Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[21]

No. 2.   1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.     
Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.


2.

Wenn man in der Stadt von einem angenehmen Hause, von liebenswürdigen Wirthen, wenn man von einem glücklichen Ehepaare sprechen wollte, dann nannte man den Assessor von Rechting und seine Frau. Die gesellschaftliche Stellung des jungen Paares ward durch die Versetzung des Assessors in das Ministerium des Aeußeren gehoben. Es war keinerlei Gunst dabei maßgebend gewesen, nur das Verdienst des jungen Beamten, seine eminente Befähigung, die verwickeltsten Fälle durch seinen Scharfsinn klar zu legen. Er hatte umfassende Studien im Bereiche der Rechtsverhältnisse anderer Nationen gemacht, und diese wußte man an maßgebender Stelle für internationale Beziehungen gebührendermaßen zu verwerthen. Er wurde zu den wichtigsten Berathungen gezogen. Seine Bedeutung auf diesem Gebiete war eine solche, daß sie selbst von seinen Collegen neidlos anerkannt wurde. Sein unerschütterliches Rechtsbewußtsein machte das Urtheil unschlüssig, ob er seinen Beruf nach seinem Namen gewählt hatte, oder ob dieser Name die Richtung seines Geistes von Jugend auf mit vollem Bewußtsein bestimmt hatte, sodaß er zum geistigen Gepräge der Persönlichkeit geworden war. Er galt unter seinen Collegen für Einen, der Carrière machen würde.

Der Neid pflegt den Schritten solcher von der Natur Bevorzugten gerade nicht ferne zu bleiben. Man macht ihnen von Seite der minder günstig Situirten in der cordialsten Weise den Hof; man schüttelt ihnen biedermännisch die Hand: man ißt bei ihren Diners und trinkt ihre Weine; man macht ihren Frauen, wenn sie das erlauben, die Cour; man amüsirt sich bei ihnen vortrefflich, wäre jedoch gar nicht so tief unglücklich, wenn man des andern Morgens erführe, daß der Diener in dem Schlafzimmer der lieben Freunde die Ofenklappe zu unrechter Zeit geschlossen, und daß der gastfreie College im Bette entseelt gefunden worden ist. Rechting gegenüber wurden derartige fromme Wünsche wahrhaftig nicht laut. Seine glückliche Natur oder, wenn wir es noch gerechter bezeichnen wollen, sein offenes und warmes Herz, seine innere Wahrhaftigkeit, seine Bescheidenheit und sein tiefes Wohlwollen für Jedermann, endlich die fast kindliche Unbefangenheit seines Gemüths, die er trotz seiner reichen und nicht immer sehr frohen Amtserfahrungen zu bewahren so glücklich war, entwaffneten selbst den grinsenden Gesellen, der an jedes wahre Verdienst seine giftgrüne Patina anzusetzen versucht. Rechting’s ältere wie jüngere Collegen waren ihm gleichermaßen zugethan. Er selbst besaß kein Vermögen; ein kleines Grundstück in einer der Vorstädte konnte man kaum unter den Begriff eines solchen fassen. Mit dem Reichthum seiner Frau, welche sehr lebhafte gesellige Neigungen besaß, war es ihm möglich, den hohen gesellschaftlichen Ansprüchen einer großen Stadt gerecht zu werden, das junge Ehepaar hatte sein Haus zu einem Sammelpunkt für einen weiten geselligen Kreis geschaffen. Die älteren Geheimräthe und deren Frauen und Töchter, auf knappe Besoldungen angewiesen, wünschten nichts Sehnlicheres, als daß mehrere solcher Rechting’s in’s Ministerium berufen würden. Bei Rechting’s war jede Woche „etwas los“, Diner oder Ball oder eine Theegesellschaft; man musicirte; man spielte Theater, und stets war es die Frau vom Hause, die als das bewegende Element der Gesellschaften erschien. Nichts fehlte dem jungen Ehepaare, nichts zum vollkommenen Glücke.

Eines Tages stand Erich niedergebeugt an einer Wiege und belauschte mit pochendem Herzen die Athemzüge eines jungen Wesens, das da im ersten Erdenschlummer vor ihm lag. Es athmete und athmete wieder – es lebte, es war der leibgewordene Schlag seines Herzens – es war sein Kind. Und dann zog er die blauseidene Gardine des Bettchens wieder zu und schlich sich auf den Fußspitzen an ein anderes Lager im dunkel verhangenen Zimmer und lauschte auch hier wieder. „Sie schläft,“ sagte er für sich. Aber dann bewegten sich zwei Arme in weißen Hüllen und schlangen sich um ihn. Nun ein Laut, als ob Lippe auf Lippe sich drückte – „Doris!” – „Erich!“ ging es wie warmer Athem dahin.

„Bist Du zufrieden?“ fragte eine leise Stimme.

„Nein,“ antwortete er, „denn ich kann dich vor diesen dunklen Vorhängen nicht sehen, und jetzt wüßte ich, daß ich die allerschönste Frau habe; daß es die allerbeste sei, das wußte ich längst.“

„Du hättest wohl lieber einen Jungen gewünscht als ein Mädchen?“

„Still, still, mein Lieb! An Gottesgaben mäkelt man nicht; die nimmt man dankbar hin.“

„Sieht es Dir oder mir ähnlich, Erich?“

„Ich möchte, daß es Dein Ebenbild wäre, Doris.“

„Nein, nein, Deines, Herzensmann!“ entgegnete Doris.

„Aber sprich nicht mehr, mein Herz! Du strengst Dich zu sehr an; ich verbiete Dir jetzt zu sprechen.“

„Ja, Erich – aber nur noch eine einzige Frage: hast Du mich lieb?“

Keine Antwort, aber wieder ein Laut wie von Küssen. [22] Dann setzte sich der beglückte Vater auf den Rand des Bettes und nahm ihre Hand in die seine, bis tiefere Athemzüge ihm sagten, daß die junge Mutter schlummere. Leise zog er die Vorhänge vor, horchte, im Vorbeigehen an der Wiege und ging dann sachte auf den Zehen aus dem Zimmer; dieses war zum Kleinodienschrein seines Lebens geworden. Wenn das Erdenrund heute einen glücklichen Menschen trug, so war es dieser junge Vater.

Demnach müßte die Frage wohl überflüssig sein, ob Erich von Rechting je wieder an den bewußten Brief gedacht hatte, und überflüssiger noch als die Frage wäre die Antwort. Der Brief war vergessen. Vielleicht wußte Erich gar nicht mehr, ob er ihn noch besaß. Mit dem Gang an den Altar hatte er alle Zweifel und jede unsichere Stimmung abgeworfen. Seinem festen Charakter, seinem goldreinen Herzen wäre es wie ein Vergehen an seiner Frau erschienen, würde er je wieder in Gedanken auf diese Anklageacte, wie diese anonyme Zuschrift ihm nun erschien, zurückgekommen sein, so tief er auch beim Empfange davon berührt und erregt worden war.

„Meine Frau ist schöner denn je,“ sagte sich Erich ein paar Wochen später voll leuchtenden Stolzes; und er hatte Recht. Die Mutterliebe hatte ihre letzte und höchste Verklärung der Schönheit über Doris ausgegossen. Frau von Rechting ging in ihrer äußerlichen körperlichen Erscheinung wenig über das Durchschnittsmaß der deutschen Frau hinaus. Sie besaß einen vollendeten Wuchs, ein Gesichtchen wie von Marmor, der mit rosagefärbtem Wachs getränkt ist; dazu dunkles Haar und dunkle Augen. Letztere lagen in mandelförmigen Hüllen wie versteckt unter den langen dunklen Wimpern. Wenn aber ihr Licht sich aufthat, dann bekamen sie einen eigenthümlichen, halb träumerischen, halb schelmischen Ausdruck. Der Mund mit seinen vollen, frischen Lippen war von seltener Anmuth. Die Bewegungen, die Reden, das Thun der jungen Frau – Alles ging im Dreiachteltact und in Moll. Die ganze Gestalt war wie eingetaucht in geistige Lebendigkeit. Hände, Füße, Ohren, Alles an ihr war klein, groß nur allein der Eindruck, den sie in diesem gestaltgewordenen Wohllaut des Weiblichen auf Alle machte, die ihr nahe kamen.

Am meisten davon berührt schien ein Mann, der erst mehrere Monate dem Gesellschaftskreise angehörte, in welchem das Rechting’sche Ehepaar verkehrte, sagen wir also, wenn man den Hof nicht in Betracht ziehen will, dem ersten, dem besten der Stadt. Sein Name war Lideman. Er wollte diesen englisch ausgesprochen wissen, obwohl man sich unter guten Bekannten zuraunte, daß er ein ganz guter Deutscher aus irgend einer Stadt Mitteldeutschlands sei. Aber er war lange „drüben“, nämlich überm großen Wasser, in Amerika gewesen, dann auch sehr lange in den Ländern der unteren Donau; er sprach das Deutsche mit einem merklich fremdländischen, durchaus nicht affectirten Accente; dabei redete er französisch, englisch und spanisch, als wäre er mit einer Frau jeder dieser Nationalitäten ein Menschenalter lang verheirathet gewesen. Er war Präsident eines großen Bankvereins, der sich namentlich mit dem Bodencreditwesen befaßte. Einige Zeit lang hatte es mit den Actien desselben sehr unsicher gestanden; man fürchtete einen Zusammenbruch, aber da war der Retter in der Person des Genannten erschienen. Durch eine neue, durchgreifende Organisation hatte er dem drohenden Verderben Einhalt gethan und weiter dem Institute zu gesundem, gedeihlichem Leben verholfen. Das wurde ihm in der Stadt hoch gedankt. Denn es war gar nicht abzusehen, wie viel Interessen durch einen Zusammenbruch in Mitleidenschaft gezogen worden wären.

Durch die Rettung des Instituts war auch das Renommée Lideman’s und weiter seine gesellschaftliche Stellung begründet. Bei der Convertirung internationaler Fonds war er mit den Kreisen des auswärtigen Ministeriums in Fühlung gekommen. Seine ersten Geschäfte auf diesem Boden waren mit glücklichem Erfolge gekrönt. Man hatte nie einen so gewiegten, coulanten und formell so vornehmen Geschäftsmann kennen gelernt, und der sich dabei so ganz in seiner Sphäre zu halten wußte, wie Lideman. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, hoch gewachsen, für seine Figur nicht allzu hager. Seine Gesichtsfärbung zeigte einen leisen Anflug von galligem Colorit. Das Haar, der kleine Schnurrbart über den vollen und schön geformten Lippen glänzten in jenem Schwarz, wie es den Slaven und Romanen eigen zu sein pflegt, sodaß man versucht war, ihn zu fragen, ob er sich dieses für einen Deutschen exotische Aeußere „drüben oder drunten“ angewöhnt habe. Dunkel waren auch seine Augen, und das Weiß derselben hatte einen bläulichen Glanz; dadurch bekam der Blick einen fast düsteren, verschleierten, ja, wenn man will, schläfrigen Ausdruck, der noch durch die hohen, gewölbten Brauen gehoben wurde.

Ausgerüstet mit einem solchen Aeußeren verstand es Lideman, einen besondern Platz auch in der Gesellschaft der Stadt einzunehmen. Mit seinem schnellen Verstande schien er begriffen zu haben, daß er, um Fuß in derselben zu fassen, gerade das vergessen machen müsse, was ihn als einen Racenmenschen bezeichnete. Ein Anderer an seiner Stelle mit weniger Kopf und von gewöhnlichem Zuschnitte würde sich haben verleiten lassen, viel Aufwand vor den Augen der Welt zu entfalten und an allen öffentlichen Orten sich zu zeigen. Er that von alledem, was diese Leute von schlechtem Geschmacke und noch geringerem Tacte zu thun pflegen, gar nichts. Er hatte eine elegante Wohnung; er gab Diners, aber das Alles hielt sich in den Grenzen des wohlanständigen Maßes. Weniger wäre aufgefallen, mehr hätte verletzt. Wer den Mann schärfer beobachtete, dem mußte die feine Grenzlinie Bewunderung einflößen, die er in jedem Verhältnisse zu ziehen wußte, in Kleidung, in Lebensart, in der Unterhaltung, in Allem. Vielleicht hatte er mehr Geist, als er zu zeigen für gut fand, aber er setzte ganz richtig voraus, daß ein Hinaustragen desselben über das Gesellschaftsniveau den Einzelnen in den Augen der Uebrigen, die weniger von dieser seltenen Gabe abbekommen haben, unbequem, ja verdächtig macht. Ebenso folgerichtig die Thatsache erkennend, daß in der Gesellschaft in dem Maße wenig Geist zu finden ist, als viel davon die Rede ist, ging er in seiner Unterhaltung nicht über das Durchschnittsmaß dessen hinaus, was man in der Sprache der Gesellschaft „moderne Bildung“ nennt. Keine Mutter hatte sich je zu beklagen, daß er mit ihrer Tochter in anderen Ausdrücken gesprochen, als solchen, die nach dem Katechismus des Salons gestattet waren; keine junge Frau brauchte im Gespräche mit ihm zu erröthen und mit vorgehaltenem Fächer entrüstet sich an den Arm ihres Mannes zu flüchten. Der Mann war auch nach dieser Seite hin die Ehrenhaftigkeit in Person. Darum waren die Augen gar vieler Mütter wie Dolche nach ihm gezückt, unter deren Spitzen der Junggeselle sterben sollte, um als Ehemann wieder um so vergnügter zum Leben aufzustehen.

Die Bekanntschaft mit Rechting’s hatte er im Hause des Geheimen Legationsraths von Wandelt gemacht. Doris hatte das Frühlingslied von Gounod gesungen und ging dann scherzend mit dem Notenblatt herum, um für eine arme Familie sich eine Gabe zu holen. Lideman war während des Singens eingetreten; Doris hatte ihm den Rücken zugekehrt. Am Ende des Liedes schien er eingeschlafen; Musik übte immer diese Wirkung auf ihn, wie er behauptete. Die hohen gewölbten Lider waren über die Augen niedergesunken – da wurde er von dem bittenden Tone der Stimme Doris’ berührt. Wie von einem Zauberwort getroffen, thaten sich seine Augen weit auf, und ein Strahl und eine Gluth schossen aus den Blicken auf die junge Frau hin, daß diese die ihrigen wie unter dem Sengen eines heißen Sonnenstrahles zu Boden sinken ließ. Von da ab verkehrte Lideman im Hause des Assessors.

Der Präsident, wie Lideman als Leiter des Bankvereins genannt wurde, kam zuerst bei den größeren Theeabenden in das Rechting’sche Haus, dann manchmal des Abends unter dem Vorwande, daß man nirgends in der Stadt mehr so anregenden geistigen Verkehr finden könne, als in dem Hause der jungen Eheleute. Lideman war ein geselliges Element; er hatte viel erlebt, viel gesehen, wußte angenehm zu erzählen und besaß in hohem Grade jene Schärfe und Reife des Urtheils, die sich aus reichen Lebenserfahrungen abstrahirt und gemeiniglich für Geist genommen wird, auch neben wahrhaftem Geistesreichthum sich siegreich zu behaupten weiß. Wie er, wie schon bemerkt, in richtigem natürlichem Tacte Alles vermied, was hätte auffallen können, so zeigte er sich in seinen Absichten auf das Haus des Assessors durchaus nicht aufdringlich. Dadurch gerade war es ihm gelungen, in der Familie seinen abendlichen Fauteuil zu erobern. Wenn um neun Uhr Doris den Thee bereitete und Lideman noch nicht auf seinem Platze saß, dann richteten sich unwillkürlich ihre Blicke durch’s Fenster auf die Straße, ob sein kleiner Wagen mit dem Harttraber sich noch nicht am Ende derselben zeigte. Die Spirituslampe wurde auch dann erst angesteckt, [23] wenn das Geräusch des Wagens sich hören ließ. Nie, auch im Scherze nicht, und selbst nicht, wenn die Männer allein waren, kam ein Wort über Lideman’s Lippen, welches auf seinen sittlichen Charakter irgend ein zweideutiges Licht hätte werfen können, oder das nicht mit seinem übrigen Verhalten im Einklange gewesen wäre.

So kannte ihn das Rechting’sche Paar, so kannte ihn die ganze Stadt, und so konnte die Intimität, in die er sich zu Rechting’s zu versetzen gewußt hatte, auch nicht auffallen.

Eines Abends war Doris mit dem Präsidenten allein, wie das sehr oft geschah. Der Assessor kam häufig spät Abends aus dem Bureau; heute mußte er im Auftrage des Ministers einer Abendsitzung in der Kammer beiwohnen und war bis zur Theestunde noch nicht zurück.

„Wo nur mein Mann bleibt?“ fragte die junge Frau.

„Vermissen Sie ihn so sehr, gnädigste Frau?“

„Welche Frage, verehrter Freund!“

Dabei ging ein fast vorwurfsvoller Blick nach Lideman hinüber, welcher diese Worte an die junge Frau gerichtet hatte. Es lag ein Ton wenn auch nur leichter Frivolität in diesen wenigen Worten. Doris empfand sie wohl, und früher hatte er sich Derartiges nie erlaubt. Dann schwiegen Beide, Giacomo, der Kakadu, rumorte in seinem messingenen Bauer. Die Bemerkung Doris’, daß diese Thiere gleich den Kindern am unartigsten sind, wenn fremde Leute da sind, brach das Schweigen.

„Ich habe heute einen unglücklichen Abend,“ bemerkte Lideman.

„Warum, Herr Präsident?“

„Weil ich sehen muß, daß ich Ihnen doch nur ein Fremder geblieben bin.“

„Wer sagt Ihnen das, Herr Präsident?“

„Ihre eigenen Worte, gnädigste Frau.“

„So war es nicht gemeint, mein Freund,“ versetzte Doris. Sie wollte ihm die Hand reichen mit einer Bewegung, die einer Abbitte gleich kam; sie führte diese jedoch nicht aus. Ein Lachkrampf hatte sie schier erfaßt. Giacomo hatte sich in die Conversation gemischt und gerufen: „Spitzbube!“

Lideman fuhr von seinem Sitzplatz erschrocken auf. Als er aber das Lachen der Frau von Rechting hörte, stimmte er mit ein.

„Giacomo, Du bist doch zu unartig!“ rief Doris.

„Ebenso wie ich ungeschickt war,“ suchte der Präsident das Gespräch wieder zurückzulenken. „Meine Frage von vorhin war doch sehr ungeschickt – vielleicht gedankenloser, als es scheinen mochte. Wie kann man, frage ich mich jetzt, ein solches Wort an eine junge Frau richten, der jeder Augenblick, der sie nicht mit dem Gatten vereint, wie aus ihrem Dasein gestohlen – verloren erscheint? Ich müßte nicht Zeuge Ihres Familienglückes geworden sein – nicht die tiefe Liebe ergründet haben, die Sie mit Ihrem Herrn Gemahl vereint. Und nun eine solche Rede! Werden Sie mir darum auch nicht gram sein – gnädigste Frau – wirklich nicht?“

Die großen dunklen Augen der jungen Frau sahen ihn darauf hin voll und freundlich an.

„Da Sie so hübsche Abbitte leisten, soll es Ihnen auch verziehen sein – von ganzem Herzen. Verhehlen kann ich Ihnen allerdings nicht, daß Ihre Frage mich ganz eigenthümlich berührt hat – um den gelindesten Ausdruck zu gebrauchen.“

„Eine Schonung, die ich nicht verdiene und die mich darüber doch das härteste Wort empfinden läßt, wenn Sie es auch nicht aussprechen,“ führte er die Rede weiter. „Wenn es aber die Geheimräthin gehört hätte! Morgen würde es durch die ganze Stadt schwirren.“

„Die gute Geheimräthin!“ versetzte lachend die junge Frau. „Was mag ihr diesen Abend begegnet sein, daß sie uns den Genuß ihrer Gegenwart entbehren läßt? Wo bleibt sie?“

„Sie wird ihrem Manne zu Hause behülflich sein müssen, das Pulver zu erfinden.“

„Sie sind ein boshafter Mensch. Jedenfalls sollten sie nicht vergessen, daß Wandelt’s ebenso gut unsere Freunde sind, wie Sie, und daß ich nicht gern Schlimmes über diese höre – auch wenn das nur im Scherze gemeint sein sollte. Eine derartige Malice ist viel gefährlicher, als eine ernste üble Nachrede. Diese kann man widerlegen, an jener erfreut man sich, mehr an der pikanten Form, als an dem Inhalt, der aber denn doch durch diese Form wirkt. Nun sollte ich Ihnen keinen Thee geben.“

Lideman legte beide Arme auf seine Brust, machte ein reumüthiges Gesicht und dazu eine Bewegung als ob er Buße thun wollte.

„Die Geheimräthin!“ wiederholte Doris wie in Gedanken für sich. Es lag ihr daran, ihres Gesellschafters Aufmerksamkeit auf deren Person zu fixiren. „Ich wollte eigentlich mit Ihnen schon längst über dieses Thema sprechen, Herr Präsident, und da wir gerade allein sind – ahnen Sie wohl, warum Frau von Wandelt uns seit neuester Zeit so oft mit ihrer Anwesenheit beehrt, namentlich in der Stunde, wo sie weiß, daß Sie hier zu treffen sind?“

Lideman spielte den Unbefangenen.

