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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 35.   1878.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ernst Keil
Ein Lebens- und Charakterbild.


Auf den Höhen des thüringischen Gebirges war es, an einem prachtvollen Septembertage. Nach längerer Frist hatte ihn die Sehnsucht wieder einmal auf eine jener hastigen Erholungsfahrten getrieben, die er sich nicht alljährlich gönnte und denen er doch stets die ermunterndste Belebung verdankte. Lebhafte, von drolligem Scherz bewegte Unterhaltung ist ihm überall und allezeit Bedürfniß gewesen. Dort oben aber in der würzigen Luft, auf den grünen Bergen und in den majestätischen Wäldern des geliebten Heimathlandes ging ihm viel anders das Herz auf, und den ganzen Tag hindurch hatte er laut sein Entzücken über den Wechsel reizender Naturbilder geäußert und seiner Spaßlaune den frischesten Lauf gelassen, bis er zuletzt auf das Lieblingsthema seiner behaglichsten Stunden gerieth, auf die wehmüthig-heiteren Erinnerungen an Ereignisse und Personen der beiderseitigen Vergangenheit. Manches, was ich in den lebhaften Gesprächen auf diesem Wege von ihm gehört, erscheint mir erst jetzt als bedeutsam zur Kennzeichnung seines Wesens und seiner Gesinnungen. Wir hatten den Wagen langsam voranfahren lassen und standen im Schimmer der Abendsonne an einem von mächtigen Tannen umkränzten Vorsprung, einem hellen und luftigen, tiefstillen und doch keck in die anmuthigste Fernsicht hinausschauenden Plätzchen, das schon von Weitem seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

„Sehen Sie,“ sagte er, „so ungefähr, nur viel höher noch liegt der Punkt, auf dem ich mir vor Jahren in einem anderen Theile des Waldes gern mein letztes Schlummerstübchen gedacht habe, es ist mir nur sehr schwer gemacht worden, den Streifen Erde käuflich zu erwerben.“

Von diesem Plane hatte er oft gesprochen, und seine Freunde hatten stets etwas ungläubig dazu gelächelt. Das mochte ihm einfallen, als er fortfuhr: „Ich begreife gar nicht, was man daran so abenteuerlich finden kann. Von Jugend an habe ich mich vergebens nach einem Aufenthalt in diesen Bergen gesehnt und möchte nun wenigstens einmal in ihrer Mitte begraben sein. Den Tod fürchte ich nicht, aber grausig wird er mir durch den Gedanken, daß ich einmal in städtischer Erde vermodern soll und in so zahlreicher Gesellschaft. Doch warum heute vom Sterben reden … so weit sind wir noch nicht, und bevor ich an’s Schlafengehen denke, habe ich noch einen ganz anderen Wunsch. Noch fühle ich mich rüstig und meiner Arbeit gewachsen … aber es muß doch einmal Abend werden, und da möchte ich noch eine hübsche Reihe Jahre leidlich rüstig und an einem nicht ganz abgeschiedenen, aber doch stillen und schön gelegenen Orte den Meinigen leben. Meine alten Freunde würden mich besuchen und an Beschäftigung würde es mir auch nicht fehlen. Ich habe so viel erlebt, daß ich endlich werde Zeit und Ruhe suchen müssen, wenn ich es noch aufschreiben soll!“

Noch sind es nicht vier Jahre, daß der stattliche, frisch und blühend aussehende Mann auf seiner letzten Tour über die heimischen Berge ein munteres Reisegespräch mit ernsthafter Betonung jener beiden Wünsche schloß. Beide sind ihm nicht erfüllt worden. Auf dem Leipziger Friedhofe hat er sein Grab gefunden, wie er das sicher auch in den letzten Jahren nicht anders gewollt und bestimmt hatte. Mit der so freundlich ausgemalten Ruhezeit aber und dem Memoirenschreiben ist es auch nichts geworden, ein Umstand, der sehr zu beklagen und unbedingt auf das Verlustregister unserer zeitgeschichtlichen Literatur zu setzen ist. Selbst in Betreff seiner eigenen Vergangenheit haben sich nur einige flüchtige Bleistiftnotizen in dem Nachlasse des Vielbeschäftigten gefunden.

Wollen wir uns also ein deutliches Bild seines Lebens und der inneren Zusammenhänge desselben vergegenwärtigen, so müssen wir auf unsere eigenen Erinnerungen und Eindrücke zurückgreifen, auf viele allerdings im Laufe der Zeit mündlich und in zahlreichen Freundschaftsbriefen von ihm gemachte Mittheilungen, so wie auf eine bunte Menge sonstiger Papiere, wie sie bei großem und langjährigem Schriftverkehr in Mappen und Pulten sich anzusammeln pflegen. Dieses letztere Material ist meist nur indirecten Inhalts, bietet aber gerade deshalb dem Rückblicke und Urtheil des Eingeweihten oft die interessantesten Bestätigungen und Anhaltspunkte in einer Fülle von scheinbar untergeordneten Kleinigkeiten. Da liegt z. B. ein hoher Stoß alter Journal- und Zeitungsnummern verschiedenster Art, aus allen möglichen Ländern und Gegenden, bedeckt mit dem Staube der Jahrzehnte, in deren Verlauf eines dieser Blätter zu dem anderen gesellt wurde – das Stammbuch eines Journalisten.

Der Unkundige würde damit nichts anzufangen wissen. In unserem Gedächtnisse aber frischen nicht wenige der eigenhändigen Randbemerkungen, der roth, blau oder schwarz angestrichenen Stellen bezeichnende Thatsachen, vergessene oder halbvergessene Züge und Beziehungen im äußeren und inneren Dasein des emsigen Sammlers auf. Bemerkenswerth ist namentlich die unterste Schicht, sie stammt noch aus den geistig so bewegten vormärzlichen Tagen, und sicher hat sich auch damals schon zwischen diese Ueberbleibsel einer verschollenen Journalistik jene kleine Urkunde gerettet, die jetzt dort gefunden wurde, als hätte sie in ihrem [570] Versteck geduldig des Momentes gewartet, wo sie als eine werthvolle Reliquie aus demselben hervorgehen wird.

Ein zerknitterter und vergilbter Briefbogen ist es, auf dem sich in eleganter, aber abgeblaßter Druckschrift der folgende Wortlaut befindet: „Hiermit zeige ich ergebenst an, daß ich unter dem heutigen Datum an hiesigem Platze ein Verlagsgeschäft unter der Firma Ernst Keil errichtet habe. Das Nähere über meine Unternehmungen behalte ich mir vor. Leipzig, 3. August, 1845. Ernst Keil.“ Ein einfaches Etablissements-Circular also im trockensten und allerknappsten Geschäftsstil, an sich nichtssagend, ohne irgend einen neuen Inhalt, und doch unter den gegenwärtigen Umständen, nach Ablauf von beinahe dreiunddreißig Jahren so ergreifend für uns, wenn wir uns die Winzigkeit des Lichtpünktchens vorstellen, von dessen Heraufsteigen am literarischen Horizont es die erste und damals jedenfalls nicht sonderlich beachtete Kunde gab. Je öfter ich das Papier in der letzten Zeit betrachtet habe, um so lebhafter hat es meine Erinnerungen geweckt an die Sturm- und Jubeltage, das gewaltige Ringen und die heißen Kämpfe des reich beseelten und strebenswachen Menschenlebens, das an jenem 3. August zu einer so wichtigen Stufe seiner Kraftentfaltung gediehen war. Manche dieser persönlichen Erinnerungen werden sich in die nachfolgenden Mittheilungen verwebt finden, viele andere aber müssen für dieses Mal hier ausgeschieden und einer weiteren Darlegung vorbehalten bleiben. Ein Leben wie dieses kann nach seinen verschiedenen Seiten hin nicht so kurz nach seinem Erlöschen, noch kann es erschöpfend im engen Rahmen einiger Journalspalten geschildert werden.


An einem Sonntagmorgen im Juli oder August 1846 trat der damals erst seit Kurzem nach Berlin übergesiedelte Otto Ruppius dort mit einem Fremden zu mir ein, den er als seinen Freud und thüringischen Heimathsgenossen Ernst Keil aus Leipzig vorstellte. Die aufrecht straffe, burschikos-militärische Haltung, die feste und bestimmte Redeweise, das ernste und doch so offene und frische Gesicht des schlanken jugendlichen Mannes mit dem vollen blonden Haupt- und Barthaar, dem zugeknöpften Rock und breitkrämpigen hellen Strohhut bildete einen eigenthümlich anziehenden Contrast zu der weich-geschmeidigen Beweglichkeit seines Begleiters. Und dieser Eindruck wurde bei mir noch gesteigert, als ich im Laufe des Gesprächs die Bestätigung erhielt, daß ich längst eine innere Berührung mit dem Fremden gehabt, ohne ihn jemals gesehen zu haben. Vor meinem frühzeitigen Abgange zur Universität hatte ich unter den in meinem elterlichen Hause gehaltenen Journalen auch regelmäßig die Zeitschrift „Wandelstern“ gelesen. in welcher die kleinen Erzählungen und die frisch, scharf, gewandt und kernhaft geschriebenen Miscellen Ernst Keil’s die Aufmerksamkeit des jungen Gymnasiasten beschäftigten. Oft hatte ich später dieser vielfach polemischen Feuilletons wieder gedacht, und ich weiß noch heut, daß sie anregend auf mich gewirkt haben. Jetzt sah ich zu meiner besonderen Freude diesen kecken Journalisten und schriftstellerischen Buchhändler vor mir. Nur auf einen einzigen Sonntag war er nach Berlin gekommen, und es zeugt für das Ansehen, dessen er sich bereits erfreute, daß er von einer hervorragenden buchhändlerischen Firma eigens dorthin berufen war, um in Bezug auf ein projectirtes großes Verlagsunternehmen mündlich seinen Rath zu ertheilen.

