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Artikel „Vangerow, Karl Adolf von“ von Ernst Landsberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 479–482, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vangerow,_Karl_Adolf_von&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:21 Uhr UTC)
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Vangerow: Karl Adolf v. V., Jurist, wurde geboren am 5. Juni 1808 zu Schiffelbach bei Marburg und verlebte dort die ersten Jahre, während sein Vater als Officier in Spanien weilte. Nach des letzteren Heimkehr machte er dessen häufige Garnisonwechsel mit, besuchte so die Gymnasien in Fulda und Marburg, und ging 1824 zur dortigen Universität über. Hier hörte er außer fachwissenschaftlich-juristischen auch philosophische und historische, ja selbst mathematische Vorlesungen, nahm lebhaften Antheil am Studentenleben und bereitete sich schließlich, nach vierjährigem Studium, durch fast halbjährige Zurückgezogenheit auf dem einsamen Hof Görzhausen für das Examen vor. Mit dem Entschlusse, sich dem akademischen Berufe zu widmen, zog er Herbst 1828 für sieben Monate nach Heidelberg, um sich an Thibaut, Zachariae, Mittermaier, Schlosser vorzubilden; am 18. Juli 1829 bestand er zu Marburg das mündliche Doctorexamen, promovirte am 23. Januar 1830 und habilitirte sich zu Ostern desselben Jahres in der dortigen juristischen Facultät; neben seinen Vorlesungen hielt er damals zahlreiche Repetitorien, durch welche er sich in angestrengtester Arbeit zugleich Lebensunterhalt und seltene Stoffbeherrschung erwarb. Am 6. September 1833 wurde er außerordentlicher, am 14. Juni 1837 ordentlicher Professor der Rechte in Marburg. Der Ruf seiner außergewöhnlichen Lehrbegabung aber, unterstützt von dem ersten Bande seines Pandektenwerkes, dehnte sich weithin aus und stand 1840 bereits so fest, daß, als es sich damals darum handelte, der großen Stütze und Anziehung Heidelberg’s, dem im März verstorbenen Pandektisten Thibaut, einen Nachfolger zu geben, die Wahl auf ihn fiel. Am 14. Juni 1840 zum ordentlichen Professor des Römischen Rechts in Heidelberg ernannt, übernahm er die Lehrthätigkeit dortselbst im Herbst dieses Jahres und hat sich diesem Lehrberufe von da ab dreißig Jahre hindurch ununterbrochen gewidmet, ohne an anderen Bewegungen des öffentlichen Lebens wenigstens irgendwie hervortretenden Antheil zu nehmen. Besonders nahe stand ihm von den Heidelberger Collegen Häusser. Der plötzliche Tod seiner seit Jahren leidenden Frau, der ihn Herbst 1857 von Rom zurückrief, „brach die Freudigkeit seines Lebens“ (Stintzing a. a. O.). Unter schweren Leiden erreichte er noch den Anbruch des großen französischen Kampfes, stellte seine Vorlesungen Juli 1870 ein infolge des Aufgebots zum Kriege, erlebte noch den mächtigen Aufschwung der deutschen Siege und ist während derselben, am 11. October 1870, gestorben.

Vangerow’s litterarische Leistungen sind nicht sehr zahlreich. Zunächst ist zu nennen seine Doctordissertation: „Comm. ad leg. 22 § 1 C. de jure deliberandi“, Marburg 1830. Darauf folgte die Abhandlung „Ueber die Latini Juniani“, Marb. 1833, mit welcher er dem historisch-antiquarischen Hang der Zeit in der Stoffwahl Rechnung trug, in der Ausführung aber in seine natürliche dogmatische Richtung zurückfällt und namentlich den eigenthümlichen Satz aufstellt, daß Freilassung eines Sklaven seitens seines Herrn als eine Art von Uebertragung des Eigenthums an dem Sklaven von dem Herrn auf den Sklaven selbst aufzufassen sei. Aehnliche historische Arbeiten späterer Zeit sind die „de furto concepto ex lege XII Tabulorum“, Heidelberg 1845; und über die „lex Voconia“, Heidelberg 1864. Außerdem schrieb er eine nicht unbeträchtliche Reihe von Aufsätzen in das Archiv für die civilistische Praxis (in den Bdn. 22, 25, 30, 33, 35, 36, 37 desselben), dessen Mitherausgeber er seit 1841 war. Der Hauptnachdruck jedoch ist zu legen auf das große Lehrbuch der Pandekten. Dasselbe erschien zuerst unter dem Titel eines Grundrisses zu den Pandekten, Bd. 1 zu Marburg 1838, Bd. 2 und 3, nachdem der Verfasser nach Heidelberg übergesiedelt war, 1842 und 1846. Die Ausgaben folgten einander so rasch, daß Anfangs vielfach schon durch die Nothwendigkeit, die früheren Bände neu aufzulegen, während der Autor noch an der ersten Gestaltung der letzten Bände arbeitete, [480] eine