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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[601]
Gratiana.
Eine Harzgeschichte von E. Vely.
(Fortsetzung)


„Bei dem Wetter, Herr Professor?“ rief die alte Großmutter, „das wäre doch geradezu leichtsinnig – und der Herr hat nicht einmal einen Schirm! Da, tretet so lange ein, bis es nachläßt. Janchen soll Euch unterdessen den Schirm herunterholen!“

Er folgte der Alten gehorsam wie ein Kind.

„Großmutter, Ihr könntet für Euern Sohn nicht besser sorgen, als für mich,“ sagte er scherzend.

„Ist das nicht Christenpflicht?“ fragte sie ernsthaft. „Ihr habt mich überdies schon gedauert: so allein meistens! Nun ja, mag sein, daß gelehrte Leute nicht unter der Einsamkeit leiden; ich bin nicht gern allein, denke mir, daß ich noch lange genug allein sein werde, wenn sie mich hinausgetragen haben auf den Gottesacker.“

Sie hatte dabei die Thür zum kleinen Wohngemach aufgestoßen und war mit dem Gaste über die Schwelle getreten. Sofort suchten die Blicke des Letzteren das junge Mädchen. Gratiana stand am Fenster neben einem schlanken Mann in Bergmannstracht, der lebhaft sprach. Beim Eintritt des Professors verstummte er.

„Das ist ein Gevatterssohn, der Conrad, der dann und wann bei uns vorspricht,“ sagte die Großmutter. „Mein Sohn ist hinunter nach Buntenbock, will seinem Vetter dort die Augen zudrücken. Gott gebe dem ein leichtes Ende! Er hat es verdient.“

Es war etwas wie Verlegenheit über das Gesicht Janchens gehuscht; sie ging nach der andern Ecke des Zimmers, als habe sie dort zu ordnen, eilte hinaus auf den Wink der alten Frau und erschien mit des Professors Schirm wieder, den sie gegen den alten geschnitzten Schrank, welcher fast die eine Wand gänzlich einnahm, lehnte. Dann griff sie nach dem schwarzen Tuch, das sie im Freien über dem Haupte trug, band es fest und schlug ein anderes, größeres über die Schulter.

„Ich gehe, Großmutter.“

„Schon wieder?“ fragte die, ein wenig unwillig, wie es schien. Auch der Bergmann faßte nach seiner Kopfbedeckung.

„Es wäre besser, Du bliebst, Conrad,“ wehrte das Mädchen, „die Großmutter könnte Jemand brauchen, und –“

„O nein, geht nur mitsammen!“ versetzte die Alte, „am lichten Tag hab’ ich schon keine Furcht; und sag’ dem Herrn Anton, an solch schlechten Abenden, wie heute einer wird, soll er nicht auf Dich zählen.“

„Großmutter,“ warf das Mädchen ein, „seine Augen sind schlimmer als jemals.“

Die greise Frau bewegte den Kopf, als überlege sie, dann sagte sie freundlicher: „Nun, so bestell’s nicht!“

„Glück auf!“ grüßte verlegen der junge Mann und drängte sich, als könne er nicht schnell genug aus der Nähe des Professors kommen, durch die nur ein wenig geöffnete Thür.

Das Mädchen trat rasch noch einmal an Ehrenfried’s Seite:

„Ich bringe einem armen Kranken Unterhaltung in seiner Einsamkeit durch Ihre Güte – ich danke Ihnen von Herzen dafür.“ Sie hatte die Worte warm gesprochen und mit einem aufleuchtenden Blick aus ihren tiefblauen Augen begleitet, der den Professor wunderlich berührte, aber ehe er noch eine Erwiderung geben konnte, war sie schnell davon geeilt, und jetzt huschte sie schon außen an den Fenstern vorbei in solcher Eile, daß Conrad ihr kaum zu folgen vermochte. Die Großmutter blickte dem Paare mit einem eigenthümlich lächelnden Gesichte nach; dann setzte sie sich in ihren krachenden Lehnstuhl, schob die Brille zurecht, griff nach dem Strickzeug und sagte, als sei es selbstverständlich, daß der Professor den gleichen Gedanken gehabt:

„Ein ansehnliches Paar, ja, ja!“

Ehrenfried sah forschend zu ihr hinüber. „Geschwisterkinder, nicht wahr?“

„Ja,“ sie hustete dabei etwas verlegen, „ich meine, das giebt einmal ein hübsches Brautpaar.“

Ob der Regentropfen, welcher durch die bleigefaßte Fensterscheibe gedrungen und plötzlich seine Hand berührte, ihm solch unangenehme Empfindung verursachte, daß er sich hastig umwandte?

„Ein Brautpaar – ich wußte das nicht, Großmutter.“

„Will’s Gott, daß ich’s erlebe, Herr! Der Conrad wäre ein rechter Mann und das Janchen eine gute Frau für ihn; sie ist fleißig und einfach; brav hab’ ich sie erzogen. Ich hatte keinen Tadel, als – das Bücherlesen. Und schon darum wäre es mir recht, wenn der Conrad einmal den Mund gegen sie aufthun und vom Herzen weg reden wollte. Es drückt ihn lange schon, das sehe ich so gut mit meinen trüben Augen, wie der Gottlieb mit seinen gesündern, aber wie das bei verliebten Männern geht – sie sind schüchtern. Ihr werdet’s auch durchgemacht haben.“

„Und sie?“ fragte der Professor. „Ich meine Janchen.“

„O!“ – sie sah dabei über die Hornbrille hinweg – „die – wird sich nicht lange besinnen; sie ist ein armes Ding, und wenn wir Beide, der Gottlieb und ich, einmal nicht mehr da sind, stände sie ganz allein. Sie hat ihn auch gern; sie haben als Kinder mit einander gespielt und sich immer gut vertragen.“

[602] „Was meintet Ihr denn mit dem Bücherlesen, Großmutter?“ „Das ist,“ erwiderte die Alte halblaut, „was mir nicht gefällt; es hebt sie über ihren Stand hinaus, und das hat noch niemals gut gethan. Man soll reden und denken wie Seinesgleichen, wenn man mit ihnen zu leben hat; sonst giebt’s ein Mißverhältniß. Es ist kein angenehm Gefühl für einen Mann, wenn er denken muß, daß das, was er mühsam zusammenliest und schwer in seinem Kopfe ordnet, so leicht von seinem Weibe verstanden wird, ja, daß sie vielleicht Alles richtiger und klarer sieht, als er selber. Ich bin eine alte Frau, Herr Professor – nehmt es nicht für ungut, aber ich kann nur sagen, wie es bei mir gewesen ist. Ich konnte nicht lesen noch schreiben; ob mein Mann damit besser fertig werden konnte, weiß ich nicht, denn er ließ mich nichts davon merken. Ich habe mich immer nach seinem Willen gerichtet; da hatte ich selber nichts zu verantworten; ich dachte auch nicht darüber nach, ob’s gut oder nicht vortheilhaft war, was er wollte, denn bei unserer Trauung droben in der Kirche hatte der Herr Pastor gesagt: ‚Der Mann soll des Weibes Haupt sein‘. – Ich habe so glücklich mit meinem Gottlieb selig gelebt,“ fuhr sie trübe fort, „bis das böse Wetter kam, das dreiunddreißig Bergleuten das Leben kostete. Was ich damals ausgestanden! – Gott bewahre andere fromme Seelen vor dem! Mein Knabe war drei Jahre alt, Herr; dort draußen auf der Schwelle spielte er, als die Nachricht kam von dem Unglücke. Ich hörte nur den Namen ‚Dorothea‘ – dort arbeitete mein Mann – und stürzte davon, athemlos. Ich wollte mich ja überzeugen, daß er gesund und wohl oben sei – die Leute sahen mich entsetzt an, als ich fragen wollte, und da wußte ich mein Schicksal. Vierundzwanzig Stunden habe ich neben dem Schachte auf den Knieen gelegen – er war der Letzte, den sie brachten.“ Ihre zitternde Stimme brach ab; die Nadeln klapperten einen Augenblick schneller; endlich fand der Professor, den die Erzählung der schlichten Bergmannsfrau sonderbar ergriffen hatte, den Muth zu der Frage:

„Und dennoch, Großmutter, obwohl Euch die Grube den jungen Gatten raubte, ließet Ihr den Sohn den gleichen gefährlichen Beruf wählen?“

Sie faltete die Hände. „Den hat Gott geschützt! Wir sind es so gewöhnt nach altem Herkommen; er hat all seine Einfahrten in die ‚Dorothea‘ gemacht, wo sein Vater den Tod fand, und er hat sein Alter für einen Bergmann hoch gebracht; er zählt siebenundfünfzig Jahre – gewöhnlich sterben die Männer jung bei uns; das thut die Arbeit unter der Erde.“

„Und Eure Enkelin war früh mutterlos?“

„Die Jane,“ sagte sie, nicht direct seine Frage beantwortend, „ja, von der redeten wir eigentlich, und vom Schulmeister wollte ich erzählen. Sie war ein heller Sinn von klein auf, Herr Professor, so ein Begreifalles, wie man wohl sagt. Wir mußten sie in die Schule schicken – das war so mit der Zeit zum Gesetz geworden, und der Lehrer, Herr Anton, hatte seine Freude an ihr. Wie der nun krank wurde und endlich vom Amte ging, ließ er sie zu sich in’s Haus kommen und unterrichtete sie in Dingen, die sie droben in der Volksschule nicht lernte. Es war sein Vergnügen, und der Gottlieb und ich blieben still dazu – nur Eins habe ich nicht gewollt, daß sie das Sprechen in anderen, fremden Mundarten lernte – seht, Herr, ich mußte doch verstehen können, wenn auch nicht mit dem Kopfe, was sie sagte und las.“

Der Professor blickte still in den leise herabrieselnden Regen; jetzt war ihm plötzlich Jane’s wunderliches Wesen begreiflich: sie stand im Denken und Wissen so weit über ihren Hausgenossen, und sie mühte sich, dieselben das nicht fühlen zu lassen – so war ein Zwiespalt in ihrem Innern geworden, der für ein streng beobachtendes Auge nicht ganz verborgen bleiben konnte.

„Mit der Zeit,“ fuhr die Großmutter fort, „ist mir’s aber nicht mehr recht gewesen. So lange sie ein Kind war, spürte man minder, daß sie mehr gelernt hatte, als es ihrem Stande zukam – jetzt habe ich oft meine Sorge. Das Mädchen blickt zuweilen so seltsam – wie, das kann ich Euch nicht sagen, aber ich habe dann ein Gefühl, als sei sie unzufrieden mit ihrem Schicksal.“

„Nein,“ entgegnete Ehrenfried, „Großmutter, damit thut Ihr der Jane doch wohl Unrecht.“

„Wäre auch Unrecht von ihr, denn Gott hat sie wunderlich beschützt,“ sagte die Frau in einem fast harten Tone. „Nun, wie’s auch ist, ich wollte sie seit der Confirmation nicht mehr hinablassen nach Zellerfeld zum Herrn Anton, aber der Gottlieb redete drein mit seinem guten Herzen und meinte, man müsse dem kranken Menschen die Freude nicht rauben. So schwieg ich denn still. Jetzt denke ich an den Conrad, und hat der erst vom Herzen herunter, was ihn drückt, so wird schon Alles in das Richtige kommen, die alte Großmutter ist ja auch noch da.“

„Und wird noch lange wachen und sorgen,“ setzte Ehrenfried Winter hinzu, um ihr eine Freundlichkeit zu sagen.

„Das warte ich in Geduld ab – ‚wachen und sorgen ist die Aufgabe der Frauen,‘ sagte meine Großmutter vor langen Jahren – ach, Herr Professor, das ist Etwas, womit man nicht zu Ende kommt. Es ist auch hier angebracht. Die vielen Akademiker, lustige Burschen und reiche, aus fremden Ländern, selbst aus Amerika, thun nicht allein den vornehmen Mädchen schön, sie sehen viel öfter nach den hübschen, und Janchen ist stattlich.“

„Ja, gewiß,“ bestätigte der Professor, dem es sehr heiß wurde in der engen Stube; „aber ich glaube, Großmutter, der Regen hat nachgelassen; ich könnte noch einen kleinen Gang in’s Freie wagen, ehe die Dunkelheit hereinbricht.“

Er nickte ihr Lebewohl zu und ging hinaus. Die Alte schaute ihm nach.

„Mir ist’s, als regnete es noch gerade so, aber das ist jung; das stürmt durch Alles – ich bin froh, wenn ich hier ruhig im Trocknen sitzen kann.“

Mit großen Schritten, den ausdrucksvollen Kopf gesenkt unter dem großen aufgespannten Schirme, ging der Professor sinnend durch das häßliche Wetter, der Richtung kaum achtend.

Es war eine wunderliche alte Frau dort in dem kleinen Hause, mit so verschollenen Lebensansichten und Regeln, und doch lag für ihn ein wahrer Genuß darin, ihr zuzuhören. Das Fertige, Abgerundete ihrer Gedankenwelt, welche so treu das Colorit der umgebenden Verhältnisse trug, machte einen eigenthümlich überzeugenden Eindruck und hatte überdies, in Verbindung mit dem klaren und geordneten Wesen der Redenden, etwas so Fesselndes und Beruhigendes zugleich, daß für den Lauscher das bunte, schillernde Leben draußen in der Welt verschwand und mit ihm die schöne, herzlose Frau, welche ihm solchen Abscheu gegen Welt und Menschen eingeflößt hatte, daß er in die Einsamkeit geflohen war. Dazu boten ihm die Alte mit ihrem Sohne, dem Bergmanne, noch ein anderes Interesse; sie wurden für ihn zu Typen, aus denen er die Charaktereigenthümlichkeiten des Volksstammes aus dem rauhen Harzgebirge studiren konnte. Und Janchen? „Gratiana,“ sagte er, wenn er jetzt zu sich selber von ihr sprach – war sie nicht die interessanteste von Allen? Nur daß sie nicht in den engen Rahmen ihrer Umgebung passen wollte. Freilich, nach dem eben geführten Gespräch wußte er warum; aber doch wollte es ihn bedünken, als sei es nicht die etwas bessere Bildung allein, welche sie aus dem Rahmen des ganzen Bildes heraushob, als liege in ihrer ganzen Persönlichkeit etwas ihrer Umgebung Fremdes. Und dennoch sie – das herbe, eigenartige schöne Mädchen dereinst eine Bergmannsfrau wie die Großmutter? mußte er sich fragen. Mühsam arbeitend in Haus und Garten oder immer und immer strickend – jetzt bunte Schuhchen, dann Kinderstrümpfe – und später, wenn viele, viele Jahre mit bösen Wettern und zusammenstürzenden Schachten vergangen waren, in dem noch wackeliger gewordenen Lehnstuhl der Großmutter die endlos langen wollenen Jagdstrümpfe – er stieß mit dem Fuße nach einem Steinchen und schleuderte es weit hinweg. Es war ein unerträglicher Gedanke!

„Ja, sie ist schön,“ sagte er plötzlich laut vor sich hin, „so schön, daß ich am Ende … Ja, wie gesagt, wenn ich noch ein junger Fant wäre – –“

„Sonderbar,“ meinte er nach einer Weile, sich umschauend, „da bin ich, ohne etwas zu wollen, auf den Weg nach Zellerfeld geraten – was Einem doch nicht Alles passiren kann! Ich könnte über Dich lachen, Ehrenfried, alter Knabe, sieht das nicht beinahe aus, als ob …“

Sein Selbstgespräch hatte ein Ende; er befand sich bereits zwischen den noch niedrigen Häusern des Schwesterstädtchens von Clausthal, Zellerfeld, das von jenem nur durch den kleinen Zellbach getrennt wird. So nah einander und fast eins, halten doch die Bewohner beider Orte streng auf ihre verschiedenen Sitten und Privilegien, und die Clausthaler dünken sich als Berghauptstädter noch ein gut Theil mehr.

[603] Ehrenfried ging langsamer und wie am Tage seiner Ankunft in der Schwesterstadt auch hier jedes Haus genau betrachtend; es schien fast, als wollte er die Wohnung des Schulmeisters zu entdecken suchen. Und obwohl er sich selber dieser Absicht nicht klar bewußt war, flog doch, als er aus dem kleinsten Hause Rosmarin und Nelken freundlich durch die Scheiben blinken sah, ein Lächeln um seinen Mund. Den Schirm tiefer über’s Haupt haltend, wie um nicht erkannt zu werden, schritt er näher; die Blumen erinnerten ihn an Gratiana’s Fenster, vielleicht daß hier – und richtig, er hatte sich nicht getäuscht. Dort hinter dem kleinen Lebensbaume saß sie; er sah deutlich ihre schweren schwarzen Flechten: sie hatte den Rücken nach dem Fenster gedreht, damit das letzte Tageslicht um so besser auf das Buch fallen konnte, welches sie in der Hand hielt.