Da überdies einige meiner nächsten Bekannten aus den Kreisen der jungen Literatur seit Jahren gleichfalls zu seinen Freunden gehörten, hatten sich bald genügende Beziehungspunkte zwischen uns gefunden. Wohl ein paar Stunden lang spazierten wir am Nachmittag im bunten Sonntagsgetümmel durch die sehenswürdigsten Straßen der Hauptstadt, und noch erinnere ich mich z. B. genau, mit welcher herzlichen Wärme er mir von dem Glücke seiner jungen Ehe erzählte. Ebenso ausführlich sprach er auch von seiner neuerrichteten Firma und namentlich von dem Programm einer soeben begründeten Zeitschrift, verhehlte aber in seiner Offenheit nicht, daß sein Anfang geschäftlich auf einem wenig gesicherten Boden ruhe, daß er für die Verwirklichung seiner Pläne einzig und allein auf seinen Kopf, seine Arbeits- und Unternehmungskraft angewiesen sei. In der Nähe des Bahnhofes hatten sich die anderen Bekannten zu einer kleinen Abschiedsfeier eingefunden. Die Stimmung der Zeit war ernst und ahnungsvoll, eine tiefe Erregung ging durch die Gemüther der geistig bewegten Sphären. Wenn damals Männer dieser Art beisammen waren und von den herabgedrückten Zuständen, den traurigen politischen Verhältnissen im Vaterlande sprachen, verstummte der Ton heiterer Geselligkeit und es flammte bald ein Feuer verhaltener Entrüstung und Kampfeslust aus den Augen und Worten der Alten und Jungen. Auch in jener Abendstunde drehte sich die Unterhaltung um diese großen Fragen. Keil sagte wenig, aber es klang entschieden und hoffnungsvoll. Wie ein aufrichtender und erfrischender Lichtblick war die schnell vorüberziehende Gestalt des sympathischen Mannes in der heißen Unruhe jenes Berliner Kreises erschienen. Aus Allem, was man von ihm sah und hörte, war auf eine energisch aufstrebende Kraft zu schließen, die mit natürlicher Wärme des Herzens, mit gebildetem und ritterlichem Sinne damals schon so viel besonnene und vorsichtige Klugheit, so viel praktisches Geschick im Angreifen der Dinge verband, daß kein sonderlicher Scharfblick dazu gehörte, ihm eine nicht bedeutungslose Zukunft vorauszusagen. Bei der Abreise bekräftigten feste Handschläge eine Verbindung für das ganze Leben. In einem Paketchen hatte er mir auch die zwei allerersten Artikel seines jungen Verlags zurückgelassen. Es waren dies zwei Broschüren „Die Jesuitenpest“ und „Die Kartoffelseuche“. So verschieden die Gegenstände sind, welche die beiden Schriften behandeln, prägen sie doch für unser heutiges Urtheil eine Hauptrichtung aus, welche ihr Verleger bis zu seinem Ende mit dem wachsamsten Eifer verfolgt hat: den Kampf für das Volkswohl gegen schädliche Uebel auf geistig-sittlichem, wie auf materiellem Gebiete.


Die obigen kleinen Bilder haben uns den Mann auf bereits von ihm erklommenen Höhepunkten seiner Laufbahn gezeigt. Die äußeren Erfolge, welche er auf diesem Wege gewonnen hat, sind aller Welt bekannt und in den verschiedensten Tonarten des Wohlwollens und der Mißgunst zur Genüge besprochen worden. Für unsere Würdigung seiner Persönlichkeit kommt jedoch gerade dieser Wandel der Umstände nur wenig in Betracht. Denn all jenes sogenannte „Glück“, das ihm für seine Person zugefallen, würde ihn doch höchstens in die lange Reihe der „selbstgemachten“ Industriemänner stellen, die in moralischen Schriften als aufmunternde Beispiele vorgeführt werden, wie Einer ein armer Knabe und Jüngling sein und es durch Fleiß, Bravheit und Tüchtigkeit doch zu großem Besitze und hohem Ansehen bringen kann. So allerdings wird auch das Emporsteigen Keil’s von der immer selbstgewissen Plattheit spießbürgerlicher Urtheilsweise aufgefaßt, aber so hatte sich in der Wirklichkeit dieser Aufschwung nicht gemacht. Wo den Verhältnissen, unter welchen derselbe sich vollzog, ein irgend tieferer Einblick gewidmet wird, da besteht kein Zweifel, daß er als ein geschichtlich denkwürdiges und in seiner Art einzig dastehendes Phänomen bezeichnet werden muß. Eine derartige Bedeutung aber können literarische Bestrebungen niemals als blos kaufmännische Speculationen, sondern nur dadurch erhalten, daß sie vorwiegend von innerlichen Mächten bestimmt und getragen, aus idealen Keimen entsprossen sind und aus dem Safte solcher edelgearteten Wurzeln auch fort und fort alle Beseelung, alle Wärme und Triebkraft ihres weiteren Lebens empfangen. In diesem einfachen Umstande lag zum nicht geringen Theile das Geheimniß des Keil’schen „Glückes“. Wenn Keil seinem Verlage die für ihn charakteristisch gebliebene volksthümlich freisinnige und demokratische Farbe gab, so that er das nicht zufällig oder um buchhändlerisch eine Specialität zu pflegen, die übrigens damals nur Gefahr und wenig Gewinn versprach. Thatsache ist es im Gegentheil, daß er von vornherein seine ganze Thätigkeit in den Dienst der Volkserweckung und der liberalen Forderungen stellte, weil diese ihm selber im Blute lagen, weil er von vornherein selber ein begeisterter Anhänger der auf Neugestaltung der öffentlichen Verhältnisse, auf Befreiung von Druck und Willkür gerichteten Zeitbewegung gewesen ist.

Hier aber trat, im Unterschiede von ähnlichen Absichten, das Merkwürdige der Erscheinung zu Tage. Während unsere mehr als hundertjährige Freiheitsbewegung trotz ihrer gewaltigen Fortschritte sich bis heute fast überall noch in der ungesicherten Lage eines ringenden Martyriums befindet, haben ihre Kämpfe in dem Wirken Keil’s allmählich die Merkmale des Leidens abgestreift [571] und einen ihrer nachhaltigsten, ihrer fröhlichsten und stolzesten Siege erlebt. Mögen immerhin Manche oder Viele den Vorgang nicht mit dem Auge der Liebe betrachten, so werden sie bei einiger Unbefangenheit doch zugeben müssen, daß die Erhebung des Keil’schen Unternehmens zu einer literarischen Weltmacht viel mehr als der glückliche Geschäftserfolg eines Einzelnen, daß sie zugleich ein deutliches Beispiel und imposantes Zeugniß war von der volksthümlichen Macht der demokratischen Strömung und des nationalen Einheits- und Freiheitsgedankens. Diese so wunderbar dem Bedürfnisse der Seelen entsprechende, Hunderttausende zu sich heranziehende, weithin in alle Lande duftende Geistes- und Herzensblüthe aber hatte sich direct aus der Genialität des gesinnungsvollen Leipziger Buchhändlers entfaltet, und von diesem Gesichtspunkte aus wird ein heller Streifen warmen Frühlingslichtes auf seine ganze Lebensbahn geworfen. Es ist erklärlich, wenn jetzt so viele Leser dieses Blattes wenigstens einigen Spuren des Weges nachgehen möchten, auf dem ein solcher Mensch gewandelt, auf dem er geworden ist und für seine Bestimmung sich herangebildet hat.


Eine thüringische Kleinstadt vor sechszig oder fünfzig Jahren! Die meisten dieser Orte, selbst die in der Ebene befindlichen, zeichnen sich bekanntlich durch den frisch aus den Bergen wehenden Hauch einer reinen und stärkenden Luft, sowie durch den idyllischen Reiz anmuthiger Umgebungen aus. Dazu kam aber in jener regungslosen Epoche nach den Napoleonischen Kriegen noch die tiefstille Weltabgeschiedenheit und der harmlose Friede patriarchalischer Verhältnisse, in deren lauschig-traulicher Enge die rührig gewerbfleißigen, wohlgesitteten und ehrenfesten Bürgerschaften ihre Tage ohne ungewöhnliche Wechselfälle dahinlebten. Alle diese Einflüsse, mit denen sich oft auch das stolze Bewußtsein einer einstmals größeren Bedeutung und Herrlichkeit des uralten Gemeinwesens verband, mußten der körperlichen und geistigen Gesundheit der hier anwachsenden Jugend förderlich sein und dieselbe für ihren etwaigen Eintritt in eine bewegtere Welt mit einem Vorrath tüchtiger, ruhig und naturgemäß entwickelter Leibes- und Seelenkräfte ausrüsten, durch welche in der That die Sprößlinge der thüringischen Lande sich draußen vielfach ausgezeichnet haben. Eine sehr dankbare Anhänglichkeit hat daher Keil auch allezeit dem ansehnlichen Städtchen Langensalza bewahrt, wo er am 6. December 1816 geboren war. Das Haus seiner Eltern gehörte zu den besten Häusern des Ortes, ein hinlänglich behagliches Nest, dem die herabdrückende Noth fern blieb wie der verweichlichende Luxus. Ein sauberer Geist der Ordnung, der feiner gearteten Bildung und züchtigen Sitte beherrschte diese freundliche Heimstätte. Der Vater, ein wohl schon damals in den Ruhestand getretener Gerichtsbeamter, genoß unter seinen Mitbürgern den Ruf eines wackeren Biedermannes, er war auch geistig angeregt, in verschiedenen Wissenschaften bewandert, ein Freund guter Lectüre, dabei weichen und bedächtigen Wesens. Die (erst nach 1868 langjährigem Wittwenstande verstorbene) Mutter wird als eine verständige und liebreich besorgte Hausfrau geschildert, und man rühmt ihr eine entschieden durchgreifende Seelenstärke nach, die jedoch unter Umständen nicht ohne einen Zug herber Strenge geblieben zu sein scheint. Wer Keil gekannt hat, wird nicht zweifelhaft sein, daß diese gegensätzlichen Eigenschaften der Eltern in der Gemüthsart des Sohnes sich wiedergefunden und unter dem Hinzutritt neuer Elemente zu einem eigenthümlichen Charaktergepräge verschmolzen hatten. Ernst war wohl unter seinen fünf Geschwistern das begabteste Kind und der Vater überwachte seine Erziehung mit sorgfältigster Aufmerksamkeit. Auch auf seinen jeweiligen Fußreisen durch das Gebirg nahm er den Knaben mit, wodurch demselben schon im zartesten Alter der Sinn für das Naturschöne erschlossen wurde. Für seine wissenschaftliche Ausbildung aber fehlte es in Langensalza an einer höheren Lehranstalt, und schon frühzeitig mußte er das trauliche Elternhaus verlassen, um das Gymnasium in Mühlhausen zu besuchen. Ein Herzenswunsch wäre dem Vater erfüllt worden, wenn er diesen Sohn hätte studiren lassen können, für eine solche Laufbahn aber reichten die vorhandenen Mittel nicht aus. Ernst faßte daher den Entschluß, Buchhändler zu werden, weil dieser Beruf seiner früh erwachten Neigung für Poesie und Literatur entsprach und ihm die volle Befriedigung eines unbezwinglichen Lesedurstes in Aussicht stellte, dem er bisher mit seinen ersparten Pfennigen nur aus dürftigen Leihbibliotheken und nur in versteckten Winkeln der Hausböden und Ställe hatte genügen können. Sein guter Stern führte den Zögling des Mühlhäuser Gymnasiums in die Hoffmann’sche Hofbuchhandlung in Weimar, deren Besitzer ihm ein gewissenhafter Lehrherr wurde.