gründlichere Umformung der späteren Editionen ausgeschlossen wurde. Dagegen ist wesentlich verbessert und vermehrt die sechste Auflage, deren erster Band von 1850, der zweite von 1854, der dritte von 1856 datiren. Die siebente Auflage, welche die letzte geblieben ist, stammt aus 1863, 1866, 1868; ein Neudruck derselben aus 1875. Schon diese Daten beweisen, um ein wie erfolgreiches und um ein wie sorgfältig gearbeitetes umfassendes Buch es sich handelt. Dasselbe ist von ganz besonderer Anlage, weder ausgeführtes Lehr- oder Handbuch, noch bloßer Grundriß, sondern ein Mittelding zwischen beiden. Von letzterem entnimmt es das Schema, die Aufstellung der einzelnen Paragraphen in der Reihenfolge eines Pandektensystems mit trockener Angabe der Quellen und der Litteratur zu jedem Abschnitt, und unter wörtlichem Abdruck der für diesen Abschnitt entscheidenden oder streitigen Quellenstellen. Dann aber setzt es fast zu jedem Paragraphen eine Reihe von Anmerkungen hinzu, viele von so ausführlich-ergiebiger Entwicklung, daß sie gleich einer besonderen Abhandlung erscheinen; dieselben erörtern die hier einschlägigen Controversen, unter engstem Anschluß an die abgedruckten Quellenstellen. Hierdurch charakterisiren sich Schwächen und Vorzüge des Werkes fast wie von selbst. Die Schwäche liegt nicht bloß in der barocken Systematik, welche z. B. das Obligationenrecht ans Ende, in den dritten Band, hinter das Erbrecht des zweiten Bandes setzt, sondern namentlich in der Zusammenhangslosigkeit, welche das, was sonst Hauptaufgabe eines derartigen Lehrbuches ist, Herstellung eines einheitlichen, in Ober- und Untersätzen klar ineinandergreifenden Ganzen nicht etwa nicht erreicht, sondern von vornherein ganz auf die Seite schiebt, wodurch dann zugleich jedes Problem als vereinzeltes, für sich stehendes, namentlich ohne Rücksicht auf die organischen Bedürfnisse des Rechtslebens und der Rechtsentwicklung auftritt und gelöst werden kann. Während man aber Vangerow studirt, kommen diese Unvollkommenheiten kaum zur Geltung, so sehr werden sie überwältigt von den leuchtenden Eigenschaften, der Kunst, der Klarheit, der Quellenmäßigkeit, dem Scharfsinn, der überlegenen Stoff- und Litteraturbeherrschung in jeder Anmerkung. Was uns hier an Darstellung und Beurtheilung des jus controversum geboten wird, ist ein Schatz, aus dem zu schöpfen der Civilist nicht müde werden kann, so reichen Genuß und so allseitige Belehrung gewinnt er dabei; von allen abstracten Constructionen, von den nach Gesetzesänderung schielenden ökonomischen oder socialen Betrachtungen, vom aprioristischen Streite um Principien, Definitionen, Wörter wird man da durch V. stets zurückgeführt zum Kern der Frage, zu der Interpretation der Quellen und zur unmittelbaren Verwerthung der Ergebnisse der Interpretation. Indem V. sich so aufs engste an die Texte anschließt, an ihnen die Controversen der Litteratur entwickelt und mißt, indem er seine besondere Freude an der Verfolgung aller quellenmäßig gegebenen national-römischen Eigenheiten hat und sich durch die veralteten Subtilitäten derselben so wenig abschrecken läßt, daß man das Erbrecht als seine Lieblingsmaterie bezeichnen möchte, erinnert er lebhaft an die großen alten Glossatoren, welchen wohl keiner der Moderneren so wesensähnlich sein mag. Dem entsprechend dürfte es schwer fallen, ihn irgend einer Richtung unseres Jahrhunderts einzuordnen; weder hat er den geschichtlichen, noch den systematischen Zug Savigny’s, weder Puchta’s constructiven Scharfsinn, noch die freiere Auffassung der späteren historischen Schule; ebensowenig aber tritt er der praktisch orientirten, die Territorialrechte heranziehenden Gruppe Wächter’s nahe; sondern sein Lehrbuch der Pandekten steht als ein ganz selbstherrliches Ergebniß der Quellenauslegung und Litteraturverarbeitung da, fast zeitlos in seinem Grundwesen, für den Litterarhistoriker, der jedes Werk als Kind seiner Zeit zu erklären verpflichtet ist, ein schwer zu lösendes Problem; wenn man nicht eben annimmt, daß es gewissen Aufgaben innerhalb der Rechtswissenschaft [481] gibt, welche zu allen Zeiten Bearbeitung beanspruchen dürfen, diese Bearbeitung dann aber jedesmal finden nach dem Maaße der sonstigen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Epoche: und insofern gehört Vangerow’s Leistung mit in die Glanzperiode der deutschen Jurisprudenz.