„Sie liest ihm vor, dem kranken Lehrer – sie hat eine weiche Altstimme, die angenehm beim Vorlesen klingen muß,“ setzte der schnell an dem Fenster Vorüberhuschende sein Selbstgespräch fort. „Aber sie wird gleich den Heimweg antreten, der alten Frau wegen.“

Er ging vielleicht hundert Schritt von dem Häuschen entfernt, in welchem er das Mädchen wußte, auf und nieder, die Blicke beobachtend auf die kleine Thür gerichtet. Nur wenige Minuten verstrichen, und Gratiana trat aus dem Hause, von einer andern weiblichen Gestalt begleitet, welche erst an der nächsten Straßenecke Abschied von ihr nahm. Es rieselte noch immer ein feiner Regen hernieder; das Mädchen war ohne Schirm, und ganz in der Ferne ihr folgend, überlegte der Professor, ob er schneller gehen und ihr den seinigen zum Schutz bieten solle. Schon war er beinahe bei dem „Ja“, das er mit allerlei menschenfreundlichen Gründen sich selber abzuringen gewillt war, angelangt, als er plötzlich eine männliche Gestalt quer über den Weg und auf das Mädchen zueilen sah. Noch konnte er deutlich trotz der Dämmerung unterscheiden, daß dieselbe schlank und jugendlich war und die ebenso kleidsame wie malerische Tracht der Akademiker trug, den faltigen schwarzen Wollkittel, mit Münzen auf der Brust verziert.

Er blieb stehen, seine Augen fest aus das Paar gerichtet, das mit einander redete; nur dumpfe Laute drangen zu ihm. Das Blut stieg ihm heiß hinaus zum Herzen, daß es schneller schlug – die Worte der Großmutter fielen ihm ein – ihr Sorgen und Wachen war doch erfolglos gewesen.

Er wollte nicht horchen, aber unwillkürlich machte er einige Schritte auf das Paar zu.

„Nein, nein!“ hörte er des Mädchens tiefe Stimme sagen.

„Fräulein Jeanne, ich beschwöre Sie –“ das Andere, was der fremde junge Mann schnell und aufgeregt sprach, ging ihm verloren.

„Nein,“ wiederholte sie, „die Großmutter wartet; halten Sie mich nicht auf – gute Nacht!“

Der Fremde schien ihr nur zögernd den Weg frei geben zu wollen und unschlüssig zu sein, ob er ihr folgen sollte oder nicht; da hörte er Ehrenfried’s festen Tritt und bog schnell in eine Seitenstraße.

Immer in geringer Entfernung sah der Professor die schlanke Mädchengestalt vor sich; immer in derselben Entfernung folgte er ihr, aber er dachte nicht mehr daran, trotz des Regens, ihr seinen Schirm anzubieten; er hatte eine unangenehme Empfindung gehabt und konnte seine fröhliche Laune nicht wieder gewinnen.

Erst nachdem Janchen einige Minuten schon die Schwelle ihres Elternhauses überschritten hatte, trat auch der Professor ein. Der alte Gottlieb bot ihm einen freundlichen Gruß, auf den er kürzer als sonst antwortete; er sprach seine Wünsche für den Abend in wenig Worten aus und stieg sofort die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, das er heute nicht wieder verließ.

„Den hat’s gefröstelt draußen,“ sagte die Alte, „ich habe mir’s gleich gedacht.“




Der Professor hatte eine schlaflose Nacht gehabt. Er glaubte, es sei die Folge einer Erkältung, welche er sich bei dem feuchten Wetter zugezogen. Es regnete nur schwach noch, und als er, früh sich erhebend, im Morgengrauen aus seinem Fenster sah, prophezeite er einen guten Tag. Noch standen die Sterne am Himmel; die Bergleute mit ihren flimmernden Lichtern am Gürtel wanderten nach den Gruben; „Glück auf!“ riefen sie ihm zu, „Glück auf!“ gab er zurück, und jedes Mal lag bei ihm ein aufrichtiger Wunsch in diesen beiden kleinen Wörtern.

Die frische Luft machte ihn schaudern; er nannte sich einen „leichtsinnigen Burschen“ und schloß das Fenster. Unter und neben ihm schien noch Alles zu schlafen; es war ihm zuweilen, als höre er Gottlieb’s feste Athemzüge durch die Bretterwand, welche sein Gemach von demjenigen des Bergmanns schied.

Auch Gratiana schlief sicher noch; ebenso die Großmutter; was das Mädchen wohl träumte? Von ihm, welchen sie am gestrigen Abend ohne Wissen der Großmutter gesprochen, oder von dem frischen Bergmanne, der sich schon so lange schüchtern mit seinem Herzenswunsche trug? Was kümmerte es ihn – ihn, der vielleicht morgen schon den Ort verließ und nie mehr an das kleine Haus und seine schlichten Bewohner dachte! Nie mehr? Gewiß nicht – nur – das Eine hätte er doch wissen mögen, ob Jane’s Schicksal wohl so ausfiel, als er sich’s gestern vorgestellt. Er hatte heute nicht einmal zu dem Bilde Constanzens aufgesehen – so sehr beschäftigten ihn seine Gedanken über den vergangenen Tag. Als der Morgen klar heraufgestiegen war, ging er, seinen Winterrock überziehend, hinunter, oder eigentlich hinauf in den Garten.

Gratiana saß indessen unten im Stübchen, wo ein trübes Licht brannte, die Feder in der Hand, vor einem Aufgabenheft; sie brütete bereits eine Weile über einen geschichtlichen Aufsatz, hatte aber noch nicht einmal den Anfang gefunden. Sie lauschte auf die Schritte dort oben über ihr und wunderte sich, warum der Professor schon so früh unruhig hin und her gehe. Gestern hatte sie einen frischen Epheuzweig um das Frauenbild geschlungen und mußte nun immer daran denken, wie erstaunt und erfreut er wohl darüber gewesen sei; denn daß ihm jenes schöne Bild theuer, darüber war kein Zweifel.

„Es wird seine Braut sein,“ hatte die Großmutter gesagt, als sie ihr davon erzählt, und sie selber mußte dazu nicken.

Dann dachte sie Beide nebeneinander – die glanzvolle Frau und ihn! O, er war stattlich, männlich, und wenn er mit der Großmutter sprach, so verschönte sich sein ausdrucksvolles Gesicht wunderbar. Mit ihr hatte er kaum freundlich geredet, und sie hatte das selbst verschuldet, zuerst damals im Garten – und dann kürzlich, als er denken mußte, sie hätte ihn behorcht. Noch stieg ihr die Gluth in die Wangen, wenn sie daran dachte. Aber sie hatte das Alles wieder gut machen wollen, indem sie das Bild der Frau schmückte, die er liebte.

Es war jetzt draußen heller, als drinnen bei der kleinen Lampe; sie löschte dieselbe aus, aber der Anfang für ihren geschichtlichen Aufsatz wollte sich noch immer nicht finden.

Der Professor sah über den kleinen Gartenzaun hinaus in der Richtung des Brockens, von dem eben eine Wolkenschicht nach der andern herabfiel, als er plötzlich ein Husten neben sich vernahm, als wolle Jemand seine Aufmerksamkeit erregen.

Er blickte um sich und gewahrte einen Knaben, einen „Puchjungen“, wie das Volk in der Harzsprache die im Pochwerk beschäftigten Knaben nennt – eine ihrer Wildheit und boshaften Späße wegen ziemlich berüchtigte angebliche Corporation.

„Wo ist die Jane?“ fragte er grinsend, ohne jeden Gruß. „Ich laufe seit einer Stunde um das Haus und kann nicht dafür, wenn ich’s nicht heimlich abmache.“

„Was?“ fragte Ehrenfried erstaunt.

„Nun – den Brief von dem fremden Bergschüler, den sie Baron nennen. Ich bekomme mein Trinkgeld erst, wenn ich ihn abgeliefert habe.“

„Wo ist der Brief?“

Der Junge machte eine Grimasse.

„Erst versprechen Sie mir, daß Sie nichts sagen gegen den Baron! Die Alten drin sollen auch nichts wissen. Sonst geht es mich nichts an; ich kriege so wie so meinen Rüffel, weil ich zu spät komme.“

„So gieb! Ich werde ihn abliefern.“

Die schmutzige Hand schob den Brief über den Zaun, ein Spottwort verklang im Davonlaufen im Munde des unhöflichen Boten. Der Professor blickte mit gerunzelter Stirn auf das kleine Billet, das die Aufschrift „An Fräulein Jeanne“ trug.

„Arme Großmutter,“ flüsterte er, „wenn Du das Resultat Deiner Wachsamkeit kennen würdest! O Weiber – so sind sie Alle! Wer hätte hinter jener weißen Mädchenstirn Gedanken an Rendezvous und heimlichen Briefwechsel gesucht!“

Er durchmaß den schmalen Fußweg noch zweimal, das Billet [604] fest in der Hand haltend; als er sich zum dritten Male wandte, hörte er die kleine Pforte knarren und sah das Mädchen, die Haare und ihren schlichten Anzug schon geordnet, in den Garten treten.

„Guten Morgen, Herr Professor!“ sagte sie und ging nach dem Gemüsebeet hinüber.

Wie schüchtern und unschuldig sie that! Und doch war sie mit dem Gedanken gekommen, einen Brief oder eine Botschaft entgegenzunehmen. Er konnte ihr um dieser Verstellung willen eine kleine Demüthigung nicht ersparen.

„Guten Morgen, Fräulein Jeanne!“ sagte er, scharf jedes Wort betonend und einen streng forschenden Blick auf sie richtend. Sie erröthete bis an die Schläfe, aber ihre Miene hatte dabei nichts Erschrecktes, und sie richtete ihre blauen Augen fragend auf sein Antlitz.

„Warum nennen Sie mich so?“

„Weil“ – welch wunderbare Bläue diese Augen hatten! - „ich der Ueberbringer einer Botschaft an Sie bin, die unter jener Adresse abgegeben wurde.“

Jetzt schien sie doch ein wenig unruhig.

„Ich wüßte nicht, daß ...“

„Man Sie so nennt?“

„Doch!“ sagte sie in einem Tone, der wieder nichts von Angst und dem Bewußtsein des Unrechts hatte.

„Darf man wissen, wer das Recht hat, Sie so anzureden?“

Sie richtete sich stolz auf und schien plötzlich gewachsen zu sein.

„Ein Recht – welches es auch sei – hat Niemand, Herr Professor, weder mich anzureden, noch zu fragen.“

„Ah“ – er stand fast demüthig vor ihr – „ich habe Sie nicht kränken wollen, Gratiana, aber so ganz im Unrecht war ich mit meiner Frage doch nicht. Dieses Briefchen gab mir ein Knabe, welcher Sie vorhin vergeblich heimlich suchte. ‚An Fräulein Jeanne‘.“

Sie nahm es nicht, obwohl er’s ihr entgegen hielt, sondern ließ beide Hände schlaff herab und in die Falten ihres Kleides sinken.

„Ich erwarte keinen Brief – und kann keinen empfangen,“ versetzte sie, und eine finstere Falte bildete sich zwischen ihren schönen Augenbrauen.

„Aber Sie wissen – Gratiana, das soll keine Neugierde sein – Sie wissen, wer das Briefchen schrieb?“

„Ja!“

„Und was soll damit geschehen, da Sie es nicht nehmen wollen?“

Sie blieb eine Weile stumm und sah vor sich nieder auf den Boden; dann griff sie nach dem zusammengefalteten Papiere und riß es heftig in unzählige Fetzen, die der Morgenwind lustig umherwirbelte.

„Da!“ sagte sie aufathmend und dann ihre weißen Zähne tief in die rothen Lippen grabend. „Da!“

Diesmal hatte der Professor keine Aufmerksamkeit für das Bild einer zürnenden Schönen, das sich ihm bot; er runzelte selber seine Stirn und sagte:

„Das war ein feiner Schachzug – in der That!“ Sie verstand ihn sofort und fragte mit blitzenden Augen:

„Halten Sie mich einer solchen Komödie für fähig – und was that ich Ihnen, das Sie dazu berechtigt?“

Ehrenfried entgegnete nichts auf diese ihn anklagende Frage, sondern deutete, spöttisch lächelnd, auf die umhergestreuten Papierstücke.

„Da ist kein Für und Wider, keine Frage und keine Antwort weiter nöthig – und der, welcher Ihnen schrieb, bleibt in der süßen Gewißheit, daß Sie seine Zeilen empfangen haben.“

(Fortsetzung folgt.)





Aus Robert Blum’s Leben.
8. Die Leipziger Augustereignisse 1845. Sturmschwalben. Die Jubelwochen der Revolution 1848.

Prinz Johann war der Generalcommandant der Communalgarden (Bürgerwehren) des Königreichs. In dieser Eigenschaft lag ihm ob, die Revüen über die Bürgerwehren abzuhalten, und zu diesem Zwecke traf er am 12. August 1845 Nachmittags in Leipzig ein. Er wurde frostig empfangen. Im „Hôtel de Prusse“ nahm er Wohnung und begab sich sofort zur Musterung nach dem Excercirplatze. Die Communalgarde war umgeben von einer dichten, erregten Menge. Als am Ende der Revüe der Commandant der Bürgerwehr dem Prinzen ein Hoch ausbrachte, bemerkte der Tambourmajor in Folge eines unglücklichen Zufalls das Zeichen zum Einfallen der Musik nicht und diesen Zufall benützte der pöbelhafte Theil der Zuschauer zu lärmendem Pfeifen und Zischen. In der gehobenen Stimmung, welche dieser traurige Erfolg bei dem schlechteren Theile der Massen erzeugte, umdrängte dieser nach der Revüe den Platz vor dem „Hôtel de Prusse“ während des Zapfenstreiches, den hier die Communalgarde dem Prinzen brachte, und blieb hier, unter den Fenstern des Hôtels, wogend und lärmend, als die Musik abzog. Der Prinz hatte sich inzwischen mit den Spitzen der Behörden der Stadt und seines Gefolges im Gartensalon zur Tafel gesetzt. Nur ein verworrenes Getöse drang von außen in diesen abgelegenen Raum.

Inzwischen war es halb zehn Uhr Abends geworden. Die Tausende vor dem Hôtel sangen „Ein’ feste Burg ist unser Gott“, das ehrwürdige Trost- und Schlachtlied der Reformationskämpfer. Lautlose lange Stille folgt dem begeisterten Gesang, der auch im Gartensaal vernommen worden war. Da fliegt mit einem Male ein Stein nach einem der vorderen Fenster des Hôtels - der Gartensaal, in welchem die Herrschaften tafelten, liegt etwa dreißig Meter hinter der breiten Außenfront des Gebäudes. Niemand konnte also hier durch das Bubenstück direct bedroht werden. Wiederum ein Augenblick stiller Ueberraschung, dann wild losbrechender Jubel, dann ein anhaltender Hagel von Steinen auf das Hôtel. Klirrend zerspringen die Scheiben.

Auch das hört man im Gartensaal. Die Unruhe und Bestürzung steigt. Bisher ist seitens der Polizei und der Communalgarde nicht der geringste Versuch gemacht worden, die Menge zu zerstreuen. Der Bürgerwehrhauptmann Dr. med. Heyner eilt nun von der prinzlichen Tafel nach dem Platz und verkündigt hier laut den Massen, daß er die Hauptwache der Communalgarde, vierzig Mann vom Naschmarkt holen werde. Unangefochten läßt ihn die Menge passiren. Aber Dr. Heyner bleibt länger, als man im Gartensaal wünschte oder ihm für seine Wiederkehr Zeit gab. Und da man fürchtete, jeden Augenblick werde das Volk, das in Wahrheit sogar noch einen Halbkreis um das Thor des Hôtels freigelassen, hereinbrechen, so schreitet nun auch der Oberstlieutenant von Süßmilch in ganzer Uniform durch die Massen, um das Militär herbeizuholen. Auch ihm macht man bereitwillig Platz. Fast gleichzeitig treffen dann die Communalgarde vom Naschmarkt mit Dr. Heyner und Süßmilch mit seinen Schützen ein. Letztere räumen, das Gewehr zur Seite, im Nu den breiten Platz vor dem Hôtel. Die Menschenmasse wogt neugierig, jedoch thatlos in den Promenaden oberhalb des Platzes. Unmöglich konnten die Tausende auf dem engen Raum sofort abströmen. Da kracht auf einmal vom Hôtel her Pelotonfeuer. Fürchterlich gellt durch die milde Nacht das Wehgeschrei der Sterbenden, der Verwundeten. Zwölf Menschen liegen in ihrem Blute; sieben sind sofort todt. Es ist halb zwölf Uhr Nachts.