Das goldene Zeitalter Weimars war damals bereits im Erlöschen, aber die stille, lieblich umgrünte Residenzstadt an der Ilm war doch noch so recht die Atmosphäre, in welcher der ideale Hang des dichterisch gestimmten Jünglings die geeignete Nahrung und Anregung finden konnte. Oft und gerne erzählte er später von den unbeschreiblichen Gefühlen ehrfurchtsvollen Schauers, die ihn durchrieselt hatten, wenn er allwöchentlich das Arbeitszimmer Goethe’s betrat, um demselben die eingelaufenen Novitäten vorzulegen, und der greise Dichter dann freundlich scherzend mit ihm sprach, ihm mit der Hand über das blühende Gesicht und das reiche blonde Lockenhaar strich. Um die Sonne des großen Altmeisters aber kreiste damals in Weimar noch eine Anzahl literarischer Männer und Frauen aus der classischen Glanzperiode, mit denen der Buchhandlungslehrling in vielfach sehr nahe und für ihn förderliche Berührung kam. Doch nicht blos diese Erinnerungen an eine entschwundene Blüthe deutschen Geistes gewannen Einfluß auf seinen Bildungsgang. In den stillen Buchladen des alten Kranachhauses am Weimarischen Marktplatze drang aus der Ferne auch der heiße Athem, klangen auch die aufrüttelnden Töne jener sogenannten jungdeutschen Literatur, in welcher gerade damals eine neu aufsprießende Ideenwelt sich ankündigte, eine Wendung des stockenden deutschen Lebens zu lebhafterem und freierem Aufschwunge. Diese zunächst rein literarische Bewegung übte eine mächtige Anziehungskraft auf das Gemüth und die Denkungsart des jungen Mannes. Heine, Börne, Gutzkow, Laube etc., Alles was kritisch oder in Romanen und Dichtungen die hochwogende Blutwallung des neuen Geistes zeigte, wurde nach dem Schlusse des Geschäfts, Nachts oft im ungeheizten Zimmer, mit so leidenschaftlichem Eifer von ihm gelesen, daß es entscheidend ward für die fernere Richtung seiner Anschauungen, seines Geschmackes, seines von Natur aus allem Unfrischen und Pedantischen abgewendeten Formensinnes.

Auch in Erfurt, wo er nach Beendigung der Lehrzeit seiner preußischen Militärpflicht als Freiwilliger genügte, widmete der schmucke und stramme Soldat den größten Theil seiner Mußestunden den literarischen Studien und Beschäftigungen, ohne durch die meist sehr erhebliche Ebbe in seiner Casse sich herabstimmen zu lassen, da er während der Militärzeit nichts erwerben und der liebreiche Vater ihm nur ein knappes Auskommen ermöglichen konnte. Der romantische Humor dieser peinlichen Situation sagte seinem munteren Sinne sogar zu. Er schlug sich durch, so gut es gehen wollte, und hat diese Erfurter Zeit stets als die lustigste und sorgenloseste seines ganzen Lebens bezeichnet. Unter seinen zahlreichen Freunden versorgte ihn der Sohn eines Leihbibliothekars täglich mit dem ersehnten Büchervorrath, während die Freundschaft mit dem Sohne eines Restaurationsbesitzers ihm die Gelegenheit bot, seine Abende munter in guter Gesellschaft zu verleben und an den Clavier- und Gesangsproductionen der Gäste sich zu betheiligen, ohne daß seine gänzliche Enthaltung von Speise und Trank auffällig wurde. Gewöhnlich hatte ihm vorher sein karges Abendessen zu Hause schon vortrefflich gemundet, ein Glas Bier im Wirthshause jedoch durfte der sonst immer stolz und stattlich auftretende Freiwillige sich nicht häufig erlauben.

Aber der „Rock des Königs“, in dem er sich ganz wohl gefühlt, mußte nach Ablauf der Frist endlich ausgezogen werden, und dieser Act bedeutete nunmehr den Eintritt in den vollen Ernst und Kampf des Lebens. Noch ein kurzer Besuch bei den Eltern, dann zog der Einundzwanzigjährige nach Leipzig, wo er mit der damals üblichen geringen Besoldung als Gehülfe in die Weygand’sche Buchhandlung trat. Einige kurze Reisen ausgenommen, hat er diese Stadt seitdem niemals wieder verlassen. Die Mächte, welche ihn hierher gezogen, schlangen auch bald fesselnd ihre Fäden um ihn. Für die jungdeutsche Bewegung, als deren eifrigen Jünger er sich fühlte, war Leipzig damals in gewissem Sinne ein Mittelpunkt, so weit sie in einem zwar noch vorwiegend belletristischen, aber doch schon beweglicher gewordenen Journalismus sich äußerte. Gerade der Journalismus aber war dasjenige Feld, welches dem jugendlichen Neuling [572] auf dem Boden der alten Buchhändlermetropole schon als Knabe in die Seele geleuchtet und seitdem jederzeit als das erstrebenswertheste aller Ziele vorgeschwebt hatte. Schon in Weimar und Erfurt, ja schon auf dem Gymnasium hatte sein Drang zu eigenem Schaffen sich mannigfach nicht unglücklich versucht, unter den Anregungen Leipzigs jedoch und der inneren Fortbildung, die es ermöglichte, wuchs erst der Muth, sich wirklich damit herauszuwagen. Seine geschäftsfreie Zeit widmete der Buchhandlungsgehülfe schriftstellerischer Thätigkeit, indem er für Journale kritische und reflectirende Aufsätze schrieb und ein besonderes Talent namentlich für die novellistische Behandlung frisch aus dem Leben gegriffener Scenen und Bilder offenbarte, die er mit warmen Gemüthstönen zu durchhauchen und mit allem Reiz munterer und anmuthiger Stilfärbung auszustatten wußte. (Ein vor uns liegendes Bändchen gesammelter „Liebes-Novelletten“ von Ernst Keil ist unter dem Titel „Melancholie“ 1845 bei Schlüssel in Bautzen erschienen.) Alle diese Leistungen erwarben ihm Freunde und lenkten die Aufmerksamkeit auf ihn, sodaß ihm schon 1838 die Redaction der Zeitschrift „Unser Planet“ (später „Wandelstern“ betitelt) anvertraut wurde, die er neben der pflichtgetreuen Ausfüllung seiner Comptoirstellung mit ernstester Hingebung geleitet hat. Das Blatt war unter der Redaction Keil’s eines der gelesensten jener Tage, bis ihm die Polizei, ihrer damaligen Befugniß gemäß, die weitere Führung derselben untersagte.

Acht Jahre hatte er so als simpler Buchhandlungscommis mit schriftstellerischer Nebenbeschäftigung (zuletzt als Geschäftsführer des Hauses Naumburg u. Comp.) in Leipzig gelebt. Obwohl beide Thätigkeiten damals nicht zu den einträglichen gehörten, blieb doch namentlich diese Periode einer fröhlichen, stolzen und eleganten Armuth stets mit den wärmsten und glänzendsten Farben in seinem Gedächtniß verzeichnet. Sie war in der That die wichtigste seines Lebens, da er sie in ernster und tüchtiger Arbeit, in heiterem und strebsamem Freundeskreise verbracht und ihr die förderlichsten Verbindungen, Eindrücke und Genüsse zu danken hatte, vor Allem das Heranreifen zum Mann, die Bildung seines Urtheils und Charakters. Aber die abhängige und kein hinreichendes Auskommen gewährende Lage führte doch auch viel drückendes Hemmniß mit sich und die Dreißig wollte er nicht herankommen lassen, ohne auf eigenen Füßen zu stehen, da er überdies bereits 1844 sich den häuslichen Herd gegründet, mit aller Hingebung einer treuen und reinen Seele den zarten Liebes- und Ehebund geschlossen hatte, den jetzt nach Jahrzehnten innigster Vereinigung der Tod so jäh zerrissen hat. Zagendes Grübeln ist niemals seine Sache gewesen; sobald der Drang der Umstände in ihm eine Entschließung nothwendig machte, war auch die Ausführung nicht fern. So erging denn im August 1845 jenes oben mitgetheilte epigrammatische Circular, und der Weg in eine noch ganz dunkle Zukunft war sorgenvoll, aber muthig betreten.

„Ohne alle Mittel, ohne zureichende Unterstützung von Capital“, so heißt es in einem seiner Briefe, „habe ich angefangen. Aber mein ehrlicher Name erwarb mir Vertrauen, und so hatte mir der Ertrag schon im ersten Jahre eine bescheidene Existenz gewährt.“ Das war ermuthigend. Aber ein rein geschäftlicher Fortgang hatte eben seiner Charakteranlage und der ganzen Art seiner Befähigung und Gesinnungsrichtung niemals genügt. Um zu leben, bedurfte er eines Wirkens in’s Große, wie es seinem Wesen nur der Besitz einer Zeitschrift bot. Schon ein Jahr nach der Etablirung (1846) erschien daher in seinem Verlage die erste Nummer eines von ihm redigirten Monatsblattes, dem er den bezeichnenden Titel „Der Leuchtthurm“ gegeben. Es lag etwas Neues und Kühnes in dieser Benennung, aber sie war kein bloßes Aushängeschild, es glühte dahinter ein aufrichtiger, ernsthaft gemeinter Vorsatz, und in der That ragt denn auch der Eintritt des neuen Organs aus der Geschichte des bis dahin immerhin dürftig gewesenen vormärzlichen Journalismus als ein Ereigniß ersten Ranges hervor und als eine eingreifend bedeutsame Wendung. Die deutsche Freiheitsbewegung hatte seit den Tagen des jungen Deutschland an Klarheit, Nachdruck und gewichtvollem positivem Inhalt gewonnen, sie hatte die gesammten politischen und socialen Volksinteressen in ihre Kreise gezogen und auf dem Wege kritischer Erkenntniß zu bestimmten Forderungen, zu der Schärfe entschiedener Programme sich durchgerungen. Diese wichtige, bereits mit allem Schwung und Feuer eines neuen Glaubens und Wissens sich geltend machende Entwickelung war jedoch nur in der wissenschaftlichen und literarischen Welt, und zwar nur in dem geweckteren Theile derselben vor sich gegangen, in das Volk, in die bürgerlichen Kreise, in die für das große Publicum bestimmte Literatur war sie noch nicht gedrungen. Auch hier gährte unklar ein junger Ideenmost, aber eine öffentliche Meinung, ein Parteileben, auf das eine Literatur und Publicistik sich stützen konnten, gab es bei uns noch nicht, auf dem Volksleben in Deutschland ruhte noch schwer die Hand des absolutistische Staates, der mit seiner Polizei und Censur namentlich jedem über den Kreis des Schul- und Andachtsbuches hinausgreifenden literarischen Regen Chicanen und Verfolgungen, Verschleppungen und Entmuthigungen bereitete, von deren kleinlichem Jammer die jüngere Schriftstellergeneration der Gegenwart sich kaum noch eine entsprechende Vorstellung zu bilden vermag.