„Wie sollte ich? Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Andeutungen sagen soll, gnädigste Frau.“

„Ach, Sie blöder Jüngling! Sie –“ spöttelte Doris. „Ich an Ihrer Stelle hätte wenigstens vorsichtiger gehandelt –“

„Sie sprechen mir in Räthseln, gnädigste Frau.“

„Verstellen Sie sich doch nur nicht! Sie wissen ebenso gut wie ich, daß Sie uns – verstehen Sie mich aber diesmal recht! – daß Sie uns sehr angenehm sind, und ich und mein Mann, wir freuen uns Ihrer Gesellschaft – aber die Geheimräthin –“

Doris stockte und um ihre Verlegenheit zu verbergen, fragte sie Lideman, ob er noch Thee habe.

„O, ich danke. Aber ich möchte Sie bitten – ich begreife nicht, was Sie mit der Geheimräthin sagen wollen.“

„Ich wollte sagen, sie hat Sie bei uns eingeführt. Sie hat damit gewissermaßen Rechte auf Sie erworben, und statt ihr dafür dankbar zu sein, vernachlässigen Sie das Haus des Geheimraths in einer Weise, die in ihren Folgen auf uns zurückwirken muß. Und wenn man davon zu sprechen anfinge –“ Doris vollendete nicht; sie ließ das Andere errathen.

Lideman hatte sich rasch erhoben; seine dunklen Augen blitzten plötzlich auf. Wie tiefes Athemholen ging es durch sein ganzes Wesen, und unter dem gelben Teint sah man den Blutstrom. Er schien an dem Ziele, auf das er seit lange losgesteuert hatte, und da die junge Frau selbst das Thema berührt hatte –

Schnell beugte sie sich jetzt nach der Spirituslampe, um die Flamme auszublasen.

„Diese Flamme – sie wollte plötzlich auflodern und hätte hier Alles überströmt,“ bemerkte sie zu Lideman, „wenn ich nicht mit kurzem Entschusse sie so schnell erstickt hätte.“ „Nicht alle lassen sich so leicht löschen wie diese. Und sehen Sie – sie lodert nur um so jäher und höher auf.“

Es war auch so. Der ganze Theetisch war eine Flamme. Lideman half der jungen Frau löschen. Dann nahm die Unterhaltung wieder einen ruhigeren Charakter an.

„Warum haben Sie auch ein so reizendes Daheim, gnädige Frau, daß man sich hier so wohl wie an keinem andern Orte der Welt fühlen muß!“

„Nun habe ich Sie, wo ich Sie haben wollte,“ versetzte lachend die junge Frau. „Da ein Daheim so großen Reiz auf Sie übt, warum machen Sie nicht die respectabelste aller Gründungen und gründen sich einen eigenen Herd? Sie wissen, nach jenem französischen Worte ist das Leben eines Junggesellen ein glänzendes Dejeuner, ein passables Diner und ein erbärmliches Souper. Die Zeit zum Souper, Herr Präsident, rückt heran.“

„Wirklich schon? Das ist eine schmerzliche Wahrnehmung, namentlich, wenn sie Einem von einer schönen Frau beigebracht wird, der gegenüber man sich immer noch in der Illusion befindet, daß man beim glänzenden Dejeuner säße.“

„Mag man uns Frauen noch so sehr tadeln und hinter die Männer zurücksetzen – ein Gutes haben wir vor diesen weit voraus, daß wir, wenn wir selbst durch eine Ehe glücklich geworden sind, von dem lebhaften Drange beseelt sind, auch Andere dieses Glückes theilhaftig werden zu lassen. Das thun die Männer niemals.“

„Glauben Sie?“

„Nein, nein! Sie thun gerade das Gegentheil, sie warnen einander vor der Ehe, wenn sie durch diese auch noch so glücklich geworden sind. Es entspringt das aus einer ganz groben Eitelkeit, weil sie wähnen, nur ihrer eigenen Vollkommenheit sei der glückliche Erfolg zu danken; als ob ihre unübertreffliche Persönlichkeit kein zweites Mal in der Welt vorhanden sein könne, um in gleichem Falle bei einem andern Menschenpaare in der Ehe ein ähnliches Resultat hervorzubringen. Aber ich schweife von meinem Ziele ab. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich eine Partie für Sie wüßte.“

[24] „Par – Partie?“ wiederholte Lideman.

„Eine sehr passende – Sie haben vielleicht schon errathen, wohin ich ziele. Haben Sie errathen?“

Lideman hielt eben ein Stück Zucker in der Hand.

„Ja, ja, Zucker, reiner Zucker, wie der Berliner sagt. Eine Partie für Sie – es ist ein Glück, eine Zukunft – und heißt Else von Wandelt.“

Lideman sagte nichts dazu – er ließ das Stück Zucker in die Flüssigkeit gleiten und rührte mit dem silbernen Löffel gedankenvoll in der Tasse, die zur Hälfte mit Thee gefüllt war. Daß aber der Vorschlag der jungen Frau nicht wirkungslos an ihm vorübergegangen war, das sagten die zuckenden Winkel seiner vollen Lippen und das fast leidenschaftliche Aufeinanderpressen derselben.

„Sie schweigen? Haben Sie mir wirklich nichts auf meinen Vorschlag zu antworten?“

Keine Antwort. Er rührte immer noch mit dem Löffel.

„Gute Frau!“ rief der Papagei.

„Sehen Sie – Giacomo hat’s getroffen, Herr Präsident. Er meint Else. Die ist jung und gefällt – aber dieses Rühren im Thee macht mich fast nervös. Sie könnten doch wenigstens ein Wort sagen.“

„Wie kann man sprechen, gnädige Frau – wo man weinen möchte!“

Ein fragender Blick aus Doris’ Augen ging zu ihm hinüber. Deutlich lag darin ausgesprochen, daß diese Bemerkung ihr unverständlich sei.

„Eine Partie – Partie!“ sagte Lideman mit bitterem Ausdruck im Tone für sich hin. „Und darum – darum!“

„Was – was, verehrter Freund?“

„Als ob man zu nichts weiter auf der Welt wäre, als um einer Frau seinen Namen zu geben, ihre Equipage zu halten, ihre Rechnungen zu bezahlen und sie in die große Welt zu führen! Beneidenswerthes Schicksal eines Mannes unserer Zeit!“

„Sie haben die Hauptsache vergessen, Herr Präsident – eine Frau zu lieben! Sie sind aber heut wieder etwas seltsam, wie seit einiger Zeit so oft. Ich verstehe Sie nicht; diese gekniffenen Worte, diese mühsam herausgestoßenen Laute, dieses Gestimmtsein auf gebrochene Töne und Dissonanzen! Früher waren Sie viel artiger, weit unbefangener –“

„Der Schmerz über die Partie!“ sagte Lideman plötzlich wie in einer scherzenden Wendung. „Sie wollen mich nur von Ihrem Theetische los sein und an einen andern ketten, wo es weniger amüsant ist; wo ich in schlechtem Thee und einer Schwiegermutter gegenüber mein baldiges Ende finden soll.“

„Kennen Sie denn Else? Ich sage Ihnen: ein vortreffliches Mädchen, ein Charakter, an welchem selbst diese Mutter nichts verderben konnte. Diese holde Mädchenhaftigkeit, diese Sanftmuth! Das ganze Wesen ist wie ein harmonischer Accord. Und wie hübsch! Haben Sie schon ein so glänzendes Kastanienbraun des Haares gesehen, und so helle leuchtende blaue Augen? Ich liebe solche Menschen, denen immer ein deutsches Gedicht auf den Lippen zu schweben scheint.“

Das Gespräch der Beiden hier an dem brodelndem Theekessel wurde unterbrochen. Nicht durch die Geheimräthin, die entweder, wie Lideman spöttelte, morgen zur Communion ginge und ihre Sünden noch rasch zusammenklaubte, oder einen heirathsfähigen, eben erst in das Ministerium versetzten Assessor zu Hause festhalten müsse. Sie war es wirklich nicht – ausnahmsweise. Ein Wagen hielt vor dem Hause.

„Mein Mann!“ rief freudig Doris. „Endlich ist diese langweilige Kammersitzung beendet!“

„Ein Beweis, daß ich Ihnen ebenso langweilig war – gnädigste Frau.“

Diese antwortete nicht, sondern ging dem Kommenden, dessen Schritte auf der Treppe vernehmbar waren, bis vor die Thür des Salons entgegen.

Lideman hatte noch ein Rencontre mit Giacomo: „Spitzbube – Spitzbube!“ hatte dieser wiederholt gerufen. Der Präsident gab dem Käfig einen Stoß vor Zorn und Wuth. Giacomo kollerte sich vor Lachen.

(Fortsetzung folgt.)




Das Satyrspiel von 1878.
von Franz Mehring.

Wie eine tief erschütternde Tragödie schritt das gewaltige Jahr, welches so eben zur Vergangenheit geworden, über die Bühne der deutschen Geschichte. Die großen Aufzüge und Heerschauen des socialdemokratischen Wühlerthums, die in den ersten Monaten alle patriotischen Herzen mit ahnungsvollen Schrecken erfüllten, die fluchwürdigen Attentate, in denen sich die elektrische Spannung wie in fahlen Blitzen entlud, die Wahlbewegung, welche das ganze Volk aufrief, zu retten und zu richten, die Verhandlungen des Reichstages die dem nationalen Willen die gesetzgeberische Klarheit und Schärfe gaben, endlich das Walten und Wirken des Socialistengesetzes, das mit unbarmherziger Sichel die hochwogenden Saaten der Friedensstörer und Unruhstifter niederstreckte – wie nach allen dramatischen Regeln rollt sich das Trauerspiel in Spannung, Steigerung, Verwickelung, Entwickelung und Sühne ab. In einer Richtung aber läßt sich der künstlerische Vergleich nicht durchführen: das Satyrspiel folgte nicht der Tragödie, sondern lief schon mitten durch sie hindurch. Nur in der schönen Welt des Scheins bluten die großen Schmerzen und Wunden rein ans, waltet frei von jenem peinlichen Erdenreste das ernste Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt. Im rauhen Leben der Wirklichkeit jedoch mischen sich unlöslich Großes und Niederes, Furchtbares und Groteskes, Erhabenes und Närrisches; in das feierliche Läuten der Glocken , welche zum Gerichte rufen, klingt schrillen Hohnes die Schellenkappe des Harlekins. So tönte in die bewegtesten Scenen des eben vollendeten Jahres der verworrene Lärm der christlich-socialen Agitation, eines Satyrspiels der Zeitgeschichte, das eine schmähliche Travestie biblischer Gedanken und Worte war und deshalb auch den biblischen Titel tragen sollte: Wölfe in Schafskleidern.

Nicht zwar, als ob sich christlichem Sinne und religiöser Sitte ein fruchtbares und weites Wirkungsfeld gerade auf dem Gebiete unserer socialen Wirren öffnete. Nur die böswillige Feindseligkeit des flachsten Materialismus könnte es leugnen. Die Armen- und Krankenpflege namentlich der katholischen Kirche weist Einrichtungen auf, die theilweise noch Muster darstellen auch für das freie, von confessionellen Fesseln nicht beengte Walten moderner Humanität. Die evangelische Kirche ist leider zu lange in unfruchtbaren Dogmenkriegen verstrickt gewesen, als daß sie nicht mehr wie billig ihres hohen Berufes hätte vergessen sollen, die treueste Freundin der Armen und Schwachen zu sein. Besännen sich ihre unfehlbaren Päpstlein auf diese schöne Pflicht, kehrten sie um von den falschen Pfaden der Verdächtigung jeder freieren Richtung, die auf dem Boden der evangelischen Kirche eine bleibende Versöhnung sucht mit dem nationalen Leben und der nationalen Wissenschaft – wahrlich, es wäre eine billige und traurige Weisheit, darüber zu spotten, wenn vielleicht die ersten Schritte auf dem neuen und schwierigen Wege nur ein ungeschicktes Stolpern wären. Aber nicht in diesem Zeichen wurde jene vielbesprochene christlich-sociale Agitation eingeleitet, nicht eine Verleugnung, sondern eine ungeheuerliche Ausdehnung des orthodoxen Treibens stellt sie dar; sie war der keckste Versuch, der je im heitern Lichte des neunzehnten Jahrhunderts unternommen wurde, die Fackel und das Schwert des Ketzerrichters über die schwierigsten Probleme der Politik und der Wissenschaft entscheiden zu lassen. Sie rief die Mächte der Tiefe als willkommene Bundesgenossen auf, selbst wider die besten Christen und ehrlichsten Patrioten, sobald sie nur um Haaresbreite von dem Götzendienste des starren Buchstabens wichen. Nach kurzem Taumel endete das Abenteuer so schmählich, wie dasselbe es verdiente, aber die es unternahmen, sind heute noch nicht von ihrem Wahne geheilt, sind heute noch tonangebende Wortführer im Banne der evangelischen Kirche; noch liegt ihre Herrschaft, eine bleierne Last, auf allen frei aufstrebenden Geistern, die ehrwürdige Formen mit frischem Leben füllen

[25]

Mädchen von Madrid.
Nach einer spanischen Photographie auf Holz gezeichnet von Louis Schulz.

[26] möchten; aus diesem Grunde, wie schwer es jedem feineren Gefühle auch werden mag, in einen wirren Hexensabbath der widrigsten Leidenschaften zu blicken, ist es wohl nützlich und zweckmäßig, daß dieses tragikomische Schattenspiel in seinen Hauptgestalten und Hauptscenen nochmals vor den geistigen Auge eines großen Leserkreises vorübergleite, den Einen zum abschreckenden Exempel, den Andern zur ernsten Mahnung, daß sie sich rüsten und wappnen gegen die Todfeinde moderner Cultur und Wissenschaft, sie mögen kommen, woher sie wollen.

Vor etwa drei Jahren wurde der deutsche Büchermarkt durch ein dickleibiges Werk bereichert, welches über die christliche Gesellschaft und den radicalen Socialismus zu handeln versprach, der Verfasser derselben hieß Rudolf Todt und war ein märkischer Landpfarrer, welcher in der Welteinsamkeit seines Dörfleins den heroischen Entschluß gefaßt hatte, die sociale Frage zu lösen. Er wählte hierzu ein ebenso bequemes, wie überraschendes Mittel: er schrieb besagtes Buch, welches auf etwa fünfhundert Seiten den Nachweis zu erbringen sucht, daß alle Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung genau dasselbe seien, was einst der Erlöser auf seinen Wanderungen im heiligen Lande gelehrt habe, wenn auch ein Bischen mit anderen Worten. Wohlgemerkt: die Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung – denn von den wissenschaftlichen Werken des radicalen Socialismus wußte Herr Todt entweder nichts, oder er wollte nichts davon wissen. Die materialistische Weltanschauung von Marx, welche das Wirken aller geistigen und sittlichen Kräfte im Völkerleben leugnet und die ganze Weltgeschichte nur als ein Spiel der grobsinnlichen, materiellen Bedingungen auffaßt, unter denen die menschliche Gesellschaft ihren Lebensunterhalt erwirbt und umtauscht, stößt naturgemäß jeden Gottesglauben von ihrer Schwelle, und auf dieser Weltanschauung baut sich das ganze System des modernen Communismus auf. Allein dieser geringfügige Umstand hinderte Herrn Todt nicht, zu erklären, daß die Leugnung Gottes nur ein äußerliches Beiwerk der neuen Lehre sei, welches sich die guten Socialdemokraten von den bösen Liberalen angewöhnt hätten. Ganz im Gegentheile suchte er nachzuweisen und wies es in seiner Art auch nach, daß die deutsche Socialdemokratie durchaus und durchweg auf dem Felsengrunde der Bibel fuße. Was beispielsweise ihren Grund-, Haupt- und Kernsatz von der Nothwendigkeit des Gemeineigentums angeht, so fragt Herr Todt entrüstet, wie man nur den tiefen, sittlichen Gehalt dieses Gedankens verkennen könne? „Er ist die Consequenz des göttlichen Wortes (I. Moses 1, 28 ff.): Füllet die Erde und machet sie Euch unterthan und herrschet über die Fische im Meere etc.“

Aehnliche Beispiele, von denen das ganze Buch wimmelt, oder genauer: aus denen es besteht, können hier nicht angeführt werden, sie gehören in ein Handbuch über Geisteskrankheiten, und es muß genügen, das Endergebniß dieser kritischen Untersuchungen über die socialistische Theorie wortgetreu wieder zu geben; es lautet: „Ihre Grundprincipien bestehen nicht nur vor der Kritik des Neuen Testaments, sondern enthalten geradezu evangelische, göttliche Wahrheiten; ihre Anklagen gegen die heutige Gesellschaftsordnung sind größtenteils begründet, ihre Forderungen berechtigt.“

Diese wundersame Weisheit hatte der Pfarrer Todt aus der Bibel „destillirt“ und „geklärt“, wie er sich auszudrücken liebte; daneben hatte er freilich auch noch eine andere Methode angewandt, welche sich schwer kennzeichnen läßt, ohne die einem so „frommen“ Manne gebührende Ehrfurcht zu verletzen. Um zum Beispiel zu erhärten, daß das Wachsthum des nationalen Wohlstandes heutzutage immer nur den besitzenden Classen zu Gute komme, citirte Herr Todt eine Budgetrede Gladstone’s von 1863, worin bei Betrachtung der englischen Einkommensteuer und ihrer Erträge eine überraschende Vermehrung von Macht und Reichthum der besitzenden Classen erwähnt wird, verschwieg aber wohlweislich, daß der englische Schatzkanzler in demselben Athemzuge eine gleichzeitige Hebung der arbeitenden Classen festgestellt hatte, die er in jeglichem Lande und Zeitalter beinahe beispiellos nannte. Herr Todt ließ also behufs besserer Aufwiegelung der Arbeiter durch unwahre Vorspiegelungen einen Mann von Gladstone’s Weltruf genan das Gegenteil von dem sagen, was er gesagt hat. Aber selbst bei dieser nicht gerade hervorragenden Leistung war er nur ein Nachbeter und Nachtreter socialdemokratischer Vorgänger. Marx selbst hatte ihm das Hetzkunststückchen vorgemacht, wobei es sich der profane Mann denn freilich gefallen lassen mußte, daß sein Kunststückchen von wissenschaftlichen Gegnern eine literarische Fälschung sonder Gleichen genannt wurde.

Nicht um ihrer selbst willen, sondern als das Kukuksei, aus welchem die christlich-sociale Agitation entschlüpfte, beansprucht diese Schmähschrift eine ausführlichere Erwähnung. Bei ihrem Erscheinen wurde sie wenig beachtet, die publicistische und wissenschaftliche Kritik zuckte einfach die Achseln, auch die „Kreuzzeitung“ war ehrlich genug, diese Demagogie beim rechten Namen zu nennen, nur die ultramontanen Blätter, welche einen so wunderbar feinen Instinct für alles Unheil haben, welches der evangelischen Kirche droht, priesen das Werk als eine glänzende Offenbarung socialpolitischer Weisheit. Indessen die grellen Trompetenstöße dieser Reclame verhallten, und so würde das Geisteskind des Pfarrers zu Barenthin längst den ewigen Schlaf in den ungeheuren Katakomben der socialpolitischen Maculatur schlummern, wenn sich nicht eben in den ersten Tagen von 1878 herausgestellt hätte, daß es nicht sowohl eine harmlose Abhandlung, als eine „große That in Worten“ darstellen solle. Denn aus den Geist und das Zeugniß dieses Buches hin thaten sich mit Herrn Todt der Hofprediger Stöcker und eine kleine Schaar von Agrariern, Schutzzöllnern, Pietisten, Particularisten und Socialisten zu einem Centralverein zusammen, der die „sociale Reform“ auf Grund „evangelischer göttlicher Wahrheiten“ einzuleiten beabsichtigte. Zunächst wurde ein Wochenblatt unter dem Titel „Staatssocialist“ gegründet, welches die Fäden weiter spinnen sollte, die in dem Buche von Todt geknüpft waren.

Der „Staatssocialist“ erwies sich den Begründern dankbar und seiner Aufgabe durchaus würdig. Er stellte sein Vorbild noch über die heilige Schrift und that den denkwürdigen Ausspruch: wenn statt der achtzig Millionen Bibeln, welche von England aus vertrieben werben, deren nur vierzig Millionen und statt der anderen vielleicht hunderttausend Exemplare des Todt’schen Buches verbreitet würden, so müßte das religiöse Resultat ein günstigeres sein. Dabei suchte er den großen Meister noch zu übertreffen und schrieb gleich in einer seiner ersten Nummern mit lapidarer Kürze über die heutige Ordnung: „Der rasende Concurrenzkrieg wirft die Menschheit aus dem Besitze aller ihrer Heiligtümer. Es giebt keine Ruhe des Geistes, keinen Frieden der Seele mehr. Ueberall Enteignung! Der Mann verliert seine Würde, das Weib seine Ehre.“ Um diese frohe Botschaft überallhin zu verbreiten, sollte das deutsche Reich in zwölf Agitationsbezirke geteilt und in jedem derselben ein beständiger Agitator unterhalten werden. Als „vortreffliches Material“ für diesen Posten wurden junge Schullehrer und junge Kaufleute empfohlen, als unentbehrlichste Eigenschaft für ihre Thätigkeit eine starke, deutliche Stimme bezeichnet, nebenbei wurde dann noch erwähnt, daß sich solche Personen die notwendigen Kenntnisse rasch aneigneten. Dies Alles war deutlich zu lesen in einem Circular des Centralvereins für Socialreform, welches sein Organ veröffentlichte.