Die Aufregung ist ungeheuer. Die abenteuerlichsten Gerüchte durchdringen die Stadt. Zorn und Schmerz steigt auch im ruhigsten Bürger auf, als er Namen, Stand, Alter und Geschlecht der unglücklichen Opfer festgestellt sieht. Unter den Todten ein Schriftsteller von fünfzig Jahren, ein hoffnungsvoller Jüngling aus gutem Hause, zwei Postbeamte, ein bejahrter Schriftsetzer, ein Markthelfer von Brockhaus, ein – Polizeidiener! Keinem von ihnen fiel irgend eine Betheiligung an den groben Excessen zur Last. Diese Excesse hatten überhaupt allen beunruhigenden Charakter verloren, als die Schüsse befohlen wurden. In gerechter Erregung verlangte man tausendstimmig sofortige strenge Untersuchung gegen die Urheber der blutigen That. Unter diesen wird ungescheut – und auch hier mit vollstem Unrechte – der Name des Prinzen genannt – selbst in der öffentlichen Stadtverordnetensitzung am Nachmittage des 13. August. Der Prinz hat nicht gewußt, daß man die Schützen hatte laden lassen, geschweige

[605]

Nürnberger Markttypen.
Original-Zeichnung von G. Nestel in Leipzig.

[606] denn, daß er den Befehl zum Feuern gegeben hätte. Die Behörden, deren übereinstimmende Rathlosigkeit, Schwäche und Unüberlegtheit die furchtbare Katastrophe in erster Linie verschuldet hatten, verloren nun vollends den Kopf. Der Bürgermeister Groß, ein pedantischer alter Bureaukrat, glaubte die Erregung durch einen seiner vorsündfluthlichen Erlasse bekämpfen zu können, in welchem er von der Einsperrung aller Lehrlinge und Kinder (!) von acht Uhr Abends an, von dem Verbote „aller größeren Gruppen“ und Einsetzung der Polizeistunde auf neun Uhr Abends die Rückkehr paradiesischer Ruhe erhoffte. Die Militärbehörde, erschrocken über ihren leichten blutigen Sieg, überließ die Stadt völlig ihrem Schicksale, indem sie alle Truppen in der Caserne consignirte.

Seit dem Nachmittage des 13. August tagte im Schützenhause zu Tausenden eine erregte Versammlung von Bürgern, Studenten, Einwohnern jeden Standes. Immer leidenschaftlicher wurden die Reden, die Anträge. Was aus der Ruhe und Zukunft der Stadt werden würde, wenn diese durch glühende Reden und leidenschaftliche Beschlüsse erregten Massen sich über die Stadt ergossen, zum Rathhause eilten, um dort das Gebot ihres Willens zu erzwingen, vermochte Niemand vorherzusagen! Seit einst der fliehende Napoleon seinen Myrmidonen den Befehl hinterlassen, daß den Siegern der Völkerschlacht bei ihrem Einzuge in die bezwungene Stadt nur ein Aschenhaufe zu überliefern sei, hatte die Stadt in keiner schwereren Gefahr geschwebt.

Da trat Robert Blum in die wilderregte Versammlung. Er war am 12. und 13. August in Geschäften in Dresden gewesen – als er am Nachmittage des dreizehnten August in Leipzig ankam, erfuhr er schon am Bahnhofe die Schreckenskunde des Geschehenen. Er eilte sofort in das Schützenhaus. Plötzlich beherrschte seine tiefe, klare, wohlbekannte Stimme die zügellosen Massen. „Verlaßt den Boden des Gesetzes nicht!“ waren die ersten, die letzten Worte seiner ergreifenden Rede. „Blickt mit Vertrauen auf die Behörden, die unseren gerechten Beschwerden Abhülfe verschaffen werden!“, das war der Kern dessen, was er sagte. Ebenso schnell als treffend hatte er erkannt, was zu fordern, zu erreichen sei. Er beantragte bei der Versammlung, die über die Ziele ihres Thuns so rathlos war, wie die Behörden, daß eine Deputation der Versammlung sich auf das Rathhaus begebe, gefolgt von den Massen der Versammlung. Vom Rathe solle gefordert werden: Consignation der Schützen, feierliches Begräbniß der Erschossenen ohne Betheiligung von Militär, strenge Untersuchung und Bestrafung der Urheber der blutigen That.

Jubelnd begrüßte und genehmigte die Versammlung diese Vorschläge. Ruhig und lautlos folgten die Tausende dem Führer. Den weiten Marktplatz füllten sie, als Blum an der Spitze der Deputation auf das Rathhaus eilte und ihnen das Gebot zurückließ: „Wartet ruhig, bis wir wiederkommen!“ Nicht einmal der volle Rath ist oben beisammen. Nur der unglückselige Bürgermeister und einige Räthe. Trotzdem wird im Namen des Stadtrathes Alles bewilligt, was vom Schützenhaus gefordert wird. Ja, um das Maß der Erniedrigung und Würdelosigkeit der vollziehenden Behörde der Stadtgemeinde voll zu machen, verkündet nicht der Bürgermeister oder einer der Räthe diese Beschlüsse, sondern Blum tritt, umgeben von der Deputation und allen anwesenden Räthen auf den Balcon des Rathhauses und verkündet im Namen des Rathes die Annahme der gefaßten Beschlüsse. Noch heute trifft man vielfach einen Holzschnitt, welcher Blum inmitten dieser denkwürdigen Scene darstellt. Die Rathhausuhr zeigt auf vier Uhr. Unten jubelt die Menge.

Mit derselben Bereitwilligkeit ging die Polizei- und Regierungsbehörde, selbst der Militärcommandant auf die Forderungen der Deputation ein, deren Sprecher Robert Blum war. Der Militärcommandant ließ sich sogar dazu herbei, die gemeinen Soldaten – also nicht einmal die Officiere – zu rechtfertigen, daß sie auf höheren Befehl geschossen hätten.[1] Kurz, es herrschte eine Anarchie ohne Gleichen. Wohl der Stadt, daß in solcher Stunde ein so maßvoller Mann wie Robert Blum der Sprecher der Wünsche der Bürger, der Rathgeber ihrer Beschlüsse war! Auch am Grabe der Gefallenen sprach er in maßvoller, überzeugender Weise unter dem Beifall Aller.

Aber rasch wandelte sich das Bild. Auf die rührenden Ergebenheitsadressen der Stadt, welche noch am Nachmittag des 13. August Rath und Stadtverordnete beschlossen und vor die Stufen des Thrones entsendet hatten, und in denen auch die loyale und selbstverständliche Forderung einer strengen Untersuchung ausgesprochen war, entsandte die Regierung als Special-Commissar den Geheimen Rath von Langenn, der später nur durch seinen berufenen, heute noch im Gedächtniß der Mitlebenden unvergessenen „Schiedsspruch“, der das mecklenburgische Verfassungsrecht brach, eine noch traurigere Berühmtheit erlangte, als durch die Mission, die er nun in Leipzig vollzog. Er kam in Leipzig an mit der schroffen Erklärung, daß die tiefgebeugte, lediglich Gerechtigkeit heischende Stadt in Allem nur zu geben, nichts zu fordern oder zu erwarten habe. Und er hat dieses Programm treulich durchgeführt. Ein undurchdringliches Geheimniß breitet sich für die große Mehrzahl des Volkes noch heute über das Verhalten, die Namen der Schuldigen. Nur für diejenigen, die allen Quellen der Zeit nachzugehen in der Lage sind, ist der Schleier gelüftet. Sie müssen übereinstimmen in dem Urtheil, daß das Blut der Gefallenen nutzlos vergossen wurde.

Bald folgten „Erörterungen“ gegen Blum und alle andern Bürger, die sich um die Aufrechterhaltung der Ordnung in den erregten Tagen Verdienste erworben hatten. Diese „Erörterungen“ wurden zwar eingestellt, da sie nichts gegen den verhaßten Volksmann ergaben. Aber als Blum im November 1847 zum Stadtrath gewählt wurde, „wünschte“ die Leipziger Kreisdirection mit großer Eile von dem Vereinigten Criminalamt „von demjenigen näher unterrichtet zu sein, was gegen den ... Robert Blum allhier theils in Bezug auf die Ereignisse im August 1845, theils sonst etwa bei dem Vereinigten Criminalamte allhier vorgekommen ist, und es erhält daher Letzteres andurch Veranlassung die darüber ergangenen Acten baldmöglichst anher einzureichen.“ Selbstverständlich wurde im weiteren Verlaufe Blum als Stadtrath nicht bestätigt.

Um so treuer stand die Bürgerschaft seit den bewegten Augusttagen zu ihrem Sprecher. Zu seinem Geburtstage 1845 schon ward ihm eine von Tausenden von Unterschriften bedeckte Adresse überreicht, in welcher ihm der allgemeine Dank ausgesprochen wurde. Eine große Anzahl gleichartiger Adressen traf bei Blum auch aus den entlegensten Theilen Deutschlands ein. Unter diesen nenne ich blos die mir vorliegenden aus Mannheim, Heidelberg und Schwetzingen, weil sie die Original-Unterschriften aller badischen Berühmtheiten der damaligen Zeit tragen. Wir finden hier in traulichem Verein die Männer, die sich später so bitter befehdeten: Karl Mathy, C. Th. Welcker, Dr. Paulus, Itzstein, Hecker, Struve, von Soiron, Bassermann, den alten Winter, Hergenhahn, Thilo und Andere. – Die Stadt Leipzig aber wählte Blum am Ausgang des Jahres 1845 zum Stadtverordneten.

Die Augustereignisse hatten den tiefen Zwiespalt, der zwischen der damaligen Regierungsmethode und den gerechtesten Wünschen des Volkes bestand, zum ersten Male Tausenden offenbart, ihn als unheilbar erscheinen lassen. Mit Neujahr 1846 wurden auch die „Vaterlandsblätter“, das einflußreichste Organ der liberalen Partei in Sachsen, Robert Blum’s insbesondere, unterdrückt. Rasch entschlossen ersetzte Blum das unterdrückte Blatt durch die „Constiutionelle Staatsbürgerzeitung“ unter Rüder’s Redaction. Daneben setzte er im Taschenbuch „Vorwärts“, in einem jedesmal zu Weihnachten ausgegebenen „Weihnachtsbaum“ und vor Allem auch in dem von Ernst Keil begründeten „Leuchtthurm“, welcher nach einander die Portraits aller Volksmänner in trefflichen Abbildungen brachte, seine geschickte und unermüdliche Einwirkung auf die Massen fort. Denselben Zweck beabsichtigte und erreichte mit ungewöhnlichem Erfolg der von Blum gegründete Leipziger Redeübungsverein. Ein furchtbares wirthschaftliches Unglück, die Mißernte von 1846, steigerte die allgemeine Unzufriedenheit in’s Ungeheure und streute die Saat aus, welche Sturm ernten läßt. Mit gleichem Ungeschick unternahmen Regierungen und Volksmänner die Heilung der schweren Krankheit. Roscher’s epochemachende Schrift über Korntheuerung und Kornpolitik verhallte in der allgemeinen Erregung.

Immer unhaltbarer wurde für Blum bei einer so aufreibenden unermüdlichen politischen Thätigkeit seine Stellung beim Leipziger [607] Theater. Der Gedanke, daß er bezahlt werde, ohne seiner Pflicht gegen Director Schmidt vollkommen genügen zu können, war ihm unerträglich. Aber auch das Wagniß, die einzig sichere ökonomische Basis aufzugeben, war kein kleines. Die schweren Sorgen, die Blum mit dem Kaufe seines Hauses auf sich geladen, hatte Freund Joseph, der gefeierte Landtagsabgeordnete, durch ein bedeutendes Darlehen beseitigt. Mit der Kündigung seiner Secretärstelle entzog Blum den Seinen das einzige feste Jahreseinkommen, das er besaß, und wies sie allein auf die Erträgnisse seiner Feder an. Lange schwankte er. Endlich litt er die Qual der Abhängigkeit, des Pflichtenstreites nicht länger. Am 11. Mai 1847 kündigte er dem Theaterdirector Schmidt und wurde Buchhändler. Er associirte sich mit seinem treuen Freunde und Kampfgenossen, dem Verleger der „Const. Staatsbürgerzeitung“, Robert Friese. Die Hauptwerke des Verlags von „Robert Blum und Comp.“ gedachte Blum selbst zu schreiben. Zur geschäftlichen Grundlage dieses Verlags wurde das „Volksthümliche Handbuch der Staatswissenschaften“ bestimmt, welches für 1848 angekündigt war. Aber dieser Plan sollte, wie alle anderen Lebenspläne des Unternehmers, jäh zerrissen werden. Denn kaum hatte Blum seines Glückes Schiff auf diese neue Bahn getrieben, als der große Völkersturm hereinbrach, der in der Rechnung der Zeiten das Jahr 1848 heißt.

Vielleicht Keinem unter allen Denen, die das „tolle Jahr“ seit langer Zeit schon heraufkommen sahen, verhieß es eine reichere Ernte mühsam ausgestreuter Saat, als Robert Blum. Und wohl Keiner unter Allen hat seine Hoffnungen schmerzlicher vernichtet gesehen, als er: denn er mußte ihr Scheitern mit dem Leben bezahlen. In seiner Natur, seinem Charakter schienen sich alle Vorbedingungen zu vereinigen, um das Ringen der Nation, wie es damals zum Ausdrucke kam, zum Siege zu führen. Es galt, eine gemeinsame Verfassung für Deutschland auf möglichst freisinniger Grundlage zu schaffen. Robert Blum hatte sich seit seinem öffentlichen Auftreten immer gleich gut deutsch und gleich maßvoll erwiesen. Von ihm durfte daher in erster Linie eine richtige, befriedigende Lösung der großen Aufgabe erwartet werden. Und dennoch hat auch er seinen Antheil an der Schuld, die auf jeder Partei des Frankfurter Parlamentes ruht, die aber verhängnißvoll und verderblich wurde für unsere Nation nur durch die mindestens gleich wiegende Schuld der damaligen deutschen Regierungen.

Das Ideal Blum’s war unstreitig die Republik. Daß eine solche in Deutschland, „mindestens vorläufig“, nicht durchführbar sei, hat auch er in classischen Aussprüchen kund gegeben. Als vor seiner Abreise zum Vorparlament eine zahlreiche Deputation aus dem sächsischen Gebirge ihm zur Pflicht machte, binnen längstens vierzehn Tagen von Frankfurt die deutsche Republik mitzubringen, richtete er die verblüffende Frage an die Versammlung: ob die Herren an allen Orten, von denen sie herkämen, schon Feuerspritzen hätten? Als die Frage von einem großen Theile der Deputirten verneint wurde, erwiderte Blum – nach Mittheilung eines Ohrenzeugen – lakonisch: „Sagen Sie Ihren Auftraggebern, ehe nicht jedes Dorf in Deutschland seine Feuerspritze habe, könne ich ihnen die deutsche Republik nicht besorgen.“ – Eine ähnliche Aeußerung that er bei seiner Ankunft in Frankfurt vor der Eröffnung des Vorparlaments. Er und die anderen sächsischen Delegirten zum Vorparlamente, darunter Professor Wuttke, der mir den Vorfall erzählt hat, wurden bei ihrer Ankunft in eine große Frankfurter Volksversammlung geladen. Wild wogten hier die Anträge und Reden durch einander. Daß Deutschland Republik werden müsse, schien Allen ausgemacht. Da trat Robert Blum, den Meisten unbekannt, auf und sprach das Wort: „Eine Republik könnte Deutschland schon werden – aber es fehlen uns die Republikaner.“ Gleichwohl ging nachher sein Streben im Vorparlament, Fünfzigerausschuß und Parlament unleugbar dahin, die Staatsform, die er für die ideale hielt, die Republik, in Deutschland auch praktisch zu verwirklichen. Er glaubte und hoffte jetzt, daß dies auf gesetzlichem Wege möglich sei – alle ungesetzlichen bewaffneten republikanischen Schilderhebungen verurtheilte er auf das Schärfste.