Wie aber konnte gegen den Willen und die stark befestigte Herrschaft der bestehenden Gewalten eine Besserung dieser als unerträglich empfundenen Zustände erzielt werden, so lange sie nur von kleineren Gruppen der Hochgebildeten angestrebt wurde und die Masse der bürgerlichen Gesellschaft halb oder ganz bewußtlos und ohne Selbstgefühl in der Ferne blieb? Hier war im Leben des Vaterlandes eine bedenkliche Lücke, eine verhängnißvolle Kluft, die überbrückt werden mußte, und Keil trat in die kleine Reihe der Kämpfer verschiedener Orte, die furchtlos und auf eigene Gefahr an’s Werk gingen, dies zu versuchen. Dazu brachte er jedoch ein Anderes und Wichtigeres mit, das jenen Genossen nicht zu Gebote stand. Sein Weg hatte ihn zwar nicht durch die Schule gelehrter Studien, wissenschaftlicher Doctrinen, methodischer und logisch gegliederter Systeme geführt. Mit ungemein schnellem und lebhaftem Blicke dagegen erfaßte er Resultate wissenschaftlichen Strebens, deren Wahrheit ihm als verwerthbar für das wirkliche Leben erschien und eine Saite seines warmen Gemüthslebens, des sittlichen und poetischen Anschauens berührte, aus welchem ihm seine entschiedensten Ueberzeugungen erwachsen waren. Auch der politische Kampf erschien ihm im Glanze einer gewissen Romantik, gleichsam wie eine dramatische Aufgabe der Gesammtheit. Im Uebrigen hatte er frühzeitig die Wirkung poetischer Eindrücke auf das Gemüthsbedürfniß des bürgerlichen Hauses kennen gelernt, und so wurde er durch die ganze Art seiner Natur wie seiner Bildung dazu bestimmt, den modernen Oppositionsgeist in die schal und phantastisch gewordene Unterhaltungsliteratur zu führen.

In diesem Zuge bestand zunächst seine Eigenthümlichkeit, und dadurch fand auch sein journalistisches Unternehmen bald eine für die damaligen Verhältnisse ganz ungewöhnliche Verbreitung. Von der glücklichen Hand und dem gesunden Urtheile seines talentvollen Redacteurs wurde es so erfolgreich geleitet, daß die hervorragendsten Stimmführer der liberalen Bewegung, Männer wie Robert Blum, Johann Jacoby, Wislicenus, Uhlich etc. sich ihm als Mitarbeiter anschlossen und die neue Zeitschrift immer mehr und mehr zu einem Ausdrucke des erwachten Befreiungsdranges wurde auf politischem und religiösem, wie auf socialem und literarischem Gebiete. Dies Alles zwar in den zahmen Formen, der verhüllten und zurückhaltenden Weise, wie es die stete Rücksichtnahme auf die Censur gebot, aber unter diesem Schleier doch wiederum deutlich genug, daß den immer mißtrauisch umherlauschenden Regierungen binnen Kurzem schon die ihnen hier drohende Gefahr offenbar werden mußte. Und nun begann ein Kampf, wie er aufopfernder, hartnäckiger und heißer wohl kaum jemals von einem einzelnen Privatmann und Unternehmer gegen Mächte geführt worden ist, denen alle Gewalt und alles von ihnen selbst in eigenem Interesse geschriebene Gesetz zur Seite stand. Während Keil als Redacteur für den allgemeinen Inhalt seines Blattes sorgen mußte, hatte er als Verleger Tag für Tag die Schläge abzuwehren, welche das Fortbestehen desselben hindern wollten. Die speciellere Geschichte dieses „Leuchtthurms“, seines Wirkens sowohl wie seiner Geschicke, ist nicht blos in hohem Grade bezeichnend für den Charakter Keil’s, sondern auch für die allgemeine Geschichte jener Zeit, zu deren interessantesten Capiteln sie gehört.

Aus den vor wenigen Monaten von den Zeitungen veröffentlichen Nachrufen wissen viele Leser, daß das Blatt während

[573]

Ernst Keil
Nach einer Photographie von W. Höffert in Leipzig auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[574] der kaum zweijährigen Periode seiner vormärzlichen Existenz nicht weniger als sechsmal den Verlagsort wechseln mußte und endlich auch aus dem liberaler regierten Braunschweig hinausgehetzt werden sollte, als plötzlich der große Umschwung von 1848 heraufzog und auch dieser nach Freiheit dürstenden Schöpfung die Erlösung brachte. Nun konnte der hartgeprüfte Herausgeber sein Journal mit einem Male nach Leipzig herübernehmen, es wurde in eine Wochenschrift verwandelt, stellte sich sofort auf die entschiedenste Seite der Volksbewegung, und aus seinen Spalten brausten alsbald die heißen Gedankenströme jener wunderbaren Tage. Gewiß, wir sehen da von unseren heutigen Gesichtspunkten aus viel hochwogenden politischen Dilettantismus, aber er war von einer Innigkeit des Glaubens, einer Energie selbstloser und hingebender Begeisterung getragen wie sie der ordnungsmäßige Verlauf correcter Alltagszeiten nicht zu erzeugen vermag. Durch den Ruf und die Bedeutung des „Leuchtthurms“ wurde Keil’s Geschäftshaus damals auch ein reger Mittelpunkt der namhaftesten demokratischen Schriftsteller Deutschlands und des Auslandes, und diese Besuche wurden besonders zahlreich, als vom Herbste 1848 ab überall die Niederlagen der Volkssache erfolgten und ihre Vertheidiger, auf die Hülfe der Gesinnungsgenossen angewiesen, als Flüchtlinge in Verbannung und Elend wandern mußten. Was Keil hier persönlich geleistet und zur Rettung vieler dieser Schwerverfolgten gethan hat, darüber ist von ihm selber meistens nur karger Bescheid gegeben. Personen aber, welche ihm nahe standen, wußten gar viel von der Erfindungsgabe und der unverdrossenen Opferwilligkeit zu erzählen, die er bei diesen oft sehr merkwürdige Rettungen bewährte. Und doch hing fortwährend das Schwert der Untersuchungen und Preßprocesse über seinem eigenen Haupte, bis er endlich im April 1852 Weib und Kinder und das bereits in Blüthe gekommene, aber einzig und allein auf seiner Arbeitskraft ruhende Geschäft verlassen mußte, um neun Monate als Staatsverbrecher in Hubertusburg hinter Schloß und Riegel zu sitzen. Sein „Leuchtthurm“ freilich machte ihm schon damals keine Sorge mehr. Schon 1851 hatte sich derselbe wiederum von Leipzig weg auf die alte Wanderschaft begeben und hier endlich nach mühseligem Umherschleppen den mit aller Wucht geführten Keulenschlägen erliegen müssen. Mit seiner ganzen Haltung und der seines beliebten keck-satirischen Beiblattes, das erst „Die Laterne“, sodann „Reichsbremse“, nachher „Spitzkugeln“, „Wespen“ und zuletzt „Schildwacht“ hieß, war das Blatt unter den durchaus veränderten Strömungen und Verhältnissen ganz unmöglich geworden. Aber mit der Erwürgung des Werkes waren die siegreiche Feinde nicht zufrieden gestellt, nach dem verhaßten Manne selber streckten sie ihre Hände aus. Jene Anklage, von welcher ihn ein Jahr vorher die Geschworenen frei gesprochen hatten, war von Neuem vor das inzwischen wieder eingesetzte Beamtengericht gebracht worden und dieses hatte denn auch die Verurtheilung ausgesprochen.


Mit Keil’s Wanderung in das Gefängniß schließt die erste, wiederum achtjährige Periode seines selbstständigen Wirkens. Solche Geschichten wie die obigen sind leicht erzählt, selbst so furchtbare Worte, wie Auseinanderreißung einer Familie, ganze oder theilweise Zerstörung blühender Unternehmungen ohne viele Mühe niedergeschrieben. Was aber der Betroffene sammt den Seinigen bei solchen Erlebnissen gelitten und durchgemacht hat, das würde sich in wenigen Sätzen nicht erzählen lassen. Ein erhebender Trost war ihm in der treuen Liebe der jungen Gattin geblieben, die ihm in all seinem Kampfe verständnißvoll und unverzagt zur Seite gestanden hatte, ihn jetzt auch bis an das Thor des Gefängnisses geleitete und sich mit den Kindern während der Haftzeit in dem benachbarten Dorfe niederließ, um hülfreich in seiner Nähe zu sein. Vom Gefängnisse aus überwachte er die Redaction des seit 1851 bei ihm erscheinenden, bereits durch ihn in zweiundzwanzigtausend Exemplaren verbreiteten „Dorfbarbier“ und leitete überhaupt durch schriftlichen Verkehr sein Geschäft, so gut es gehen wollte, um wenigstens den Untergang fern zu halten. Was später von einer durch Freunde ihm damals gewährten Geldunterstützung erzählt wurde, ist reine Erfindung. Er selbst hat wiederholt in Freundeskreisen gesagt und auch in einem vor mir liegenden Briefe geschrieben „Daran ist kein wahres Wort, ich habe niemals eine Pfennig Capital geborgt und bin auch niemals von dritter Seite unterstützt worden.“

Mittellos kam er nach verbüßter Haft in sein Haus und zu den treuen Gehülfen seines Comptoirs zurück, aber dennoch kam er nicht leer. Seine Gesinnung war unerschüttert, sein Muth nicht gebeugt, den unbestrittenen Ruf eines Ehrenmannes hatte er durch die in jenem Preßprocesse zugleich über ihn verhängte Aberkennung der bürgerliche Ehrenrechte in den Augen seiner Mitbürger nicht verloren. Zudem aber brachte er auch einen Gedanken mit, der ihn beflügelte und seit Monaten seine ganze Seele erfüllte. Innere und äußere Stürme hatten seit Jahren ohne Unterlaß sein Leben durchtost. Erst in der stillen Abgeschiedenheit hinter den Eisengittern hatte er wieder einmal Ruhe und Sammlung gefunden zu mancher wissenschaftlichen Lectüre, sowie zu freier Ausschau in die Welt der Thatsachen; es regte die alte schöpferische Kraft ihre Schwingen, es machte von Neuem in ihm sich geltend, was ein oberflächliches Urtheil immer nur als den besonderen „Glücksstern“ Keil’s gedeutet hat und was doch nur aus ihm selber, aus einer ganz besonderen Gabe seiner Eigenthümlichkeit sich hergeleitet hat: aus der starken Fühlung, dem eigenen lebhaften Zusammenhange mit dem edleren Verlangen, den besseren Geschmacksrichtungen und berechtigten Anforderungen der jeweiligen Zeitperiode und ihres lesenden Publicums. Blickte er zurück, so fand er ein Hauptziel der vormärzlichen Bewegungen erreicht: politisches Bewußtsein, Freisinn und bürgerliches Selbstgefühl waren sichtlich in den weitesten Kreisen geweckt. Die Revolution aber hatte naturgemäß die Fluth der politischen Discussionen entfesselt und diese waren auf der niedergeworfenen liberalen Seite allmählich in hochtönende Phrasenhaftigkeit ausgeartet. Das gebeugte, in seinen ersten Hoffnungen so bitter getäuschte Volk war in der Schule dieser traurigen Erfahrungen müde geworden der fruchtlosen Debatten und Declamationen, die Tag für Tag an den Ohren und Augen vorübergesaust, die Journalpresse freier Richtung stand in der Gefahr, für lange Zeit ihre Macht zu verlieren oder an reactionäre Einflüsse abzutreten, wenn sie nicht auch der Sehnsucht des Publicums nach positiver Ausfüllung und Begründung seiner neu gewonnenen Ueberzeugungen, dem erwachten Durste nach substantieller Geistesnahrung und aufrichtender Erfrischung der Gemüther entgegenkam.