Nunmehr begann die Sache ruchbar zu werden im deutschen Reiche, aber allzu stolz durfte sie nicht auf die Sensation sein, welche sie erregte. Daß sich alle Elemente des freisinnigen und patriotischen Bürgerthums gegenüber dieser Filiale der socialdemokratischen Agitation – und zwar einer Filiale, die viel widerwärtiger war, als der Hauptstock – Schulter an Schulter zusammen schlossen, braucht kaum hervorgehoben zu werden, aber die Gerechtigkeit gebietet zu betonen, daß das ganze, Unternehmen auch von positiv christlicher Seite, so von Professor v. d. Goltz in Königsberg, von Beyschlag’s „Deutsch-evangelischen Blättern“ und Andern, einer geradezu vernichtenden Kritik unterzogen wurde. Auch die meisten Mitglieder des Centralvereins, soweit sie überhaupt einen politischen und wissenschaftlichen Namen zu verlieren hatten, zogen sich bald offen oder stillschweigend zurück.

Im Reichstage geißelte Graf Bethusy-Huc in starken Worten den unglaublichen Humbug. Daneben hatten sich die Herren Todt und Genossen dann freilich auch mancherlei fördernder Unterstützung zu erfreuen, besonders Seitens amtlicher Organe der evangelischen Kirche. Das Consistorium der Provinz Sachsen empfahl sogar ausdrücklich das Todt’sche Buch seinen untergebenen Geistlichen [27] zum eifrigen Studium der socialen Frage. Auch einzelne socialdemokratische Agitatoren des allerniedrigsten Schlages stürzten sich wie die Motten in die flackernde Flamme. So jener in der letzten Zeit oft genannte Schneider Grüneberg, welcher die Umwälzung der bestehenden Ordnung bekanntlich zunächst durch seine komisch wirkenden Versündigungen an dem ehrwürdigen Gefüge der deutschen Grammatik versuchte; so ein gewisser – Hödel aus Leipzig, der um agitatorisches Material bat und es nebst einem aufmunternden Schreiben erhielt.

Der Gewinn so streitbarer Kräfte war es wohl in erster Reihe, welcher schon wenige Wochen nach Gründung des Centralvereins veranlaßte, daß sich von ihm eine christlich-sociale Arbeiterpartei abzweigte, um der socialdemokratischen Concurrenz in aller Eile möglichst viel Terrain abzugewinnen. Eine Arbeiterpartei, vorläufig ohne Arbeiter, aber reich an Feldherren; Arm in Arm forderten Hofprediger Stöcker, Missionsprediger Wangemann und Schneider Grüneberg ihr verkommenes Jahrhundert in die Schranken. Die hauptstädtische Socialdemokratie nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, es folgten jene berüchtigten Berliner Versammlungen, in denen die drei Männer mit einem Manne wie Most über Gott und Unsterblichkeit stritten. Nichts war der socialdemokratischen Agitation willkommener, als diese Spectakelstücke, boten sie doch reichlichsten Anlaß, ihre Anhänger anzuregen und zu unterhalten. Ihre gewandten Redner hatten mit den Gegnern leichtes Spiel; von Grüneberg ganz zu schweigen, verstand weder Stöcker noch Wangemann etwas von socialpolitischen Fragen; jener bekannte gern, wie „ein unschuldiges Kind“ in die Bewegung getreten zu sein, und dieser nannte sich nicht[WS 1] minder eifrig „zu dumm“ für die Beurteilung wirthschaftlicher Verhältnisse. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß, so lange sich die Discussion in diesen Volksversammlungen um rein religiöse Fragen drehte, namentlich Stöcker’s Auftreten nicht ohne sympathische Momente war. Er ist nicht hinterhältig und verschlagen wie Todt, sondern ein offener und resoluter Charakter. Dabei zeugte es von einem gewissen Muthe, wie er den Stier bei den Hörnern packte, und gegen den seichten Abhub des seichten Atheismus, den die communistischen Demagogen predigten, hob sich seine formvollendete Beredsamkeit immerhin vorteilhaft ab. Aber der leise Anflug von Wohlwollen, welcher sich hier und da der christlich-socialen Agitation zuwandte, erlosch sofort wieder, wenn Herr Stöcker, trotz seiner kindlichen Unschuld in wirthschaftlichen Dingen, den Arbeitern goldene Berge verhieß, ohne augenscheinlich die leiseste Ahnung, welche ungeheuerliche Verpflichtungen er damit einging. Und als nun gar jene scheuselige Frauen- und Mädchenversammlung stattfand, die zwischen Most und Wangemann richten sollte, und die in ihrem Verlaufe die widerlichsten Bilder der französischen Schreckensherrschaft wachrief, da packte alle Welt ein unsagbarer Ekel, und selbst die Socialdemokraten wurden des grausames Spiels überdrüssig. Der erste Streifzug der christlich-socialen Agitation in die Arbeiterwelt endete mit einer völligen Niederlage.

Sie athmete wieder auf, als die fluchwürdigen Attentate den Stern der Socialdemokratie erbleichen ließen und die Wahlbewegung in manchen ihrer Erscheinungen den Gedanken wachrief, daß im Trüben gut fischen sei. Eine Tageszeitung wurde gegründet, die „Deutsche Volkswacht“, deren Leitung ein „bewährter“ Genosse aus Süddeutschland übernahm. Sie trug an ihrer Stirn das Motto: „Liebe Deinen Nächsten als Dich selbst!“ aber nie ist dieses herrliche Wort mehr geschändet worden, als durch den literarischen Unrat, der sichtlich unter seinem Schutze verbreitet wurde. Selbst die schlimmsten Ausschreitungen der socialdemokratischen Presse vermögen mit diesen Leistungen kaum zu rivalisiren. Dabei zeigte sich wieder einmal, daß der Zorn ein schlechter Berater ist; in einer Polemik gegen das freisinnige „Deutsche Protestantenblatt“ in Bremen schrieb die fromme „Deutsche Volkswacht“: „Ausführungen der Protestantenvereinler tragen so recht das Eunuchenthum an der Stirn“, und „Protestantenvereinler mit ihren liberalisirenden Ansichten in kirchlichen Dingen erzeugen überhaupt in jedes christlich gesinnten Menschen Brust das Gefühl namenlosen Abscheus.“ So wurden die würdigsten Männer beschimpft von denselben Orthodoxen, welche die socialdemokratischen Grundsätze als „evangelische göttliche Wahrheiten“ kennzeichnen.

Trotz allen Eifers im Schimpfen, Verdächtigen, Verleumden vereitelte der Wahltag die Hoffnungen, die auf ihn gesetzt waren; in drei Berliner Wahlkreisen bewarben sich christlich-sociale Candidaten; im Ganzen gewannen sie zusammen noch nicht anderthalb tausend Stimmen. Solch eine Niederlage hatte man nicht erwartet. Im Kreise seiner Getreuen klagte Herr Stöcker über diesen „unglückseligsten Tag seines Lebens“; zugleich theilte er die traurige Kunde mit, daß die Parteicasse bis auf den letzten Pfennig durch einen „schlechten Spitzbuben“ geplündert worden sei; unter dieser unerfreulichen Umschreibung verstand er seinen treuesten Waffenbruder, den Schneider Grüneberg, der sich gegen diese Beschuldigung energisch wehrte und in den Spalten der socialdemokratischen Presse sofort einen lärmenden Feldzug gegen seinen bisherigen Gönner eröffnete.

Auch der verschriebene Redacteur der „Deutschen Volkswacht“, die am Tage nach der Wahl sofort selig entschlief, bewarb sich nunmehr um die Mitarbeiterschaft an socialdemokratischen Blättern, wurde aber abgewiesen. Es ergab sich jetzt, daß dieser Kämpfer bisher socialpolitisch nur einer Nivellirung der Eigenthumsverhältnisse im engsten und persönlichsten Sinne gehuldigt hatte; er hatte Mündelgelder veruntreut und deshalb eine schimpfliche Gefängnißstrafe erlitten. Die geistlichen Leiter der Bewegung leugneten, darum gewußt zu haben, sie wurden der Unwahrheit überführt durch das Zeugniß des geistlichen Amtsbruders, der den rüstigen Streiter jenseits des Mains geworben hatte. Auch sonst flohen die Ratten von dem lecken Schiff. Fraglich ist überhaupt bis auf diesen Tag, ob die christlich-sociale Agitation jemals auch nur einen Anhänger aus Ueberzeugung unter den Arbeitern gehabt hat. Soweit öffentliche Kundgebungen einen Schluß gestatten, muß die Frage verneint werden. Hödel bekannte vor dem Staatsgerichtshofe, daß er nur um des „Geschäfts“ willen den „Schwindel“ mitgemacht habe, und Schneider Grüneberg erklärte sogar, daß sich noch kein sterblicher Mensch in das Lager dieser neuesten Weltverbesserer verirrt habe, der nicht durch die Spende eines ebenso unentbehrlichen, wie unnennbaren Kleidungsstückes dazu verführt worden sei.

Nach alledem aber hat der lächerlich-unheimliche Spuk noch kein Ende. Der „Staatssocialist“ hetzt und schimpft unverdrossen weiter; über das Thun und Treiben, die Stärke und den Umfang des Centralvereins für Socialreform, dem er dient, ist kaum etwas Anderes bekannt, als daß derselbe einige Reiseprediger zeitweise im deutschen Reiche wühlen ließ und einige hundert evangelische Geistliche geworben hat. Herr Todt giebt sich noch immer den Anschein, als ob die oberen Kirchenbehörden ein wohlgefällig Auge auf seinem Treiben ruhen ließen. Auch über Herrn Stöcker ist eine Art grönländischen Sonnenscheins gekommen, seitdem das Socialistengesetz erlassen ist. Manche Stammgäste der verbotenen Vereine und Versammlungen betrachten ihn vorläufig als magern Ersatz; so haben die allwöchentlichen Zusammenkünfte, die er beruft, einigen Zulauf. Schneider Grüneberg bemüht sich augenblicklich, eine christlich-sociale Gegenpartei zu gründen. Am verständigsten und würdigsten weiß sich Herr Wangemann nach den Stürmen und Wettern des Sommers zu fassen; er versucht die Socialdemokraten zu bekehren, welche im Gefängnisse zu Plötzensee eingethürmt sind.

So verlief das Satyrspiel von 1878; wer mag sagen, ob es sich noch in die Zukunft fortspinnen wird? Nur so viel darf man guten Gewissens behaupten, daß, wer sich mit solchen Hoffnungen trägt, kein aufrichtiger Freund der evangelischen Kirche ist. Auch wird die orthodoxe Priesterpartei auf diesem Wege sicherlich nicht ihr eigentliches Ziel erreichen, das heißt sicherlich nicht jenen Boden im Volke gewinnen, an dem es ihr bisher zur Förderung ihrer zelotischen Herrschafts- und Unterjochungszwecke gefehlt hat.

[28]

Des Kaisers Lector.


Jeden Sonnabend Morgen um sieben Uhr, im Sommer wie im Winter, konnte man einen älteren Mann, der das Aussehen eines Professors oder Hofpredigers hatte, den Weg von Meinhard’s Hotel unter den Linden nach dem königlichen Palais, der Wohnung des Kaisers, nehmen sehen. Eine nicht sehr große Figur, etwas wohlbeleibt, ein bartloses Gesicht mit frischen, freundlichen Zügen und dem unverkennbaren Ausdruck von innerer Güte und Heiterkeit; unter dem Hute langes weißes Haar, eine weiße hohe Binde um den Hals, ein sehr sauberer schwarzer Anzug, sonst keine sichtbare Auszeichnung als etwa ein großer Brillant in der feinen Chemisette, und wenn der Ueberzieher im Vorzimmer der Gemächer abgelegt wurde, das eiserne Kreuz am weißen Bande an der linken Brustseite des schwarzen Frackes – das war die äußere Erscheinung des Lectors des Kaisers, des Geh. Hofraths Schneider.

Im Vorzimmer des Kaisers war noch kein Adjutant; nur der Leibdienst war um den Kaiser, Kammerdiener, Garderobier, Leibjäger, aber keiner von ihnen brauchte dem Ankömmling die Flügelthüren zu öffnen und den Weg zu zeigen. Durch die vorderen Gemächer trat er in das Arbeitsgemach des Kaisers, an dessen einem Balconfenster sich eine seiner fleißigsten Arbeiten befand, ein Kalendarium aus dem Leben des Kaisers mit allen für den betreffenden Tag verzeichneten Daten und Facten von der Jugend des Kaisers an, geschmückt mit einem entsprechenden Sinnspruch für jeden Tag. Hier wartete er, bis der Kaiser eintrat. Der Leibjäger brachte den Kaffee, und während der Kaiser sein Frühstück nahm, hielt Schneider Vortrag. Worüber? Ueber literarische Dinge, über die Ergänzungen der Privatbibliothek des Palais, über Büchereinsendungen, Aufträge an Künstler, hauptsächlich aber über Gegenstände, welche die Armee und deren Geschichte angingen. Schneider würde sich nie erlaubt haben, dem Kaiser mit Sachen zu kommen, die nicht zu seinem Ressort gehörten. „Da würde er mich hoch anschauen!“ war seine eigene Aeußerung über dieses Capitel. Dafür aber durfte Schneider unmittelbare Fragen an den Kaiser bringen über Materien, welche in das literarische Fach einschlugen, und erhielt dann auch unmittelbare Auskunft. So sind durch seine Sorgfalt und Bemühung gar viele offene Fragen, namentlich militärisch-historische, festgestellt worden, die bis dahin ganz ungeklärt waren; vornehmlich aber wird die Nachwelt dem unermüdlich fleißigen Geheimrath die zuverlässigsten Quellen über das Leben des Kaisers zu verdanken haben. Schneider hat in dieser Beziehung wahre literarische Schätze hinterlassen. Lector war mehr ein Titel; sich vorlesen zu lassen, dazu hat ein Mann wie der Kaiser wenig Zeit, und was er lesen will, liest er selbst. Der Lector war eine Art literarischer Rath, auch in Bezug auf Vermittelung zwischen der Person des Monarchen und der Oeffentlichkeit. So gingen zum Beispiel, wenn der Kaiser irgendwo gesprochen hatte, die Reden durch Schneider’s Hand in die Oeffentlichkeit. Der Kaiser dictirte sie seinem Lector in die Feder, aber erst dann, wenn die Rede gehalten war. Bekanntlich schreibt sich der Kaiser niemals auf, was er öffentlich reden will. Er spricht stets unter Eingebung des Augenblicks, aus der Situation, aus dem Herzen heraus. Als vorsichtiger Mann gab der Lector niemals eine derartige oratorische Kundgebung an das Wolff’sche Telegraphenbureau oder den Reichs- und Staatsanzeiger, ohne daß der Kaiser sein W. darunter gesetzt hatte.

In dieser Richtung lag die Wirksamkeit des Lectors. Oftmals wurden für die Oeffentlichkeit Berichtigungen nothwendig; der Geheimrath legte dem Kaiser Journale vor, wenn ihm Artikel darin besonders bemerkenswerth erschienen, aber nur solche, welche die Person des Monarchen, allenfalls auch militärische Einrichtungen betrafen – niemals solche, welche sich auf Politik bezogen. In dieses Gebiet durfte die literarische Hand nicht übergreifen, denn für dieses hat der Kaiser seine Staatsminister. Dagegen durfte Schneider manches Wort der Fürbitte einlegen, wenn es galt, ein schriftstellerisches Verdienst anzuerkennen oder zu belohnen. Mancher Noth wurde vom Kaiser durch seine Vermittelung gewehrt, manche Freude durch kaiserliche Gnade oder Anerkennung in die stillen Arbeitsstuben gebracht. Das Alles wurde beim Frühstück abgethan – der Lector flocht auch wohl hier und da eine heitere Erinnerung aus seiner Vergangenheit und dem künstlerischen Leben Berlins in seinen Vortrag ein, aber wenn die ihm zu Gebote stehende Stunde vorüber war, nahm er seine Mappe wieder unter den Arm und empfahl sich. Während des Tages machte er seine Geschäfte in Berlin ab und kehrte Abends zu einer gewissen Stunde nach Potsdam in den Kreis seiner Familie zurück – es muß gesagt werden, in die glücklichsten häuslichen Verhältnisse, in denen er wie ein Patriarch herrschte.

Der Liebe, die er in seiner Familie genoß, entsprach eine entschiedene Popularität in der öffentlichen Meinung. Das allgemeine Interesse, welches sich an die Person Schneider’s knüpfte, hatte namentlich in der früheren Vergangenheit desselben seinen Grund. Derselbe Mann, der aus dem Cabinete seines Kaisers kam, bei Feierlichkeiten mit Orden um den Hals, mit Sternen auf der Brust erschien, dem die Vornehmsten des Hofes und Staates mit einer Mischung von Respect und Cordialität entgegen kamen – er hatte seine Carrière als singender Knabe in der alten Oper Salieri’s „Azor“ begonnen. Er war ein Theaterkind. Seine Eltern waren an dem Theater des alten Prinzen Heinrich in Rheinsberg engagirt gewesen, und die zuverlässigsten Nachrichten über diesen Hof und das Treiben desselben verdanken wir dem späteren königlichen Hofschauspieler Louis Schneider. Aus den Erzählungen seiner Eltern hat er diesen Hof namentlich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in seinen Theaternovellen geschildert. Neigung und Talent führten ihn wieder zum Theater. Vom Jahre 1820 bis 1848 gehörte er als darstellendes Mitglied im Gebiete der Oper und des Schauspiels dem königliche Theater in Berlin an. Trotz seiner Thätigkeit als ausübender Künstler, später als Regisseur, hatte der junge Mann noch Zeit, fünf Sprachen zu lernen, Romane, Novellen, Artikel, Komödien zu schreiben, Theaterstücke zu übersetzen, Sprachunterricht an einer Kriegsakademie zu geben, Translator beim Gerichte zu sein, ein militärisches Journal, „Der Soldatenfreund“, zu gründen und sich in militärische Dinge derart einzuarbeiten, daß einst Prinz August, der damalige Chef der preußischen Artillerie, über eine der Arbeiten Schneider’s äußerte: „Der Schauspieler Schneider hat einen Artikel über Artillerie geschrieben wie ein Artillerist, und der Artilleriegeneral einen solchen wie ein Schauspieler.“ Außerdem hatte Schneider in dieser Zeit noch Muße gefunden, eine Theaterbibliothek anzulegen, wie sie vollständiger vielleicht nicht wieder existirt. Sie ist gegenwärtig im Besitze der königliche Bibliothek zu Berlin.

An diese Zeit seiner jugendlichen Sturm- und Drangperiode auf der Bühne hat sich Schneider noch bis zu seinem Lebensende gern erinnert. Im Jahre 1848 hatte er der Bühne den Rücken gewandt; die Thätigkeit derselben füllte sein von Jugendkraft strotzendes Leben nicht aus, und dann hatten ihm manche Erfahrungen den Verkehr mit dem Publicum verleidet. Er war Royalist bis auf die Knochen – und ist es geblieben bis zum letzten Athemzuge. Das hatte er in jenem Sturmjahre oft in demonstrativer Weise bethätigt, und auch die Gegner seiner Ueberzeugung werden nicht bestreiten, daß er es mit Mannesmuth gethan. Das Publicum aber war mit ihm über diese neue Rolle nicht einverstanden, zog vor sein Haus und gab ihm seinen Widerspruch durch Steine und klirrende Fensterscheiben, auch durch Katzenmusik zu erkennen. Das war die letzte Berührung zwischen den Beiden. „Nun, dann nicht mehr!“ dachte Schneider. Von da ab betrat er die Bühne nicht wieder, besuchte aber auch ebenso wenig das Theater, nur zweimal vielleicht in diesen dreißig Jahren abgerechnet. Das letzte Mal sah er das „Wintermärchen“, von den Meiningern dargestellt, und davon war er entzückt.