Mit den socalistischen und communistischen Elementen, die auch damals bereits in Deutschland und sogar in Leipzig sich regten, hatte Blum schon vor Ausbruch der Revolution sich gründlich auseinandergesetzt. Er hatte im Winter 1847 bis 1848 im Saale der Leipziger Buchhändlerbörse einen Vortrag über Socialismus und Communismus gehalten, den er später, wesentlich gekürzt, in seinem „Staatslexicon für das Volk“ zum Abdruck brachte. Ueber den Communismus gelangt Blum, nachdem er alle einzelnen Theorien und Apostel desselben vorgeführt und bekämpft hat, zu folgendem Schlußurtheil: „Die Communisten bauen mehr Systeme auf, als daß sie sich an die Zustände und ihre Bedürfnisse anschließen. Jedes System weicht vom andern ab, und doch behauptet jedes, das allein richtige zu sein, wie die römische Kirche von dem ihrigen. Wir haben bereits unter ‚Eigenthum‘ ausgesprochen, daß wir den Communismus für naturwidrig und unmöglich halten.“ Der heutige deutsche Socialismus ist der nackte vaterlandslose Communismus; wer daran zweifelt, mag die Offenbarungen der Führer und die Parteicongreßbeschlüsse von Eisenach, Gotha und Gent nachlesen.[2] Der Leser erkennt daher sofort, mit wie wenig Berechtigung diese Partei nun schon seit Jahren den guten Namen Robert Blum’s als den eines Gesinnungsgenossen und Mitverschworenen, das heißt als eines vaterlandslosen Theilbruders im Munde führt.

Mit den radical-revolutionären Stürmern dagegen hatte Blum auch schon in Leipzig, unmittelbar nach dem Ausbruch der Februarrevolution abgerechnet, indem er alle Reformen, einschließlich der Abdankung der verhaßten Minister, auf gesetzlichem Wege erzwang und die „Massendeputationen“ nach Dresden auf welche sich die Straßendemokratie capricirt hatte, auf das Entschiedenste bekämpfte und mißbilligte. Im Vorparlament zu Frankfurt hatte er die Abweisung revolutionärer Versuche in noch energischerer Weise zu üben. Wirkungsvoller als jeder Andere hat er hier gegen die exaltirten Anträge Gustav von Struve’s auf Abschaffung, Auflösung und Aufhebung alles Bestehenden gekämpft. Robert Blum, der zu einem der Vicepräsidenten der Versammlung gewählt wurde, hat mit seiner unerschütterlichen Ruhe, Besonnenheit und Stimmenkraft thatsächlich die – stellenweise sehr erregte – Versammlung geleitet, da diese Leitung die Kräfte des ehrwürdigen Präsidenten Mittermaier bei weitem überstieg. Blum war es, der namentlich am ersten Verhandlungstage, als Struve und Hecker mit ihrer Magna charta in die Versammlung polterten – während von der Bockenheimer Gasse her die Gassenhelden gegen das Vorparlament in Anmarsch waren und nur vor der bewaffneten freiwilligen Bürgerwehr Frankfurts Kehrt machten – verhinderte, daß diese Versammlung, auf welche ganz Deutschland die größten Hoffnungen setzte, schon am ersten Tage in tiefster gegenseitiger Verbitterung ihrer Mitglieder aus einander stürmte. Er hat dann wieder inmitten des Tobens der äußersten Linken und der Gallerien, als dieselben Radicalen am 2. April in Masse den Saal verließen, weil sie es nicht ertragen konnten, in der Minderheit zu bleiben, die stattliche Zahl seiner näheren Freunde zum Ausharren bewogen und dadurch abermals die Würde des Vorparlaments gerettet und die endliche Durchführung der Aufgabe desselben ermöglicht. Während seine Reden in der Versammlung selbst die mißleiteten Freunde zart schonen, spricht er in den Briefen an seine Frau mit rücksichtsloser Offenheit und in den allerstärksten Ausdrücken der Entrüstung über die erregten Sturmscenen im Vorparlament und über den unglücklichen bewaffneten Aufstand Hecker’s und Struve’s im badener Oberlande. Hecker hat sich bekanntlich inzwischen in bemerkenswerther Weise mit den heutigen deutschen Zuständen in der Hauptsache einverstanden erklärt. Wenn man bedenkt, wie viel „weiter links“ er damals stand, als Robert Blum, wird wohl der Schluß gerechtfertigt erscheinen, daß auch Robert Blum heute, wenn ihm das Glück beschieden gewesen wäre, die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches zu schauen, nicht zu den Reichsfeinden zählen würde.

In den Fünfzigerausschuß, den das Vorparlament zur Vorbereitung der Parlamentswahlen und zur Durchführung aller sonstigen Beschlüsse des Vorparlaments einsetzte, wurde Blum mit der drittgrößten Majorität gewählt. Nach den mühseligsten Wochen kamen einige Tage der Zerstreuung. Der Fünfzigerausschuß sandte ihn als Commissar nach Köln, seiner Heimath. Es war ein unbeschreiblich großer Augenblick für ihn, als der [608] reichgeschmückte Dampfer, auf dem er stand, unter dem Jubel Tausender an der alten Rheinstadt anlegte, in der er die ganze Kümmerniß seiner Jugend verlebt hatte. „Meine Schwester habe ich gestern nur eine Viertelstunde, heute nebst der Mutter eine Stunde gesehen; sie sind Alle wohl und lassen Euch herzlichst grüßen,“ schreibt er an seine Frau. „Meine alte Mutter ist fast wahnsinnig geworden vor Freude, daß ihrem Sohn ein Fackelzug gebracht wurde; wie würde sie sich freuen, wenn Du mit den Kindern nach Köln kämst! Indessen es kann nicht sein. Beruhigen wir uns! Wir müssen der Zeit Opfer bringen.“ Die große versammelte Menge redete er mit den trauten Worten an: „Hier hat meine Wiege gestanden.“ Es war das letzte Mal, daß er seine Vaterstadt sah. Sieben Monate später waren die Kirchen derselben schwarz verhangen, und Ferdinand Freiligrath sang:

„So redet Köln! Und Orgelsturm entquillt dem Kirchenchore;
Es stehn die Säulen des Altars umhüllt mit Trauerflore;
Die Kerzen werfen matten Schein; die Weihrauchwolken ziehen,
Und tausend Augen werden naß bei Neukomm’s Melodien.
So ehrt die treue Vaterstadt des Tonnenbinders Knaben –
Ihn, den die Schergen der Gewalt zu Wien gemordet haben!
Ihn, der sich seinen Lebensweg, den steilen und den rauhen,
Auf bis zu Frankfurts Parlament mit starker Hand gehauen!“

Hans Blum.




Ein schwedischer Volksdichter und sein Fest.

Nicht daheim beim Lampenlichte darf man die Verse eines echten Volksdichters lesen, wenn man ihn ganz verstehen und würdigen will. In seine Heimath muß man wandern, die Luft athmen, die er in sich gesogen, über den Boden hinschreiten, auf dem er gewandelt, unter dem Volke leben, zu dessen eigenthümlichem, verdichtetem poetischem Abbilde er geworden; dann weiß man erst, was an einem Volksdichter ist, und warum er so und nicht anders werden mußte. Wer nicht in Ungarn gewesen, nicht über die Pußta gejagt, nicht in der Haideschenke die Zigeuner fiedeln und Cymbal schlagen gehört, wen nicht der Blitz aus den Feueraugen der Ungarinnen gestreift, der wird Petöfi, dem volksthümlichsten Dichter Ungarns, nicht gerecht werden können.

Und das gilt auch von dem Anakreon Schwedens, C. M. Bellman, diesem Liebling der Natur, seines Volkes und seines Königs, wie ihn ein Zeitgenosse genannt. – Man darf heute diesen Namen nur aussprechen, und die Augen jedes Schweden erglühen. „Einen der außerordentlichsten Menschen, die jemals gelebt haben,“ nennt unser alter Arndt den schwedischen Dichter. Seine Naivetät und Frische, seine Ursprünglichkeit und Naturtreue stellt dieser mit den Meisterschöpfungen eines Rembrandt und Teniers in eine Reihe; in ihm sieht man die echte schwedische Natur, den echten schwedischen Geist.

Mir war Bellman schon seit langer Zeit bekannt; ich las seine Dichtungen, doch ohne von ihnen weder ergriffen noch erwärmt zu werden. Er schien mir einer jener überschätzten Poeten zu sein, an welche insbesondere kleinere Nationen so gern ihre übertriebene Bewunderung heften. Selbst das Lob eines Kellgren und Tegnér konnten mich nicht umstimmen.

Dennoch nahm ich seine Episteln und Lieder auf meine schwedische Reise mit, ebenso wie ich Petöfi auf meiner Karpathenfahrt im Reisesack hatte. Und als ich hinfuhr durch das prächtige nordische Land, vorüber an mäßigen, stahlgrauen, düstern Hügelketten, entlang der smaragdenen Seen, die allerorts ausgegossen in unerschöpflicher Fülle, durch die rauschenden Wälder, die so seltsam, so zauberhaft zu flüstern verstehen; als ich einige Tage mich in Stockholm herumgetrieben unter den liebenswürdigen, stillvergnügten, lebensfrohen und doch so eigenthümlich schweigsamen Menschen, als ich den Mälar durchschifft, den dunkelgrünen Salzsee, und dieses nordische Constantinopel mit seinen Brücken, seinen Dämmen, seinen Palästen, seinen Felsengebirgen und seinem aus allen Ecken und Winkeln hervorschießenden nordischen Grün mir immer vertrauter wurde; als ich jetzt die Lieder Bellman’s nicht nur selbst las, sondern auch von Andern singen hörte, nach den Melodien, wie er sie selbst für seine Dichtungen geschaffen, in welchen sich Wort und Ton decken, wie die rechte Hand, die man auf die linke legt, – da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie ein Blitz flammte mir das Verständniß dieses Poeten auf, und ich stimmte freudig in den allgemeinen Ausruf ein, den ich rings um mich hörte: Ein Dichter! Ein echter Dichter!

Bellman ist den 24. Februar 1741 in Stockholm geboren. Sein Vater war Secretär in der Schloßkanzlei, später Landrichter. Die Mutter zeichnet der Dichter selbst: „Schön wie der Tag, unendlich gut, reizend in der Toilette, freundlich gegen alle Menschen, fein im Umgamge und begabt mit einer vortrefflichen Stimme.“

Unter zahlreichen Geschwistern wuchs er empor, fleißig, lernbegierig, phantasievoll und von munterem Sinne; schon als Kind sprach er, wie im Fieber-Paroxysmus, immer Verse vor sich hin, hingegen machten ihm die exacten Wissenschaften viele Schwierigkeiten. Später kam er nach Upsala auf die hohe Schule, wo er seine Rechtsstudien mit Erfolg vollendete. Von seinem Großvater, Magister Hernonius, einem Prediger, erbte er eine dem Religiösen und Mystischen sich zuneigende Richtung. Wie der Sonne, ehe sie in ihrem vollsten Glanze hervortritt, die graue Morgendämmerung vorangeht, so dem Bellman’schen Genius mystisch-religiöse Poesien, aber bald enthüllt er sich als das, was er eigentlich war und werden sollte, als der Dichter des heitern Lebensgenusses, der Freundschaft, der Liebe und der seligen Trunkenheit und Weltvergessenheit. Mit achtzehn Jahren lernte er zum ersten Male den süßen Taumel kennen, den die Gaben des Gottes Bacchus gewähren:

„Ich kam heim so roth und schön
Eines Nachmittags um Viere;
Meine Schwestern, mich zu seh’n,
Traten lächelnd vor die Thüre;
Nachbarn, Nachbarinnen gingen
Grad’ zur Kirche, zum Gebete,
Während aus des Pontaks[3] Schwingen
Muttern ich entgegentrete.

‚Mein Carl Michel,‘ sagte sie,
‚Wo, mein Kind, bist Du gewesen?‘
„Mütterchen, das können Sie
Ja auf meinem Antlitz lesen.“
‚Ja so, ja so, armer Tropf,
Setz Dich her zu meinen Füßen,
Leg auf meine Knie’ den Kopf:
Wer gesündigt hat, muß büßen.‘“

Er vergötterte seine Mutter, und diese Verehrung übertrug er später auf alle Frauen. Nebst den Gaben des Bacchus und der Schönheit der Frauen war es die Anmuth der nordischen Natur, waren es die eigenthümlichen Reize seiner Heimathstadt, die sein für den leisesten Eindruck empfängliches, wollüstig weiches, elastisches Gemüth zu seinen schönsten Liedern begeisterten. – Diese Lieder, bestimmt, gesellig im Freundeskreise genossen zu werden, sind sämmtlich Improvisationen. Inmitten fröhlicher Genossen, bei Trinkgelagen, oder wenn schöne Erinnerungen in ihm aufstiegen, kam es wie Verzückung über ihn. Er nahm seine Laute zur Hand, jene berühmt gewordene Laute, welche heute im Nationalmuseum in Stockholm unter den geliebtesten Andenken des schwedischen Volkes seine Stelle gefunden, und schloß die Augen; eine längere Pause entstand; nach und nach färbten sich mit Fieberröthe seine blassen Wangen; er präludirt, und nun beginnt er, Wort und Musik innig verschwisternd, jene Lieder, das Entzücken seiner damaligen glücklichen Zuhörer, heute die Kleinodien der schwedischen Literatur. So improvisirte er halbe Nächte vor seinen Freunden.

Productiv, wie jedes echte Talent, sang er an solchen Abenden unermüdet, bis er, gleich einer Pythia, wenn der Taumel der Begeisterung entschwunden, ermattet niedersank. Viele dieser seiner Dichtungen, wie sie als Eingebungen des Augenblickes entstanden, sind auch mit der Lust und Freude verklungen, die sie geboren; er selbst sammelte nichts, doch die Freunde behielten Text und Melodie im Gedächtniß, und schon bei seinen Lebzeiten kamen sie in zwei Bänden heraus.

Die Poesie, wie Goethe meint, zu commandiren, diese Gabe fehlte ihm gänzlich; sein Dichten war ein willenloses; nie war die Einsamkeit, immer die fröhlich ihn stimmende Umgebung [609] gleichgesinnter Freunde seine Muse. – Als er sein Ende nahe fühlte, sammelte er noch einmal seine Freunde um sich. Und da kam der Geist über ihn; alle Strahlen seines fliehenden Schaffensvermögens drängten sich zusammen; er ließ noch einmal den „Bellman“ hören; er sang mit überströmender Inspiration das Lob seines Königs; er dankte der Vorsehung, die ihn geboren werden ließ, in diesem nordisch schönen Lande, unter einem edlen Volke; dann leerte er zum letzten Male den Becher, hing seine Laute an die Wand und sang von dieser Stunde kein Lied mehr.

Und doch war Bellman im Ganzen eine mehr einsame und scheue, als eine gesellige Natur, rasch verstimmbar, wenn ihm die Gesellschaft nicht behagte, im Augenblicke, wenn ihn etwas empfindlich berührte, von toller Lustigkeit zu Ironie und stahlscharfem Sarkasmus überspringend. Mit Vorliebe suchte er die Locale auf, wo sich damals bei dem Tone einer Geige fröhliche Menschen aus den unteren Volksclassen versammelten. Da setzte er sich bei einer Flasche Halbbier, die Pfeife im Munde, in eine Ecke, sah sinnend in das Gewimmel hinein und studirte sich die Originale zu seinen Figuren heraus, die, zu Typen geworden, durch seine Lieder und Episteln hindurchgehen. – Mit diesen seinen Lieblingsgestalten, mit Movitz, Mollberg, Ulla Windblad etc. hat er wohl nie ein Wort gewechselt, aber sie sind ihm, wie einem Landschaftsmaler ein eigenthümlicher Baumstamm, Modell gestanden. Welche köstliche Schilderung einer solchen Volksunterhaltung in den folgenden Versen:

„Geigen kreischen und Trompeten;
Paare stoßen sich und treten;
Lust erschallet laut.
Ulla Windblad, theures Mädchen,
Tanzest zierlich wie ein Rädchen,
Jedes Mannes Braut.
Hurrah! Seht, wie sie sich schwingen,
Ihren Mädchen Gläser bringen,
Trinken, Schelmenlieder singen,
     Bis die Nacht
Ihrer Freud’ ein Ende macht!“

Wie in Stockholm die süßen Wellen des Mälarsees und die salzigen der Meeresfluth sich nahe begrenzend in einander hinüberspülen, so liegen in Bellman’s Liedern bacchantische Lust und herzerschütternde Töne des Ernstes hart neben einander. Möge dies das folgende Gedicht neben dem eben citirten heiteren beweisen:

„Ach, alt bin ich nun, bald aus ist der Spaß,
Genossen die irdische Weile.
Der Tod stellt sein Stundenglas neben mein Glas,
Streut mir um die Flasche die Pfeile.
     Durstig ich schau’ zu den Sternen empor;
     Geister singen den Abschiedschor –
     Movitz! Spiel’ auf, ich hab’ Eile. –

Mein elend’ Geripp, zu Nichts war es gut,
Als Qualen und Schmerzen zu haben.
Ich diente Gott Bacchus mit Gut und mit Blut
Für seine verderblichen Gaben.
     Venus und Bacchus! Geschieden muß sein. –
     Movitz, o lasse mein morsches Gebein
     Bei meinen Vätern begraben.“

Mit eigentlichen Nahrungssorgen hatte der Dichter niemals zu kämpfen. Gustav der Dritte, dessen königlichen Schutzes er sich erfreute, stellte ihn als Secretär bei der Lotterie mit einem Jahresgehalte von dreitausend schwedischen Reichsthalern an. Doch das Rechnen war Bellman’s starke Seite nicht und das Bureaugehen wollte ihm nicht behagen. Mit Erlaubniß des Königs überließ er einem Andern die Stelle und begnügte sich mit der Hälfte des Gehalts.