Das hatte Keil schon draußen längst mit seinem feinen Verständniß des deutschen Volksgeistes erkannt, und aus dieser Erwägung wuchs in der Einsamkeit des Gefängnisses der Entschluß zu der Großthat seines Lebens, zur Gründung des Blattes hervor, dem er vor der am 1. Januar 1853 erfolgten Ausgabe der ersten Nummer mit Absicht den unscheinbaren Namen „Die Gartenlaube“ gab.

Wohlfeile Unterhaltungsblätter hatte es auch bisher schon gegeben, und es wunderte sich kaum Jemand darüber, solche für niedere Bildungsschichten bestimmte Organe ihren Lesern nur magere Abfälle von den Tischen der Literatur in den nachlässigsten Formen bieten zu sehen. Nun tauchte mit einem Male der Gedanke auf, daß der gerade entgegengesetzte Weg allein der richtige sei, daß gerade das Beste und Nützlichste, das Edelste und Schönste des literarischen und künstlerischen Schaffens unmittelbar aus seinen Quellen in alles Volk zu leuchten habe, allen Classen des Volkes in gefällig-eleganter Ausstattung und zu so billigem Preise dargeboten werde müsse, daß selbst dem Aermsten ein Bildungsmittel nicht verschlossen sei, welches gleichzeitig auch dem Reichsten Genuß und Belehrung schaffen soll. Das waren die Grundsätze, denen, geschäftlich und literarisch, das erste im Original hier vor uns liegende Programm der „Gartenlaube“ entfloß, wie es der Urheber in seiner Gefängnißzelle ausgearbeitet und in einer Abendstunde beim Scheine einer Cigarre niedergekritzelt hatte, da die Hausordnung schon von acht Uhr ab das Brennen von Licht verbot.

Der Plan war gemacht, aber der Ausführung stellte sich nach der Heimkehr zunächst mancherlei Jammer kleiner und großer Schwierigkeiten entgegen. So hatte z. B. die erwähnte Aberkennung der Ehrenrechte für Keil die unangenehme Folge, daß er auf einer Zeitschrift nicht mehr als verantwortlicher Redacteur sich nennen durfte. Er mußte daher eine geeignete Persönlichkeit suchen, welche ihren Namen hergab, und er fand deren zwei in seinen alten Freunden Stolle und Diezmann, die denn auch die „Gartenlaube“ zehn Jahre hindurch gezeichnet haben, ohne jemals an der wirklichen Redaction betheiligt zu sein, welche allein in den Händen Keil’s lag.

[575] Diese Nothwendigkeit, sich verkriechen, das Werk der eigenen täglichen Arbeit fort und fort unter dem Namen Anderer in die Welt senden zu müssen, hatte an sich schon etwas Schmerzliches, sie führte aber auch Unzuträglichkeiten mit sich, und dieser peinlichen Situation hätte Keil später ein Ende machen können, wenn er den ersten Schritt gethan und an die Regierung ein Gesuch um Restituirung gerichtet hätte. Es wurde ihm dies vielfach nahe gelegt, aber schon der Gedanke zu einem derartigen Entschlusse lag der Weise seines Denkens gänzlich fern. Der Widerspruch zwischen seiner Persönlichkeit und jener Aechtung lag vor aller Welt zu offen, als daß er sich dabei als der Beschämte hätte fühlen sollen. Bei einem Festmahle der Leipziger Buchhändlerbörse saß er einst, seiner Gewohnheit nach, fern von dem geräuschvollen Theile der Gesellschaft, als plötzlich ein ihm befreundeter Nestor der Buchhändlerwelt in freudigster Erregung auf ihn zustürzte, ihn umhalste, seinen Arm ergriff, ihn mit sich fort bis zu einer Gruppe zog, in deren Mitte der in unserer deutschen Geschichte hinlänglich gekennzeichnete Minister Herr von Beust des strömenden Champagners sich erfreute, nachdem er seine angeheiterten Zechgenossen durch ein Hoch auf die „Preßfreiheit“ in einen wahren Begeisterungsrausch versetzt hatte. Als Keil den Mann erblickte, dämmerte ihm ein Licht auf, er blieb stehen, hielt seinen Begleiter mit beiden Händen fest und sagte: „Halt, erst muß ich wissen, wohin Sie mich führen wollen.“

„Freundchen, es weht ein anderer Wind, es wird Alles gut, Ehrenrechte wieder, mit Beust haben wir geredet, er wundert sich, daß Sie noch nicht an ihn geschrieben haben, und will mit Ihnen sprechen.“

Bei jedem dieser Worte schoß dem Aufhorchenden brühheiß das Blut zu Kopfe, der ganze Zorn seines Stolzes erwachte und vor seiner Seele standen alle Erinnerungen an erduldete Quälereien und Verfolgungen, aus denen er durch eigene Kraft sich hervorgerungen und die jener Minister, vor dem er sich jetzt neigen sollte, mit einem einzigen milden Worte ihm hätte ersparen können. „Nein, lieber Freund,“ entgegnete er so laut, daß es in der betreffenden Gruppe gehört wurde, „damit wird nichts. Herr von Beust hat es so weit zu mir, wie ich zu ihm, er hat mich auch bisher immer zu finden und zu – treffen gewußt, ohne daß ich ihn darum gebeten habe. Wenn er jetzt etwas von mir will, so mag er zu mir kommen!“ Damit machte er sich los und ging an seinen Platz zurück. In der That war denn auch die Restaurirung erst nach Jahren auf ein von den Leipziger Stadtbehörden aus eigenem Antriebe beschlossenes und eingereichtes Gesuch zu einer Zeit erfolgt, wo die Reaction seit dem Eintritt der neuen preußischen Aera wieder einmal abgewirthschaftet hatte und ermüdet die Flügel sinken ließ.

An erschwerenden Aergernissen, die ertragen oder überwunden werden mußten, hat es also keineswegs gefehlt, und sie warfen manchen trüben Schatten in die ersten Regungen des Unternehmens. Aber jene lebensvollen Keime, aus denen schon „Der Leuchtthurm“ geworden, waren nun einmal aus dem immerhin engen Bereiche leidenschaftlichen Parteigetriebes auf einen weiten, freien und heiteren Boden verpflanzt, und nichts konnte hier ein Aufsprießen verhindern, das von einem klaren und bedachtsamen Wollen, von einem seltenen Geschick und einer rastlosen Energie inbrünstiger Hingebung gefördert wurde. Daß er ein Weltblatt begründen und dieses ihn zu einem wohlhabenden Manne machen solle, davon lebte in dem anspruchslosen Sinne Keil’s noch lange nicht die Spur einer Ahnung. Als ein befreundeter Dichter ihm einst in Gegenwart Anderer eine solche Zukunft prophezeite, berührte ihn das sichtlich erschreckend. Je bescheidener aber die Erwartung war, um so stolzer und kühner arbeiteten die Ideen und Absichten, welchen die junge Schöpfung ihr Dasein verdankte, und die unter der Arbeit der Ausführung immer deutlicher zum Bewußtsein kamen. In seinen directen Kämpfen mit den überlieferten Gewalten hatte der freisinnig-demokratische Geist schwere Niederlagen erlitten, aber er war dadurch nicht überwunden und entmuthigt. Nach seiner Abdrängung vom politischen Schauplatze wurde es für ihn eine Lebensfrage, die Welt seiner Innerlichkeit auszubauen, seine schöpferische Kraft sich erproben, seine Gemüthstiefe und Vaterlandsliebe, den Ernst seiner Sittlichkeit, seines Wissens und Bildungsdranges voll sich entfalten und wirken zu lassen. Diesem Bestreben, so weit es auf das deutsche Haus sich richten, das deutsche Familienleben in lebendigem Zusammenhang mit den Strömungen des geistigen Fortschritts erhalten wollte, wurde in dem neuen „Familienblatte“ ein Sammelpunkt geschaffen, und die Begeisterung, mit welcher Keil diesen seinen Plan ergriff, ging von ihm auch auf die kleine Scholle von Mitarbeitern über, die alsbald sich ihm angeschlossen hatten. Namhafte Dichter und hervorragende Gelehrte, wie Bock und Roßmäßler, haben erst auf diesem Boden ihre Bestimmung als große Lehrer und Schriftsteller des Volkes durch eifrige Betheiligung an der Aufgabe gefunden, die Keil in seinem ersten Prospecte an die Leser mit den schlichten Worten bezeichnete: „Wir wollen Euch unterhalten und unterhaltend belehren, über dem Ganzen aber soll der Hauch der Poesie schweben und es soll Euch anheimeln in unserer ‚Gartenlaube‘, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht!“

Daß ein solches Werk auf seine Erhaltung bedacht sein, auch materiell zu einer festen Grundlage gelangen und seine Leute ernähren mußte, versteht sich von selbst. Wer aber der Entstehung und Entwickelung des Unternehmens sich zu erinnern weiß, der wird ihr das Zeugniß nicht versagen, daß der geschäftliche Calcül dabei eine untergeordnete Rolle gespielt und erst in dritter oder vierter Linie gestanden hat. Keil verstand seinen Buchhandel so gut als Einer und hat sich bei jeder Gelegenheit mit Stolz zu diesem Berufe gezählt. Ganz unverständlich aber war ihm eine Thätigkeit, die kein anderes Ziel kennt, als das „Geschäfte machen“; die leere „Buchhändlerei“ oder das „Buchhändlern“, wie er es nannte, ist ihm Zeitlebens zuwider gewesen. Möge das nicht mißverstanden werden. Von einer Nichtachtung oder Vernachlässigung geschäftlicher Obliegenheiten konnte bei seiner straffen Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Ordnungsliebe nicht die Rede sein, aber alle diese nothwendigen Dinge erledigte er wie sonstige Kleinigkeiten des Lebens, von denen man nicht weiter spricht, die ihm auch seine eigentliche Aufgabe nicht aus dem Auge rücken durften. In der „Gartenlaube“ sah er die Verwirklichung seines höchsten Jugendideals, wie es erst dunkel in ihm heraufgedämmert war und dann in der Schule des Leidens, der Erfahrung und Uebung zu voller Reife und Klarheit sich durchgerungen hatte. Darum hat er mit einer Zähigkeit ohne Gleichen alle ungewöhnliche Kraft seiner Liebe, seines Talents und Fleißes in diese Zeitschrift überströmen lassen, in den ersten Jahrgängen auch Vieles noch selber, die ersten Nummern sogar fast ganz allein geschrieben, unablässig die wachsamste Thätigkeit zur Auffindung und Gewinnung tüchtiger Mitarbeiter entwickelt und keine Nummer ausgegeben, in der nicht jeder Satz sorgfältig für den Zweck geprüft und Alles bis auf die letzte Zeile frisch und ansprechend, warm und geschmackvoll für das Verständniß des Lesers gestaltet war.