„Sie wissen,“ äußerte er, „ich halte nicht viel von der Gegenwart weder in der Politik noch im Theater. Es wurde zu allen Zeiten gut und schlecht gespielt – und um halb zehn Uhr ist der Vorhang ’runter. Heute aber – das muß ich gestehen – habe ich etwas gesehen, das mir im höchsten Grade imponirt hat. Hier ist der Weg gegeben, auf dem das deutsche Schauspiel einer weiteren Entwickelung fähig ist.“

Schneider war mit Leib und Seele seinem früheren Berufe ergeben gewesen; sonst würde er nicht eine Wirkung auf das Publicum ausgeübt haben, welche, aus dem Augenblicke geboren, [29] mit dem Augenblicke entflieht, ihm aber in der Erinnerung seiner Zeitgenossen treu geblieben ist. Er spielte nur jugendlich komische Rollen – auch nicht gerade ein sogenanntes erstes Fach, aber jede Rolle wurde durch seine Verkörperung gehoben; seine Persönlichkeit war erstes Fach. So ist die Figur des Benedix’schen Doctor Wespe durch ihn für alle Nachspieler ein Typus geworden, und mehr oder weniger spielen diese in der nur durch Schneider’s Auffassung wirksamen Gestalt eigentlich alle wie Louis Schneider.

Bei einer derartig veranlagten Künstlernatur konnte das Interesse an seiner früheren Thätigkeit niemals völlig erlöschen, obgleich er im Aeußern dem Theatertreiben abgewandt blieb. Im intimeren Kreise pflegte er gern Erlebnisse aus seinem früheren Berufe zu erzählen, Urtheile über künstlerische Persönlichkeiten seiner Zeit zu geben, Ansichten über Theaterstücke und Bühnendichter auszutauschen. Und welche reiche Erfahrung stand ihm hierbei zu Gebote – nicht nur aus Deutschland, aus London, Paris, Petersburg, in welchen Städten er den Bühnen ein aufmerksames Studium zugewandt hatte! Vielleicht sah er manche Meisterwerke der deutschen und fremden Bühnenliteratur mit zu realistischem Auge an, ich meine zu sehr vom Standpunkte des praktischen Regisseurs. Delius, Ulrici oder Professor Werder würden gegenüber dem Schneider’schen Urtheil in Betreff des berühmten Hamlet-Monologs „Sein oder nicht sein“, von dem er die Ansicht hatte, daß ihn der Dichter nur aus Rücksicht für die Rolle des Schauspielers geschrieben habe, daß an dieser Stelle gerade nach dem Gang der Handlung gar keine innere Nöthigung zu einem Monologe, das heißt zu einer im Gedanken vorbereiteten Handlung vorliegt – dieser Ansicht Schneider’s gegenüber würde die Gemeinde der Shakespeare-Weisen ihn in Acht und Aberacht erklärt haben, und Professor Leo in Berlin hätte sich bereit erklärt, ihm das Document darüber in Potsdam an das Thor zu heften.

Sein Interesse für die Bühne bethätigte Schneider in der Bemühung für das Zustandekommen einer Altersversorgungsanstalt für Bühnenangehörige; er trat für dieselbe mit aller Kraft seines schneidigen Wortes ein; sie war sein Werk; er hatte sie auf die Eigenschaft getauft, deren Name in großen goldnen Buchstaben über seiner Bibliothek stand: Perseverance“; damit hatte er seinen Weg gemacht; damit wäre auch die Anstalt gediehen, hätten nicht Unverstand und Böswillen das Werk im Keime zerstört. Und wenn kein Hülfesuchender ohne eine Gabe von ihm ging, so bedachte er „einen Collegen“ wenigstens doppelt.

Der Komiker mit der sprudelnden Laune war im Leben ein sehr ernsthafter Mann, auch da er noch der Bühne angehörte. Er war ein Mann strenger Zucht und Ordnung, für sich wie für Andere – in Geld-, in Vertrauenssachen, im Wandel, in Allem. Wie er mit dem Gelde hauszuhalten verstand, so mit der Zeit. Er war kein Mann deutscher Bierseligkeit; er trank auch fast niemals Wein. „Vom Trinken,“ pflegte er zu sagen, „kommt aller Streit, aller Unfrieden, die Mehrzahl des Ungemachs, und die größten gesungenen Lügen sind die Trinklieder.“ Ebenso wenig war er ein Freund der Salons und der zwischen Fauteuils sich hinziehenden Langeweile. Es war sehr schwer, seiner einmal zu einem Diner habhaft zu werden. Sein Arbeitszimmer war ihm Alles – er war ein Fanatiker der Arbeit.

Sein Schreibzimmer war ein saalartiger Raum, dessen Wände mit rings von Büchern gefüllten Repositorien bedeckt waren. Gar viele Bände waren seine eigenen Geistesproducte. Höher an den Wänden hingen die Bilder von hohen Personen, Geschenke von ihnen selbst oder von Solchen, die mit ihm einen Theil seines Lebensweges gegangen waren oder mit ihm gewirkt hatten. Alle Tische waren mit Büchern bedeckt; überall die neuesten und interessantesten Erscheinungen der deutschen Literatur und der aller Culturnationen. In einem Wandschranke standen geordnet die Manuscripte, welche er zum Erscheinen nach seinem Tode bestimmt hatte. In einem größeren Folianten stak eine Adlerfeder, mit welcher sich Jeder einzeichnen mußte, der ein Buch von ihm entlieh; anders gab er keines weg. Sein mit grünem Tuch überzogener Schreibtisch war ein Reliquienort von Erinnerungen an berühmte oder ihm nahestehende Persönlichkeiten. Die Bronzebüste des Kaisers, ein Geschenk dessen, den es darstellte, nahm den Ehrenplatz ein. Von diesem Schreibtische aus hatte er den Blick hinunter in den Garten, einen der bestgepflegten in ganz Potsdam, was viel besagen will; hier jätete, grub, band, beschnitt er mit der Liebe und Zärtlichkeit, mit der eine Mutter ihr Kind pflegt. Wenn man ihn an seinem Schreibtische im Schlafrocke sitzend fand, so war das kein gutes Zeichen für seine Gesundheit. Es geschah auch selten. Er pflegte stets in weißer Binde und schwarzem Anzuge bei der Arbeit zu sitzen, und wenn man eintrat und wegen der Störung um Entschuldigung bat, so war seine Antwort: „Eine Störung sind Sie immer, aber eine angenehme.“

Die Hülfswissenschaften zur Geschichte des brandenburgisch-preußischen Hauses und der preußischen Armee waren seine Specialität – und der künftige Geschichtsschreiber wird ihm manche Arbeit danken. In dem traulichen Eckchen seines Arbeitszimmers machte er in alten Acten und Fascikeln seine Archivstudien; von hier aus war er bemüht, für die Vereine für die Geschichte Potsdams und Berlins, deren Gründer er war, immer neues Material zu schaffen; von hier aus redigirte er das populäre Blatt für die Armee: „Der Soldatenfreund“, von dem bereits die stattliche Zahl von sechsundvierzig Bänden auf einem der Bücherregale stand; hier betrieb er eine emsige journalistische Thätigkeit und namentlich eine weit verbreitete Correspondenz, die sogar bis in’s Winterpalais in St. Petersburg, in das Cabinet Alexander’s des Zweiten, ging. Die Correspondenz mit dem Kaiser aller Reußen geschah mit Vorwissen Kaiser Wilhelm’s. Wenn Schneider in dieser seiner Stellung je einen politischen Einfluß geübt hat, so war diesem zu einem gewissen Theile die Aufrechthaltung der guten Beziehungen zwischen Berlin und Petersburg zu danken. Mehr darüber zu sagen, würde seinem discreten Wesen widersprechen. Er war in Petersburg im Cabinet des Kaisers nicht weniger gern gesehen und mit Vertrauen beehrt, als im Palais zu Berlin, und er begnügte sich vollständig mit dieser Stellung, die, je unscheinbarer nach außen, vielleicht um so einflußreicher war. Er wollte kein Amt, keinen Rang, er wollte aber auch keines Andern Untergebener sein, als seines Kaisers.

Eines Tages zeigte ihm Kaiser Nicolaus in einem Exercirhause zu St. Petersburg ein Regiment seiner Garden und forderte ihn, der die russische Armee so gut kannte wie die preußische, zuletzt auf, mit ihm die Front desselben hinabzugehen. Schneider weigerte sich; der Monarch forderte ihn noch einmal auf – mit demselben Resultat, sodaß Nicolaus den Grund seiner Weigerung zu wissen verlangte. Mit dem ihm eigenen Freimuth erklärte Schneider dem Kaiser, daß, so auszeichnend diese Aufforderung für ihn sei, sie doch seinem inneren Gefühle widerspreche, und gegen dieses könne und würde er niemals etwas thun. Mit andern Worten wollte er dem Kaiser sagen: „Das schickt sich für einen Mann meiner Stellung nicht.“ Die Weigerung hat ihm in der Schätzung des Kaisers vielleicht mehr genützt, als es die Erfüllung des Verlangens gethan haben würde, das in einem Augenblicke guter Laune gestellt und später vielleicht von dem Kaiser selbst für unstatthaft erkannt wurde. So fein, so maßvoll wußte der Mann seine Stellung aufzufassen.

Die Memoiren, die Schneider hinterlassen hat, werden uns die interessantesten Dinge erzählen, namentlich von dem Tage an, wo er in die Nähe des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten gezogen wurde. „Mein College Schneider“ pflegte Alexander von Humboldt zu sagen; damit wollte er andeuten, daß sie Beide die gewohnte Umgebung des Königs Abends in den Gemächern von Sanssouci bildeten. Schneider las, und Alexander von Humboldt sprach. Dieses Verhältniß zum Könige dauerte zehn Jahre. Jeden Abend trat der Lector mit seiner Mappe, in der sich die neuesten Erscheinungen der Literatur befanden, in die Appartements von Sanssouci oder des Schlosses von Berlin. Der König zeichnete, die Königin machte Handarbeiten. Was der Lector von seinem bescheidenen Tischchen aus da Alles gesehen, gehört, beobachtet und erfahren, das werden wir in seinen Memoiren vielleicht nicht Alles verzeichnet finden – eines Vertrauensbruches wäre Schneider in der Treue seines Herzens und Charakters niemals fähig gewesen –, aber was wir von ihm aus dieser Zeit hören werden, das wird wahr sein, das wird Material für die Geschichtsschreibung sein.

Die Abende von Sanssouci verwandelten sich unter dem jetzigen Könige und Kaiser in die Morgen der Sonnabende im Berliner Palais oder auf Babelsberg. Schneider hat den König auf seinen Feldzügen 1866 und 1870 bis 1871 begleitet; er war auch oft auf Reisen mit ihm, und während des Aufenthaltes des Kaisers in Wiesbaden war er in dessen Nähe. Seinen letzten [30] Sonnabendvortrag hielt er am 7. December vorigen Jahres. Er hatte geendet und wollte das kaiserliche Arbeitszimmer verlassen – da rief ihn der Kaiser noch einmal an. Er blieb an der Thür stehen und fragte, ob jener noch Befehle für ihn habe. Der Kaiser schwieg einen Moment; dann sagte er plötzlich: „Schneider, geben Sie mir die Hand!“ Dieser Händedruck war das letzte Zeichen kaiserlich Dankes für treue Dienste und ein letzter Abschied.

Schneider ist mit außerordentlichen Ehren zu Grabe gleitet worden, nicht blos von Seiten des Hofes und der höheren Militärwelt, sondern auch der intelligenten und hervorragenden Kreise des hauptstädtischen Publicums. Obwohl er seit einer Reihe von Jahren in Potsdam wohnte, betrachtete ihn Berlin doch auch mit Recht als die Seinigen. Seine kecken reactionären Bravourstückchen gegen die Bewegung von 1848 hatte man ihm im Umschwunge der Dinge seit dem Eintritte der neuen Aera vollständig verziehen, und Leute aller politischen Parteien betrauern nun schmerzlich den Verlust des interessanten, durch hohe Begabung und Liebenswürdigkeit ausgezeichneten Mannes, von dem schon vor Jahren die öffentliche Stimme anerkannt hat, daß er Royalist wenigstens aus persönlichster Anhänglichkeit, und daß er auch im Hofdienste unwandelbar der bescheidenen Schlichtheit bürgerlichen Wandels, dem Drange zu nützlichem öffentlichem Wirken und dem Charakter eines humanen und grundehrlichen Mannes treu geblieben sei.

G. H.


Ein Augenblick.
Von H. Wild.

Denn der mächtigste von allen
Göttern ist der Augenblick.
 Schiller.

Ich hab’ ihn oft geseh’n. Die breite Stirn
Von dunkler Lockenfülle dicht umrahmt,
Des Auges Blitzen eine Sonne, die
Im Jüngling schon des Mannes Macht verkündet –
Wer damals ihn erschaut und schaut ihn jetzt,
Den überkommt es freudig: „Ja es hat
Erfüllt das Leben, was es einst versprach –“
     Und sie? Sie war ein lieblich holdes Kind,
Fromm zwischen edlen Eltern aufgeblüht –
Und doch kein Kind mehr, nein, ein rosiges Mädchen,
Im Abglanz wandelnd jenes Jugendmorgens,
Wo neue unbekannte Stimmen leise
Sich regen in der Brust, wo scheu der Blick
Zum ersten Mal in lichterfüllter Ferne
Des Lebens halbverhüllte Räthsel sucht
Und zitternd dann zurück flieht in sich selbst.
     So sah er sie – es war ein Augenblick –
Und festgezaubert hemmte er den Schritt.
Doch sie, nicht ahnend seine Gegenwart,
Gesenkten Blickes stand sie sinnend da,
Still dem geheimnißvollen Leben lauschend,
Das wie der Strom verborg’ner Quellen tief
Durch alle Fasern ihres Wesens kreis’te.
O hätte sie doch aufgeseh’n! Ein Blick –
Und süßer Frühling wär’s in ihr gewesen;
Allein sie sah nicht auf und ging vorüber,
Und weiter ging sie – immer weiter. Fernab
Hob sich noch einmal ihres Kleides Saum,
Und flatterte im Winde und verschwand.
Er aber schien sie immer noch zu seh’n,
Als ihrer Schritte Schall schon längst verweht.
     Und Jahre schwanden.
     Ein and’rer Blick traf sie, ein heißer Blick,
Der tief in’s Herz ihr sank, und alles Leben,
Das knospend d’rin geruht, es brach die Hülle
Und blüht’ und duftete und stand in Pracht,
Von diesem Blick berührt. Es sangen Vögel,
Und Quellen rieselten, und hoch und leuchtend
An ihres Herzens Himmel stand die Sonne,
Die hehre Sonne, die man Liebe nennt
Und die man ewig glaubt, bis sie, wie Alles,
In Nacht vergeht, um wandellos vielleicht
Sich einst in einem Jenseits zu erheben.
     Und wurde sie geliebt? – Ich weiß es nicht.
Doch schmerzlich neigen sah ich sie das Haupt;
Der sanfte Blick ward trüb’, und bleicher stets
Die Wange, bis sie endlich ganz erblich.
Ein Frühlingsmorgen war’s; der erste Strahl
Der Sonne sog den letzten müden Hauch
Ihr von den zarten Lippen. Noch ein Zucken,
Ein leichtes Rieseln noch, unmerklich fast,
Und unlösbare, hehre Ruhe lag
Im Antlitz ihr – der Kampf war ausgekämpft.
Sie schlief im Sarge, eine weiße Rose,
Und weiße Rosen schmückten ihr das Haar,
Und weiße Rosen deckten ihre Brust
Und lagen um sie her. Das war das Letzte.
     Und Er?
     Durch’s Leben ging er und bezwang die Welt,
Und was sein Wille je ergriff, gelang,
Und Menschen dienten ihm – er stieg und stieg.
Der Eltern Augen leuchteten beglückt
Bei seinem Namen, und wie Jahre schwanden,
Da führt’ er an der Hand ein liebes Weib,
Und schöne Kinder wuchsen um ihn her,
Und wer ihm nahte, pries ihn hochbeglückt.
Er selbst, er nannte glücklich sich, und doch –
Ein Etwas war in ihm; nicht nennen konnt’ er’s,
Doch war es da und legte sich wie Nebel,
Ein Silbernebel freilich, aber doch
Ein Nebel immer, über all sein Glück.
Umsonst schalt er sich drum. Es war ein Weh
Wie unerfüllter Sehnsucht, ja wie Klage
Um ein geahntes Paradies, das er
Im Traum von fern geseh’n vielleicht, und das
Am Tag verschwand.
     Vergessen hatt’ er jenen Augenblick;
Er wußte nichts von ihr, nicht ihren Namen
Und nicht ihr Grab. Und dennoch blieb’s in ihm
Und klang ihm nach wie einer Saite Ton,
Der, angeklungen, schwellend steigt und plötzlich
Zerrissen schweigt und dem die Seele folgt
Und wie verzaubert immer folgen muß,
Bis sie an jenem Bruch erschrickt und staunt
Und wieder neu beginnt. So immer fort.
Und so wie damals steht noch seine Seele
In jenem Augenblick gebannt und horcht
Dem geisterhaften Schall der leichten Schritte,
Die fern verhallen in die Ewigkeit.




Deutsches Frauenleben im Mittelalter.
Eine culturhistorische Studie von Fr. Helbig.

7. Bei Spiel und Tanz.
Neben einförmiger und anstrengender Arbeit fehlte im Leben der deutschen Frau auch nicht sinnige Lust und belebende Freude. Sie fand ihren Ausdruck besonders in der unbefangenen Hingabe an die Natur, die damals dem Menschen näher stand als heute. „Das erste Veilchen,“ sagt Weinhold, „die erste Schwalbe, der erste Maikäfer, der erste Storch wurde festlich empfangen, das von glücklicher Hand zuerst entdeckte Veilchen wohl gar auf eine Stange gesteckt und von Mädchen und Frauen umtanzt.“ Frauenhände schmückten im Lenze die Häuser, die Thore, die Brunnen mit frischen Blumen, mit Kränzen und buntbebänderten Maien – als symbolischen Jubelgruß der neu erstandenen Natur. Walpurgis, Johannistag und die Zeiten der Sonnenwende hatten ihre eigene, local wechselnde Feier, an der die Frau einen nicht geringen Antheil hatte. Mit dem Schlafe der Natur schlief daher auch die Festfreude für die Frau, denn das Haus und die entlegene Burg boten in sich nur wenig Abwechselung. Während er dem Manne die Freuden der Jagd eröffnete, bannte der Winter die Frau in die Einsamkeit der Kemenate, an Webstuhl und Spinnrocken. Die wenigen der Arbeit abgekargten Stunden der Muße verbrachte die Jungfrau dann wohl in der Nische der tiefen Fenster oder auf dem Söller, forschend hinauszuschauen ins weite Land, ob nicht jemand nahte, der irgend einen Wechsel brächte in das alltägliche Einerlei der häuslichen Geschäfte, sei es ein Bote, der Kunde gab von einem Ereignisse, das in das träg arbeitende Rad der Weltgeschichte hemmend oder

[31] beschleunigend eingriff, ein Hausirer, ein Krämer, der neben buntem Tande auch manche Mähr – wahr oder erlogen – mit feilbot, eine Horde fahrender Sänger oder Spielleute, oder wohl gar ein befreundeter willkommener Gast, der die Unbill des Wetters nicht gescheut hatte. In der Stille dieser langen Nächte und kurzen Tage entstanden jene wundersamen Kunstgebilde der weiblichen Hand, Gobelins, Teppiche und Decken, bei denen wir ebenso sehr die Kunstfertigkeit als die Ausdauer der Schöpferinnen bewundern müssen, so weit Kirchen, Klöster und Museen uns einzelne Exemplare davon bewahrt haben.

Mit der Einkehr des Sommers erstand auch die vergrabene Lust wieder und zog in hellem Jubel durch die geöffneten Säle oder hinaus auf Anger und Aue. Mit anschaulichem Behagen schildert der Dichter (Hartmann von Aue im „Tristan“) ein solches „Lagern im Freien, wenn des Maien Freund, der grüne Wase (Rasen), aus Blumen sein Sommerkleid angethan, daß das Herz sich an die lachende Bluth mit spielenden Augen machte und ihr entgegenlachte".

Auf einem im Germanischen Museum in Nürnberg aufbewahrten großen buntgewirkten Wandteppiche, dem vierzehnten Jahrhundert entstammend, finden wir in der Form eines Minnehofs das gesellige Treiben jener Zeit charakteristischer Weise bildlich wiedergegeben. Neben Jagd, Fischerei und Turnier belustigen sich die ritterlichen Damen und Herren theilweis in einer dem Geschmacke unserer Zeit nicht mehr recht zusagenden Weise. So sehen wir im Vordergrunde eine ritterliche Dame, der ein Herr zum Sitz, ein anderer zur Lehne dient, mit ausgestrecktem Fuße nach dem vorgestreckten Fuße eines ihr gegenüberstehenden stützelosen Herrn stoßen, während die danebenstehende gekrönte Frau Minne, an den Fingern zählend, den Tact dazu angiebt – ein Spiel, das auf die Absicht hinauszulaufen scheint, sich gegenseitig um den Schwerpunkt zu bringen. An einer andern Stelle des Bildes hat eine Dame zwei Ritter an die hölzernen Schranken gefesselt, welche das Reich der hochthronenden Minnekönigin umgeben. „Von Damen Hand lieg' ich in Band", meldet das dem Munde des einen Gefesselten entsteigende Spruchband. An den Gürteln befestigte Glocken und Schellen geben dabei den Ton der Ausgelassenheit an, welche die Periode der bereits sinkenden ritterlichen Zeit auch sonst kennzeichnet.

