langgedehnte unzugängliche Schlucht, durch welche der Leutaschbach bei Mittenwald zur Isar hervorbricht und die bis jetzt meist als Leutaschklamm in den Büchern und Karten angeführt war, ist seit wenigen Wochen in ihrem schönsten Theile zugänglich gemacht worden. Niemals hat sie eines Menschen Fuß betreten. Die Mittenwalder Bürger selbst, durch deren Aufopferung der finstere Wasserschlund jetzt auf bequemem Steg durchschritten werden kann, waren höchlich erstaunt über die von ihnen betreffs der Wildheit und Größe dieser Klamm gemachten Entdeckungen. Erschütternd wirkt namentlich der etwa hundert Fuß hohe Gesammtsturz des Leutaschbaches, der in Schaum aufgelöst in dem nächtlichen Tobel aufschmettert. Dieser Schlund, der von nun ab mit Recht Mittenwalderklamm genannt werden soll, gehört zu den allerersten Schaustücken der Hochalpen des deutschen Reiches. Die Mittenwalderklamm ist von dem Ort, der ihr den Namen gegeben und den jetzt wegen der Oberammergauer Spiele so viele Reisende berühren, kaum eine Viertelstunde entfernt. Niemand sollte bei gegebener Gelegenheit den Gang dorthin verabsäumen; ja, ohne Uebertreibung gesagt, diese Naturscene ist eine eigene Reise werth. Namentlich sei auch auf den überaus malerischen Rückblick zum steilen Karwendelgebirge aufmerksam gemacht, welches den Felsenspalt zu sperren scheint. Der Wasserfall an und für sich ist einer der bedeutendsten in den Kalkalpen.
H. N.




Kleiner Briefkasten.

Ch. D. in B. Auf Ihre Anfrage bezüglich der Curmethode des italienischen Grafen Cesare Mattei, welche noch immer so viele Gläubige findet, diene Ihnen Folgendes zur Antwort: In ärztlichen Kreisen verhält man sich meistens ablehnend gegen die Mattei’sche Curmethode, ja bezeichnet sie sogar für durchaus bedenklich, wie denn auch der Centralverein der homöopathischen Aerzte Deutschlands auf seiner letzten Wanderversammlung gegen jede Gemeinschaft mit der Elektro-Homöopathie des Mattei entschieden Verwahrung eingelegt hat. Besonderes Verdienst um die Klärung der Frage hat sich ein Dresdener Medicinalrath erworben, indem er bei mehreren angesehenen Aerzten Italiens directe Erkundigungen über den Grafen Mattei und seine Curmethode eingezogen hat. Es gingen ihm auf seine Anfragen aus Bologna, Rom und Legnano Mittheilungen zu, welche ergeben, daß der Graf Mattei ein Curpfuscher gewöhnlichster Art ist, der in Italien bereits seit lange als solcher erkannt worden. Ein Aufsatz in der „Gazetta d’Italia“ vom 28. Januar dieses Jahres sagt bei Besprechung einer bereits in mehrere Sprachen übersetzten Schrift des Grafen Mattei über Elektro-Homöopathie: „Das Werk ist mit solchen Verkehrtheiten angefüllt, daß man schamroth werden muß, wenn man daran denkt, daß sich im neunzehnten Jahrhundert noch gebildete Leute finden, welche dieser Sache Glauben schenken.“

A. N. in Tr. Wir bedauern, Ihnen nicht dienen zu können. Uebrigens bleiben anonyme Gesuche grundsätzlich unberücksichtigt.

F. E. in Thun. Die Zusammensetzung des Roob Laffecteur ist bekannt und besteht im Wesentlichen aus Sarsaparille-Extract.

A. K. in B. Evangelische Diaconissinnen-Anstalten bestehen bekanntlich in Kaiserswerth, Dresden, Ludwigslust, Berlin, Stuttgart. Wenden Sie sich an die Ihnen zunächstgelegene, und Sie werden auf Ihre Anfrage gewiß sofort genügende Auskunft erhalten.

Alter Abonnent aus Zabern. Dr. R. in B. ist nicht zu empfehlen. Brieflich können Sie überhaupt nicht behandelt werden.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. die früheren Artikel über den Gegenstand in „Gartenlaube“ Jahrg. 1855, S. 78; 1857, S. 440, 458; 1861, S. 638; 1866, S. 382; 1868, S. 596.
    D. Red.