Das war es, was er mit seinem unleugbaren redactionellen Genie, mit seinem dichterischen Schönheitsgefühl und seiner Meisterschaft in sinnigen Arrangements, aus der Tiefe seiner Tendenzen und seiner eigensten Gesinnung in unablässigem Mühen und Sorgen von vornherein für die „Gartenlaube“ gethan hat, ohne bei dem geschäftlichen Vertrieb jemals die Nachhülfe der Colportage, der Reclame oder sonstiger Herbeilockungsversuche in Anspruch zu nehmen. Selbst das Mittel des Ankündigens und der gewöhnlichen buchhändlerischen Manipulation wurde von ihm in den ersten Jahren nicht benutzt, es sollte das Blatt allein für sich selber sprechen, nur auf den eigenen Füßen seinen Weg sich bahnen. Und wenn es das in einer alle Welt und ihn selbst überraschenden, alle seine Hoffnungen mächtig überflügelnden Weise gethan hat, so läßt sich gewiß mit doppeltem Rechte sagen, daß dieser gewaltige Erfolg ihm nur durch die freiwillige und in der That unerzwingbare Zustimmung des Publicums bereitet war, das sich durch diese liebevolle und ausdauernde Hingabe an eine ernsthafte, von sittlichem Geiste durchwehte, auf die Höhen der Bildung führende Leistung ein für den Beobachter unseres deutschen Volksgeistes in hohem Grade tröstliches Ehrenzeugniß ausgestellt hat. In früheren Epochen nationaler Ermüdung und Niedergeschlagenheit, selbst noch in der sogenannten Restaurationsperiode nach den Freiheitskriegen, hatten religiöse Schwärmer, mystische Gaukler, reactionäre Bußprediger und romantische Finsterlinge aller Art jener weichen, allen sänftigenden Eindrücken geöffneten Stimmung zu absichtlicher Herabdrückung jedes freien Aufstrebens sich bemächtigen können. Die Reaction der fünfziger Jahre dagegen fand die Hinterlassenschaft [576] vorangegangener Ideenbewegungen schon als einen untilgbaren Besitz des bürgerlichen Bewußtseins, und es zeigte sich um das Bild eines merkwürdigen, für unsere Betrachtung in hohem Grade ergreifenden Unterschiedes der Zeiten. Während die herrschenden Dunkelmänner auf ein intriguantes Manövriren mit ihren Macht- und Gewaltmitteln angewiesen, aber ohne Einfluß auf die Gemüther blieben, sehen wir in diesem Jahrzehnt des einschüchternden Denkens und der politischen Ermüdung unabhängige Apostel der Freiheit und der allgemeinen Bildung, volksthümliche Vertreter der Wissenschaft und des fortschreitenden Denkens auf den Schauplatz steigen und in der massenhaft ihnen sich zuwendenden Empfänglichkeit der Nation den Boden zu unerhörten Erfolgen und unermeßlichen Einwirkungen gewinnen. Es bleibt das Verdienst Keil’s, daß er in einem der trübsten Momente unserer deutschen Geschichte dieses Streben zur Thatkraft erweckt, begeisterungsvoll organisirt und unter seiner kühn und bewußt, mit starkem Arm und scharfem Verständniß geschwungenen Fahne zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hat.

Von solchen Gesichtspunkten aus muß und soll die Geschichte der „Gartenlaube“ noch einmal kritisch geschrieben werden, eine vielseitige Aufgabe, für welche ein Journalartikel nicht den erforderlichen Raum bietet, selbst wenn es angemessen erschiene, sie an dieser Stelle erledigen zu wollen. Einiges, was im Laufe der letzten Monate mit guter Absicht von Zeitungsfeuilletons darüber veröffentlicht wurde, berührte leider den Kern der Sache nicht und verrieth auch durch unrichtige Angaben über Aeußerliches und Untergeordnetes den gänzlichen Mangel an eigener Kenntniß der thatsächlichen Verhältnisse. Der Lebenslauf der „Gartenlaube“ weist in Betreff der allmählichen Erweiterung ihres Programms und der Ausprägung bestimmter Geistesrichtungen, in Betreff auch des Tons, der Haltung und Stilweise verschiedene, die jeweiligen Zeitbewegungen widerspiegelnde Phasen auf, mit seinen Erfolgen wuchsen auch die Zwecke des Blattes über die ursprünglichen Begrenzungen hinaus. Gemeinsam aber ist diesen mehrfachen Stadien Folgendes geblieben: Nach außen hin die anhängliche Treue der unablässig und in ungewöhnlichen Dimensionen sich vermehrenden Leserschaaren, von innen her die entschieden deutsche, freisinnig-humane Richtung des Grundcharacters bei consequent festgehaltener Rücksicht auf die edleren Bedürfnisse des deutschen Familienlebens aller Stände. Durchblättert man mit einer nur flüchtigen Aufmerksamkeit die unter der Leitung Keil’s erschienenen fünfundzwanzig Jahrgänge und vergegenwärtigt man sich die ungeheure Verbreitung derselben, so wird man nur bei großer Blindheit oder Voreingenommenheit dem Eindrucke sich verschließen können, daß das Blatt in der That mit einer Culturmission durch das politische und gesellschaftliche Leben unserer Nation gegangen und daß es diese Mission immer nachdrücklicher erfüllte, je mehr zwischen seiner Redaction, seinen Mitarbeitern und seinem Publicum eine gegenseitige belebende Wechselwirkung herzlichster Art sich herausgebildet hatte. Die Fülle und Mannigfaltigkeit des Dargebotenen erscheint hier jedoch dem Rückblicke so vielseitig und umfassend, daß es ein vergebliches Bemühen sein würde, auch nur die Grundtendenzen und unzweifelhaftesten Wirkungen dieser unablässigen Pflege idealen Gemüths- und Geisteslebens und dieses unermüdlichen, auf alle Gebiete des Lebens sich erstreckenden Kampfes gegen Aberglauben und Vorurtheil, gegen Inhumanität und Rohheit, gegen Knechtschaft und Knechtssinn, Schwindel und Ausbeutung in wenigen Zügen charakterisiren zu wollen. Nur zwei der wesentlichsten Hauptergebnisse können und sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Unzweifelhaft ist es, daß die „Gartenlaube“ allen auf Ausgleichung der schroffen Bildungsunterschiede im deutschen Lesepublicum gerichteten Bestrebungen die erfolgreichste Hülfe geleistet und daß sie in erster Reihe das nationale Gemeingefühl geweckt und gestärkt, den deutschen Einheitsgedanken schon in den Gemüthern befestigt hat, ehe er von der politischen That verwirklicht worden ist. Solche große Wirkungen aber erzielte das Blatt nicht allein durch den Geist seiner Arbeit, sondern auch durch seine beispiellose Verbreitung. Denn gewiß ist es ein Unterschied, ob Ideenrichtungen in raisonnirender Darlegung für einen beschränkten Kreis sich äußern, oder ob sie mit allem anziehenden und gemeinverständlichen Reiz thatsächlicher Schilderung aus einem Organe sprechen, dem Hunderttausende mit Empfänglichkeit und gespannter Erwartung lauschen. Darin lag das Neue und geschichtlich Bedeutsame in der Leistung Keil’s, in ihrem Charakter wie in ihrer Stellung, seitdem sie bei den Deutschen aller Stämme, aller heimischen und fernen Länder die trauliche Botschaft, in den Palästen wie in der Hütte der überall ersehnte und freudig empfangene Sonntagsgruß geworden war aus den Werkstätten der deutschen Geistesarbeit.

Ferne liegt hier die Absicht, ein Menschenwerk als fehler- und irrthumslos hinzustellen. Es wäre ja wunderbar, wenn gerade die „Gartenlaube“ nur immer die Vorzüge und nicht auch die Schranken und Schwächen der in ihr wirksam gewordenen Individualitäten hätte ausprägen sollen. Um solche Kritik aber handelt es sich in dieser Darlegung nicht, die aus einer ganzen Reihe sprechender Thatsachen nur einige derjenigen Punkte hervorheben wollte, welche das unbefangene Urtheil des zukünftigen Geschichtsschreibers wird bestehen lassen müssen. Was Keil betrifft, so wissen alle seine Bekannten, daß er selber niemals mit einer seiner Nummern zufrieden war und daß dies häufig der einzige Grund zu verborgen in ihm wühlenden Seelenverstimmungen gewesen ist. Je riesiger er die Zahl der Leser werden sah, die allwöchentlich mit Begierde der Gabe harrte, welche er ihnen sandte, um so mehr sah man ihn erfüllt und bewegt von dem Bewußtsein einer schweren Verantwortlichkeit, von dem Gefühl der Pflicht, einem solchen Vertrauen auch gerecht zu werden. Seit dem Eintritt dieser Wendung war es um die Ruhe seines Lebens, um den Frieden seines Herzens geschehen. Obwohl ein vortrefflicher Schriftsteller, hatte er doch seit dieser Zeit sogar der Befriedigung des eigenen Schaffens entsagt, und nur hin und wieder leuchtete bei besonderen Anlässen sein immer seelenvolles und doch scharf geschliffenes Wort aus den Spalten der „Gartenlaube“ hervor, wie dies unter Anderem in jenem herrlichen „Brief an eine Gläubige“ geschah, der weithin Aufsehen erregte und sich den Dank Unzähliger erwarb durch die ebenso gemüthswarme als kernige und treffende Züchtigung werth- und gehaltloser Modefrömmelei. Sonst aber war alle Anstrengung, alles Thun und Denken seiner Tage nur der speciellen Leitung und redactionellen Herstellung des Blattes, der Berathung mit den Redactionsgenossen, der Correspondenz und dem endlosen Strom von Arbeiten und Bedrängnissen, von unbeschreiblichen Sorgen und Schwierigkeiten gewidmet, welche besonders diese Redaction und namentlich die Herbeischaffung ihres Stoffes in steigender Weise mit sich führte, sodaß meistens die Stunden des Tages oder der Woche für die Erledigung nicht ausreichten.

