ADB:Windscheid, Bernhard
Vangerow’s gewonnen wurde. So siedelte er bereits 1874 nach Leipzig über, um dort wieder fest Wurzel zu fassen; er ist da am 26. October 1892 gestorben, während dieser ganzen Zeit ununterbrochen akademisch thätig, mit Ausnahme der Jahre 1880–1883, während deren er, als Mitglied der Commission für die Abfassung eines Entwurfes zu einem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, sich vielfach in Berlin aufhalten mußte. Im J. 1880 war er, nach dem Tode Wächter’s, Leipziger „Ordinarius“ geworden, der letzte, der dieses alte Facultätsamt mit wesentlich spruchcollegialer Bedeutung versehen hat; im J. 1883 schied er aus jener Commisson, der er seit ihrer Einsetzung (1874) angehört hatte, aus, da ihm „persönliche und dienstliche Verhältnisse die längere Abwesenheit von Leipzig nicht gestatteten“. Außer bei dieser Gelegenheit ist W. im öffentlichen Leben kaum hervorgetreten, es sei denn gelegentlich der Altkatholiken-Bewegung, welcher er sich in ihren ersten Jahren anschloß; kurz vor seinem Lebensende ist er übrigens zum Protestantismus übergegangen.
Windscheid: Bernhard W., Jurist, ist geboren zu Düsseldorf am 26. Juni 1817 als Sohn des kgl. Hypothekenbewahrers Ferdinand W. Er studirte zu Bonn und Berlin, bestand die erste Staatsprüfung 1837 und promovirte am 22. Decbr. 1838. Darauf habilitirte er sich als Privatdocent zu Bonn 1840, wurde dort im Sommer 1847 außerordentlicher Professor, im Herbst desselben Jahres als ordentlicher Professor nach Basel berufen, und vertauschte diese Universität 1852 mit Greifswald. Von dort ging er 1857 nach München, wo er wol die stärkste Vorlesungsthätigkeit entfaltet hat. Weniger behagte es ihm in Heidelberg, wohin er im J. 1871 als NachfolgerWindscheid’s frühere Schriften sind im wesentlichen, abgesehen von Recensionen u. dgl., folgende: „Zur Lehre des Code Napoléon von der Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte“ (1847); „Ueber das Prinzip des SCltum. Vellejanum“ (im Archiv für civilistische Praxis 32, 283–324); „Die Lehre von der Voraussetzung“ (1850); „Die Wirkung der erfüllten Bedingung“ (1851); „Die actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts“ (1856) und, infolge eines gegen letztere Schrift von Muther gerichteten, außergewöhnlich scharfen Angriffs: „Die actio. Abwehr gegen Dr. Th. Muther“ (1857). – Von diesen Schriften sind zweifellos die bedeutendsten die letzten. In der Lehre von der Bedingung bricht der Verfasser zum ersten Male mit der herrschenden Anschauung von der Rückziehung; in den Ausführungen über die actio stellt er den modern gleichwerthigen Begriff des Anspruches auf; aber auch schon bei der Behandlung der Voraussetzung entwickelt er eine weitergehende neue Idee, welche freilich weniger allgemeinen Anklang gefunden hat, obschon ihr Urheber zäh an ihr festhielt, selbst in einem besonders dieser Frage gewidmeten Aufsatz im civilistischen Archiv 78, 161 fg. Allen diesen früheren Arbeiten aber ist Eins gemein: es handelt sich bei ihnen durchweg um Ziehung systematischer Grundlinien und Auffindung systematisch wünschenswerther Ergänzungsstücke; so [424] erschienen sie als Vorstudien zu Windscheid’s Lebenswerk, seinem „Lehrbuche des Pandektenrechts“.
Dieses dreibändige Werk erschien in erster Auflage 1862–1870, in zweiter Auflage 1870–1871, die siebente und letzte datirt von 1891. Die kennzeichnende Eigenthümlichkeit besteht vor allem in der erreichten Absicht größter Vollständigkeit der Litteratursammlung und Litteraturverarbeitung, einer Vollständigkeit, welche sich nur erzielen ließ, indem der Verfasser von Ausgabe zu Ausgabe fast seine ganze schriftstellerische Thätigkeit auf die Einarbeitung der neueren Erscheinungen beschränkte. Denn nicht etwa um bloße Titel und oberflächliche Notizen handelte es sich ihm dabei; sondern darum, jede der zahllosen Schriften dieses weiten Gebietes auf ihre Bedeutung zu prüfen, mit einem scharf treffenden Worte der Anerkennung oder des Tadels in den Noten zu erwähnen und, falls dies nöthig erschien, mit ihren wesentlichen Ergebnissen in den Text aufzunehmen. Dies geschah mit einer Stetigkeit und Unparteilichkeit, welche weder durch geistreiche Argumente sich blenden ließ, noch auch andererseits selbst tief einschneidenden Neuerungen sich verschloß, sobald solche nur wohlbegründet erschienen, und mochten sie auch gegen Windscheid’s eigene bisherige Meinung sich wenden. So übte dieser ein förmliches Schiedsrichteramt, seine Entscheidungen konnten ohne weiteres als die herrschende Meinung gelten, während seine Zusammenstellungen der Litteratur Jedem, der eine civilistische Frage zu bearbeiten vorhatte, das gesichtete Material mit orientirenden Zwischenbemerkungen boten.
