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Artikel „Winer, Georg Benedikt“ von Ernst von Dobschütz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 425–427, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Winer,_Georg_Benedikt&oldid=- (Version vom 6. Oktober 2024, 23:56 Uhr UTC)
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Winer: Johann Georg Benedikt W., Theologe, ward geboren am 13. April 1789 zu Leipzig als einziges Kind des Bäckermeisters Joh. George Wiener (so!), verlor in frühester Jugend beide Eltern, bald auch die Tante, die sich des Verwaisten angenommen hatte, und hatte vielfach mit Noth zu kämpfen. 1801–1809 besuchte er mit Auszeichnung das Nicolaigymnasium zu Leipzig und begann 1809 das theologische Studium an der dortigen Universität. Neben Tittmann, J. G. Rosenmüller, Keil und Tzschirner hörte er besonders den Philologen Gottfried Hermann und den Orientalisten E. F. K. Rosenmüller d. J. Sie vor allem haben seine Eigenart bestimmt. An Uebernahme eines praktischen Kirchenamtes scheint er ernstlich nie gedacht zu haben. Zum Doctor der Philosophie promovirt, habilitirte er sich am 17. December 1817 auf dem philosophischen Katheder, nachdem er schon zuvor längst eine exegetische Gesellschaft geleitet hatte. 1819 wurde er Custos an der Universitätsbibliothek und Extraordinarius an der theologischen Facultät, von Halle und Rostock mit dem theologischen Doctorgrad geehrt. 1823 ging er als Berthold’s Nachfolger nach Erlangen und heirathete hier Adeline Ritter, G. H. v. Schubert’s Pflegetochter. Einen Ruf nach Jena an Gabler’s Stelle 1826 lehnte er ab. Als k. bairischer Kirchenrath kehrte er 1832 in die Heimath zurück auf Tittmann’s Katheder, dem er bis zuletzt, seit 1845 auch als Domherr des Hochstiftes Meißen, treu blieb; ein eifriger, wirkungsvoller Lehrer, von dem öffentlichen politischen wie kirchlichen Leben sich fernhaltend, in der Verwaltung der Universität (als Rector 1841/42) und Facultät rege Kräfte entfaltend, vor allem ein treuer väterlicher Freund seiner Schüler. Die letzten Lebensjahre drückte ihn ein nervöses Augenleiden, welches ihn vielfach an der Arbeit hinderte. Trotz eines Schlaganfalls las er noch im Winter 1857/58. Im Frühjahr wiederholte sich das Uebel und am 12. Mai 1858 starb er, 69 Jahre alt.

W. hat wol vom Katheder aus und innerhalb seiner exegetischen Societät noch mehr gewirkt als durch seine Schriften und eine große Zahl tüchtiger Theologen gebildet. Seine Schriften sind meist Abhandlungen und Programme geringen Umfangs, aber alle auf gründlichsten, bis ins Einzelne genauen Forschungen beruhend, ein Zeugniß riesigen Fleißes und großer Arbeitskraft. (Man findet sie aufgezählt in den unten genannten Monographien.) Am bekanntesten ist sein Name geworden und hat bleibende Bedeutung erlangt durch vier größere Werke, allen voran durch seine „Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als [einzig] sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese bearbeitet“ (1822, 161 Seiten stark, in der 6. Auflage 1855, der letzten von Winer’s Hand, auf 560 Seiten angewachsen, 1867 von Lünemann[WS 1] neu bearbeitet, jetzt von P. W. Schmiedel[WS 2]), sodann durch sein „Biblisches Realwörterbuch“ [426] (1820, 2 Bde., 3. Aufl. 1847), das „Handbuch der theologischen Litteratur“ (1821, 1 Bd., 3. Aufl. 1838 2 Bde.) und die „Comparative Darstellung des Lehrbegriffs der verschiedenen christlichen Kirchenpartheien“ (1824, 2. Aufl. 1837, 3. Aufl. 1866 von Preuß schlecht, 4. Aufl. 1882 von Ewald gut besorgt). Wie W. in seinen Vorlesungen fast das ganze Gebiet der Theologie umspannte, so zeigt er sich auch in diesen seinen Schriften als einen theologisch allseitig gebildeten Gelehrten. Umfassendes Wissen und gründliche Studien zeichnen sein bibliographisches Handbuch aus, welches besonders durch die beigegebenen biographischen Notizen über die Verfasser die größten Dienste geleistet hat und wol immer noch für die ältere Litteratur unentbehrlich ist. Ein Systematiker, ein speculativer Kopf war W. nicht. Das zeigt ganz deutlich seine comparative Symbolik in Tabellenform. Ihm kam es auf genaue historische Darstellung des vorliegenden Thatbestandes an. Damit wollte er freilich „zur brüderlichen Eintracht mit andersdenkenden“ und zugleich „zum innigen Festhalten an der reinen Lehre des Evangeliums“ ermuntern, und sicherlich ist ihm beides gelungen. Die Symbolik ist fortgeschritten und hat sich höhere Ziele gesteckt, aber immer noch sind seine vortrefflich sachlich ausgewählten Belegstellen aus den symbolischen Schriften der verschiedenen „Kirchenpartheien“ ein Hülfsmittel von nicht zu unterschätzendem Werthe. Der Schwerpunkt der Arbeiten Winer’s aber lag in den biblischen Wissenschaften, in der Erklärung des Neuen Testamentes, vor allem nach der sprachlichen Seite. Zwar hat er auch die Realien nicht