Er war von einer aufopfernden Nächstenliebe. Wenn es zu helfen galt, schrak Bellman, wenn er nicht selbst bei Mitteln war, davor nicht zurück, seine Kunst im Dienste der Wohlthätigkeit zu verwerthen. Als Bengt[WS 1] Lidner, ein schwedischer Poet, 1793 starb, trat Bellman einige Tage nachher in’s Zimmer der armen, traurigen Wittwe, gab ihr fünfzig Thaler und sagte mit freudeglänzendem Gesichte: „Das habe ich für Dich zusammengesungen.“

Bellman starb am 11. Februar 1795 an der Lungenschwindsucht und wurde auf dem Clara-Kirchhofe begraben. Seine Grabstätte ist unbekannt, wie jene des schlesischen Dichters Christian Günther, einer im Lebensgange und in der Art und Eigenthümlichkeit der poetischen Production Bellman nahe verwandten Erscheinung. Bei seinem Volke blieb aber der Dichter unvergessen, ja, seine Popularität wuchs von Jahr zu Jahr. Immer vollständigere und sorgfältigere Ausgaben seiner Dichtungen erschienen, Scenen aus seinen Episteln wurden von schwedischen Malern entworfen und sogar auf Porcellan nachgebildet, und endlich wurde 1829 des Dichters kolossales Brustbild, von Byström’s Meisterhand verfertigt, am 26. Juli im königlichen Thiergarten zu Stockholm feierlich enthüllt und dieser Tag zu einem jährlich wiederkehrenden Nationalfeste geweiht.

Als ich meine Reiseroute nach Skandinavien entwarf, war ich darauf bedacht, an diesem 26. Juli sicher in Stockholm zu sein.

Nie habe ich mir von Gott inniger blauen Himmel und heitere Luft erfleht, als für diesen 26. Juli. Warm und hell und lusterweckend schien die Sonne an dem Festtage, und schon in den ersten Nachmittagsstunden wogten Tausende zu Fuße und in langen Wagenreihen, ein farbenreiches, buntes Gewimmel, über die Brücken dem Thiergarten zu, während auf dem Seewege menschenüberfüllte Dampfboote und kleine segelgeschwellte Schiffe pfeilschnell dem beliebten Belustigungsorte, dem heutigen Festplatze, zuflogen. Unwillkürlich schwebte mir Bellman’s Schilderung in einer seiner Dichtungen vor:

„Sonne scheint so warm und lind;
Wasser ohne Wellen,
Und der frische Abendwind
Macht die Segel schwellen.
Wimpel flattern; stillvergnügt
Alles sich im Boote wiegt.“

Der Thiergarten ist ein Inselpark von einer großen Ausdehnung und unvergleichlicher Schönheit. Nahe am See ziehen sich breite, von riesigen Bäumen eingefaßte Alleen dahin, und hinter diesen reihen sich Schaubuden, Theater, Gasthäuser, Ringelspiele, Tanzböden und andere Belustigungsorte nahe an einander. Hierin ähnelt der Thiergarten dem Prater in Wien; was ihn aber vor diesem und vielleicht vor jedem ähnlichen, der Volkserholung und Freude gewidmeten Orte auszeichnet, ist, daß man diesen wohlgepflegten Alleen nur den Rücken zu kehren braucht, um schon nach wenigen Schritten mitten in der Großartigkeit wilder, nordischer Felsnatur zu stehen. Aus grünem Moose und Bergkräutern bricht der braune Granit hervor, und uralte Eichen, wie aus Odin’s Zeiten stammend, krümmen ihre Wurzeln um die Steine und strecken, Stürmen trotzend, hoch den kaum von den Armen dreier Männer zu umspannenden Stamm empor, und wohin man klimmt auf diesen mäßig sich hebenden Felshügeln, auf welchen überdies zwischen Waldesgrün reizende Landhäuser, Sommerfrischen der Stockholmer, durchschimmern, überall öffnet sich eine reizende Fernsicht nach dem lieblichen Mälar, nach der grünen Salzsee und auf die große, prächtige, mit Kirchen und Palästen geschmückte Stadt, überall andere, überall immer schönere Ausblicke bietend.

Einem der Felshügel nahe, an waldesfrischer Stelle, von zwei riesigen Eichen beschattet, steht die kolossale Erzbüste des Volksdichters Bellman. Ein frischer Eichenkranz ziert heute des Dichters Haupt, und mit Blumenkränzen ist der Granitsockel des Standbildes umwunden. Etwas Lebensmüdes, Schläfriges, Tiefmelancholisches liegt um die Augen des Dichters, während ein lüsternes, schalkhaftes, weltbeseligtes Lächeln um die vollen, sinnlichen Lippen sich lagert. Hinter dem Standbilde ist heute eine mit den Wappen sämmtlicher schwedischen Städte geschmückte Balustrade für ein Orchester errichtet; an diese grenzt ein abgeschlossener, jetzt noch leerer Raum, bestimmt die Sänger aufzunehmen. Buntfarbige Lampions hängen an den Bäumen, und eine nach Tausenden und Tausenden zählende, mit jeder Minute mehr anwachsende Menge lagert sich um den Bellman-Platz, so weit das Auge reicht, und gruppirt sich amphitheatralisch unter den Eichen und Nadelhölzern bis zu den höchsten Felsengipfeln hinauf.

Hunderte von Tischen stehen im Waldesgrün, improvisirte Schenken, umdrängt und umlagert. Ueberall ist freudiges Behagen, stiller Lebensgenuß, seliges Genügen. – Kein lautes Wort, kein roher Lärm! Wie im Abendwinde die Bäume lispelnd ihre Blätter bewegen, so flüstern sich diese Tausende von Menschen ihr Empfinden und ihre Freude in schöner Vertraulichkeit zu. [610] So ist’s nordische, schwedische Sitte. – Und über den weiten Raum läßt das Orchester Bellman’sche Weisen ertönen.

Ist es, weil ich mich in den letzten Tagen fast ausschließlich mit Bellman beschäftigt, oder sind die Menschentypen, die ein rechter Dichter schafft, unsterblich oder vielmehr kehren sie immer von Neuem wieder – mir scheint es plötzlich, als ob ich ringsum mir wohlbekannte und vertraute Gestalten aus dem Bilderbuche des Zeichners schwedischer Volkscharaktere auftauchen sähe.

Ist es nicht, als ob an dem heutigen Tage sich diese Volksmassen hier versammelt hätten, nicht um das Andenken ihres Dichters zu feiern, sondern seine populären Dichtungen in lebenden Bildern selbst darzustellen?

Himmel, welch’ Leben, welch’ fröhliches Bild!
Freundlich erglänzen vom Schloß schon die Lichter;
Fröhlich die Geige zum Tanze dort schrillt;
Spielleute schwitzen und schneiden Gesichter.
Bergström, der Bucklige, rothbraun und dick,
Bläst mit Verzweiflung in seine Posaune,
Scheint diesen Abend besonders bei Laune,
Heiterkeit strahlet der schielende Blick.

Die achte Abendstunde ist gekommen. Während bei uns um diese Zeit bereits Alles in grauer Abenddämmerung ruht, breitet sich hier im Norden ein verklärender, blauer Schimmer um Hügel, Bäume und Wasser aus.

Plötzlich kommt die Volksmenge in Bewegung, die auf den Hügeln Gelagerten heben sich empor; die in den Alleen und Schenken Zerstreuten eilen gegen den Festplatz heran, der allgemeine Ruf ertönt: Die Pal-Bricol kommen. – Wie von selbst bildet sich eine Gasse mitten im Gewühl, und durch diese schreiten die Pal-Bricol, etwa an zweihundert Männer jeglichen Alters und Standes, mit Hüten und Mützen, bunte Bänder um den Hals oder blaue Schleifen, an welchen kleine Trichter hängen, auf die Brust geheftet; sie nehmen in dem abgeschlossenen Raume vor der Büste Aufstellung. Ueber die Tausende von Menschen legt sich erwartungsvolle Stille; das Orchester intonirt, die Pal-Bricol beginnen die eigentliche Festfeier: das Absingen einer Reihe der schönsten Bellman’schen Lieder.

In weihevoller Stimmung stehen lauschend die Tausende und Tausende, und summen leise die ihnen allen wohlbekannten Weisen ihres Lieblingsdichters vor sich hin. Die zahlreichen Festgenossen aus den höheren Ständen, die in ihren Sitzen in den Equipagen, welche in den Alleen eine ganze Wagenburg bilden, lehnen, hören mit der gleichen stillen Andacht und Theilnahme zu.

Die ersten Sterne glitzern am blauen Himmel empor; das letzte Lied der Pal-Bricol ist verklungen; kein lauter Beifall ertönt, kein stürmischer Jubel, nur vereinzeltes Händeklatschen; die Brüder vom Pal-Bricol ordnen sich wieder zum Zuge und schreiten zu der Restauration von Hasselbaken zurück, von der sie ausgezogen; die unentwirrbar scheinenden Menschengruppen lösen sich allgemach geräuschlos und friedlich; die Wagen rasseln durch die Alleen gegen die Stadt; auf allen Seiten, auf den gewundenen Bergstegen steigen fröhliche Waller gegen die Restaurationen und Vergnügungsorte, vor deren Pforten buntfarbige Lampions durch das Grün der Bäume schimmern, empor; die Dampfschiffe werden fast gestürmt von heimwärts sich Drängenden, und einzelne kleine Ruderboote schweben geräuschlos dem sogenannten „Strömpaterre“ an der Schloßbrücke zu. In Hasselbaken aber bleiben die eigentlichen Veranstalter des Bellman-Festes, die Genossen vom Pal-Bricol, bis nach Mitternacht beisammen.

„Pal-Bricol“ ist ein geselliger Verein, welchen Bellman und seine dem Bacchus huldigenden Zechgenossen gegründet. Jedermann, der sich „Wein, Weib und Gesang“ in treuer Hingebung zuneigt, sollte Mitglied dieser lustigen Gesellschaft werden können, nur die ehrsame Zunft der Schneider wünschte Bellman für alle Zeiten ausgeschlossen, da er unbezahlter Rechnungen wegen von diesen allzuviel zu erdulden hatte.

Durch mehr als ein Jahrhundert besteht nun dieser, viele Hunderte von Mitgliedern zählende Verein. Er hält wöchentliche Versammlungen ab, die man Capitel nennt. In zehn Rangstufen, die durch verschiedene Embleme kenntlich sind, zerfallen seine Mitglieder; die Pflege der Poesie und des Gesanges im Allgemeinen, insbesondere aber die der Dichtungen Bellman’s sind sein Zweck; überdies übt er, in annerkennendster Weise, Wohlthätigkeit an Wittwen und Waisen von Mitgliedern aus. Der Hauptfesttag des Pal-Bricol ist das Bellmanfest am 26. Juli.

Der öffentlichen Festfeier vor der Büste des Dichters folgt eine auf Hasselbaken im geschlossenen Kreise. Während die Musik unermüdlich Bellman’sche Weisen in die Nacht hinaustönen läßt, werden die Becher zum Preise des Dichters an einander gestoßen und in mehr oder minder kunstvollen Reden der geniale, gutmüthige, genuß- und lebensfrohe Volksdichter geschildert.

Es geht die Sage, daß um Mitternacht, wenn Stille und Ruhe über dem Thiergarten liegen, wenn nur die Wellen noch leise rauschen, die Eichen geheimnißvoll durch einander flüstern und neugierig die verschwiegenen Sterne herabblicken, daß dann die Meister der ersten Grade des Pal-Bricol sich mit einer riesigen Punschbowle noch einmal zu der Büste des Dichters begeben und in feierlicher Weise mit dem süßen, von ihm so sehr geliebten schwedischen Nationaltranke, welcher so oft seine liederreichen Lippen genetzt, sein Haupt beträufeln.

Ob die Sage auf Wahrheit beruht, ich konnte es nicht erfahren, denn lange vor Mitternacht fuhr ich zu Schiffe heim. Hinter mir glänzte der Thiergarten noch mit Tausenden von Lichtern; die Orchester schickten mir abgebrochene Klänge Bellmann’scher Melodien nach, und aus einem Nachen neben uns klang von vier Männerstimmen das Bellman’sche Lied:

Giebt es wohl stolzere Bäume als hier?
Prächtigere Auen?
Der bläuliche Hafen
Im duftigen Grün,
Die Wellen sie schlafen
Im Abendglühn;
Schlösser und Wälder in bläulicher Fern’,
Ich seh’ sie so gern – ich seh’ sie so gern.

Joseph Weilen.



Deutsches Frauenleben im Mittelalter.
Eine culturhistorische Studie von Fr. Helbig.

4. Zucht und Sitte.
Deutsche Zucht geht doch vor Allem.
Walther von der Vogelweide.

In der ganzen ritterlichen Zeit des Mittelalters bewegte sich das gesellige Leben in streng gewahrten Regeln und abgemessenen Formen. Sie verliehen dem oft rauhen Untergrunde eine glatte Oberfläche. Zucht und Sitte wurden, wie oft, so auch hier zu Stützen der Moral. Sie verliehen allem Handeln, mochte es auch an sich schon recht und gut sein, erst die rechte Weihe.

„So eine Frau recht thut – –
Ist ihre Geberde nicht gut,
Und ist auch ihre Rede nicht schone:
So ist all ihre Gutthat ohne Krone“

heißt es im „Wälschen Gast“ von Thomasin von Zerklaere, der mittelalterlichen Zuchtbibel. Gar bald hatten nämlich diese Regeln ihre Sammler und Dolmetscher gefunden, welche sie in zierliche Reime brachten und zu Büchern zusammenstellten, damit die Jugend sie sich leichter in’s Gedächtniß prägen konnte, wie es heutzutage wohl geschieht in den Regeln der Grammatik. Da wären außer jenem „Wälschen Gaste“ noch der „Renner“ des Hugo von Trimberg, „Der Windsbecke und die Windsbeckin“, „Freydank’s Bescheidenheit“ und manche andere Lehrgedichte zu nennen. Wenn wir heutigen Tages in ihnen blättern, erstaunen wir wohl über den naiven Ernst, mit welchem darin Dinge gelehrt werden, die uns jetzt so einfach und selbstverständlich dünken, weil sie mit unserem modernen Gefühle und Bewußtsein von vornherein so verwachsen sind, daß wir sie demselben nicht erst lebendig zu machen brauchen.

Die ganze Summe dieser Regeln und Formen war, wie so [611] vieles äußerlich das Leben Bestimmende, von Frankreich zu uns herübergetragen worden, wie sie denn auch in jenem Buche als ein „Gast aus Wälschland“ sich einführt. Aber auch im germanischen Leben war die Gewalt der Sitte schon eine große, und die fremden Reiser paarten sich mit den heimischen zu einem innig verschlungenen Strauchwerke, das seine Wurzeln zumeist zwar auf Schlössern und Burgen trieb, aber auch hinabsenkte in die Straßen der wallumschirmten Städte und stillen Dörfer.