Ein anderes gewirktes Bild jener großartigen und reichhaltigen Sammlung belehrt uns darüber, wie es besonders die Pflege der Musik war, der sich Männer und Frauen im Mittelalter gleichmäßig hingaben. Wir sehen da auf blumigen Rain gelagert eine lustig musicirende Gesellschaft, der es auch nicht an einem aufmerkenden Publicum fehlt. Eine der Damen spielt auf der Harfe; eine andere streicht die Fiedel; eine dritte schlägt mit zwei Klöpfeln auf die in ihrem Schooße liegende Laute. Einer der Herren bläst die Flöte. Harfe, Fiedel, Flöte und die Rotte, eine Art Laute, zwischen Fiedel und Harfe in der Mitte stehend, waren die in der mittelalterlichen Gesellschaft eingeführten Instrumente, auf deren Handhabung – außer der Flöte – die gebildete Frau sich meist wohl verstand. Das Spiel der Saiten begleitete vielfach der Gesang, der sich damals noch nicht in Läufern und Trillern bewegte, sondern nur eine kurze Scala von Tönen bestrich ohne künstliche Verschlingung, einfach wie die Weisen unseres Volksliedes. Die Lieder der Minnesänger wurden gesungen, nicht gesprochen. Ihre Entstehung war von Haus aus eine musikalische. Die Erlernung war deshalb eine leichtere, die Verbreitung der Gesangkunst unter der Frauenwelt eine größere. Daß die Frauen damit oft auch etwas zu viel, und „mit dem Wohlsingen hoffährtig thaten", das unterläßt der sittenpredigende Pater Berthold von Regensburg nicht zu rügen.

Einen Theil der geselligen Unterhaltung bestritt die Erzählung alter Geschichten, Legenden, Mären, Sagen und Schwänke, die, Generationen hindurch sich mündlich vererbend, damit ein lang dauerndes Leben gewannen, bis der Griffel und später die Lettern des Druckes sie für immer fixirten. Wer einen Schatz solcher alten Mären, die von der Liebe Leid, Lust und Stärke, von edlen Jungfrauen und tapferen Recken, Drachen, Riesen, Feen und Zwergen handelten, im Schooße seines Gedächtnisses trug, der war wohlangesehen bei den lauschenden Frauen. Viele ließen sich deshalb von den wandernden Spielleuten, die das Erzählen solcher Geschichten als Gewerbe betrieben, darin unterrichten. Oft wurde daraus ein sich gegenseitig überbietender rednerischer Wettkampf, ähnlich wie bei unseren Anekdotenjägern, indem sich Zwei zur Prüfung ihres Wissens gegenseitig herausforderten. Wer dabei den größten Scharfsinn entwickelte, dem wanden dann wohl die dankbaren Hörerinnen einen frischen Kranz „von Blümlein roth und weiß, gebrochen mit ganzem Fleiß“.

Dieses Spiel wurde auch in bürgerlichen Kreisen als Abwechselung in den Tanzpausen an festlichen Tagen in den Zunftlauben oder draußen vor dem Thore unter den grünenden Linden geübt. Kecken Muthes trat da der junge Sänger in den geschlossenen Kreis und begann mit herausforderndem Gruße:

„Gott grüß mir alle die Frauen,
Die großen, wie die kleinen!
Grüßt' ich die eine, nicht die andre,
So sagten sie zum Sänger: 'Wandre!'

Ist kein Sänger in diesem Kreis,
Der mich fragt, was ich nicht weiß?
Derselbe soll sich nicht besinnen,
Will er mir das Kränzlein abgewinnen."

Bald findet sich wohl Einer, der ihm entgegentritt und den Wettkampf mit ihm aufnimmt:

„Sänger wohlan! und merk' mich eben.
Ich will Dir eine Frage aufgeben:
Was ist höher wohl als Gott?
Was ist größer als der Spott?
Und was ist grüner als der Klee?
Und was ist weißer als der Schnee?
Kannst Du das singen oder sagen.
Das Kränzlein sollst Du gewonnen haben."

Der muthige Sänger läßt sich nicht verblüffen. Nach kurzem Besinnen erwidert er in gewandter Gegenstrophe:

„Sänger, Du hast mir eine Frage aufgeben,
Die gefällt mir wohl und ist mir eben.
Die Kron' ist höher noch als Gott;
Die Schand' ist größer als der Spott;
Der Tag ist weißer als der Schnee,
Das Märzenlaub grüner als der Klee.
Sänger, die Frage konnt’ ich Dir sagen,
Das Kränzlein mußt Du verloren haben."

Nun wendet sich der siegende Sänger zu einem „zarten Jungfräulein“ und bittet sie um ihr Kränzlein:

„Ihr wollt mir’s geben und nicht versagen;
So will ich es um Euretwegen tragen."

Ehe sie’s aber vom Haupte löst, stellt er zuvor auch ihr noch eine Räthelfrage:

„Sagt mir, Jungfrau, zu dieser Frist,
Welches die mittelste Blume im Kränzlein ist?"

Kann sie die Frage beantworten, so soll sie das Kränzlein behalten und ferner tragen. Darauf erfolgt ein „großes Schweigen", denn der Blumen im Kranze sind gar viele, und wo ist bei ihm die Mitte? Da giebt der Sänger schalkhaft lächelnd die schmeichelhafte Lösung: „Ihr, liebes Jungfräulein, Ihr mögt die mittelste Blume im Kränzlein sein."

An die versteckte Schmeichelei hatte die Jungfrau nicht gedacht. Schamvoll erröthend, reicht sie dem galanten Sänger den Kranz.

Die Räthselreime und Sprüche bilden bei uns einen reichen nationalen Schatz, der in früher oder später Zeit in besonderen Räthselbüchern niedergelegt wurde. Unser obiges Beispiel entstammt einer neueren Sammlung von K. Simrock. Manches dieser neckischen Räthsel feiert noch heute im Salon wie am Schänktisch sein Daseinsrecht, und doch stand seine Wiege schon in den nun längst verwitterten Mauern einer ritterlichen Burg oder unter der eingesunkenen Linde des Dorfes.

Erst einer etwas späteren Zeit war es vorbehalten, ein gesellschaftliches Belustigungselement ausgiebig zu nutzen, das doch schon seit der Zeit der Kreuzzüge in unserm Vaterlande zuweilen auftaucht: die Narren. Schon die uralt religiöse Tradition pflegte den volksthümlichen Mummenschanz, und man thut gewiß Unrecht, die Figur des Narren für etwas von auswärts Importirtes zu halten. Neu ist nur für die spätere Zeit des Mittelalters das Auftreten des berufsmäßigen Narren, wie er seit dem fünfzehnten Jahrhundert an den Fürstenhöfen bereits unentbehrlich ist. In vornehmen Kreisen, wie unser Bild einen solchen aufzeigt, zog man wohl früh schon Personen, welche sich durch äußere und innere Eigenschaften zum witzigen Spaßmacher und Possenreißer eigneten, zu der Aufgabe heran, die Kosten einer belustigenden [32] Unterhaltung zu tragen. Unsere beiden Narren, welche der treffliche Düsseldorfer Gehrts so geistreich gezeichnet hat, nehmen offenbar in lustigem Wortgefecht den Zuhörern die Mühe ab, in Reimen, Räthselsprüchen und Vexirfragen die eigene geistige Schlagfertigkeit und Findigkeit zu erproben.

Ein beliebtes Unterhaltungsspiel für beide Geschlechter war das Schachspiel (Schachzabel). Ein Schachbret gehörte zum Inventar eines jeden wohlanständigen Hauses. Es hing oft an einer Kette befestigt an einem Pfeiler des Saales; die Figuren waren von großem Umfange, sodaß sie auch einmal, wie im „Parcival“ erzählt wird, als Schleudern gegen einen andringenden Feind gebraucht werden konnten. Anfangs waren sie von Holz. Später trieb man mit ihnen viel Luxus; nicht blos das Elfenbein, auch Silber und Gold lieferten das Material dazu, und aus den plumpen und einfachen Gestalten wurden künstlerische Compositionen, bei denen man den ursprünglichen Charakter der Figur oft kaum wieder herausfindet.

Aber auch das Würfel- und Knöchelspiel (Topel- und Bickelspiel) wurde von den Damen nicht verschmäht, zum Aergerniß der Dichter, die nicht begreifen können, „wie eines Würfels todtes Bein ein lebend Herz bethört, daß es mit jedem Sinn allein zu eigen ihm gehört“. Es war sogar, wie wir aus Conrad von Würzburg’s „Trojanerkrieg“ erfahren, ein beliebter Zeitvertreib für „junge Mägde“. Die Würfel hatten, nach Exemplaren aus dem Germanischen Museum zu urtheilen, oft recht wunderliche Formen, besonders diejenigen von hockenden Männern. Oft spielte die Tochter des Hauses mit dem einkehrenden Gaste zusammen, und da geschah es wohl, daß dieser, wie Rudlieb’s Neffe in dem Gedichte „Rudlieb“, Ring und Herz zugleich verspielte. Auch das Pfalzgraftöchterlein Agnes von Hohenstaufen und Heinrich von Braunschweig, Heinrichs des Löwen Sohn, saßen am Morgen nach der heimlich zur Nachtzeit erfolgten Trauung ruhig beim Schach, als der nichts ahnende Pfalzgraf eintrat und staunenden Auges entdeckte, was geschehen war. Die Spielkarten kamen frühestens im dreizehnten Jahrhundert in Gebrauch; auch ihrer bemächtigten sich die Frauen und hielten gleich unseren modernen Spielkränzchen ihre „Karthöfe“ ab.

Das Vorlesen von Erzählungen und Gedichten aus den oft mühsam erborgten Handschriften wurde zu einem beliebten Unterhaltungsmittel für kleinere und größere Gesellschaften, und dieses Amt fiel vornehmlich den Frauen zu, weil ihnen die alleinige oder doch größere Schriftkunde zur Seite stand.

Eine ritterliche Frau finden wir selten ohne ihren Lieblingshund, meist ein schmeidiges Windspiel, das in der Kemenate bei der Arbeit zu ihren Füßen lag oder ihr leichtfüßig in Hof und Feld folgte. Auf den Teppichbildern und Holzschnitten bildet er die ständige Zubehör der Frau; sie hat ihn oft mit eigenem Mühen abgerichtet. Auch schnarrende Papageien und sprechende Staare befinden sich in ihrer Umgebung, und vor Allem der edle Falke, das Lieblingsthier der vornehmen Frauenwelt. Die Edelfrau hüllte ihren Leibfalken in seidene, golddurchwirkte Decken und wob ihm bunte Kappen. Sie trug den an den Füßen mit seidener Schnur Gefesselten auf der Faust herum nicht blos zur Jagd, sondern auch beim bloßen Spazierritte, bei Besuchen und selbst in der Kirche. An der Falkenjagd nahm sie den regsten Antheil, und manche edle Frau büßte wie Maria von Burgund ihr Leben dabei ein durch einen Sturz vom Pferde. Bei den großen Jagden auf das wilde Gethier war die Frau nur als Zuschauerin und Wirthin thätig. Dabei bestand das eigentümliche, auch im „Tristan“ erwähnte Recht, daß, „wer einen weißen Hirsch erlegte, von den anwesenden Jungfrauen eine küssen konnte, welche er nur wollte.“

Auch das Ballspiel bildete einen Zweig der geselligen Unterhaltung. Man übte es im Freien oder in bedeckten Hallen. Zwei Parteien, die werfende und die fangende, standen sich gegenüber, gewöhnlich, wie überlieferte Holzschnitte zeigen, die Männer auf der einen, die Frauen auf der andern Seite, so beim Palmenspiele, bei welchem man länglich-runde Bälle mit drei Handhaben benutzte. Das Ballspiel wurde sehr oft in den Tanz eingeschlossen. Dies führte dazu daß ein solcher Tanzabend den Namen „Ball“ erhielt, eine Bezeichnung, die auch noch verblieb, als man in den Tanzpausen nicht mehr das Ballspielen trieb.

Der vom schönen Geschlechte mit nicht geringerer Leidenschaft wie heutzutage gepflogene Tanz hatte doch zu jener Zeit mehr ein innerliches, als ein äußeres Gepräge. Der in den höfischen und vornehmen Kreisen gebräuchliche Tanz beschränkte sich auf ein paarweises Herumgehen in schreitender oder schleifender Bewegung (die sogenannte Carole), wobei der Tänzer die Tänzerin züchtiglich an der Hand führte. Voran schritt die Musik: ein Zusammenklang von Zinken, Trommetten, Posaunen, Schwegel- und Querpfeifen. Bei feierlichen Gelegenheiten gingen Fackelträger vorauf. Schon auf dem Turnier zu Trier 1019 tanzten die Grafen Endres von Neuenburg und Gerlach von Hohen-Cassel dem Herzoge Magnus von Sachsen und der Kaiserin mit Windlichtern vor, was andere Grafen am andern Tage wiederholten. Wir wissen, daß ein Ueberbleibsel dieses Fackeltanzes sich noch bis in die Gegenwart hinein erhalten hat. Zur Musik gesellte sich gleichzeitig der Gesang. Das den Reigen anführende Paar – Vortänzer und Vortänzerin – stimmte ein Tanzlied an, und die übrigen Tänzer wiederholten den Refrain oder auch wohl die Verse selbst.

„Die Ritter tanzten und sprungen
Mit den Frauen und sungen
Zum Tanz manch hübsches Lied“

heißt es in einem alten Gedichte. Selbst Fürsten und edle Herren, so Herzog Friedrich der Streitbare von Oesterreich, verschmähten nicht das Vorsängeramt, und berühmte Minnesänger dichteten Tanzweisen. So singt Walther von der Vogelweide in einer solchen:

   „,Nehmt, Herrin, diesen Kranz!’
Sprach ich jüngst zu einem Mägdlein wunderhold,
   ,So zieret Ihr den Tanz
Mit den schönen Blumen, die Ihr tragen sollt;
   Hätt’ ich viel Gold und Edelsteine,
   Sie müßten Euch gehören,
   Kann ich redlich schwören,
   Vertraut mir, daß ich’s ernstlich meine!’

   Sie nahm, was ich ihr bot,
Einem Kinde gleich, dem Freundliches geschieht;
   Ihre Wänglein wurden roth
Wie die Rose, da man sie bei Lilien sieht.
   Ihr Auge schämte sich, das lichte:
   Ein holdes Gegengrüßen
   Ward mir von der Süßen
   Und bald noch was ich nicht berichte.“

So wurde der Tanz zur verkörperten Minnepoesie. Zu einiger Abwechselung bildeten die Tanzenden wohl auch einen Kreis und gingen singend und den Gesang mit Gesten begleitend in der Runde, aus welchem Rundgange die von unseren Großvätern und Großmüttern her noch wohlgekannte „lange Reihe“ entstand, indem man Hand in Hand dem Vortänzer folgte, der sich in mancherlei Wendungen und Bewegungen erging. Besonders zeichnete sich, wie Wolfram von Eschenbach uns lehrt, Thüringen, das auch noch jetzt viel durchtanzte, durch Erfindung neuer Tanzweisen aus. Neben dem gemessenen Schleiftanz entwickelte sich schon bald der Sprungtanz, der im Gegensatze zu jenem den Namen Reihentanz führte. Bei den Rittern und Edelfrauen konnte derselbe schon darum nicht zur rechten Entfaltung kommen, weil die langen Schnabelschuhe beider Geschlechter und die langen Schleppen der Frauenkleider in dieser Richtung ein beschränkendes Nichtweiter auferlegten. Die eigentlichen Pflanzstätten für den Reihentanz waren die Tanzpläne der Handwerker und Dörfler. Doch gebehrdete sich der wilde losgelassene Naturtrieb des Volkes oft sehr unbändig, sodaß Kirche und Rathhaus öfter ihr Veto einlegten. „Sie sprang,“ heißt es in einem alten Liede von einer tanzenden Dorfschönen, „mehr denn eine Klafter lang und noch höher.“

Noch im Laufe des vierzehnten Jahrhunderts ging der Schleif- und Reihentanz allmählich über in den Rund-. und Drehtanz. An die Stelle der sogenanntem deutschen Führung, des Geleitens Hand in Hand, trat unter wälschem Einflusse das dadurch bedingte engere Umfassen der Tanzenden, nicht ohne energischen, aber doch vergeblichen Widerstand der sittenstrengen Obrigkeit, die sich bis zu einer Strafe von fünf Pfund Heller gegen die freveln Pfleger der neuen Mode verstieg. So entstand unter harten Geburtswehen der deutsche Walzer und die ganze Reihe der vielfach aus dem Auslande importirten Rundtänze.

Während die edleren Geschlechter in den Sälen der Schlösser und Rathhäuser tanzten, benutzte das Volk zur Sommerszeit als

[33]

Ein Narrenkrieg im Burgsaale.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Karl Gehrts.

[34] Tanzsaal das Freie, die Plätze unter der Ortslinde, vor dem Thore, ja selbst, altheidnischen Brauch festhaltend, die Kirchhöfe und die Vorhallen der Kirchen.

In größeren Gesellschaften machten die Frauen vor dem Tanze stets neue Toilette. Aber auch ländliche Schöne umwanden, nach einer Schilderung Neidhardt’s, des Dorfpoeten, ehe sie zum Reihtanz gingen, das Haar mit Seidenborten und hingen um den Hals an seidener Schnur einen Spiegel, ja verstiegen sich sogar zu einer Schleppe. Alles aber trug Kränze im Haar. Der Tanz hub meist gegen Abend an – einige Zeit nach der Hauptmahlzeit – und dauerte bis gegen die Zeit des gewöhnlichen Schlafgangs. Wenn auf ein Zeichen des Herrn oder der Herrin des Hauses „Geigen, Flöten und Posaunen schwiegen“, so blieb man auf eine Kurzweil beisammen, wie eine anmuthige Schilderung in Wolfram’s „Parcival“ lehrt:

„Die Jungfrau’n im blühenden Farbenglanz
Lassen sich nieder dort und hie,
Und die Ritter setzen sich zwischen sie.
Es ließen die Zungen sich nicht binden,
Um liebe Gegenrede zu finden.“

Diese dem Minnewerben günstigste Zeit dauert indeß nur so lange, bis der Nachttrunk verabreicht wird. Der Nachttrunk war das Signal zum Aufbruch, wie es an jener Stelle weiter heißt; nach ihm verließen Alle den Saal nach vielfachem Hin- und Wiedergrüßen, wie auch die Trennung, bemerkt der Dichter schalkhaft mit Bezug auf manch jugendlich Paar, sie mochte verdrießen. Mit einem bis zur Zeit, da sich Nacht und Tag vermählen, andauernden Cotillon war es also damals noch nichts. Es mußte zuvor der ganze wilde Strom fränkischer Cultur und Sitte die gesunde Entwickelung unseres nationalen Lebens durchbrechen.




Abnorme Kinder.
Von J. Moldenhawer, Director des königl. Blindeninstituts zu Kopenhagen.

„Wer ist unglücklicher, der Blinde oder der Taubstumme?“ – das ist eine Frage, die man oft hört. Gewiß ist Taubheit sowohl als Blindheit ein Unglück, da der Mensch durch dieselben eines der wichtigsten Sinne, des Gehörs oder des Gesichts, beraubt wird, es geht aber hiermit, wie mit so vielen Prüfungen – weder die eine noch die andere ist ein unbedingtes Unglück, da derjenige, der davon betroffen wird, trotzdem ein zufriedener und glücklicher Mensch werden kann, der ein in jeder Beziehung menschenwürdiges Leben führt. Gewöhnlich halten die Taubstummen sich für glücklich im Vergleich mit den Blinden, und umgekehrt; es mag dies daher kommen, daß sie selbst keine klare Vorstellung von dem eigenen, wie von dem andern Gebrechen haben. Wohl ist aber hierbei zu beachten, daß diejenigen, welche sich auf diese Weise aussprechen, immer solche sind, die Unterricht genossen und demzufolge sich mit den übrigen vier Sinnen zu behelfen gelernt haben. Blindheit und Taubheit sind nur dann ein wirkliches, ein großes Unglück, wenn sie in Verbindung mit solchen Verhältnissen auftreten, daß dadurch die bestimmungsgemäße Entwickelung des Menschen und die rechte Anwendung seines Daseins gehindert werden. Tief zu beklagen sind daher die Blinden und Tauben, denen Unterricht und Erziehung versagt bleiben, sie gehören zu den unglücklichsten unter unsern Mitmenschen.