vernachlässigt und in dem Realwörterbuch eine für die damalige Zeit hervorragende Zusammenfassung der biblisch-archäologischen Kenntnisse in alphabetischer Anordnung geboten. Aber in erster Linie wird sein Name doch stets mit der sprachlichen Erforschung des Neuen Testamentes verbunden bleiben. Hier hat er nicht nur für Deutschland, sondern auch für die anderen europäischen Länder und vornehmlich Nordamerika, wo immer man wissenschaftliche Exegese des Neuen Testamentes treibt, eine neue Periode begründet. Vor W. hatte die philologia sacra sich fast nur der lexikalischen Erscheinungen angenommen. Man operirte mit Hebraismen, ohne deren Wesen je genau bestimmt zu haben, und hielt so der exegetischen Willkür Thür und Thor offen. W. hatte von seinem Landsmanne G. Hermann gelernt, die Sprache als ein lebensvolles, gesetzmäßig geregeltes, organisches Ganze zu betrachten, in dem der Gedanke seine bestimmte, nicht beliebig zu vertauschende Form empfangen habe. Diese Erkenntniß wandte er auf die Schriften des Neuen Testamentes an, und wie er als Knabe schon sich selbst eine griechische Grammatik geschrieben hatte, so brachte der gereifte Mann, mit aller damaligen philologischen Gelehrsamkeit ausgerüstet, den von den ersten Christen gesprochenen und geschriebenen griechischen Dialekt nach seinen von der classischen Graecität abweichenden Eigenthümlichkeiten zur Darstellung. W. hat dadurch nicht nur die „einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese“ geschaffen, die durch ihn von einer großen Anzahl von tastenden Erklärungsversuchen befreit wurde, sondern er hat auch für das Verständniß der späteren griechischen Sprache, aus der er in jeder neuen Auflage reichlichere Belege beibrachte, Großes geleistet. Daß er im Stande war, Hebraismen und Aramaismen zu würdigen, zeigen seine zahlreichen Bemühungen um diese semitischen Sprachen, vor allem seine „Grammatik des biblischen und targumischen Chaldäismus“ (1824, 2. Aufl. 1842); aber er hat uns gelehrt keine Anomalien zu finden, wo man mit einer naturgemäßen Entwicklung der griechischen Sprache selber auskommen kann. Die Philologie wie die Erforschung des Neuen Testamentes haben seitdem ihre großen Fortschritte gemacht; eine ungeahnte Fülle neuer Documente für die Verkehrssprache des griechischen Volkes ist ans Tageslicht gezogen worden. Es ist uns daher möglich vieles schärfer zu bestimmen; [427] das Problem z. B., ob das Griechisch des Neuen Testamentes aus der griechischen Uebersetzung des Alten herzuleiten sei oder als selbständiger Zweig der griechischen Volkssprache zu gelten habe, ist erst jetzt acut geworden: W. selbst hat sich an seinen Resultaten nie genügen lassen, und für den Kundigen kann es kein Zweifel sein, wie er sich heute zu den Fragen der Neutestamentlichen Sprachwissenschaft stellen würde. Jedenfalls bleibt es sein Verdienst, daß die Theologen überhaupt gelernt haben, nach Gesetzmäßigkeit und Vernunft in diesen Dingen zu fragen. Mit Recht trägt die völlig neue Bearbeitung der Neutestamentlichen Grammatik aus der Feder P. W. Schmiedel’s, welche den Ertrag der gesammten neueren philologischen Arbeit für das Neue Testament verarbeitet, den Namen des ersten Verfassers noch an der Spitze (8. Aufl. 1894, bis jetzt leider noch unvollendet). Daß W. nicht dazu gekommen ist, seine reichen Vorarbeiten zu einem Lexicon des Neuen Testamentes (vgl. Beitrag zur Verbesserung der Neutestamentlichen Lexicographie, 1823) abzuschließen, mag man bedauern, wennschon hier W. Grimm’s treffliche Clavis diese Lücke gewiß nach Winer’s Sinn ausgefüllt hat. Wie sich auf Grund solcher grammatischen Anschauungen die Exegese gestaltet, das hat W. außer in einzelnen Specialuntersuchungen an dem Galaterbriefe des Paulus (1821, 4. Aufl. 1859) gezeigt: ein mit Hülfe der Grammatik zu gewinnendes historisches Verständniß gilt es zu erstreben. Von der gerade damals wieder aufkommenden sog. dogmatischen Exegese will er nichts wissen: „auch mag man sich … wohl hüten, daß unsere Commentare sich nicht in Homilien verwandeln, oder in Catenen aus Kirchenvätern und Reformatoren“ (Grammatische Excurse, 1828, S. VII fg.). Man hat seine Art darum wol rationalistisch im tadelnden Sinne genannt. Der Dank seiner Schüler bezeugt es anders. „W. ist ein Theologe gewesen, dessen Verdienste um den Protestantismus und die biblische Wissenschaft bleibend sind“.

G. Lechler, Art. Winer in Realencyclopädie f. protestant. Theologie u. Kirche. 1. Aufl. XVIII, 186–190, 2. Aufl. XVII, 207–211. – Woldemar Schmidt, Zum Gedächtniß D. Georg Benedikt Winer’s in den Beiträgen zur sächsischen Kirchengeschichte, Bd. III, 1885, S. 25–38.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gottlieb Lünemann (1819–1894), ao. Professor der Theologie in Göttingen.
  2. Paul Wilhelm Schmiedel (1851–1935), Professor der Theologie in Jena, später in Zürich.