Zusammengehalten werden aber alle diese Einzelheiten durch die schärfste Logik des Systems und die Klarheit der quellenmäßigen Begründung. Man kann nicht sagen, daß W. dieser oder jener Schule angehöre, Anhänger des Alten oder des Neuen sei, er handhabt lediglich mit möglichster Genauigkeit die Quelleninterpretation und sucht die Ergebnisse zu einem möglichst klar durchdachten System zu verbinden. Seine Definitionen sind fein abgewogen, um mit jedem Worte, den vielverschlungenen Windungen des positiven Rechts gemäß, das eine hineinzuziehen, das andere auszuschließen; seine Paragraphen sind sorgsam angelegte Gebäude, um in den Textsätzen die Rechtsconstructionen zu geben und um an die Textwörter die Notenbelege anzuschließen; sein ganzes System endlich ist die letzte Durchbildung des Pandektensystems, wie es seit etwa Anfang des Jahrhunderts üblich geworden, von ihm aber zur allseitigen Vollendung durchgeführt worden ist. So weiß er alle civilistischen Fragen in sein Werk hereinzuziehen und Jedem, der bei ihm nachschlägt, Antwort oder Anregung zu geben.
Dem entspricht der Erfolg. Das Windscheid’sche Lehrbuch ist maßgebend geworden für die Theorie des bisherigen gemeinen Rechts, ja es hat darüber hinaus die ganze deutsche bürgerliche Rechtswissenschaft beherrscht und selbst den ersten Entwurf zu einem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch so wesentlich beeinflußt, daß derselbe sich bisweilen liest wie jenes Lehrbuch, in die Gesetzessprache übersetzt: nicht etwa infolge von Windscheid’s Mitwirkung bei der Commission, sondern infolge der Autorität seines Werkes, die sich überall geltend macht, auch da, wo des Verfassers persönliche Thätigkeit gar nicht in Frage kommt. Nun ist freilich jener erste Entwurf, ehe er zum Gesetze erhoben wurde, so umgearbeitet worden, daß dabei der Zusammenhang mit dem Windscheid’schen Lehrbuch etwas weniger augenfällig geworden ist; da aber der erste Entwurf doch nach wie vor dem fertigen Gesetz zu Grunde liegt, so ist auch jener Zusammenhang nur hin und wieder beseitigt, im ganzen noch, und zwar in überaus starkem Maße, vorhanden. Betrachtet man Windscheid’s Pandektenhandbuch von diesem Gesichtspunkte aus, so erscheint die historische Rolle des Werks als eine einzig großartige. Es bildet gleichzeitig den Abschluß der ganzen bisherigen Wissenschaft von dem in [425] Deutschland gültigen Römischen Recht; und den Schlüssel zu dem von nun ab zur Geltung in Deutschland bestimmten bürgerlichen Recht; es wahrt die Continuität unserer Rechtsentwicklung und wird ferneren Geschlechtern Zeugniß ablegen von dem, was die deutsche Civilistik war und vermochte in diesem wichtigsten Wendepunkt ihrer ganzen Geschichte.
- Ernst Landsberg, Artikel „Bernhard Windscheid“ i. d. Zeitschrift „Die Nation“, Nr. 6 des 10. Jahrganges, vom 5. Novbr. 1892, S. 84 fg. – Ernst Eck, Zur Feier des Gedächtnisses von B. Windscheid und R. v. Ihering, Vortrag, geh. am 17. Decbr. 1892, im Druck erschienen Berlin 1893. – Rudolf Leonhard, Ein Nachruf für Ihering und Windscheid, im Rechtsgeleerd Magazijn, Jahrgang 1893, S. 249 fg.; dort weitere Litteratur S. 250 (2) fg. – Ernst Landsberg, Aufsatz „Ihering und Windscheid“ in der Beilage zur Münchener Allg. Zeitung v. 28. Nov. 1892, Nr. 278.