Zucht und Sitte breiteten schon früh eine tiefe keusche Scheu um die reine Frau, treulich schirmend die jungfräuliche und frauliche Ehre, deren Verlust auch den weiteren ihres Wahrzeichens, des langsträhnigen Haares, gnadlos nach sich zog. So wollte schon ein alter deutscher Brauch, daß eine Frau nie das berühren sollte, was eben erst die Hand eines fremden Mannes betastet hatte. Die Sitte bestand noch zu den Zeiten Wolfram’s von Eschenbach, in dessen Gedicht „Parcival“ Orgilleuse, die Königin von Byreis, es dem Ritter herb verweist, daß er ihr zumuthet, den Zaum seines Rosses zu fassen, auf dem noch eben seine Hände ruhten. Ebenso verbot es den Frauen die Sitte, Männerkleider anzulegen. „An dem Leibe mein soll niemals Jemandes Auge sehen Manneskleider,“ erwidert Gudrun, als Herwig der vor Frost Zitternden seinen Mantel zum Schutze bietet. (Gudrun, 1232.) So hätte es auch in altdeutscher Zeit kein Mann wagen dürfen, eine Jungfrau zuerst zu grüßen. Sie hätte es empfunden als eine Kränkung ihrer jungfräulichen Ehre. Dem Manne wurde dagegen Frauengruß zu hoher Ehre:

„Wenn eines guten Weibes Grüßen
Du kannst gewinnen, geh drauf ein;
Das wird dir manches Leid versüßen.“

Mit solchem Spruche übergiebt Frau Herzeleide ihren jungen ritterlichen Sohn den Fahrnissen der Welt. (Parcival.) Uebrigens erhob sich die Frau, wenn der fremde Mann in den Saal oder das Frauengemach trat, sofort von ihrem Sitze und ging ihm grüßend entgegen, und wäre sie auch die mächtigste Königin gewesen. Der Frauen Augen nahm die Zucht in strenge Hut. „Züchtig soll die Frau vor sich hin sehen und ihre wilden Blicke nicht hin und her lassen gehen, denn das verräth unstäten Sinn.“ „Eine Frau soll nicht fest ansehen den fremden Mann, das steht ihr wohl,“ lehrt der Wälsche Gast. Die bloßen Füße den Blicken der Männer preiszugeben, hielt eine züchtige deutsche Frau für die herbste Schande. Beim Gehen soll sie leise auftreten und kleine Schritte machen, wie die Pfauen und Kraniche, sagen die Dichter. „Eine Frau soll zu keiner Zeit treten weder fest noch weit.“ Auch dem zu freien Spiele der Hände tritt die Zucht wehrend entgegen. Züchtiglich soll beim Stehen die Frau die Hände über der Taille zusammenhalten (Wigalois, 15521), aber auch dem kommenden und scheidenden Gaste den Handschlag nie verweigern. Beim Gehen soll sie ein wenig das Haupt zur Seite neigen, wie der Gang Maria’s, der Himmelskönigin, gewesen. Wenn sie aber sich niedersetzt, soll sie nicht Bein über Bein schlagen.

So hielt vom Morgen bis zum Abende Frau Zucht Wache in Haus und Flur, und am strengsten war ihr Dienst, wenn sich Schloß und Halle mit fröhlichen Gästen füllte. Sobald dieselben, ob geladen, ob ungeladen, in Sicht traten, ging ihnen der Herr des Hauses entgegen.

„Da sah er sie zum Schlosse traben,“

heißt es in Hartmann von Aue’s „Erek“,

„Und schnell zum Weg der Burgherr ging;
Mit schönem Gruß er sie empfing.
Als er herzu sie reiten sah,
Sprach er und trat zu ihnen nah:
‚Willkommen Frau und Herr!‘
Und bat sie Beide sehr,
Daß sie ihn doch beehrten,
In seinem Haus einkehrten,
Um lang bei ihm zu leben.“

Auch des Hauses Wirthin ging, wie bereits in einem der früheren Aufsätze bemerkt, mit bis an das Thor, oder empfing aufstehend im Gastsaale die Kommenden mit leutseligem Gruße. An jeden Einzelnen richtete sie in wechselnder Rede ein: „Gott grüße Euch – Gott erhalte Euch – Gott minne Euch – Willkommen! – Gott und mir willkommen!“ Mit tiefer Verneigung erwiderte der Angeredete: „Euer Genade!“ das heißt „Ich danke Euch!“ Nun kommen Frau und Töchter des Hauses heran und helfen mit eigener Hand dem ritterlichen Gaste die schwer bestaubte Rüstung abnehmen. Die Mägde bringen ihm frische Kleider, und aus der Hand der Herrin empfängt er den Willkommentrunk. Dann geleiten Dienerinnen ihn zum wohlbereiteten Bade. Nach solcher Erfrischung führt ihn der Wirth zum Ehrensitz an die Tafel, und die Ehewirthin legt ihm die Speisen vor und credenzt ihm den Wein. Bricht die Nacht herein, so begleitet sie ihn zur Lagerstatt, um mit eigenen Augen sich zu überzeugen, daß das Lager gut und wohl bereitet. Oft war die Zahl der Gäste so groß, daß Burg und Burgflecken nicht Raum genug boten zu wohnlicher Herberge. Dann wurden rasch draußen auf freiem Felde, auf Anger und Aue hölzerne Wohnungen und mit schweren kostbaren Stoffen behangene Zelte aufgerichtet.

Die erste Sorge des Morgens galt wieder dem Gaste. In heimlicher Frühe hat ihm Frauenhand wieder frische Kleider und Wäsche vor das Bett gebreitet, und von Frauenmund ergeht an ihn die Frage, wie er in der Nacht geruht. War der Tag ein festlicher, so wurde er eingeleitet durch einen feierlichen Zug zur Kirche, den auch ein strenges Ceremoniell beherrschte. Zur Seite jeder edelgeborenen Frau gingen oder ritten zwei Ritter als Ehrenwache. Das Vorrecht im Zuge hatten die unverheiratheten Frauen; ihnen folgten die verheiratheten, an der Spitze die Frau vom Hause; dann erst schlossen die Männer sich an, sowie hinter ihnen drein die Jünglinge.

Auch für die Frau zu Pferde gab es mancherlei Regeln. „Eine Frau,“ schreibt der Wälsche Gast vor, „soll sich, wenn sie reitet, kehren gegen des Pferdes Haupt – sie soll ihre Hand nicht aus dem Gewande recken und ihre Augen und Haupt fein still halten. Einem Ritter würde es übel anstehn, wenn er wollt’ reiten und eine Frau gehn. Auch soll er nicht freventlich auf das Roß der Frau hinein reiten und sie dadurch erschrecken.“

Nach der Rückkehr von der Messe setzte man sich zum Morgenimbiß. Die Zeit zwischen diesem und der eigentlichen Hauptmahlzeit – nur zwei Mahlzeiten hatte der Tag – wurde ausgefüllt durch Besuche, Gespräch und allerlei Kurzweil. Auch da wich die unsichtbare Zuchtmeisterin nicht von der Seite der Frau. „Eine Jungfrau,“ lehrt sie, „soll sein sänftiglich und nicht laut sprechen, aber auch das Raunen (Flüsterreden) soll sie lassen; denn darin liegt ein Argwohn gegen die anderen Gäste. Sie soll lachen nicht zu viel; denn Lachen ist der Thoren Spiel. Zu dritt soll sie viel vernehmen und wenig sagen, denn das Hören das schadet nicht, von Reden aber uns oft viel Leids geschicht.“

Ein dröhnender Drommetenstoß rief Wirth und Gäste dann zur Hauptmahlzeit. Nach alter deutscher Sitte speisten Männer und Frauen in getrennten Räumen oder doch an besonderen Tischen. Nur die Herrin des Hauses erschien ab und zu in den Kreisen der tafelnden Männer, um ihre Pflichten als Hausfrau und Wirthin – wir ergänzen hier den früheren dieser gewidmeten Artikel noch ein wenig – zu erfüllen. Die Frauen

„Bedienten Mägdlein in blühender Frische;
Die Ritter, die gegenüber aßen,
Dagegen Junker, damit nicht
Leichtfertigkeit die Schranken bricht.“

Erst französische Sitte führte das paarweis Sitzen beider Geschlechter bei Tische ein. Dann bestimmte der Kämmerer die Plätze und die Damen wurden von den Herren an die angewiesenen Plätze geführt.

Vor Beginn der Mahlzeit wurde in Becken und Kannen Wasser herumgereicht zum Waschen der Hände. Auch hier schrieb das Ceremoniell vor, daß Wasser und Handtuch von den Knappen zuerst den Frauen gereicht wurden und dann erst den Männern nach der Ordnung ihres Ranges. Bei großen Mahlen brachten in jedoch nur seltenen Fällen berittene Truchsesse die Speisen in den Saal. Auch das Tafelgeräth wurde bei großen Gastmählern auf Wagen hereingefahren, und hinter jeglichem Wagen ging ein Schreiber, der, was man aufgetragen hatte, verzeichnete, „daß nach dem Essen nichts werde zurückzuliefern vergessen“, wie Wolfram von Eschenbach das bei einer feierlichen Tafel am Hofe des Königs Artus naiv erzählt. Die Bedienung der vornehmen Gäste solcher Festmahle übernahmen Junker – je einer für vier oder mehr Gäste, „der im Arm ein weißes Handtuch trug“. [612] (Parcival III. 31.) Solch hohe Ahnen haben unsere Servietten tragenden Kellner aufzuweisen!

Wenn nun die Tischgäste mit einem „Gesegn’ es uns Herr Jesu Christ!“ Platz genommen hatten, trat wieder die gestrenge Frau Zucht hervor mit Lehren wie sie etwa „des Tannhäuser’s Hofzucht“ giebt. „Man soll das Brod essen nicht, eh’ man bringt das erste Gericht,“ heischt sie von einem Ritter, der seines Magens Gelüste nicht kann zähmen. Dem Wirthe aber ruft sie zu: „Sorgt fein dafür, daß ein Jeder genug hat, wie das ein jeder biderbe Wirth thut. Das steht Euch nicht wohl an,“ mahnt sie einen Andern, „daß Ihr Euch auf den Tisch legt, wenn Ihr esset, und Euch,“ wendet sie sich zu einem Dritten, „daß Ihr mit den Messern in den Zähnen herumstochert und in die Salzfäßleins mit bloßer Hand greift.“

Jenen aber, der ihr wohl widerreden zu können meint, bringt sie mit den Worten zum Schweigen: „Indeß man etwas im Munde hat, soll man sich hüten zu sprechen und zu trinken. Auch soll, wer trinkt, nicht mit dem Munde schmatzen noch über den Becher hinwegsehen. Man soll auch nicht zugleich mit seinen Tischgesellen in die Schüssel fahren,“ belehrt sie einen Andern. Oder sie predigt: „Man soll essen aller Frist mit der Hand, die entgegen ist.“ Sitzt der Tischgenosse also zur rechten Hand, so soll man essen mit der linken Hand. Sich dann speciell zu den Frauen wendend, empfiehlt sie ihnen Maß in Speis und Trank und beim Essen selbst nicht zu lachen und zu sprechen. Sie sollten sich auch hüten, beim Trinken mit Aug’ oder Nase das Gefäß zu berühren. Auch des Tadels über das Essen soll sich eine Frau enthalten; behage es ihr nicht, so solle sie es lieber unberührt stehen lassen (Wälscher Gast). War die Tischgesellschaft eine gemischte, so heischte es zunächst die Pflicht des Mannes, seine Tischnachbarin mit Speise und Trank zu versorgen. Aber die wälsche Courtoisie gebot dieser auch, dem Tischgesellen die besten Bissen vorzulegen.

Nach dem letzten Gerichte wurde wieder Waschwasser herumgereicht. Dies war um so nöthiger, als die Zahl der Messer gewöhnlich nicht für alle Gäste ausreichte, vielmehr ein solches mehreren Personen zu gemeinschaftlichem Gebrauch diente, Löffel und Gabel aber lange Zeit noch zu den Raritäten zählten. So mußte Frau Zucht wohl ein Auge zudrücken, wenn hier und da einmal die fünfzinkige Gabel der Natur aushülfsweise zum Gebrauche kam. Auch Teller in unserem Sinne gab es noch nicht. Man bediente sich flacher Brode oder Kuchen, die, getränkt von den verschiedenen Speisesäften, beim Nachtische noch dem Verhängnisse der Vertilgung verfielen. Die Speisen wurden auf hölzernen Platten oder Schüsseln aufgetragen. Nach der Tafel entfernten sich die Frauen, wenigstens nach deutscher Sitte, aus dem Speisesaale und überließen die Männer den Freuden des Nachtrunks. Dann ging man auch zu verschiedenen gemeinschaftlichen geselligen Spielen und Unterhaltungen über, zu Gesang und Tanz, wovon wir später noch reden werden; auch wohl zu einem Buhurtreiten, dem Turnieren, bei dem Frauen nur die Rolle der Zuschauerinnen und Dankspenderinnen übernahmen. Die Frauen versäumten auch nie den Besuch der Mette. Zuletzt aber vereinigten sich Alle wieder in der gesellschaftlichen Halle, bis der Nachttrunk – warmer Wein mit Obst – herumging. Dieser war für Alle das Signal zum Aufbruch. Mit ihm schlossen die festlichen Stunden des Tages.

Die gleiche Herzenswärme, welche den Gast empfing, begleitete ihn auch wieder beim Scheiden. Bevor er aufbrach, erhielt er noch Imbiß und Trunk, auch wohl gastliche Gabe, die er zumeist mit einer gleichen erwiderte. Wirth und Wirthin gaben ihm das Geleite „bis vor die Thore der Stadt“ (Parcival).

Unter dem schützenden Zeltdache der Sitte konnte die Frau auch ungefährdet allein durch’s Land reisen. Erst im dreizehnten Jahrhundert wurde durch die Unsicherheit der Straßen und die nacheilende Verleumdung den ehrbaren Frauen dieses Unterfangen verwehrt. Das Reisen geschah gewöhnlich zu Pferde. Auch Nonnen ritten. Frau Zucht schwang sich, wie wir bereits sahen, auch mit auf des Rosses Bug. Die Frau saß seitwärts auf dem Rosse; ihre Füße ruhten auf am Gurte mit Riemen befestigten Breterschemeln oder Stegreifen von Metall oder Leder, von oft sehr kunstreicher Form, wie eine Stelle in Hartmann von Aue’s Erek lehrt:

„Goldreifen schwer und breit,
Gebildet wie zwei Drachen.
Die Schweife sie zum Rachen bogen,
Die Federn standen als ob sie flogen.
Die Augen waren Edelsteine,
Vier Hyanzinthe grün und kleine.“

Beim Aufsteigen ließ man die Frauen auf Hebeeisen oder besondere Schemel treten.

Auch der Wagen bedienten sich besonders im deutschen Norden die Frauen, viereckiger offener Kasten auf einem niedrigen Radgestelle; wenn auch mit Gold, Farbe und Schnitzwerk reich verziert, boten sie doch weit mehr Beschwerde als Bequemlichkeit. Bei üblem Wetter wurde eine Decke über sie gebreitet.

Wenn ein Mann in den Schutz eines Weibes floh, so mußte, wie es im Parcival heißt, der kampfbegierige Muth abstehen von der Verfolgungswuth, wohnte anders in ihm mannliche Zucht; kein ritterlicher Mann aber ließ eine hülfesuchende Frau sich ihm zu Füßen werfen.

Die Schlafstätten waren in den höfischen Kreisen getrennte. Die Frauen schliefen unter ihren Mägden und Dirnen, der Mann mit den Söhnen und Dienern.

Vielgestaltet nach Ort und Zeit erscheint die Sitte und der Brauch bei den drei Stationen, welche, wie ein alter Spruch andeutet, Anfang, Mitte und Ende des menschlichen Lebens bezeichnen: Kindtaufe, Hochzeit und Begräbniß. Vieles davon hat sich noch in die Gegenwart herüber gerettet, von dem „Kirchgang nach den sechs Wochen, die den Frauen sind zugesprochen“ („Tristan und Isolde“, 1953) bis zu dem Geschenk der Pathe beim ersten Zahnen (tanufê). Ein allgemeiner Brauch bei Hochzeiten war die auf dem Lande noch vielfach festgehaltene öffentliche Uebergabe der Geschenke an das Brautpaar in Gegenwart sämmtlicher Hochzeitsgäste. Ihr folgte in reichen Kreisen wohl noch eine Gegengabe des Bräutigams, wovon das vielfach noch gang und gäbe Auswerfen von Geldstücken beim Kirchgange wohl seinen Ursprung datirt. Das Brautpaar erhielt am Hochzeitsabende einen Nachttrunk und am Morgen zum Frühstücke ein – Brauthuhn. Der Polterabend, spöttisch die Kunkelhochzeit genannt, entstammt einer erst später eingeführten Sitte.

In dem Verhältnisse zwischen Weib und Mann lehrte die Zucht: der Mann ist des Weibes Trost und Herr. Aber der Mann, heischt die Sitte weiter, soll die ihm verliehene Gewalt über die Frau auch nicht mißbrauchen. Der Grundgedanke aller Zuchtregeln ist das Einhalten des rechten Maßes. Drastisch bringt dies ein Prediger des dreizehnten Jahrhunderts zum Ausdrucke, indem er sagt: „Eva ward nicht gemacht aus einem Fuße. Das bedeutet, daß Du Deiner Ehefrau nicht schmählich begegnen noch sie unter Deine Füße treten oder werfen sollst. Eva ward auch nicht gemacht aus dem Haupte, das bedeutet, daß die Frau nicht über ihrem Manne sein soll. Woraus ward sie denn gemacht? Sie ward gemacht aus seiner Seite. Daran sollen wir merken, daß der Mann seine Wirthin recht habe als sich selbst und als seinen Leib. Es soll recht sein ein Leib und zwei Seelen.“

Ganz fern aber lag dem Mittelalter die moderne Ehescheu.