Den Zeitgenossen freilich trat seine Bedeutung als Schriftsteller noch zurück hinter die als akademischer Lehrer. In Heidelberg, wo er diese seine Wirksamkeit voll entfaltete, las er regelmäßig im Sommer Römische Rechtsgeschichte und Institutionen, im Winter, 3–4stündig täglich, zu Ende des Semesters noch unter Zufügung mehrerer Stunden, die Pandekten ganz. Dieses letztere, das große Pandekten-Colleg, war das weitaus berühmtere, zu ihm strömten die Juristenschüler aus ganz Deutschland während mehr als eines Vierteljahrhunderts allwinterlich zusammen, um zu mehreren Hunderten die Bänke zu besetzen und ohne Wanken noch Weichen, bis zur letzten Stunde, auszuharren, von Mitte October bis Mitte März, eine Leistung, welche uns Epigonen als eine beiderseitig überwältigend-heroische erscheint. Erst wenn man dieses Colleg, wie es mir, in trefflicher Nachschrift seitens eines hiesigen Collegen mitgearbeitet, vorliegt, mit dem Pandektenlehrbuche verbindet, kann man beiden gerecht werden. Das Lehrbuch ist gefertigt als fortlaufende Stütze für den mündlichen Vortrag, dem es die Uebersichtlichkeit zuwendet, die Last des trockenen Details und der zuweit abführenden Sondererörterungen aber abnimmt; die Vorlesung gibt das Rechtsganze, das wir im Buche vermißten, in sorgfältigster Gliederung und Zusammenstellung, durchaus nicht die Einzelheiten verschmähend, aber doch stets solche wählend, welche gleichzeitig didaktisch besonders werthvoll sind und es gestatten, den Faden der Entwicklung festzuhalten; diese Einzelheiten sind dann regelmäßig im Lehrbuche ausgelassen oder anders behandelt. Offenbar war die gewiegte Kunst, mit der so V. wußte, was dem Druck, was der Rede zuzuweisen, einer der Hauptgründe seines Lehrerfolges; dazu kam die grandiose Stoffbeherrschung, ferner die Art des Vortrages, welcher frei daherfloß und ein Mitschreiben nur durch fleißiges Mitdenken gestattete, außerdem etwa noch das Bewußtsein der Hörer, ein vollständiges, auf zeitlebens nutzbares und gedruckt nicht beziehbares Heft davonzutragen; all dies aber kann zur Erklärung nicht ausreichen. Wie viele Juristen habe ich noch gesprochen, sonst vertrocknete alte Praktiker, deren Auge auf einmal frisch aufleuchtete, in denen eine unter der Asche begrabene Begeisterung neu aufflammte, wenn man sie auf ihr großes Heidelberger Wintersemester, auf die Vangerow’schen Pandekten brachte. Und wie viele bedeutende Theoretiker, jetzt Vertreter der verschiedensten Fächer, haben mir gerühmt, was sie Vangerow’s Vortrag verdankten, wie sie durch ihn erst eigentlich in die Rechtswissenschaft eingeführt wurden. Aber mir genau und greifbar anzugeben, woran das lag und liegt, dazu ist niemand imstande gewesen, das vermochte ich auch nicht den noch so sorgfältig geschriebenen Collegienheften zu entnehmen; das ist eben die höchste und großartigste Wirkung einer hohen und großartigen Persönlichkeit, welche für diese Aufgabe ihre ganze Kraft eingesetzt hatte, ebenso unzerlegbar in einzelne Züge und in einzelne Wörter wie die Persönlichkeit selbst, es handelt sich um das alte Problem der Individualität – und dieses Problem ist thatsächlich, ungleich dem für Vangerow’s Lehrbuch aufgeworfenen, unlösbar.

Von dem großen Gesammtkunstwerk, das V. hergestellt hatte, seinen Pandekten in Druck und in Rede, ist der eine Theil unrettbar mit ihm gestorben. Der überlebende Theil ist nur noch ein ausgebrochenes, an den Stellen der früheren Verankerungen klaffende Sprünge aufweisendes Werkstück. Aber dasselbe genügt, um dem Werkmeister dauernd die Stellung eines der ersten deutschen Civilisten zu sichern.

[482] v. Stintzing in v. Weech, Badische Biographien II, 382 fg. – Marquardsen in der „Kölnischen Zeitung“ v. 27. October 1870 Morgenausg., sodann wieder abgedruckt in: K. A. v. Vangerow und R. v. Mohl. Zwei Erinnerungsblätter zur fünfhundertjährigen Stiftungsfeier Heidelbergs. Erlangen 1886.