Erstaunlich groß war die Menge der Briefe und Manuscripte, welche täglich aus allen Ländern und Weltgegenden an ihn persönlich einliefen, und seit Jahren ist wohl auch keine hervorragende Persönlichkeit der Literatur durch Leipzig gereist, ohne Keil in seinem Bureau aufzusuchen wie es wohl keinen deutschen Schriftsteller liberaler Gesinnung gab, der nicht einmal mündlich oder schriftlich mit ihm verkehrt, oder in näherer oder entfernterer Beziehung zu ihm gestanden hat. Wo producirende Talente nicht selber die Anknüpfung suchten, da war er es, der auch die Spröden, auch die Schüchternen und Unbekannten unter ihnen zu finden und mit der eigenthümlichen Unwiderstehlichkeit seines Rufes zu ermuntern und heranzuziehen wußte. Durch diese bereits erwähnte Wachsamkeit, diese niemals schlummernde Kraft der Anregung und Initiative hat er sich jenen überaus zahlreichen Stamm treuer und liebevoll mit ihm verbundener Mitarbeiter gewonnen, deren freudigem Schaffen und Leisten die „Gartenlaube“ einen wesentlichen Theil ihres Glanzes und Werthes verdankt. Viele dieser schriftstellerischen Männer und Frauen haben in ihm ihren treuesten Genossen, ihren wärmsten und zuverlässigsten Freund verloren, und nicht minder wird ihm auch ein dankbares Andenken in Unzähligen aus der bunten Menge jener Bitt- und Antragsteller aller Art gesichert sein, die ohne Unterlaß zu dem Pulte sich drängten, an dem er, mit Ausnahme einer kurzen Mittagsrast, von der Morgenfrühe bis zum späten Abend bei weit geöffneten Zimmerthüren stand und immer aufrecht und unverdrossen, wenn auch oft tief ermüdet, dem stürmisch auf ihn eindringenden Heer von großen und kleine Arbeiten und Pflichten, von behelligenden Zumuthungen, Unannehmlichkeiten und Aergernissen genügte, welche sein dreifacher Beruf als Führer und Verleger eines Weltblattes und Chef eines umfangreichen Verlagsgeschäfts ihm auferlegte.



[577] Möge sich also Niemand den Weg des Mannes als einen leichten und vergnüglichen denken, und mögen namentlich geschäftige Mittelmäßigkeiten seines Berufes, emsige Streber nach Geldgewinn und behaglicher Lebensfreude, die Bemerkung zu Hause lassen, es habe ihnen für eben solches Gelingen ihrer eigenen Projecte nur der „absonderliche Stern“ Keil’s gefehlt. Um eine Schöpfung wie die „Gartenlaube“ existenzfähig in’s Dasein zu rufen, dazu gehörten schon Voraussetzungen der Lebensrichtung und Erfahrung, innerliche Kräfte, Anlagen und Antriebe, wie sie nach der idealen und praktischen Seite hin nur äußerst selten in einer und derselben Persönlichkeit vereinigt sind. Als noch viel gewaltiger jedoch stellt sich die Aufgabe heraus, eine derartige Unternehmung Jahrzehnte hindurch wider die niemals ruhende Gegenarbeit feindlicher Mächte auf der Höhe ihres Einflusses und Fortganges zu erhalten, sie fort und fort mit frischer Lebenswärme zu durchhauchen und trotz aller Anfechtungen und schweren Hindernisse zum Gemeingut einer ganzen Nation zu machen. Wer das zu ermöglichen siegreich durchzuführen und dabei stets sich selber wandellos treu zu bleiben vermag, der muß mit der nöthige Macht des Blickes und dem erforderlichen Grade der Urtheilssicherheit und geistigen Begabung auch ungewöhnliche Charaktereigenschaften besitzen, namentlich eine stählerne Energie des Vorsatzes und eine Aufopferungs- und Entsagungsfähigkeit, die um des einen Zweckes willen alle sonstigen Wünsche und Neigungen des Herzens hintenanzustellen, alle sonstigen Interessen des Lebens diesem einen Zwecke unterzuordnen weiß. Das ist bekanntlich nicht Jedermanns Sache, aber gerade diese Vorzüge waren es, die den ungelehrten Sohn des schlichten Hauses von Langensalza zu einem großen Heerführer im deutschen Geisteskampfe seiner Zeit, zu einem Helden und Sieger auf seinem Felde des volksthümlichen Journalismus werden ließen, dem er neue Ziele gewiesen, neue Bahnen gebrochen, neue Kräfte erweckt und zu einer bis dahin nicht erlebten Macht und Wirksamkeit verholfen hat. Wollte ihm Jemand dieses hohe Verdienst bestreiten, so mag er nur einmal die früher so überaus kümmerlichen und untergeordneten Erzeugnisse des betreffenden Literaturzweiges mit der Darbietung Keil’s und mit dem großartigen Umschwunge vergleichen, der sich durch ihn und nach seinem Vorgange in den letzten fünfundzwanzig Jahren auf diesem so überaus wichtigen Gebiete unseres Culturlebens entwickelt hat.

Es ist richtig, daß ihm dafür die Anerkennung und der Lohn des Volkes verhältnißmäßig schnell und in reichem Maße zu Theil geworden ist. Man darf aber nicht vergessen, daß dieser Umstand zum Besten der Leser die Betriebsmittel des Unternehmens erhöhte, daß er ferner allen mit dem Buchhandel irgend zusammenhängenden Geschäftszweigen in der fühlbarsten Weise zu Gute kam, einer sehr erheblichen Zahl von Arbeitskräften dauernden Erwerb und reichliches Auskommen sicherte und unter Anderem auch in den Honorarverhältnissen der deutschen Schriftsteller eine folgenreiche Verbesserung herbeiführte. Aller Arbeit, besonders aber der schriftstellerischen Thätigkeit, fühlte sich Keil so nahe verbrüdert, daß er ihr auch als Verleger stets die herzlichste Würdigung und das Gefühl einer vollen Collegialität bewahrte. Hatte ihm selber das Geschick, wie er einmal sagte, „ein erkleckliches Mehr in die Krippe geworfen“, so freute er sich dessen wohl, weil es von selber als eine Frucht seiner Arbeit ihm zugewachsen war, ohne daß er es gesucht und danach gestrebt hatte. Alle, die ihm jemals nahe gestanden, werden aber zweifellos zugestehen, daß es nicht diese Seite seines Erfolges gewesen, die seinen Ehrgeiz befriedigt, seinen Schaffensdrang gespornt und ruhelos vorwärts getrieben hat. Ein mitleidiges Lächeln hatte er daher für die Menschen, die nicht ermüdeten, ihm immer nur die Höhe der Summen nachzurechnen, welche das Product seines heißen Mühens ihm eingetragen, als ob darin der Gewinn seines Daseins bestände. „Möchten sie doch nur einmal ein paar Wochen an meine Stelle treten,“ meinte er, „und dann urtheilen, ob wirklich das Geld mich hätte reizen können, ein solches Leben zu führen!“

Wahrhaft rührend und doch zugleich in hohem Grade ergötzlich war daher sein mit Empörung gemischtes Erstaunen, als in der Gründerzeit speculationsdurstige Genossenschafter verschiedener Börsenplätze auch seine Ruhe zu stören suchten und an ihn sich in dem Glauben wendeten, daß ihm seine „Gartenlaube“ um ganz ungeheuere, sofort baar zu erlegende Summe von Hunderttausenden feil sein werde. Nicht begreifen konnte er, daß es in Deutschland Leute gäbe, die ihn für so klein und jämmerlich hielten. Schriftliche Anträge dieser Art – sie fanden sich noch in seinem Nachlasse – beantwortete er gar nicht, aber man ließ nicht ab und sandte ihm wiederholt auch elegante und redegewandte Unterhändler in’s Haus, die noch höhere Preise boten, da man annahm, daß ihm die bisherigen zu gering erschienen seien. Mit einigen dieser Unterhändler ließ er sich in Gespräche ein, hörte aufmerksam ihre Auseinandersetzungen an und versagte sich dann das Vergnügen nicht, ihnen mit aller Drastik seiner Redeweise das Beleidigende und die komische Verächtlichkeit ihrer Mission vor die Seele zu führen. Namentlich wird ein junger Buchhändler, der von auswärts in solchem Auftrage zu ihm gekommen war, sich noch lebhaft erinnern, wie Keil ihm sagte: „In dieser Zeit, wo man Alles für käuflich hält, können die vereinigten Geldmacher auf alle möglichen und unmöglichen Gedanken kommen; es kann sein, daß sie es morgen für nutzbringend halten, die Frau oder das Kind eines Mannes zu erwerben. Würden Sie den Muth haben zu diesem Manne sich schicken zu lassen und ihm zu sagen: ‚hier ist Geld, viel Geld, das sollst Du haben, wenn Du uns Dein Weib oder Dein Kind überlieferst‘? Mit hohnlachender Entrüstung, so glaube ich, würden Sie eine so schamlosen Auftrag abweisen. Aber mit ganz unschuldiger Miene zu einem Manne zu kommen und von ihm zu fordern, daß er Ihnen ein Stück seiner Seele, das blühende Werk, den Beruf und die Freude seines Lebens hinwerfen soll wie eine todte und gleichgültige Sache, für einen Haufen Geldes – nicht wahr? – das haben Sie für schicklich und ganz in der Ordnung gehalten? Wer hat Ihnen denn gesagt, daß Keil die ‚Gartenlaube‘ um irgend einen Preis verkaufen würde?“ Der junge Mann hatte einfach eine Geschäftsvermittlung übernommen und sich die Sache nicht so ernst gedacht. Sichtlich erschreckt und erschüttert faltete er den bereits auf dem Tische ausgebreiteten Verkaufsvertrag wieder zusammen und schied mit den Worten: „Ich habe da eine tief beschämende Lehre erhalten, aber die Reise doch nicht umsonst gemacht. Die Hochachtung vor meinem Stande und seinem Beruf war mir abhanden gekommen, hier habe ich sie wiedergewonnen!“

An solchen lebhaften Auftritten mannigfachster Art fehlte es übrigens fast niemals im Bureauleben Keil’s, und mit Sicherheit kann man auch annehmen, daß eine minder bewegte Existenz ihm niemals genügt haben würde, seine ganze Natur war in der That nur für die Erregungen und Wechsel einer öffentlichen Laufbahn angelegt. Aber es gab doch auch weiche Stellen im Herzen dieses starken Mannes, die aus allem Sturme heraus nach grünen Fluren sich sehnten, nach idyllischem Frieden und ungestörterem Genusse des Familienglückes, das ihm so reichlich beschieden war. Dieser lyrische Zug, der auch in seiner „Gartenlaube“ zu so ansprechend warmem Ausdrucke gekommen ist, erzeugte in ihm einen Zwiespalt zwischen seinem Empfinden und Thun, den freilich der Humor scherzender Freunde zu mancher gelungenen Neckerei benutzte, der aber doch ernsthafter war, als man glaubte. Wie deutlich er wußte, daß die „Gartenlaube“, die Freude und der Stolz seines Lebens, zugleich ein tragisches Verhängniß für sein persönliches Glück geworden sei, dafür kann hier ein merkwürdiges Geständniß von ihm aus dem für den Aufschwung der „Gartenlaube“ so außerordentlich glanzvollen Jahre 1867 angeführt werden.