Ein alter Lehrmeister (der „Windsbecke“) faßt die Summe aller dieser Lehren zusammen zu folgender an seinen Sohn gerichteten Lebensregel:

„Sohn, Du sollst keuscher Worte sein
Und stäten Muthes. Thust Du das,
So glaub’ es auf die Treue mein,
Du lebst in Ehren desto baß.
Trag’ Niemand Neid noch langen Haß,
Sei gegen Feinde hochgemuth!
Sei Freunden nie mit Diensten laß,
Dabei in Züchten wohl gezogen,
Und grüße, die Du grüßen sollst,
So hat das Glück Dich nicht betrogen.“

[613]

Schiffbruch vor dem Hafen.
Original-Zeichnung von W. Grögler in München.

[614]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Schluß.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

„Wer ist hier?“ fuhr Georg auf. „Gabriele?“

„Mit ihrer Mutter. Sie wohnen schon seit einigen Wochen drüben in jener Villa. Die Baronin ist etwas leidend und hat sich der Behandlung eines unserer berühmtesten Aerzte anvertraut. Die Anknüpfung eines näheren Verkehrs zwischen uns und den beiden Damen ist natürlich unterblieben. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, welche Erinnerung Gabriele abhält, das Haus zu betreten, in dem ich weile.“

„So ist es gut, daß ich morgen schon abreise,“ sagte Georg in gepreßtem Tone. „Vielleicht wäre mir auch hier eine Begegnung nicht erspart geblieben, und gerade hier, wo meine Liebe und mein Glück begann, hätte ich das nicht ertragen.“

„Sie wollen also keine Annäherung versuchen? Bedenken Sie, Georg, es handelt sich um Ihr Lebensglück. Ich an Ihrer Stelle würde dieses ungeahnte Zusammentreffen gerade für einen Wink des Schicksals nehmen und noch einmal die entscheidende Frage stellen. Die Lebensstellung und noch mehr die Zukunft, welche Sie zu bieten haben, bewahrt Sie vor jeder Demüthigung, selbst wenn Sie um die Hand einer reichen Erbin werben. Sie hatten einst weniger in die Wagschale zu legen, als Sie der Baroneß Harder Ihre Liebe erklärten.“

„Damals war ich geliebt,“ rief Winterfeld mit aufquellender Bitterkeit, „oder ich glaubte wenigstens, es zu sein. Jetzt liegt die Abschiedsstunde zwischen uns, in der mir jener Traum vernichtet wurde, und Gabriele wird ihn am wenigsten zurückrufen wollen. Ich sah es oft genug an ihrem scheuen, ängstlichen Ausweichen, wie sehr sie eine Annäherung meinerseits fürchtet.“

„Und gerade diese Scheu sollte Sie ermutigen,“ warf Brunnow ein. „Nur an dem Gleichgültigen geht man kalt und fremd vorüber. Wagen Sie es wirklich nicht –?“

„Niemals!“ unterbrach ihn Georg ungestüm. „Soll ich wieder vor sie hintreten, um zum zweiten Male aus ihrem Munde zu hören, daß ihre Liebe einem Anderen gehört, daß sie selbst über das Grab hinaus nichts weiter kennt und liebt, als nur ihn allein? Einmal habe ich es ertragen, und das ist genug. – Lassen Sie uns abbrechen, Herr Doctor! Sie sehen es, ich bin nicht ruhig genug, über diesen Gegenstand zu sprechen.“

Brunnow schwieg. Das Gespräch wurde unterbrochen; denn Max trat ein, um den Freund wieder in Beschlag zu nehmen. Der Doctor ließ die Beiden allein und zog sich in sein Studirzimmer zurück. Wohl eine Viertelstunde lang ging er dort schweigend in tiefem Nachdenken auf und nieder, dann nahm er seinen Hut und verließ das Haus. –

Die Villa, welche Frau von Harder und ihre Tochter gegenwärtig bewohnten, war um Vieles prachtvoller und glänzender eingerichtet, als das kleine Landhaus, das ihnen bei ihrem ersten Hiersein zum Aufenthalte diente. Die Baronin hielt es für unumgänglich nothwendig, jetzt überall das standesmäßige Auftreten zu entfalten, das sie einst so schmerzlich vermißt hatte, und Gabriele fügte sich in allen Aeußerlichkeiten gleichgültig ihren Wünschen. Man hatte auch hier Equipage und Dienerschaft mitgebracht, und Frau von Harder war soeben zur Stadt gefahren, während ihre Tochter sich allein zu Hause befand.

Gabriele stand auf der Terrasse, die nach dem See hinausging. Die schlanke Gestalt mit dem blonden Haar und der hellen Kleidung lehnte leicht an der Balustrade. Die zarte knospenhafte Erscheinung des jungen Mädchens hatte sich in den vier Jahren zur vollsten Blüthe entfaltet. Es war noch das rosige Antlitz mit seinem bestrickenden Reize, aber dieser Reiz war ein anderer geworden. Man suchte vergebens den neckischen Uebermuth, die strahlende Heiterkeit; sie waren verschwunden, wie das sorglose Kinderglück, das einst aus den sonnigen braunen Augen lachte, aber dafür hatte dieses Antlitz gewonnen, was ihm einst fehlte, das Seelenvolle. Ob es in dem leisen Schmerzenszuge lag, der selbst bei dem Lächeln nicht weichen wollte, oder in dem Schatten, der tief im Auge weilte – genug, es war da und lieh der ganzen Erscheinung erst den vollen Zauber.

Gabriele blickte wie in Träume verloren in die Landschaft hinaus; sie wandte sich halb unwillig um, als der Diener erschien und ihr eine Karte überreichte; kaum war ihr Blick auf den Namen gefallen, so erbleichte sie, und die Karte zitterte in ihrer Hand.

„Der Herr bittet, die gnädige Baroneß in einer dringenden Angelegenheit sprechen zu dürfen,“ berichtete der Diener.

„Führen Sie ihn in den Salon!“ befahl sie und verließ die Terrasse, um den Besuch zu empfangen. Gleich darauf trat Doctor Brunnow in den Salon.

Ewige Secunden lang standen sich Beide schweigend gegenüber. Sie sahen sich zum ersten Male im Leben und wußten doch so viel von einander, als hätten sie sich jahrelang gekannt. Der alternde gebeugte Mann und das junge blühende Mädchen waren sich bis zu dieser Stunde fremd gewesen, und doch knüpfte ein Name – der Name eines Todten – ein unsichtbares Band zwischen ihnen.

Der Doctor verneigte sich und trat näher. Gabriele wich unwillkürlich vor ihm zurück. Er bemerkte es und blieb stehen.

„Sie erwarteten wohl nicht, daß ich Ihnen nahen würde, mein Fräulein,“ begann er. „Ich that es auf die Gefahr, zurückgewiesen zu werden. Mein Name hat eine unheilvolle Bedeutung für Sie gewonnen.“

Gabriele stand mit mühsam erzwungener Fassung da, die Farbe war noch nicht wieder in ihre Wange zurückgekehrt und ihre Stimme schwankte, als sie erwiderte:

„Ihr Kommen überrascht mich allerdings, Herr Doctor. Ich glaubte nicht, daß mich der Mann aufsuchen würde –“

„Von dessen Hand Arno Raven fiel,“ vollendete Brunnow. „Sie haben Recht, wen Sie vor dem zurückweichen, der ihm den Tod gab, aber glauben Sie mir, mein Fräulein, ich hätte lieber das tödtliche Geschoß auf meine eigene Brust gerichtet, als ihn fallen sehen.“

„Er hat Sie zu dem Duell gezwungen?“ fragte das junge Mädchen leise. „Ich ahnte es längst.“

„Ja, und in eine Weise gezwungen, die mir keine Wahl ließ. Hätte ich gewußt – – aber seine Waffe war so fest auf mich gerichtet! Wie konnte ich ahnen, daß er sie im entscheidenden Moment wenden würde! Meine Hand bebte und suchte unsicher den Ort, wo sie nur verwunden konnte, und dieses Beben wurde zum Verhängniß – ich traf mitten in das Herz des einstigen Freundes!“

Gabriele zuckte zusammen, aber der dumpfe Schmerz, der in jenen Worten zitterte, entwaffnete sie.

„Arno hat keinen Haß gegen Sie getragen,“ entgegnete sie. „Als er mir wenige Stunden vor seinem Tode seine ganze Vergangenheit enthüllte, da erfuhr ich auch, was Sie ihm gewesen sind. Vielleicht ebenso viel, wie er Ihnen war.“

„Und doch hat er mir das gethan!“ sagte Brunnow mit der tiefsten Bitterkeit. „Er wollte sterben, aber warum wählte er denn gerade die Hand des Jugendfreundes? Das war hart, viel härter, als mein Mißtrauen es verdient hat. Er mußte es wissen, welch eine Last er damit auf den Rest meines Lebens wälzte. Ich erliege ihr.“

Gabriele blickte in das bleiche, gramdurchfurchte Antlitz des Sprechenden, das deutlicher als alle Worte verrieth, was er gelitten hatte und noch litt. Sie fühlte, wie tief und heiß der Verlorene hier geliebt worden war, und das riß alle Schranken nieder; in ausbrechender Empfindung streckte sie dem Doctor ihre Hand entgegen.

„Ich wußte es, daß ich hier verstanden würde,“ sagte er, die Hand in die seinige schließend. „Arno hat Sie ja geliebt; das war mir genug.“

Auch sein Auge hing jetzt fest an den holden Zügen des jungen Mädchens, als suche er darin die Spuren des Vergangenen.

„Ich komme mit einer Bitte,“ nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort. „Mit einer Bitte, die vielleicht kein Anderer aussprechen dürfte, ohne Sie zu verletzen. Ich habe Ihnen soeben bekannt, was mir Arno war, und eben deshalb werde Sie es nicht mißdeuten, wenn ich Ihnen sage, was mich herführt. Mein Sohn hat einen Freund –“

[615] Gabriele erbebte; sie zog die Hand zurück.

„Einen Freund, den auch Sie kennen, dem Ihre Jugendliebe galt; sie mußten vor den Flammenblitzen einer mächtigeren Leidenschaft erbleichen, diese Jugendliebe. Für mich bedarf das keiner Erklärung oder Rechtfertigung. Ich weiß am besten, wie mächtig Arno zu fesseln verstand, wo er fesseln wollte. Jetzt ist er todt – und Sie sind frei, Gabriele. Spricht in Ihrer Seele keine Stimme mehr für den Jugendgeliebten?“

„Sie hat nie aufgehört für ihn zu sprechen, selbst da nicht, als man mich von ihm losriß, und doch opferte ich ihn und sein Glück, mußte es opfern, weil eine andere Stimme noch lauter sprach. – Ich kann Arno nicht vergessen.“

„Vergessen?“ wiederholte Brunnow mit schwerer Betonung. „Nein, das können Sie nicht, und so wie ihn können Sie auch keinen Anderen lieben. – Ich glaube es Ihnen.“

„Nein,“ sagte Gabriele fest. „Und eben deshalb kann ich nicht Georg gehören.“

„Muß man denn immer selbst glücklich sein?“ fragte Brunnow düster. „Es ist ja ein Großes, glücklich zu machen. Winterfeld ist bei meinem Sohne. Ein Zufall führte ihn her; er ahnte nichts von Ihrer Nähe, bis ich ihm Nachricht davon gab. Da brach sein Schweigen und seine Zurückhaltung, und ich habe einen Blick gethan in die Tiefe seiner Liebe, die Ihnen noch immer so heiß und voll entgegenströmt wie einst. Er wird nie in anderen Banden Ersatz finden; ich kenne ihn. Er wird einsam durch das Leben gehen, und mitten in all den Erfolgen, die seiner warten, nur die Leere fühlen, welche jene Abschiedsstunde zurückließ. Sie sind noch so jung, Gabriele, Sie haben noch ein ganzes Leben einzusetzen. Setzen Sie es für ihn ein! Er verdient es.“

Sie wandte sich heftig ab. „Nicht weiter, Herr Doctor! Verschonen Sie mich mit diesen Erinnerungen! Wenn Sie in Georg’s Namen sprechen –“

„Er weiß nichts von meinem Hiersein,“ unterbrach sie der Doctor. „Er würde mich im Gegentheil zurückgehalten haben. Glauben Sie nicht, daß Georg Ihnen je wieder freiwillig nahen wird! Er wies den Gedanken daran mit vollster Heftigkeit zurück, und er hat Recht. Sie haben ihn damals gehen heißen – Sie müssen ihn auch wieder zurückrufen.“

Gabriele preßte im heftigsten Kampfe beide Hände gegen die Brust, als müsse sie dort etwas niederzwingen. „Ich kann nicht, kann nicht! – Und Georg wird die Liebe nicht wollen, die ich ihm jetzt noch bieten kann.“

„Er wird es, denn er ist einer von den selbstlosen Charakteren, die stets mehr geben als sie empfangen.“

Gabriele hob das Auge zu dem Sprechenden empor – es stand ein ernster, trauriger Vorwurf darin.

„Und das alles sagen Sie mir? Sie, der Freund Arno’s, wollen einen Andern an seine Stelle setzen?“

„Nein, beim Himmel, das will ich nicht,“ rief Brunnow auflodernd. „Die Stelle bleibt ihm, und die kann ihm kein Winterfeld rauben. Jene edlen idealen Menschen, die so ruhig ihre Bahnen gehen, denen kein Schatten und kein Makel anhaftet, die bewundert man und stellt man hoch. Naturen wie die Arno Raven’s können kein Glück geben; sie bedrohen selbst das Geliebte mit dem Schatten, der auf ihnen liegt, und doch ist es mehr werth, mit ihnen und für sie zu leiden, mit ihnen unterzugehen, als an der Seite jener Anderen glücklich zu sein. Nicht wahr, Gabriele, das haben Sie auch erfahren?“

Die alte Gluth loderte wieder aus der Asche empor. Die gebeugte Gestalt Brunnow’s hatte sich aufgerichtet, als er leidenschaftlich die Worte herausschleuderte, und in seinen Augen flammte einen Moment lang wieder das Feuer der Jugend. Gabriele hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und weinte – weinte, als ob ihr das Herz brechen sollte.

„Und nun lassen Sie mich nicht ohne Antwort gehen,“ sagte der Doctor nach einer Pause. „Ich habe so selten in meinem Leben Glück bringen können; ich möchte es noch einmal thun, ehe ich – gehe, und ich werde bald gehen. Darf ich Georg eine Hoffnung bringen? Wollen Sie ihn wiedersehen?“

„Ich will es versuchen!“ sagte sie leise. – – –

In dem Brunnow’schen Hause ging es am Nachmittage ein wenig wunderlich zu. Zuerst hatte der Doctor in seinem Studirzimmer eine Unterredung unter vier Augen mit seinem Sohne, die jedenfalls auf Max einen ganz überwältigenden Eindruck machte; denn er überfiel seinen Vater mit einer ebenso stürmischen Umarmung, wie einst den Papa Hofrath. Darauf hatte der junge Arzt in seinem Wohnzimmer ein Gespräch, ebenfalls unter vier Augen, mit seiner Frau, von dem Beide etwas erregt zurückkamen. Dann verschwand Frau Agnes und kam vorläufig nicht wieder zum Vorschein, während Max sich seines Freundes bemächtigte, dem er jetzt überhaupt nicht mehr von der Seite ging. Unter anderen Umständen würde Georg wohl errathen haben, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorgehe, aber die Nachricht von heute Morgen raubte ihm alle Unbefangenheit, er hatte Mühe, seine Fassung zu behaupten. Leider trug Max dieser „elegische Stimmung“ durchaus keine Rechnung, obgleich er den Grund derselben kannte. Er war im Gegentheil vollständig rücksichtslos, plagte den Freund mit allen möglichen Fragen und Einfällen und schleppte ihn endlich unter allerlei Vorwänden wieder in den Garten.

„Aber was soll ich denn eigentlich in dem Gartenhause?“ fragte Georg beinahe unwillig. „Ich war ja schon heute Morgen dort und habe die Aussicht bewundert.“

„Diesmal sollst Du ein Arrangement meines Papa bewundern,“ erklärte Max. „Ein Arrangement, das er eigens Dir zu Ehren getroffen hat. Papa ist ausnahmsweise praktisch gewesen. Komm nur mit! Du wirst erstaunen.“

Das Gartenhaus, ein kleiner Pavillon, lag dicht am See und bot allerdings eine herrliche Aussicht.