Diejenigen Punkte, in denen das Mißverhältnis zu Vollsinnigen am stärksten hervortritt, sind: bei blinden Kindern der Mangel an Mitteln zu nützlicher Beschäftigung und eine daraus hervorgehende Erschlaffung der körperlichen und geistigen Kräfte, im Verein mit mangelhafter Entwickelung, langer Weile und Passivität – bei tauben Kinder: die Schwierigkeit der Verständigung mit Hörenden in allen den Verhältnissen, die außerhalb des rein Persönlichen oder des Materiellen liegen, und eine daraus folgende Armuth an Vorstellungen, namentlich höherer Art, und ein Gefühl des Alleinstehens. Sobald nun das Kind dasjenige Alter erreicht hat, in welchem die genannten Entbehrungen sich geltend machen, wo also das blinde Kind das Bedürfniß dauernder Beschäftigung, das taube Kind das Bedürfnis eines vollkommneren Mittheilungsmittels, als der bisher benutzten natürlichen Zeichensprache fühlt, ist auch der Zeitpunkt gekommen, an welchem regelmäßiger Unterricht beginnen muß. Ich werde im Folgenden das Verfahren beim Unterrichte blinder und taubstummer Kinder je für sich betrachten, indem ich die in meiner Heimath, Kopenhagen, bestehende Ordnung zunächst in’s Auge fasse.

Der Blinde.

Wenn man bedenkt, wie groß die Bedeutung des Gesichtssinnes bei Kenntnisnahme der Dinge und Verhältnisse in der Welt ist, so begreift sich das Ungenügende einer durch bloße mündliche Erklärung übermittelten Vorstellung von den Dingen. Es muß nothwendiger Weise noch eine andere, ähnlich wie das Gesicht wirkende Sinnesthätigkeit helfend eintreten, und der einzige Sinn, welcher diese Bedingungen erfüllt, ist der Gefühls- oder Tastsinn. Namentlich spielt das feine Gefühl in den Fingerspitzen eine so bedeutungsvolle Rolle beim Blindenunterrichte, daß erst die Anwendung desselben zum Lesen erhabenen Drucke und erhabener Schrift, zur Orientirung auf Reliefkarten und Reliefgloben und zur Untersuchung von Formen und Raumverhältnissen die Blindenschule in den Stand gesetzt hat, neben der Schule für vollsinnige Kinder einen würdigen Platz einzunehmen.

In den täglichen Verhältnissen spielt für den Blinden das Gehör die Hauptrolle, da es ihm in solchen Fällen hilft, wo er mit den Gegenständen nicht in unmittelbare Berührung kommen kann, und ihn oft davon benachrichtigt, wenn sich Etwas ihm nähert, oder er in die Nähe eine Gegenstandes kommt. Eine merkwürdige Anwendung des Gehörs habe ich in einigen Fällen angetroffen. So befindet sich im hiesigen Institute ein vollkommen blinder Knabe, der dann und wann leise in die Hände klatscht oder mit der Zunge schnalzt. Aus meine Frage hin, warum er dieses thue, erwiderte er: „Die Dinge antworten mir dann.“ Auf diese Weise antwortet nicht nur das Haus, sondern auch die offene Thür des Hauses, sodaß er seinen Schritt dahin richten kann; es antworten die Kühe auf dem Felde, sodaß er sich von der einen zur andern finden kann; ja, das Wasser im Lehmgraben antwortet, wenn er sich demselben nähert, und die Bäume im Walde, sowie die Steinhaufen an der Landstraße antworten, wenn er vorüber geht oder fährt, sodaß er sie zählen kann. Es ist das schwache Echo, welches die Gegenstände zurückwerfen und das sein feines Ohr auffaßt, während Andere es nicht bemerken. Ein früherer, sehr musikalischer Zögling konnte bei jedem Laute, den er hörte, den Ton und die Octave desselben angeben, wenn er z. B. einen Hund bellen, einen Hahn krähen, ein Glas oder einen metallenen Gegenstand klingen hörte.

Wenn das blinde Kind in’s Blindeninstitut kommt, schließt es sich seinen Cameraden bald an, und diesen macht es Freude, dem Neulinge in den ihm ungewohnten Umgebungen zurecht zu helfen. Es dauert darum gewöhnlich auch nicht lange, so fühlt es sich heimisch und findet sich leicht in Haus und Garten zurecht. Weiter wird der Zögling von Anfang an so weit als möglich daran gewöhnt, mit allen zum täglichen Leben gehörenden Dingen sich selbst zu helfen, sich also aus- und anzukleiden, sein Bett zu machen und seine Speise zu zerschneiden.

In den Erholungsstunden, hauptsächlich nach dem Frühstücke und dem Mittagessen, rühren sich die Zöglinge im Freien, wenn das Wetter es erlaubt; sie spazieren dann zu zweien oder dreien im Garten herum, gehen auf Stelzen und spielen verschiedene Spiele.

Während der fünf Jahre, welche die Zöglinge dazu brauchen, um die Schule zu absolviren, sind sie Vormittags täglich vier bis fünf Stunden in den Schulclassen; die übrige Arbeitzeit, ebenfalls vier bis fünf Stunden täglich, wird zu Gesang, Turnen, Musik und Handarbeit benutzt. Nach den Schuljahren brauchen die Knaben gewöhnlich zwei Jahre, die Mädchen ein Jahr, um sich praktisch weiter auszubilden.

Die Wahl eines Handwerks geschieht nicht gleich nach der Aufnahme; zuerst lernen die Knaben das Schilfflechten, und wenn sie es so weit gebracht haben, daß sie eine Matte verfertigen können, ist es ihnen erlaubt, ein Handwerk zu wählen Bei der Wahl desselben ist die Neigung des Knaben entscheidend, wenn [35] nicht seine Befähigung oder die Verhältnisse in der Heimath dagegen sind. So sitzt mancher Knabe schon im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren als eifriger Korbmacher oder Schuster da, oder schreitet, mit Hanf umgürtet, rücklings die Seilbahn entlang, während er den langen Faden spinnt.

Diese frühzeitige Beschäftigung mit derjenigen Arbeit, die ihm späterhin seinen Lebensunterhalt verschaffen soll, setzt ihn nicht nur in den Stand, größere Uebung zu erhalten, als sonst möglich wäre, sondern weckt auch in ihm eine gewisse Liebe zum Handwerk und jenen Ernst, der für den Zweck der Blindenanstalt, die Blinden zu selbstständigen, selbstthätigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, von großer Bedeutung ist. Wie wäre es auch ohne eine solche frühzeitige Einführung möglich, daß Blinde im Alter von siebenzehn bis neunzehn Jahren, nach Beendigung ihrer Ausbildung in der Blindenanstalt, ihr Handwerk ganz selbstständig betreiben und nach Verlauf einiger Jahre es so weit bringen, daß sie sich selbst und bisweilen sogar eine Mutter oder Schwester, oder Frau und Kinder ernähren können.

Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß der Blinde die Anstalt nicht eher verläßt, als bis er sein Handwerk so vollständig erlernt hat, daß er es ganz auf eigene Hand betreiben kann. Die Erfahrung lehrt, daß es nicht rathsam ist, einen Blinden bei einem Meister in die Lehre zu geben. Selbst nachdem er sein Handwerk in der Anstalt erlernt hat, ist es ein schlechter Ausweg, ihn bei einem sehenden Meister arbeiten zu lassen, weil er hierdurch gehindert wird, vorwärts zu streben; während ein solches Verhältniß für den Sehenden eine natürliche Vorbereitung zur Selbstständigkeit ist, wird es für den Blinden dasselbe, wie wenn man dem Vogel die Flügel stutzt. Darin liegt überhaupt die größte Schwierigkeit in der Blindenerziehung und der ganzen Blindenfürsorge, daß der Blinde in die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens nicht recht hineinpaßt und doch wo möglich draußen im Leben einen Platz finden soll. Es fällt den meisten Menschen schwer, ausfindig zu machen, auf welche Weise sie den Blinden am besten stützen können, und es geschieht leicht, daß sie entweder zu viel oder zu wenig für ihn thun. Da liegt denn für den Blinden die Versuchung nahe, entweder zu empfangen ohne Hinreichendes dafür zu leisten, oder den Muth zu verlieren und den Kampf aufzugeben, weil ihm die nothwendige Stütze fehlt. Die beiden Gefühle, die dem Blinden gegenüber am leichtesten erweckt werden: Mitleid wegen des so augenfälligen Mangels und Zweifel an seiner Brauchbarkeit, sind zugleich diejenigen, welche ihm am meisten schaden. Mancher giebt dem Blinden gern ein reichliches Almosen, und manche Dorfbehörde findet es ganz in der Ordnung, wenn der junge Blinde zum Armenhause seine Zuflucht nimmt; werden aber, um die Selbstthätigkeit des Blinden zu fördern, an die Barmherzigkeit Ansprüche gemacht, dann ist es ein dorniger Pfad, den der Blinde betreten muß, dann kommt es darauf an, daß er einen festen Halt in sich habe, und daß das Ehrgefühl stark genug sei, um ihn im Kampfe aushalten zu lassen. Hier sind wir an den Hauptpunkt in der Blindenerziehung gekommen, an dasjenige, ohne welches die ganze Arbeit umsonst ist: – gelingt es nicht, eine starke Willenskraft und ein lebhaftes Ehrgefühl in dem jungen Blinden zu wecken, sodaß er es für eine Schande ansieht, auf Kosten Anderer zu leben, dann wird er eine Beute der zwischen dem Mitleide und der Geringschätzung geschlossenen Alliance.

Unter den Mitteln, welche die Blindenanstalt benutzt, um ihren Zögling dahin zu führen, sich in der Welt zu bewegen, muß man neben dem bildenden Einflusse der Schule und der praktischen Ausbildung in erster Reihe die Gymnastik nennen. Das blinde Kind, welches in der Heimath oft verwahrlost worden ist und das Beispiel Anderer nicht beachten kann, bedarf in höherem Grade, als das sehende Kind, die Anleitung und Uebung in Körperbewegungen und Haltung. Bei uns haben daher sowohl Mädchen wie Knaben gymnastische. Uebungen, die kleineren Knaben während der Wintermonate sogar täglich eine Stunde. Im Sommer wird ein Theil der Turnstunden für Knaben zum Schwimmunterricht verwendet. Auch Tanz gehört bei uns zum Turnunterrichte, und sämmtliche Zöglinge haben darin, in drei Abtheilungen (zwei für Knaben, eine für Mädchen) getheilt, je eine Stunde wöchentlich. Bei festlichen Gelegenheiten wird lustig getanzt, und dem, der es zum ersten Male sieht, ist es auffallend, zu beobachten, wie der ganze Saal von tanzenden Paaren wimmeln kann, ohne daß sie gegen einander stoßen; der Flug der Fledermäuse fällt einem dabei ein.

Wie oft hört man die Ansicht aussprechen, alle Blinden seien musikalisch! Das ist vollkommen irrig, da es viele Blinde giebt, die ganz ohne Sinn für Musik sind. Der Irrthum rührt aber davon her, daß es eine relativ große Anzahl von Blinden giebt, die nicht nur Freude daran haben, Musik zu hören, sondern auch Lust haben, selbst singen und spielen zu lernen, und denen es leicht fällt, sich Melodien und Harmonien anzueignen. Wenn der Blinde Musik treibt, giebt er sich ihr gewöhnlich mit ganzer Seele hin, und dieser Umstand kann, richtig benutzt, zur Erreichung guter Resultate wesentlich beitragen; andererseits aber liegt darin auch die Gefahr, daß der Blinde die Musik als Spielerei ohne rechten Ernst betreibt und daß er ohne hinreichendes Talent sie zu seinem Hauptzwecke macht. Ein vorzügliches Mittel, um den blinden Musikschüler selbstständig arbeiten zu lassen, ist die vom blinden Louis Braille in Frankreich erfundene Reliefpunktschrift, die nicht nur die Buchstaben, Interpunctionszeichen, Zahlen und mathematische Zeichen, sondern auch ein vollständiges Notensystem umfaßt.

Während diese Punktschrift vollkommen dazu ausreicht, eine für den Blinden leserliche Schrift darzustellen – zu schriftlichen Aufsätzen, Notizen, Correspondenz mit anderen Blinden, Abschreiben von Lesestücken, Gedichten und Musikalien und zum Componiren – bedarf es zur Correspondenz mit Sehenden einer andern Schrift. Für diesen Zweck wird bei uns der hier erfundene Guldberg’sche Schreibapparat benutzt. Auf diesem kleinen und billigen Apparate kann der Blinde mittelst einer Bleifeder eine kalligraphische und deutliche lateinische Schrift hervorbringen. Der Schreibunterricht auf diesem Apparate ist von pädagogischem Interesse, weil der Schüler daraus dieselben Buchstabenformen hervorbringt, die er bereits aus den Reliefbüchern kennt, und, um sie richtig zu bilden, sie sich vorher vergegenwärtigen muß – es ist also keine mechanische Arbeit, die er ausführt. Mittelst dieser Schrift kann der Blinde Rechnungen, Gesuche u. dergl. selbst schreiben; sie erleichtert in hohem Grade die Verbindung der Zöglinge mit der Heimath während ihres Aufenthaltes in der Anstalt, und nach dem Austritte aus derselben können sie, ohne Mittelspersonen zu gebrauchen, mit ihren früheren Lehrern und Lehrerinnen schriftlich verkehren. Ein solches eigenhändiges Schreiben tritt Einem ja auch auf eine weit persönlichere Weise entgegen, als ein von einer dritten Person geschriebener Brief. Der in Deutschland erfundene Hebold’sche Schreibapparat dient demselben Zwecke.

Es ist einleuchtend, daß es beim Handarbeits- und Handwerksunterrichte der Blinden einer wirklichen Anleitung bedarf, sodaß der Lehrling entweder nachfühlt, wie die Hand des Lehrers die Arbeit ausführt, oder seine Hand von ihm führen und leiten läßt; bisweilen aber bedarf es auch besonderer Hülfsmittel, damit der Blinde die Arbeit befriedigend ausführen kann. Wir sind dabei stets von dem Grundsatze ausgegangen, daß man dem Blinden nicht andere Hülfsmittel gewähren darf als solche, die er auch später benutzen kann. Darum verwerfen wir den Gebrauch von Modellen für den Korbmacher; er sowohl als der Seiler und Bürstenbinder benutzen ganz dieselben Geräthe wie sehende Handwerker; die Schuhmacher hingegen haben besondere Hülfsmittel, die hier construirt sind und mit denen jeder blinde Schuster beim Austritte aus der Anstalt versehen wird. Mittelst dieses Werkzeuges wird er in den Stand gesetzt, mit derselben Genauigkeit wie der sehende arbeiten zu können. Die Bürstenbinderei wird sowohl von Mädchen wie von Knaben gelernt und dient oft als Nebenarbeit für den blinden Musikschüler.

Unter den übrigen hier in der Anstalt betriebenen Arbeiten verdient angeführt zu werden, daß einige unter den Mädchen auf der Nähmaschine nähen und die feste Nadel selbst einzufädeln lernen. Für männliche Blinde ist das Clavierstimmen ein sehr zweckmäßiger Erwerb, welcher namentlich für blinde Organisten in Provinzialstädten einen guten Nebenverdienst abgiebt; mitunter wird es auch Haupterwerb des Blinden.

Nach beendigtem Tagewerke haben die Zöglinge von halb acht Uhr bis neun Uhr – vom Abendessen bis zur Abendandacht – frei. Nach der kurzen Abendandacht gehen die meisten Zöglinge zu Bette; nur den Aeltesten ist es erlaubt, bis zehn Uhr aufzubleiben, wenn sie sich still beschäftigen.

In den freien Abendstunden kann man, wenn man die Stuben [36] durchwandert, Einige beim Damen-, Schach-, Domino- oder Kartenspiel antreffen, während Andere mit Abschreiben einer Gedichtsammlung oder eines andern Buches oder mit Briefschreiben sich beschäftigen; Einige lesen, während Andere vorziehen, auf den Corridors oder im Garten zu spazieren und sich mit einander zu unterhalten, oder zu singen und zu spielen. Häufig wird ihnen auch vorgelesen, und die meisten älteren Zöglinge und viele unter den jüngeren ergreifen mit Eifer diese Gelegenheit, um für den fühlbaren Mangel an Reliefbüchern unterhaltenden Inhalts Ersatz zu finden. Wie hoch sie etwas Lectüre schätzen, geht auch aus dem Eifer hervor, mit dem sie sich durch Abschreiben eine kleine Büchersammlung zu verschaffen suchen, die sie aus dem Institute mitnehmen können; Alles, was sie auf diese Weise zuwege bringen, wird auf Kosten der Anstalt eingebunden.


Der Taubstumme.

Während ich in der Blindenwelt zu Hause bin, da ich in ihr lebe und wirke, komme ich zu den Taubstummen – das heißt im Allgemeinen Personen, die wegen Gehörmangels, nicht etwa zugleich durch organische Mängel der Sprechwerkzeuge, stumm sind – nur als Gast. Man wird es daher gewiß berechtigt finden, wenn ich mich bei Behandlung des Taubstummenunterrichts darauf beschränke, die verschiedenen Methoden, die zur Anwendung kommen, und das Verhältniß derselben zu den Fähigkeiten der Zöglinge und zu den Ansprüchen des Lebens darzustellen.

Bei der Aufnahme in’s Taubstummeninstitut ist das taubstumme Kind nur im Besitze eines sehr unvollkommenen Mittheilungsmittels, nämlich der natürlichen Zeichen- und Geberdensprache, mit der es sich in der Heimath hat behelfen müssen. Sie erinnert an diejenigen Zeichen, zu denen wir unwillkürlich greifen, wenn wir uns Jemandem in so großer Ferne mittheilen wollen, daß er uns nicht hören kann, oder wenn das Geräusch so stark ist, daß die menschliche Stimme nicht durchdringt, oder – wenn wir einem Tauben etwas mittheilen wollen und kein schriftliche Mittheilungsmittel bei der Hand haben.

Das taubgeborene Kind, welche in der ersten Zeit seines Lebens Wohlbehagen und Uebelbefinden auf dieselbe Weise wie andere Kinder geäußert hat, bildet sich späterhin eine eigene, aus Hand-, Arm- und Körperstellungen und -Bewegungen bestehende Vernunftsprache, durch welche es sich mit seiner Umgebung zu verständigen vermag. Sobald aber der kleine Taubstumme mit Fremden in Berührung kommt, fühlt er sich verlassen und allein. Schon im Spiele mit anderen Kindern hat er häufig das Unglück, nicht verstanden zu werden, und was muß er von den heiteren Kindern denken, die mit so großer Leichtigkeit einander verstehen, ohne solche Zeichen zu gebrauchen, wie er sie anwenden muß! Das Wort, nicht nur der Laut der Sprache, sondern die menschliche Sprache überhaupt ist Etwas, dessen Existenz er nicht ahnt. Wie ist es möglich, daß das taubstumme Kind sich in solchen Umgebungen zufrieden fühlen kann! Und es wird noch schlimmer, wenn es dasjenige Alter erreicht hat, in welchem andere Kinder anfangen, in die Schule zu gehen; es sieht sie lesen und schreiben, begreift aber nicht, wozu; es will gern dasselbe wie andere Kinder thun und lernen, ist aber davon ausgeschlossen und empfängt auf diese Weise ein lebhaftes und in hohem Grade drückendes Gefühl davon, daß es von anderen Kindern verschieden ist. Hierzu kommt noch das Bedürfnis, eine Menge Fragen beantwortet zu erhalten und die Sehnsucht nach steter Beschäftigung.

Bleibt der Taubstumme ohne Belehrung, so wird er stets auf der tiefsten Stufe geistiger Entwicklung verharren. Nicht so, wenn er noch jung in’s Institut aufgenommen wird. Hier eignet er sich zunächst sehr bald die übliche Geberdensprache an, eine symbolische Sprache, welche mit der Natursprache das gemein hat, daß sie aus Hand- und Körperstellungen besteht, aber darin von derselben verschieden ist, daß es dem Einzelnen nicht freisteht, die Zeichen willkürlich zu wählen, weil bereits die einzelnen Gegenstände, Eigenschaften, Handlungen und Begriffe durch bestimmte Stellungen und Bewegungen der Körpertheile, hauptsächlich der Hände, festgestellt sind. Es giebt Zeichen für Zeit- und Raumbestimmungen, für die Wortbiegungen, wie sie in Rede und Schrift vorkommen, etc..

Mancher Gegenstand wird durch eine Andeutung oder ein flüchtig skizzirtes Bild desselben bezeichnet, z. B. „Mann“ dadurch, daß die geballte rechte Hand gegen die Stirn gehalten wird, „Weib“, indem die hohle Hand auf die Brust gelegt wird. Als Beispiele von der Art und Weise, wie man die Eigenschaften der Dinge bezeichnet, wollen wir folgende Zeichen anführen: „schwarz“, eine Bewegung mit der Hand am Gesichte vorüber; „blind“, das Schließen der Augen, indem die rechte Hand das rechte Auge verschossen hält; „blau“, eine Bewegung mit der Hand aufwärts in einem Bogen (Andeutung des blauen Himmels); „ich“, bezeichnet man dadurch, daß man auf sich selbst deutet; „du“, indem man auf den Angeredeten deutet etc..

Diese Geberdensprache, welche – obgleich sie nicht zur Schriftsprache ausgebildet ist – zunächst an die Hieroglyphenschrift der alten Aegypter und an die symbolischen Zeichen der Chinesen erinnert, sagt dem Taubstummen sehr zu und bleibt neben und in Verbindung mit der künstlich erlernten Laut- und Schriftsprache ein vorzügliches Hülfsmittel im täglichen Verkehre.

Der schwerste Theil des Taubstummenunterrichts ist begreiflicher Weise die Aneignung der mündlichen Rede und der Schriftsprache. Wie kann der Taubgeborene, der von einer Lautsprache keine Vorstellung hat, seine Gedanken in Wörtern ausdrücken und dieselben aus Buchstaben zusammensetzen lernen? Das geschieht gewöhnlich auf folgende Weise:

Zuerst lernt das Kind zwischen Ausathmen und Hervorbringen der Stimme zu unterscheiden. Jenes bemerkt der Zögling, indem er die Kehrseite seiner Hand vor den Mund des Lehrers hält und das Ausathmen nachahmt, während er die andere Hand vor seinen eigenen Mund hält; das Hervorbringen der Stimme aber bemerkt er, indem er die Kehrseite seiner einen Hand gegen den Kehlkopf des Lehrers, und die Kehrseite seiner anderen Hand gegen seinen eigenen Kehlkopf hält und nun die Vibration nachzuahmen sucht, die er in der Kehle des Lehrers fühlt.

Die Unterscheidung verschiedener Laute wird dadurch erzielt, daß der Schüler die Mundstellungen des Lehrers nachahmt, indem er seine Hände bei den Mitlauten beständig vor seinen eigenen Mund und bei den Selbstlauten an die Kehle des Lehrers hält. Die Anwendung eines Spiegels, in welchem der Schüler seinen eigenen Mund und den des Lehrers gleichzeitig sehen kann, ist ein vorzügliche Hülfsmittel bei dem ersten Sprechunterrichte, sowie auch verschiedene Apparate benutzt werden, um die Sprachorgane des Schülers in die rechten Stellungen zu bringen. So lernt der Schüler allmählich alle Buchstaben kennen, entweder nur die geschriebenen und gedruckten und die Zeichen des Handalphabetes [1] (wie nach der Zeichenmethode – der französischen Methode) oder zugleich die Lautbuchstaben (wie nach der Lautmethode – der deutschen Methode), während gleichzeitig durch Anwendung der Buchstaben zur Bildung von Wörtern, deren Bedeutung man mittelst Bildern erklärt, der Vorstellungskreis erweitert wird.

Von Wörtern, welche Gegenstände und deren Eigenschaften und Zustände bezeichnen, geht der Lehrer zu Sätzen über, indem die Schüler dasjenige benennen lernen, was Personen, Thiere oder Dinge thun, oder in welchem Zustande sie sich befinden; Alles wird durch bildliche Darstellungen erläutert.

Wenn man bedenkt, auf welche Weise das hörende Kind sprechen lernt, wie die Sprache gewissermaßen sprießt und sich entfaltet, blüht und Früchte trägt, wie die Schwierigkeiten der Aussprache allmählich besiegt werden und der Wortvorrath sich bereichert, dann wird man wahrnehmen, daß die beiden wichtigsten Factoren dabei die Nachahmung und die Wiederholung sind. Und wie natürlich fällt die Nachahmung, wie leicht kommt die Wiederholung! Ja, und wie früh kommt nicht diese Aneignung! Und wie gut versteht die liebevolle Mutter instinctmäßig gerade dasjenige Verfahren zu wählen, das für jeden einzelnen Fall das beste ist, sich nach den Fähigkeiten des Kindes zu richten und bei Schwierigkeiten den Muth aufrecht zu erhalten! Und späterhin: wie strömt einem die Sprache überall entgegen, und wie oft hört man dieselben Ausdrücke, dieselben Beziehungen, dieselben Wendungen und Redensarten, sodaß sich diese wohl zuletzt im Gedächtnisse befestigen und dermaßen Wurzel schlagen müssen, daß sie zum geistigen Eigenthum werden! Aber der Taubstumme? Wie ist seine Stellung diesem reichen Vorrathe gegenüber? Für ihn ist es eine fremde Sprache, die er sich mühsam aneignen muß, ohne sich auf die Analogie stützen zu können, die [37] für denjenigen vorhanden ist, welcher eine Lautsprache, die seine Muttersprache ist, sprechen und lesen kann und nun, an diese sich haltend, eine andere Sprache lernt. Und wie spät beginnt diese Aneignung beim taubstummen Kinde im Vergleich mit dem hörenden! Und nun die Wiederholung, die das Gedächtniß entwickeln und stützen soll; wie schwer ist es nur einigermaßen die natürliche Wiederholung zu ersetzen, die das Leben dem glücklichen Hörenden darbietet!

Man darf sich darum auch nicht wundern, wenn die Sprache des Taubstummen armselig und mangelhaft ist, und seine Weise, sich auszudrücken, häufig eine unbeholfene und kindliche bleibt. Gleichzeitig mit dem Erlernen der Lautsprache lernt der Taubstumme vom Munde des Redenden abzulesen, das heißt an seinen Lippen zu sehen, was er spricht. Es ist offenbar, daß Uebung darin das beste Mittel ist, um im Gebrauche der Rede und überhaupt in sprachlicher Beziehung tüchtig zu werden. Wenn dieser Unterricht, wie es stets geschieht, durch Lesen von Büchern unterstützt wird, und wenn die Wahl der Lesestücke dem Wortvorrathe und der Entwickelungsstufe des Zöglings angepaßt wird, kann man sehr günstige, ja sogar erstaunenswerthe Resultate erreichen.

Hat der Taubstumme sich die Lautsprache angeeignet, dann tritt die Zeichensprache in den Hintergrund, sodaß sie nur als Nothhülfe benutzt wird, wenn die andern Mittheilungsmittel nicht ausreichen. Dahingegen benutzen die Taubstummen die mündliche Rede als eine Zeichensprache, indem sie oft unter einander mit den Lippen und den andern Mundtheilen ganz lautlos sprechen. Die Geberdensprache aber geben sie nie ganz auf, und es ist merkwürdig zu sehen, mit welcher Freude die Taubstummen sich dieser etwas schwebenden, aber poetischen Sprache hingeben, die recht eigentlich die Muttersprache des Taubstummen ist.

Ob man auch der größtmöglichen Anzahl der Taubstummen zur Lautsprache Zutritt giebt und sie das Ablesen vom Munde lehrt, so wird dich stets eine Anzahl solcher zurückbleiben, die sich diese unschätzbaren Vortheile nicht erwerben können, und die sich darum mit der Fingersprache und einer kärglichen schriftlichen Mittheilung begnügen müssen. Zu diesen gehören nicht nur die blödsinnigen Taubstummen, deren viele es natürlich nicht einmal so weit bringen, sondern auch viele schwachbegabte, taubgeborene Kinder, die, obwohl nicht besonders abnorm in geistiger Beziehung, doch derjenigen Fähigkeiten und derjenigen Arbeitskraft entbehren, die erforderlich sind, um ein so reichhaltige Material, wie es die Laut- und Schriftsprache darbietet, sich anzueignen. Diese Kinder müssen in einer besonderen Anstalt oder Abtheilung unterrichtet werden.

Die größte Bedeutung für den Taubstummen hat die Aneignung der Lautsprache selbstverständlich in seinem Verhältnisse zu Nichttaubstummen; die Auswege, zu denen er greifen muß, um den Mangel derselben hier zu ersetzen, sind sehr beschwerlich. Entweder muß man Frage und Antwort auf ein Stück Papier oder eine Tafel schreiben, oder man muß die Schriftzüge in die Luft, in die Hand oder auf den Rücken schreiben und den Angeredeten so durchbuchstabiren lassen.

Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß taubgeborene oder in frühester Jugend vollkommen taub gewordene Kinder am leichtesten und sichersten im Ablesen vom Munde sich Uebung erwerben, während umgekehrt eine früher durch's Gehör erreichte Uebung im Reden, selbst dann, wenn diese zum Theil verloren ist, doch in Bezug auf die Erwerbung der Lautsprache durch künstliche Mittel eine vorzügliche Hülfe ist, so wie auch ein geringer Rest von Gehör wesentlich zur richtigen Auffassung der Eigenthümlichkeiten der Lautsprache beitragen kann.

(Schluß folgt.)

Das neue deutsche Marinelazareth in Yokohama.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von H. Heubner.

[38]
Ein Wort über See-Aquarien.
Von Carl Vogt.


Mit äußerster Befriedigung habe ich die schönen Schilderungen aus der zoologischen Station von Neapel gelesen, welche die „Gartenlaube“ im Laufe des verwichenen Jahres (Nr. 41, 42) brachte. Der Verfasser, G. H. Schneider, hat sich ohne Zweifel ein großes Verdienst erworben, indem er Ihre Leser von Neuem auf dieses Institut aufmerksam machte, das Dr. Anton Dohrn mit schwerer Arbeit und bedeutenden Opfern in’s Leben gerufen hat. Seitdem die großartige Anstalt errichtet wurde, ist ein Fortschritt der zoologischen Wissenschaften ohne die Beihülfe derselben oder ähnlicher Arbeitsstätten nicht mehr denkbar. Wie einst das Liebig’sche Laboratorium den Anstoß zu einer neuen Periode der Chemie gab, so wird die Geschichte später die Dohrn’sche Station als den Ausgangspunkt einer neuen Entwickelungsepoche der Zoologie nennen, und es wird uns Deutschen immer hoch angerechnet werden müssen, daß wir, in der Hauptsache doch Binnenländer, zuerst den Gedanken der Errichtung von naturgeschichtlichen Laboratorien am Meeresstrande zur Reife und zur Ausführung brachten.

Wenn aber in der Dohrn’schen Station die Wissenschaft einen wahren Brunnquell gewonnen hat, zu welchem jährlich die Forscher wallfahrten, um neue Untersuchungen anzustellen; wenn im Wetteifer mit der Mutteranstalt zahlreiche Töchterinstitute sich gebildet haben, meist mit geringeren Mitteln ausgestattet und mit weniger Feuereifer geleitet und unterhalten: so dürfen wir neben der Unterstützung der rein wissenschaftlichen Seite nicht vergessen, daß die Dohrn’sche Station eben durch die Großartigkeit ihrer Mittel und den unerschöpflichen Reichthum des benachbarten Meeres auch das allgemeine Interesse weckt und fördert, welches jeder Gebildete an den Wundern der Salzfluth nimmt. Mit sicherer Hand hat G. H. Schneider die Leser der „Gartenlaube“ in das Leben und Treiben der die Bassins bewohnenden Thiere eingeführt und durch diese Weckung des allgemeinen Interesses auch die Zwecke der Wissenschaft selbst gefördert. Denn die Signatur unserer Zeit liegt ja gerade in dem demokratischen Zuge, in der allgemeinen Theilnahme der großen Menge an den Forschungen und Ergebnissen der Wissenschaft. Man weiß, daß unser ganzes Leben, unsere gesammten Anschauungen in den Naturwissenschaften ihre Grundlage haben; man weiß, daß jede Forschung, sei sie scheinbar noch so theoretisch und abstract, dennoch ihren Lohn auch für die große Masse mit sich bringt und daß diese wieder, durch die Theilnahme, welche sie bezeigt, durch die Anfeuerung, welche durch ihren Beifall erzeugt wird, helfend und fördernd auf die Forscher selbst zurückwirkt. Wer die Schneider’schen Schilderungen gelesen hat, wird mit ganz anderen Augen, als vorher, die in Museen und Sammlungen aufgespeicherten Schätze betrachten und bei Reisen an das Meer selbst die durch Lectüre erworbenen Kenntnisse zu erweitern und mittelst Selbstbeobachtung zu ergänzen trachten.

Der Reiz der Neuheit, die Sonderbarkeit der Formen und Gestalten, die unvergleichliche Pracht und der Schmelz der Farben, welche die Thiere des Meeres zuweilen kennzeichnen, sind ohne Zweifel auch Ursache gewesen, weshalb die See-Aquarien, die jetzt in vielen Städten in Verbindung mit zoologischen Gärten oder unabhängig von denselben eingerichtet worden sind, sich schnell in der Gunst des Publicums festgesetzt haben. Man betrachtet, staunt, freut sich und lernt, ohne sich Rechenschaft zu geben, wie; man glaubt schon tiefer in die Geheimnisse der Natur eingedrungen zu sein, wenn man hinter den Spiegelscheiben das Leben und Treiben belauscht, welches unter dem Wasserspiegel auf dem Boden des Meeres sonst ungesehen sich abspielt. Aber die Auswahl der Thiere, welche in solchen binnenländischen Aquarien gehalten werden können, ist nothwendiger Weise schon weit beschränkter, als diejenige für die Aquarien am Seestrande. Es hat vieler und kostspieliger Versuche bedurft, ehe man zu richtigen Methoden des Transportes, der Erhaltung und Ernährung, der Erneuerung des Wassers und der Luft gelangte, durch welche man dennoch nur einen Theil der Seethiere in solchen Aquarien bewahren konnte. Eine Menge der reizendsten Organismen sind, bis jetzt wenigstens, geradezu transportunfähig zu nennen. Das Aquarium von Neapel kann sozusagen täglich einige seiner Bassins mit Quallen, Medusen, Schwimmpolypen und anderen glasartig durchsichtigen, mit den feinsten Farben geschmückten Organismen füllen, ohne von deren Zerstörung nach kurzer Lebensfrist etwas Anderes befürchten zu müssen, als die Verunreinigung des leicht zu ersetzenden Seewassers – bis jetzt ist jeder Versuch verunglückt, diese zarten Wesen auf größere Strecken hin zu transportiren. Für andere haben sich durchaus noch keine Methoden der Ernährung finden lassen; die Strömungen, welche ihnen mikroskopische Nahrung auf dem Boden des Meeres zuführen, fehlen in den Aquarien – die Thiere gehen nach längerer oder kürzerer Zeit durch Verhungern zu Grunde. Ein an dem Meere gelegenes Aquarium kann die meisten derselben, wenn sie nicht allzu selten sind, ersetzen; das Binnen-Aquarium kann die Kosten, welche Ankauf und Transport solcher Hungerthiere verschlingen, nicht leicht tragen und sieht sich genöthigt, von ihrer Haltung abzusehen. Wieder andere bedürfen einer großen Wassermasse, lebhafter Bewegung derselben, beständiger Erneuerung der Luft; es gelingt schon leichter, diese Bedingungen im Binnenlande herzustellen, wenn man diese Geschöpfe einmal an Ort und Stelle hat, aber der Transport, besonders ein längerer, tödtet die meisten und zwar gerade die für das Publicum anziehendsten Thiere, und macht dadurch auch diese Classe von Wesen zu einem theuren Artikel.

Indessen hat man eben in diesem Punkte ungemeine Fortschritte gemacht. Wenn einmal die Stoffe bekannt sind, von welchen die Thiere sich nähren (und die meisten sind gerade nicht wählerisch in dieser Beziehung), so liefert uns die Erkenntniß, daß es die im Seewasser aufgelöste Luft ist, auf deren Kosten die Thiere athmen, auch die Mittel an die Hand, um solche Luft ihnen zuzuführen. Ob dies in der Weise geschehe, daß das Wasser, in feine Tropfen als Regen oder Nebel zertheilt, durch die Luft getrieben wird und sich dadurch mit Sauerstoff sättigt, oder ob es in der Art bewerkstelligt werde, daß fein vertheilte Luft in das Wasser eingeblasen wird, durch welches sie hindurch perlt, ist im Grunde vollkommen gleichgültig, wenn nur der Zweck der vollständigen Sättigung des Wassers mit Luft erreicht wird. Die Erfahrung hat gezeigt, daß dasselbe Meerwasser ohne Erneuerung Jahre lang die Thiere beherbergen kann, wenn es nur beständig mit Luft gesättigt erhalten wird. Sind die Apparate so hergestellt, daß das Wasser beständig lufthaltig und klar bleibt, so sind auch die für das Leben der Thiere nothwendigen Bedingungen hergestellt, sobald für ausreichende Fütterung gesorgt ist.

Nothwendiger Weise wird sich aber die Auswahl der Thiere und auch die Anwendung der verschiedenen Lüftungsmethoden des Seewassers um so mehr beschränken, je beschränkter die Räumlichkeiten und die Hülfsmittel sind, über welche man gebietet. Wo große Bassins zu speisen, bedeutende Wassermassen zu heben oder große Luftmengen einzublasen sind, da wird man andere Bewegungskräfte anwenden müssen, als da, wo es nur gilt, ein Behältniß von wenigen Litern zu speisen. So streckt sich denn jede Anstalt nach ihrer Decke, wie dies ja auch in anderen Lebensverhältnissen geschehen muß.

Jedem Naturforscher, der den Meeresstrand besucht und dort Studien gemacht hatte, mußte notwendiger Weise der Wunsch erwachsen, dieselben zu Hause fortsetzen zu können – ich bin überzeugt, daß fast Jeder Versuche gemacht hat, lebende Thiere bei sich aufzuziehen und zu beobachten. Jedes Jahr bringt in den wissenschaftlichen Journalen die Anpreisung einer neuen Methode, und täglich wird man inne, daß die meisten derselben entweder nur höchst unzureichend sind oder speciell nur auf einzelne Wesen angewendet werden können. Bei den meisten fehlt auch – gestehen wir es nur geradezu ein! – die liebende Sorgfalt in der Behandlung der Thiere. Naturforscher sind nur selten zugleich gute Thierzüchter gewesen; ihre Forschung steckt ihnen meist andere Ziele, als diejenigen sind, welche der Besitzer einer Menagerie oder eines Hühnerhofes sich vorsetzt. Hier dürfte wohl mit der Zeit die Beihülfe der Gebildeten fördernd einwirken.

Ein ähnliche Verlangen wie dasjenige, welches den Naturforscher treibt, wird auch wohl bei Manchem von denen entstehen, welche ein binnenländisches Aquarium gesehen, oder Schilderungen wie die Schneider’schen gelesen, oder endlich die schönen nach [39] dem Leben gefertigten Zeichnungen betrachtet haben, womit Johanna Schmidt, die begabte Tochter des Straßburger Professors Oscar Schmidt, den Band aus Brehm’s „Thierleben“ geschmückt hat, dessen trefflichen Text wir ihrem Vater verdanken. Wie reizend, wenn man auch nur einige dieser seltsamen Typen, einige Meer-Anemonen, einige Fischchen und Seepferdchen, einige Krabben oder sonstiges Krustergekrabbel bei sich zu Hause beobachten und pflegen könnte! Die Süßwasser-Aquarien haben überall als Zimmerschmuck, als Belehrungsmittel Eingang gefunden, warum sollte Gleiches nicht mit See-Aquarien stattfinden können? Freilich bedarf es hier der Ueberwindung größerer Schwierigleiten; wenn auch genügende Apparate hergestellt werdend können zur Durchlüftung des Wassers, so ist es weit schwieriger, die Bewohner zu beschaffen. Die Bestrebungen der Einzelnen, die etwa aus Seebädern Thiere mitnehmen möchten, reichen hier nicht aus.

Ich habe mich in meinem Laboratorium in Genf schon öfter mit mancherlei Versuchen abgeplagt, ohne das mir Zusagende finden zu können. Um so mehr ist es mir eine Freude, hier sagen zu können, daß ich von einem kleinen Zimmer-Aquarium, welches ich nebst seinen Einwohnern, bestehend aus verschiedenen Arten von See-Anemonen, Krabben, Zahnkarpfen und Seepferdchen, von den Gebrüdern Sasse, Markgrafenstraße in Berlin, bezogen habe, vollständig befriedigt bin. Seit acht Monaten steht dieser kleine, etwa einen Fuß hohe, etwas längere Glaskasten in meinem Laboratorium, und die Thiere leben darin in vollkommener Frische, obgleich ich absichtlich manche ungünstige Verhältnisse gehäuft habe. Das Aquarium steht nämlich unmittelbar an einem Fenster, das von drei Uhr Nachmittags die Sonnenstrahlen direct erhält. Es war leicht ersichtlich, daß die Thiere dieses durch das Wasser hindurchfallende Sonnenlicht sehr unangenehm empfanden; die Anemonen zogen sich zusammen und entfalteten sich nur in trüben Tagen oder nach Sonnenuntergang; Fische und Krabben versteckten sich so viel wie möglich. Das Aquarium wurde also durch einen den Sonnenstrahlen undurchdringlichen Vorhang geschützt. Die Wärme ist ebenfalls kein zu verachtender Feind – aber nichtsdestoweniger haben die Thiere die heißen Sommermonate ebenso glücklich überstanden, wie jetzt die kalten Wintermonate, während welcher freilich das Laboratorium wie ein gewöhnliches Zimmer geheizt wird.

Ohne Zweifel ist dieses günstige Resultat der ausreichenden Lüftung zu verdanken, welche in außerordentlich einfacher Weise hergestellt wird. Ich will den Apparat nicht beschreiben – er beruht auf dem einfachen physikalischen Grundsatze, daß strömendes Wasser Luft mit sich reißt. So fließt denn entweder aus einer Maschinenleitung, die ja jetzt fast in allen Städten vorhanden ist, oder aus einem in einiger Höhe aufgehängten Reservoir süßes Wasser durch eine dünne Glasröhre ab, welche oben in einen mit einer Oeffnung versehenen Knoten geschlungen ist. Die hier eintretende Luft wird von dem strömenden Wasser mit hinabgerissen und sammelt sich in einem Glase an, aus welchem eine Röhre mit höchst feinem Ausgang in das Aquarium führt. Dort perlt nun beständig die Luft hervor, welche von dem im Glase sich sammelnden und beständig durch einen Heber abfließenden Wasser comprimirt wird.