„Es sind ja Damen dort,“ sagte Winterfeld, als sie sich dem Häuschen näherte.

„Ja wohl,“ versetzte Max gleichgültig. „Agnes hat Besuch bekommen. Ah, da ist sie ja.“

Frau Agnes erschien jetzt wirklich und wechselte einen schnellen Blick des Einverständnisses mit ihrem Manne, der in demselben Augenblicke ein ebenso hinterlistiges wie geschicktes Manöver ausführte. Er ließ den arglosen Freund vorantreten, schob ihn dann ohne Weiteres über die Schwelle und schlug die Thür hinter ihm zu. Dann wandte er sich triumphirend zu seiner Frau:

„So, jetzt sitzen sie in der Falle. Und gnade Gott dem Georg, wenn er nicht als Bräutigam wieder zum Vorschein kommt! Nun gilt es aber vor allen Dingen, eine etwaige Störung fern zu halten. Es schickt sich zwar durchaus nicht mehr für einen Ehemann und Vater, bei einer Liebeserklärung Schildwache zu stehen, aber in Anbetracht der ganz besondere Umstände will ich mich noch einmal dazu herablassen. Geh’ in das Haus, Agnes, und sage dem Papa, es wäre ausgezeichnet geglückt!“

Während Frau Agnes der Weisung ihres Gatten nachkam, spielte drinnen im Pavillon eine kurze, aber inhaltreiche Scene.

„Gabriele!“ rief Georg und machte eine Bewegung ihr entgegen zu stürzen, besann sich aber und blieb stehen. „Baroneß Harder!“

„Georg!“ sagte Gabriele mit sanftem Vorwurf.

„Verzeih’ – ich wußte nicht – ahnte nicht. Wie kommst Du hierher?“

Gabriele senkte die Augen ohne zu antworten, aber gerade in diesem Schweigen lag eine Verheißung, und sie wurde verstanden.

„Wie kommst Du hierher?“ wiederholte Winterfeld mit Leidenschaft. „Gabriele, sprich – wußtest Du, daß ich hier sei?“

„Ja,“ war die leise, aber feste Antwort.

Georg stand jetzt neben der Geliebten, aber er hatte noch nicht einmal ihre Hand erfaßt.

„Wie soll ich das deuten?“ fragte er mit forschender Unruhe und aufquellender Zärtlichkeit; „es ist ja nicht unser erstes Wiedersehen seit dem Tage, wo wir uns fremd wurden, aber Deine Augen haben mir stets gesagt, daß wir uns auch fremd bleiben müßten. Darf ich jetzt endlich etwas Anderes darin lesen?“

Er las es in der That in diesen Augen, die sich ihm voll und bittend zuwendeten. „Georg,“ sagte Gabriele innig, „ich habe Dir einst wehe gethan. Du weißt, was uns trennte, was noch Jahre lang zwischen uns lag. Ich vernichtete damals Dein ganzes Lebensglück; Du hattest keine Klage, kein Wort des Vorwurfs für mich und littest doch so schwer darunter. Ich möchte Dir jetzt so gern das Verlorene zurückgeben. Habe ich denn noch die Macht dazu?“

Es hätte dieser Frage nicht bedurft. Die glühende Innigkeit, mit der Georg die Geliebte an sein Herz schloß, gab ihr [616] die Antwort, noch ehe seine Lippen sie aussprachen. Sie lag wieder in seinen Armen und hörte das Geständniß seiner Liebe, wie einst vor Jahren. Damals freilich kannte sie noch nicht die stürmische, alles überfluthende Seligkeit, die sie einst in Arno’s Armen bis zur Sonnenhöhe des Daseins emporzutragen schien und ihr in wenigen kurzen Stunden das Glück eines ganzen Lebens gab, um sie dann auch den ganzen Schmerz des Lebens auskosten zu lassen – aber es strömte doch wieder warm und hell wie Sonnenschein durch ihre Seele. Gabriele hätte ja kein Weib sein müssen, wenn sie nicht freudig aufgeathmet hätte bei dem Gedanken, so treu und fest geliebt zu sein, und es ist ja auch ein Glück, Anderen das Glück zu geben.

Draußen lag die Landschaft im Sonnenglanze; der weite schimmernde See, die reichumkränzten Ufer und das blaue Gebirg in der Ferne – und vor den Beiden, die jetzt den Bund für das Leben schlossen, lag auch dieses Leben so weit und offen da, mit seinen reichen Hoffnungen, seiner lichten Zukunft, mit einer langen Reihe froher, glücklicher Tage. Es war ringsum Alles so klar, so sonnig und hell, und doch umwehte es die junge Braut wie Geisterhauch, wie das leise Grüßen einer Mondnacht und das ferne Rieseln eines Quells, und einen Moment lang verschwand all das goldene Sonnenlicht vor ihren Augen, verdunkelt von einer Thräne. Gabriele fühlte es ja, daß sie dem Leben und der Liebe zurückgegeben war, aber – um hohen Preis.


Blätter und Blüthen.


Nürnberger Markttypen. (siehe Abbildung, S. 605.) In unserer Nr. 33 führten wir den Leser in das Nürnberger „Bratwurstglöckle“, jene eigenartigste unter den Restaurationen der alten deutschen Kunststadt. Heute sei uns ein Blick auf das Marktleben Nürnbergs gestattet. Das stramme Zunftwesen unserer alten Städte begnügte sich nicht mit einer strengen Absonderung der verschiedenen Handwerke; auch dem Bauer, welcher mit seinen Erzeugnissen zu Markte fuhr, war je nach Art seiner Producte ein besonderer Stand angewiesen, und so hatte denn auch Nürnberg seinen speziellen Roß-, Sau-, Korn-, Heu-, Milch-, Salz-, Fisch-, Obstmarkt etc., Benennungen, welche, wenn auch ein überloyaler baierischer Patriotismus sie durch andere Namen zu verdrängen versucht, doch noch bis auf den heutigen Tag im Munde des echten Nürnbergers gebräuchlich sind. Das eigentliche Marktleben selbst hat sich übrigens schon seit langen Jahren größtentheils auf dem sogenannten großen „Herrenmarkt“ entfaltet. Hier trifft man vorzugsweise reichhaltig die charakteristischen Typen der Marktbevölkerung, welche unser Zeichner dem Beschauer in treuer Wiedergabe vorstellt.

Im Mittelpunkte der Gruppe ist es vor Allem der Oberpfälzer Bauer, welcher, mit einer Obstbäuerin aus dem Vorlande der Fränkischen Schweiz in lebhaftem Handel begriffen, unsere Aufmerksamkeit fesselt. Der Tuchrock und die großen silbernen Knöpfe der kurzen Weste – zumeist noch aus Münzen des vorigen Jahrhunderts bestehend – deuten auf den wohlhabenden Grundbesitzer. Das Gesicht der gemüthlichen Obstbäuerin ist von einem schwarzseidenen, an beiden Seiten der Schläfe zusammengerafften Kopftuche eingerahmt, eine Tracht, die wir dem Grundcharakter nach in vielen Gegenden Baierns wiederfinden.

Aus der dicken Bäuerin links unter dem an der Mütze kenntlichen Marktofficianten ersehen wir, daß Oberfranken trotz seines obigen hagern Vertreters doch seine Leute noch zu nähren weiß. Hier sind es nicht die in viele wulstige Falten gelegten Röcke, wie bei der links unten mit einem Boten sich unterhaltenden Gemüsehändlerin aus dem sogenannten Knoblauchslande, welche den Umfang der Gestalt bis in’s Unendliche erweitern – hier haben wir unbestreitbar vielmehr die Wirkung nahrhafter Mehlspeisen, von denen besonders Schwemmklöße mit Peterle (Petersilie) landesüblich, sowie eines ausgiebigen Biergenusses vor uns. Aus der merkwürdigen Haube der unteren Bäuerinnen ersehen wir das oft Bemerkte, daß Volkstrachten weniger dem Bedürfniß, als einem bäuerischen Nachäffen vornehmer Moden früherer Jahrhunderte entsprungen sind. Die spitze Zuckerhutmütze mit ihren lang herabfallenden Bändern ist lediglich eine rohe Kopie der burgundischen Haube, wie sie zu Zeiten Maria’s von Burgund, der Gemahlin Max des Ersten, unter den vornehmen Ständen üblich war. (Vergl. „Teuerdank’s Brautfahrt“, Jahrgang 1877, S. 694.)

Annähernd ähnlich, wenn auch mit einem Kopftuche überbunden, präsentirt sich uns die Bäuerin rechts neben dem Maurer, welcher, den Glimmstengel zwischen den Zähnen, höchst beschaulich des Einuhrschlagens von der nahen Frauenkirche harrt. Die wohlgenährte Figur rechts unten beweist, daß selbst das Sammeln der Haderlumpen des Lebens Nothdurft zur Genüge gewährt. Neben ihr dampft ein Bäuerlein wohlgemuth den eigengebauten Tabak. Daß es Aepfel und nicht, um gut Nürnbergisch zu reden, Potaken (Kartoffeln) sind, welche das Handelsobject nicht nur der alten, sondern auch der jüngeren bequem zuwartenden Bäuerin bilden, zeigt der still vergnügt in den geschenkten Apfel hineinbeißende junge Oberpfälzer an. Obst gehört nun eigentlich auf den nahegelegenen Obstmarkt, wo das weltberühmte „Gänsemännchen“ von seinem Brunnen beschaulich auf all die herrlichen Früchte blickt, welche namentlich zur Herbstzeit in Säcken und Körben den weiten Platz füllen. Die noch übrigen Gestalten im Hintergrunde unseres Bildes, vom ritterlich bärtigen Bier-Verständigen bis zum absegelnden Jungfräulein, bedürfen keiner Erklärung.

K. Ubhrst.



Treue Cameradschaft. In Nr. 49, Jahrgang 1870, brachten wir unter „Blätter und Blüten“ ein „Erinnerungsblatt für die Opfer von Laon“. Unsere Leser werden sich noch der Katastrophe vom 9. September 1870 erinnern, der eine größere Anzahl deutscher Soldaten zum Opfer fiel. Unter Anknüpfung an das eben erwähnte Erinnerungsblatt heute Folgendes:

Der in der Provinz Sachsen bestehende „Provinzialverein ehemaliger Jäger und Schützen“ pflegt alljährlich am Jahrestage der Katastrophe von Laon das gemeinschaftliche Grab seiner bei der Explosion des Pulvermagazins gefallenen Cameraden – fünf Oberjäger und siebenunddreißig Jäger der ersten Compagnie des Magdeburgischen Jägerbataillons Nr. 4 – welche auf dem Friedhofe zu Laon ihre letzte Ruhestätte gefunden haben mit Blumen und Kränzen schmücken zu lassen. So auch im vorigen Jahre, wo der Maire von Laon die Bekränzung gütigst übernommen hatte. Als nun obiger Verein am 7. Juli dieses Jahres in Naumburg an der Saale sein fünftes Stiftungsfest feierte, ging an denselben nachstehender Brief ein, der uns auf unsern Wunsch durch die Güte des Herrn Vorsitzenden zum Abdruck überlassen worden:

„An den ‚Provinzialverein ehemaliger Jäger und Schützen‘!

Im Jahre 1877 bereiste ich geschäftlich mehrere Provinzen Frankreichs, und so kam ich am 9. September, einem Sonntage, also am Jahrestage der Sprengung der Citadelle durch die Franzosen (1870) nach Laon. Nur einige wenige Gebäude ließen noch von der Katastrophe etwas erblicken, und indem ich langsam durch die Straßen der Stadt schlenderte, fuhr es mir durch den Sinn: Du mußt das Grab der hier gefallenen Jäger besuchen. Gewiß steht dasselbe heute kahl und verlassen da, und nicht eine Hand hat es zu seinem heutigen Jahrestage schmücken können. Ich will es im Namen vieler Anderer thun. Gedacht, gethan! Nachdem ich mir für meinen Zweck einen Kranz besorgt, machte ich mich auf den Weg und erreichte nach einigem Befragen die Ruhestätten.

Verehrte Herren des ‚Provinzialvereins der Jäger und Schützen‘, Sie werden wissen, was ich sagen will. Ich fand das Grab mitten im Feindeslande reich mit Blumen und Kränzen geschmückt, ja so geschmückt, daß Blumen und Blätter dicht neben einander lagen und Kränze die am Kreuze geschriebenen Worte bedeckten. Bald erfuhr ich, daß Ihr Verein es ist, welcher alljährlich für Bekränzung dieses Grabes Sorge trägt. Ich legte meinen Kranz auf die Blumen und Blätter, und dem Drange meines Herzens folgend, welches durch die cameradschaftliche Liebe tief gerührt war, faltete ich unwillkürlich die Hände. Verehrte Herren, es war mir, als ob mir alle die kleinen Blumen freundlich zunickten, als ob sie mir alle herzlichsten Dank der Todten an Sie auftragen wollten, und als ich nach einem einstündigen Aufenthalte dem Grabe mein leises ‚Lebewohl‘ zurief, war es mir wieder, als ob mit tausend Stimmen mir nachgeflüstert würde: ‚Grüß, grüß unsere Kameraden daheim!‘ Indem ich dieser heiligen Pflicht, dem Drange meines Herzens hiermit Folge leiste, spreche ich Ihnen, schon aus Anerkennung dessen, was Sie an diesem Grabe thun, meine höchste Achtung aus und schließe mit dem Wunsche: möge Ihr Verein blühen, wachsen und erstarken! L. W.“

Ehre einer so thatbereiten cameradschaftlichen Pietät!



Schiffbruch vor dem Hafen. (Zu dem Bilde S. 613.) Wo sind sie hin, die so behäbigen, wenn nicht asketisch hageren Gestalten, welche dem Humor des Volkes und des Künstlers so oft als willkommene Angriffspunkte dienen mußten – die Bettelmönche des deutschen Katholicismus? Kaum fünf Jahre sind es her, daß sie noch friedlich in ihren grauen verschwiegenen Mauern saßen wie die Käuzchen, um dieselben nur zu verlassen, wenn es galt, Beute zu machen. Beute an Seelen und Beute an greifbaren Dingen, welche einzusammeln seit des heiligen Franciscus Zeiten das Privileg aller Mitglieder der Bettelorden war. Die Armen mußten ja „terminiren“, das heißt betteln, denn die Armut war eines ihrer Gelübde; und sie haben es redlich gethan, auch als die Orden steinreich wurden denn, wie man klüglich deutete, wenn auch die Orden Vermögen erwarben, die Einzelmönche waren und blieben arm! Da kamen denn wohl so tragikomische Situationen vor, wie unser Bild sie zeichnet: denn selbst ungetrübteste Heiligkeit und zudem die über jeden Zweifel erhabene Geduld eines Maultieres schützen in dieser unvollkommenen Welt nickt davor, daß ein Gurt reißt und ein stürzender Korb das teilweise höchst zerbrechliche Erträgniß einer ergiebigen Bettelreise zu babylonischem Wirrwarr durch einander schüttet. Das Kloster so nahe und der Herr Prior auf dem Ausguck – armer Frater!



Der neue Roman von E. Marlitt. Vielen Anfragen gegenüber fühlen wir die Pflicht, unsern Lesern das folgende Bruchstück eines Briefes mitzutheilen, den die Dichterin der „Goldelse“ so liebenswürdig war, in diesen Tagen an uns zu richten:

„In Bezug auf das Erscheinen meines neuen Romans muß ich vorläufig noch um Geduld bitten. Meine Kränklichkeit verurteilt mich allzu häufig zur unfreiwilligen Rast; von Allem aber hat mich der erschütternde Verlust, den die „Gartenlaube“ um ihre Mitarbeiter im Monat März erlitten, tief gebeugt und meine Schaffenslust für lange unterdrückt… Nunmehr arbeite ich wieder, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu versichern, daß ich mich mit allem Ernst und allen Kräften bemühe, das dem verewigten Freund gegebene Wort möglichst bald einzulösen – ist es mir doch seit seinem Heimgang doppelt zur Pflicht und Lebensaufgabe geworden, den Platz, den er meiner Feder in seinem Weltblatt angewiesen, durch unbeirrtes Streben und treues Festhalten an seinen Tendenzen und Zielen fort und fort zu behaupten.“

D. Red.

  1. Karl Biedermann. „Unsere Gegenwart und Zukunft“, I. Band. Leipzig, Gust. Mayer, 1846. „Sächsische Zustände“ S. 340.
  2. Sehr interessant und faßlich zusammengestellt in: Franz Mehring, „Die deutsche Socialdemokratie“. Bremen, Schünemann. 2. Aufl. 1878.
  3. Bekannter Rothwein.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beugt