Die erste Aufstellung des Apparates ist nicht ganz leicht; es müssen dabei die Niveauverhältnisse wohl berücksichtigt und der Zufluß des süßen Wassers von oben, sowie der Abfluß desselben unten genau geregelt werden; ist dies aber einmal geschehen, so arbeitet den Apparat, wenn er von einer Wasserleitung gespeist wird, ununterbrochen Monate hindurch ohne weitere Mühe fort und die Luft perlt Tag und Nacht durch das Aquarium, dessen Seewasser klar und hell bleibt und keiner Erneuerung bedarf. Hat man keinen laufenden Wasserstrom zur Verfügung, so genügt ein kleines Reservoir oben und ein entsprechendes unten, deren Capacität so bemessen ist, daß das einmalige oder zweimalige Füllen im Laufe von 24 Stunden genügt, um beständig Luft durch das Aquarium zu treiben.

Für die Thiere, welche ich aufzählte, genügt als Nahrung fein geschnittenes Fleisch, Abfälle aus der Küche. Es ist ungemein unterhaltend zu sehen, wie die kleinen Zahnkarpfen die Fleischstückchen in dem Wasser wegschnappen, ehe sie zu Boden fallen, wie sie sich darum jagen und streiten, wie die Meer-Anemonen ihre Fühlerkreise öffnen, den weiten Mund hervorstülpen und dann durch Zusammenbiegen der Fühler den Bissen in den weiten Magensack hineinschieben, wie die listigen Krabben bald den Fischen ihre Beute entreißen, bald mit Scheeren und Füßen das Fleischstückchen aus den Fühlfäden der Meer-Anemonen herauszuangeln suchen, um es gegen die Brust zu drücken und seitwärts tänzelnd sich in eine Ecke zurückzuziehen, wo sie es mit Muße verzehren.

Es genügt, hier auf die Anstalt der Gebrüder Sasse aufmerksam gemacht zu haben, die mit Aquarien, Lüftungsapparaten und Thieren reich versehen ist und dem sinnigen Beobachter der Natur manche Freude verschaffen mag. Wenn gehörig angelegt und eingerichtet, bietet das Seewasseraquarium weit weniger Schwierigkeiten der Besorgung und Erhaltung, als die gewöhnlichen Süßwasseraquarien, deren Wasser sich viel leichter zersetzt und dann die Thiere tödtet. Nur vor Einem möchte ich die Liebhaber noch zum Schlusse warnen: man hüte sich vor allen Meerpflanzen wie vor Gift! Die ganz grünen, meist handartig ausgebreiteten Ulven, die etwa wie Salatblätter aussehen, können noch allenfalls zur Erhaltung des Wassers beitragen; alle andern Tange, mögen sie roth oder gelbgrün aussehen, sterben schnell ab, zersetzen sich und füllen das Aquarium mit fauligem Schleime, der auf die meisten Thiere geradezu giftig wirkt. Aber auch die Ulven haben das Unangenehme, daß sie zahlreiche mikroskopische Keimkörner und Schwärmsporen ausstreuen, die sich an den Wänden des Aquariums festsetzen, dieselben mit grünem und braunem Beschlage undurchsichtig machen und meist so fest haften, daß sie kaum mit steifen Bürsten und auch so nicht vollständig sich entfernen lassen. Ich habe eine solche Ulve zur Zeit in einem Aquarium gehabt, und obgleich dasselbe mehrfach ausgeputzt und selbst ausgetrocknet wurde, entwickeln sich noch immer die Vegetationen an den Wänden, sobald dasselbe neu besetzt wird. Freilich dienen die Sporen und Keimkörner manchen Thieren, wie namentlich gewissen Meerschnecken, zur Nahrung, aber diese bringen wieder die Unannehmlichkeit des vielen Schleimes, den sie absondern, und sind deshalb meist lästige Bewohner der Aquarien.

Der sinnige Beobachter wird in dem Besitze eines solchen Aquariums gewiß noch manche Momente finden können, die den Forschern bis jetzt entgangen sind und wichtige Fingerzeige geben mögen zur Erhaltung bis jetzt noch uncultivirbarer Thiere. Aber wenn auch dies nicht wäre, so wird seine Sorgfalt durch manche Freude belohnt werden, welche ihm die Beobachtung selbst bietet.




Blätter und Blüthen.


Das neue deutsche Marinelazareth in Yokohama (siehe Abbildung S. 37), der bedeutendsten Handelsstadt in Japan, auf der Ostseite der Insel Nippon an der Yeddo-Bai gelegen, ist die erste derartige Anlage, welche das deutsche Reich im Auslande errichtet hat.

Das jährlich wiederkehrende Auftreten ansteckender Krankheiten, wie des Typhus und der Pocken, in Japan machte bei dem zunehmenden Verkehr deutscher Schiffe mit diesem Lande eine geregelte Fürsorge für die Verpflegung und ärztliche Behandlung der dort erkrankenden Seeleute nothwendig. Der früher in’s Auge gefaßte Plan, jenen Gedanken in Gemeinschaft mit anderen dort verkehrenden Nationen zu verwirklichen, mußte aufgegeben werden, weil die hierbei vorzugsweise in Betracht kommenden Mächte Großbritannien, Frankreich und die Niederlande jede selbständig für das Bedürfniß ihrer Marine gesorgt hatten. So ist denn, nachdem durch den Reichshaushaltsetat für das Jahr 1875 die erforderlichen Mittel bewilligt waren, ein wesentlich deutsches Marinelazareth fertig gestellt und, so viel uns bekannt, auch bereits eröffnet worden.

Das Grundstück liegt malerisch in unmittelbarer Nähe der See, außerhalb der Stadt Yokohama, auf einem ziemlich steil ansteigenden Hügel, in einem Parke mit herrlicher Aussicht auf den Hafen. Dasselbe gewährt Unterbringungsraum für vierundvierzig Kranke, darunter vier Officiere oder Civilpersonen von entsprechendem gesellschaftlichem Range. Es besteht aus zwei massiv aufgeführten Baracken für je zweiundzwanzig Kranke, an den Seiten von offenen Veranden umgeben, welche durch einen ebenfalls offenen bedeckten Gang mit einander verbunden sind. Unsere Abbildung zeigt diese Baracken im Vordergrunde von der Giebelseite aus. Das laubenartige Häuschen zwischen diesen Gebäuden ist eine Brunnenbedachung. Rechts von den Baracken liegt das Closetgebäude für die Kranken und das Verwaltungspersonal, während links, durch die Bäume halb versteckt, das zweistöckige Verwaltungsgebäude, enthaltend die Wohnungen für den dirigirenden Arzt und den Inspector, sowie das Geschäftszimmer, hervorsieht. Das noch im Bau begriffene Holzgebäude am Fuße des Hügels, längs der Einfriedung, ist das Wohngebäude für das japanische Unterpersonal des Lazareths, nämlich für den Koch und die Krankenwärter. Unmittelbar rechts daneben (auf der Zeichnung nicht mehr sichtbar) zwischen diesem Gebäude und dem Häuschen für den Thorwächter [40] und Gärtner liegt das Eingangsthor, und weiterhin, ungefähr zehn Schritte entfernt, das Leichenhaus.

Die kaiserliche Admiralität, unter welche das Institut gestellt ist, hat sich mit anerkennenswerther Fürsorge bestrebt, das Lazareth nach jeder Richtung hin mit den betreffenden Heilanstalten des Inlandes auf gleiche Stufe zu setzen. Es haben daher auch bei der inneren Ausstattung der Krankensäle und bei den wirthschaftlichen und gesundheitlichen Einrichtungen die neuesten Erfahrungen in der Krankenpflege Berücksichtigung gefunden. Die Ausstattung ist nicht nur eine reiche, bis in die kleinsten Details bemessene, sondern auch eine gediegene und solide und mit besonderer Rücksicht auf die isolirte Lage des Instituts berechnete.

Mit der Leitung des Instituts ist ein erfahrener Marine-Oberarzt beauftragt worden. Zur Aufnahme sind in erster Reihe die Officiere und Mannschaften der deutschen Kriegs- und Handelsmarine ohne Unterschied berechtigt. Es können jedoch auch, wenn es der Raum gestattet, andere Deutsche und Angehörige fremder Nationen aufgenommen werden. So wird denn das deutsche Marinelazareth in Yokohama dazu beitragen, dem deutschen Namen auch nach dieser Richtung hin im Auslande Anerkennung zu verschaffen.




Die Postsparcassen. „Ich habe jetzt,“ erzählte mir ein sogenannter Weinreisender, „täglich zwanzig Mark Spesen. Bei sparsamer Lebensweise kann ich an jedem Tage sehr gut fünf Mark zurücklegen. Behalte ich nun das Geld bei mir, dann weiß ich nicht, ob ich es wieder nach Hause bringe. Denn als Weinreisender komme ich oft in lustige Gesellschaft oder an den Spieltisch, und dann können meine Ersparnisse sehr leicht an einem Abende hinschwinden. Aber ich richte mich jetzt anders ein. Jeden zweiten Tag gebe ich zehn Mark zur Post – postlagernd in L. unter meiner Adresse. Nach drei Wochen komme ich zurück und erhebe auf der Hauptpost meine hundert Mark, für die ich recht gern an Porto inclusive Bringerlohn zwei Mark fünfzig Pfennig bezahlen werde.“

Seit jenem Tage habe ich den Mann noch nicht wieder gesehen und weiß also nicht, ob er seinen Plan ausgeführt hat. In Betreff der Verlegenheit aber, die er anführte, steht er nicht allein. Ueberall giebt es eine große Anzahl von Leuten, die Geschäfte halber oft ihren Wohnort verändern müssen. Für diese hat es nun wenig Sinn und Zweck, ihr Geld in Sparcassen anzulegen. In ihre Heimath kommen sie selten, nach anderen Orten, wo sie Geld gespart, vielleicht niemals zurück. Ein Erdarbeiter z. B., der bei den Eisenbahnbauten in Sachsen beschäftigt ist, befindet sich heute bei Gohlis, in vierzehn Tagen bei Markranstädt, und in vier Wochen arbeitet er vielleicht auf der Staatsbahn bei Zwickau. Was nützt ihm die Sparcasse seines Heimathsortes oder die so trefflich eingerichtete Sparcasse der Stadt Leipzig?

Als mir jener Reisende von seiner Benutzung der Post zu Gunsten seines Sparsystems erzählte, hatte ich schon von den in England, Italien, Belgien und in der Schweiz förmlich eingerichteten Postsparcassen gehört, welche überall die kleinen Ersparnisse in Empfang nehmen und überall, wo sich Postanstalten befinden, das Geld sofort auch wieder auszahlen. Auf dem jetzt während der Weltausstellung in Paris abgehaltenen Congresse für Wohlfahrtseinrichtungen ist der Gegenstand ausführlich zur Sprache gekommen, und auch unser verdienstvoller Generalpostmeister Stephan hegt, wie verlautet, die ernste Absicht, die Postsparcassen in Deutschland einzuführen. Auf dem Pariser Kongresse war es der französische Volkswirth Gustav Hubbard, welcher in einer Sitzung des erwähnten Congresses den Plan einer großen, unter staatlicher Leitung stehenden Postsparcasse zunächst für Frankreich entwickelte. Dieser Plan ist aber für jedes civilisirte Land anwendbar, und es hat die Gesetzgebung, durch welche Postsparcassen in einem Lande errichtet würden, vor Allem folgende drei Punkte in’s Auge zu fassen: 1) die Bestimmung der Postämter zur Annahme und Auszahlung der kleinen Ersparnisse; 2) die Uebernahme der bestehenden Sparcassen durch den Staat und 3) die Verwaltung des gesammelten Sparcapitals durch den Staat.

Die Ermächtigung der Postbeamten zur Annahme der ersparten Gelder am Schalter und zur Ausstellung von Sparbüchern wird wohl bei dem heutigen Umfang der postalischen Tätigkeit auf keine besondern Schwierigkeiten stoßen. Wenn wir erwägen, daß die Post nicht nur Briefe, Pakete und Geldsendungen befördert, sondern sogar Rechnungen einzieht und Wechsel protestirt, dann werden wir leicht zugeben, daß sie auch jener neuen Anforderung vollkommen gewachsen ist. Erwünscht wäre es vielleicht, daß dabei eine Trennung der Cassen eingeführt würde, wie sie in England besteht. Die kleinen Ersparnisse, von zehn Pfennig an, werden dort von den sogenannten Pennybanken angenommen und es wird die ersparte Summe, wenn sie fünf Pfund Sterling (100 Mark) erreicht hat, an die eigentlichen Sparcassen, die Savingbanken, abgeliefert. Diese Theilung ist wichtig für den Zweck; es wird damit für den umherziehenden Theil der Arbeiterbevölkerung eine Sparbank mit möglichst zahlreichen Filialen geschaffen.

Mehr Schwierigkeiten würde die zweite Frage bereiten: die Uebernahme der bestehenden Sparcassen durch den Staat. Die Nothwendigkeit dieser Maßregel wird dadurch begründet, daß die gesammelten Capitalien in Privathänden nicht immer hinlänglich gesichert erscheinen. Die häufigen Bankerotte der englischen Sparcassen haben im Anfange der sechsziger Jahre selbst das Parlament des im Punkte der persönlichen Freiheit so empfindlichen England bewogen, die bestehenden Sparcassen unter Regierungsaufsicht zu stellen und staatliche Sparcassen an der Post in’s Leben zu rufen. Die freie Concurrenz zwischen diesen Privat- und Staatsanstalten hat im Verlauf von zehn Jahren, von 1865 bis 1875, zu dem Erfolg geführt, daß die Postsparcassen, was die Höhe der eingezahlten Summen und die Zahl der Bücher anbelangt, die alten Privatanstalten überflügelt hatten. Wir sehen also, daß auch ohne die Uebernahme der bestehenden Cassen durch den Staat die Postsparcassen zur Blüthe gelangen können. Diesen Weg gedenkt auch, wie das Postarchiv berichtet, unsere deutsche Regierung einzuschlagen.

Was schließlich die Verwaltung des gesammelten Geldes betrifft, so darf man mit Recht verlangen, daß dieses von der arbeitenden Classe dem Staate anvertraute Capital auch nach Möglichkeit im Interesse dieser Classe verwendet werde. Es wird vorgeschlagen, das Geld an Leihhäuser zu zahlen, und erst den verbleibenden Ueberschuß an die Stadt- und Dorfgemeinden auf sichere Hypotheken zu geben.

Aber nicht allein die Sicherheit der gesammelten Capitalien, für welche der Staat garantirt, nicht nur die Erleichterung der Einzahlungen und Erhebungen der Ersparnisse, nicht nur die Begründung einer großen nationalen Arbeiterbank, die in ihrer Bedeutung alle Hülfscassen überträfe, sondern auch politische Rücksichten sind es, die uns die Verwirklichung dieses Projectes für Deutschland herbeiwünschen lassen. Daß an dieser Reichssparcasse, an diesem Nationalvermögen die Arbeiter eines erlaubten Staatsschutzes sich erfreuen würden, das ist wahrlich ein Moment, welches nicht zu gering angeschlagen werden darf. Möchte also das Unternehmen erwogen werden und bald die teilnehmende Zustimmung aller verständigen Kreise finden! Man ist berechtigt zu der Annahme, daß es zu den besten Mitteln gehört, die verblendeten Arbeitermassen den Bethörungen durch wühlerische Hetzer abwendig zu machen und sie das Glück wieder nur da suchen zu lassen, wo es zu finden ist: in fleißiger Arbeit, geordnetem Wandel und Sparsamkeit.




Eine spanische Schönheit. (Siehe Abbildung S. 25.) Von jeher hat Spanien, „das Land des Weins und der Gesänge“, einen besonderen geheimnißvollen Reiz auf unsere Phantasie ausgeübt. Warum? Es gleicht einem verschlossenen Zimmer in dem allenthalben offenen Hause Europa, dessen Räume sonst so bekannt und vertraut anmuthen. Aber in der verschlossenen Thür des Zimmers sind Ritzen, ganz kleine Ritzen, und durch die Ritzen hat das Auge einige fremdartig schöne Dinge entdeckt, welche der Zauber der Unnahbarkeit und des gebrochenen Lichts wunderbar verklärt hat. So ist denn unsere Phantasie angefüllt mit den immergrünen Gärten von Murcia, Valencia, Granada voll südlicher Pracht, mit einförmig wüsten Hochplateaus, wo der Merinoschäfer und der Räuber hausen, mit Stiergefechten, Alhambras und Zigeunern, stolzen Hidalgos und bezaubernden Duennas mit schmachtenden Mandelaugen, welche so versengend feurig blicken können, mit Citherklang, lauschigen Balcons und sonst allerlei. Dazu kommen Reminiscenzen aus der Glanzzeit der spanischen Geschichte und Literatur. Das ist Spanien für uns. Der Kenner des Landes hat freilich andere Vorstellungen; er weiß auch, was es mit den bezaubernden Duennas auf sich hat – die Schönheit ist eben allenthalben eine vereinzelt wachsende Blume, und die Wäscherinnen vom Manzanares sind keine Engel. Aber es ist etwas Besonderes an dem Schönheitstypus wie dem Schönheitsideal jedes Landes, und was den spanischen Typus auszeichnete, das hat jedenfalls für uns durch seine Fremdartigkeit etwas Reizvolles: ein gewisser, sozusagen orientalischer Zug neben der pikanten Farbenzusammenstellung des Südens und jener von sinnlich koketter Grazie durchsättigten Beweglichkeit, welche sich aus der kurzen Blüthe des südlichen Weibes mit Naturnothwendigkeit herausgebildet hat. Je kürzere Zeit letzteres zu bezaubern vermag, um so intensiver muß es den Zauber wirken lassen. Unsere Madrider Schöne, deren Photographie wir der Filiale eines spanischen Kunstverlags in Stuttgart (B. Schlesinger) verdanken, mit der reizenden aufgesteckten Mantilla, deren Zipfel sich über der Brust kreuzen, mit dem nie fehlenden Fächer, mit den schwimmenden dunklen Augen und den weißen Perlenzähnen – es wird ihr gehen wie allen ihren Landsmänninnen, welche „das Loos des Schönen auf der Erde“ so viel rascher erfahren, als ihre nordischen Schwestern. Im Umsehen ist sie eines Tages verblüht, und kein Photograph kommt mehr auf den Einfall, sie um eine Sitzung zu bitten und ihr Bild in die Welt hinaus zu schicken.



Berichtigung. Gelegentlich der lobenden Besprechung des humoristischen Prachtwerkes „Spießbürger und Vagabonden, eine zwanglose Gesellschaft von Hugo Kauffmann 25 Blatt in Lichtdruck, im Verlage von Adolf Ackermann in München“ ist versehentlich erwähnt worden, das hübsche Werk habe schon den vorjährigen Weihnachtstisch geziert. Wir berichtigen dies als einen Irrthum; denn es ist im Sommer vorigen Jahres erst erschienen, hat also wenigstens für den Weihnachtstisch den Reiz der Neuheit.



Kleiner Briefkasten.

Dr. Z. in St. Organ des neugegründeten deutschen Schriftstellerverbandes ist die von Johannes Prölß herausgegebene Wochenschrift „Allgemeine literarische Correspondenz“ (Leipzig, Herm. Foltz), in der Sie zugleich ein sehr reichhaltiges, mit kritischer Tüchtigkeit von modernen wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus redigirtes Literaturblatt des eleganteren Genres finden werden.

K. L. in L. Jawohl! Beiträge, welche sich mit den aussterbenden Resten altherkömmlicher Volksfeste beschäftigen, sind uns immer hochwillkommen. Nur bitten wir um sorgfältige Beobachtung!

M. S. in Breslau und Morphinophagos. Wenden Sie sich an Herrn Sanitätsrath Dr. Ed. Lewinstein in Berlin, welcher eine Heilanstalt speciell für Morphiumsüchtige leitet.

R. N. in Hohenelbe.Die zwölf Apostel“ ist der Titel eines Werkes von E. Marlitt.

E. S. in Osnabrück. Die gewünschte Auskunft wird Ihnen das Curatorium des Feierabendhauses für deutsche Lehrerinnen und Erzieherinnen in Steglitz gern ertheilen,

R. Z. in E. Ein Lebensbild des jüngst verstorbenen amerikanischen Gesandten in Berlin und geistvollen Dichters Bayard Taylor finden Sie in Nr. 17 des Jahrgangs 1878[WS 2].

A. S. Wurde auf Ihren Wunsch vernichtet.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In deutschen Anstalten wird das Handalphabet nicht mehr benutzt.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: micht
  2. Vorlage: 1877