Ein Freund hatte ihn damals von der Reise aus im Auftrage und Interesse eines gemeinsamen Bekannten vertraulich gefragt, ob dieser wohl die ihm angetragene Leitung eines illustrirten Unterhaltungsblattes übernehmen solle. Keil beantwortete in seiner Menschenfreundlichkeit die an ihn gerichtete Frage sehr ausführlich und schrieb dabei über sich selber Folgendes: „Was die ‚Gartenlaube‘ betrifft, so war ihre Auflage von 5000 Exemplaren, die im ersten Jahre (1853) abgesetzt wurden, im Jahre 1863 auf 157,000 gestiegen. Infolge des damaligen Verbotes für Preußen war sie zwar auf 105,000 zurückgegangen, stand aber 1866 schon wieder auf 142,000 bis alle in demselben Jahre, nach Aufhebung des preußischen Verbotes binnen neun Monaten um 83,000 sich vermehrte, sodaß jetzt (1867) 225,000 Exemplare gedruckt werden. Das sind Erfolge, auf die ich wohl stolz sein könnte, da sie redactionell und geschäftlich mein alleiniges Werk sind. Fragt man mich aber, ob sie mich glücklich gemacht, so habe ich nur eine trübe Antwort. Fünfzehn Jahre lang habe ich nur den einen Gedanken gehabt, der mich Tag [578] und Nacht und überall mit dämonischer Gewalt beherrscht hat, der mir alle übrigen Freuden des Lebens zuwider und mich zum einsamen Mann, oft genug auch in seinen Wirkungen mich und meine Familie unsäglich unglücklich gemacht! Fünfzehn Jahre – die schönsten des Lebens – habe ich nur gearbeitet, nur gegrübelt, nur geschaffen, keinen Sonntag gehabt, mich von den meisten Freuden zurückgezogen und nur dem Unternehmen gelebt. Trotz der mir zu Gebote stehenden Reisemittel habe ich mit Ausnahme einer Schweizer Reise – von der Welt Nichts gesehen, und wenn man morgen meine müden Gebeine hinausträgt, werden die Leute sagen: er war ein Narr und hat sein Leben nicht genossen! Die Leitung eines solchen Unternehmens ist ein Fluch, der mit eisernen Klammern gefangen hält und schließlich das Leben knickt, das nur noch in einer gelungenen Nummer Werth hat. In sechs Jahren sind mir drei Tage Erholung geworden, die ich in Thüringen zubrachte. Ein Nachlassen ist unmöglich, geradezu verderblich, und wenn unser Freund sich nicht ausschließlich dem Blatte widmen, wenn er nicht Alles vergessen kann, was sonst noch das Leben werth und lieb macht, wenn er nicht Tag und Nacht nur für das Blatt arbeiten kann und will, so soll er den Gedanken aufgeben, es in die Höhe bringen zu wollen. Der Ehrgeiz kann durch den Erfolg eines solchen Blattes befriedigt werden, aber glücklich – glücklich machen kann es nicht! Ich habe es erfahren!“

Das waren tief elegische Töne, die hin und wieder noch düsterer dem Innersten seines belasteten Gemüthes entquollen, je unaufhaltsamer in den nächsten zehn Jahren das immerwährende Steigen der „Gartenlaube“ die Anforderungen an seine Spannkraft erhöhete. Im Ganzen aber war er eine zu arbeitsfreudige und gesunde Natur, als daß solche Stimmungen einsamerer Stunden jemals die Art seines Wesens und Sichgebens hätten beherrschen können. Wer ihn sah und namentlich in seinen Wohnungs- und Geschäftsräumen mit ihm verkehrte – und nur da sah man ihn, wie er war – der fand sich jederzeit einer frisch und frei gearteten Mannhaftigkeit gegenüber, die mit ungezwungener Würde und fester, wenn es sein mußte auch derber Sicherheit der Haltung die lebhafteste und gesprächigste Theilnahme für Personen und Dinge und eine immer zu launiger Wendung aufgelegte Jovialität verband. Nicht leicht wird man ernsthafte Menschen finden, die zugleich so herzlich, so naiv und aus vollster Seele zu lachen vermögen, wie er es konnte, wenn mitten im Drange der Arbeiten ein drastisches Witzwort, eine gut erzählte Anekdote, ein komischer Vorgang, die Sonderlichkeit eines originellen Freundes seinen Humor erregte. Waren eine Zeit hindurch die Lasten und Verdrüßlichkeiten gar zu übermächtig geworden, so pflegte er zu sagen: „Ich muß wahrhaftig einmal in’s Theater gehen, in ein recht drolliges Lustspiel, um einmal wieder gründlich zu lachen. Das macht mich wieder auf Wochen flott!“ Bei vorwiegender Hingabe an grüblerische Melancholie würde er sich überhaupt nicht denjenigen Grundzug seines Verhaltens bewahrt haben, der ungemein bedeutsam für sein Wirken und seine Laufbahn geworden ist: den von ihm ausgehenden Zauber einer persönlichen Anmuth und Liebenswürdigkeit, unter dessen Bann Jeder stand, von dem Jeder zu erzählen wußte, der mit ihm in Berührung gekommen war. Diese Macht hätte eine dämonische werden können, wenn sie bei ihm nicht einem streng gerechten und humanen Sinn entflossen, gleichsam ein Extract seiner besten Eigenschaften gewesen wäre. Ihrem fesselnden Eindrucke hatte er viele seiner innigsten Beziehungen und Verbindungen, hatten Unzählige ihre ermunterndsten Anregungen zu danken. Mochte sie in Briefen oder Antlitz gegen Antlitz ihren Einfluß äußern, es lag etwas Unwiderstehliches in ihr und sie konnte in streitigen Fällen als Waffe eines starken Willens auch den Ueberzeugungen Anderer sehr gefährlich werden. Wollte er ernstlich etwas – und es bezog sich das immer auf redactionelle Fragen, alles Sonstige, Geschäftliches, Finanzielles etc. nahm er nicht leidenschaftlich – so wußte er es gegen widerstreitende Meinungen in einer Weise durchzusetzen, daß den Besiegten zuletzt oft nichts als ein herzliches Gelächter übrig blieb, in das er dann gemüthlich einstimmte. Schriftsteller z. B., denen er fortwährend erhebliche Aenderungen, Kürzungen, oft ganze Umstellungen ihrer Beiträge zumuthete, sobald er das im Interesse seines Blattes als nöthig erachtete, haben in dieser Beziehung für ihn gethan, was kein Mensch des weiten Erdballes von ihnen ohne Verursachung eines Bruches hätte verlangen dürfen. Nur äußerst klein wird die Zahl der Fälle sein, daß Leute dem vielfach in unausweichlichen Conflicten lebenden Manne dauernd gezürnt hätten, sofern es in seinen Wünschen lag, einen Groll nicht Wurzel fassen zu lassen. Er selber war nur unversöhnlich, wo ihm durch Untreue und Undankbarkeit bittere Erfahrungen bereitet wurden.

Viele Liebe und Hochachtung erwarb ihm in allen Volksclassen auch der Umstand, daß er in allem großen Umschwunge seiner Verhältnisse, bei allem Machtgefühl, das seine literarische Weltstellung ihm einflößen mußte, immer derselbe geblieben war, als den man ihn vorher gekannt hatte. In seinem Aeußeren war zwar mit dem reiferen Alter der ehemals schlanke Wuchs einer stattlicheren Fülle gewichen. Wie aber die Jahre seinem Blicke und seinen Zügen nichts von ihrem wohlthuenden und herzgewinnenden Ausdruck, seiner Gestalt, seinem Gange und seinen Bewegungen bis zu seinem Ende nichts von der gewohnten jugendlichen Straffheit und Elasticität genommen hatten,[1] so ist auch nach dem Wechsel der Glücksumstände niemals auch nur die geringste Aenderung in Bezug auf die strenge Schlichtheit und Anspruchslosigkeit seines Wandels an ihm bemerkbar geworden. Die noble Einfachheit in Erscheinung und Lebensführung stand ihm so wohl, weil in ihr nichts Enges, Eckiges und Philisterhaftes, wenn sie nicht erkünstelt und blos zur Schau getragen, sondern das naturwüchsige Ergebniß seiner ganzen Geschmacks- und Charakterrichtung, seines durchaus demokratischen Naturells und echten Bürgerstolzes war. Unter allen abgeschmackten Rollen, die ein Mensch in der Welt zu spielen vermag, erschien ihm das Prunken mit dem Besitz, die gemachte Vornehmheit eines sich aufblähenden Geldstolzes und Vergnügungslebens als die dümmste, lächerlichste und verächtlichste. Keiner seiner alten Freunde unter den Kaufleuten, Buchhändlern, namentlich den Schriftstellern und Künstlern hat in jahrelangem traulichstem Umgange jemals gespürt, daß Keil inzwischen ein mächtiger und sehr wohlhabender Mann geworden sei. Nur in diesen Kreisen suchte er Abends beim Bier gern seine gesellige Erholung, und das ewige Gerede, daß es seine Pflicht sei, „ein Haus zu machen“, schnitt er entweder mit der Bemerkung ab. „Ich habe ja aber gar keinen Frack“, oder er entgegnete ernster: „Das fehlte mir gerade, daß ich mich auch Abends noch in eine Zwangsjacke steckte, wenn ich todtmüde bin!“ Als sein Geschäft weit über den engen Miethsraum hinausschwoll, in welchem es die ersten sechszehn Jahre gehaust, hatte er demselben allerdings (1862) ein palastartiges Haus errichtet und in diesem auch sich und seinem musterhaften Familienleben ein schönes und sinniges Heim geschaffen. Diesen Aufwand – der große Bau wurde sofort bis auf den letzten Pfennig bezahlt – glaubte er im Interesse der beiden hohen Zwecke, denen sein Leben gewidmet war, sich im Angesichte der Welt gestatten zu dürfen, zugleich sollte das Haus als eine untilgbare Mahnung dastehen an die steigende Macht der Volksaufklärung und der freisinnigen Presse.

Im Uebrigen aber war es nur noch eine einzige Neigung, der er neben der besseren Förderung der „Gartenlaube“ mittelst des erlangten Ueberflusses eine ausgedehnte und über das gewöhnliche Maß hinausgehende Befriedigung verschaffte: dem Drange nach Beglücken und Wohlthun, nach Bethätigung seines weichen Erbarmens mit Elend und Unglück. Seine nächsten Umgebungen kannten diesen Zug genau, Niemand hat ein paar Stunden in seiner Nähe geweilt, ohne ihn nebenher noch mit einigen großen oder kleinen Angelegenheiten der bezeichneten Art ernstlich beschäftigt zu sehen. Sein Comptoir war zum Theil ein Wohlthätigkeitsbureau. Wenn Leute jedes Alters und Geschlechts, Familien oder Einzelne, irgendwo in Bedrängniß oder Verlegenheit waren, oder auch nur irgend einen dringenden Wunsch sich nicht erfüllen konnten, so schrieben sie an den allbekannten Gartenlauben-Redacteur, oder reisten direct nach Leipzig, um ihm ihre Bitten und oft recht curiosen Anliegen dringend an’s Herz zu legen. Nicht allen diesen fortwährend auf ihn einstürmenden Gesuchen konnte er entsprechen, aber fortwährend gab und half er nach allen Seiten hin mit vielfach sehr erheblichen Beträgen Bekannten und Unbekannten aus der eigenen Tasche, scheuete er beschwerliche Gänge und Schreibereien, selbst [579] Zank und Kampf nicht, um durch Rath und That, durch Empfehlung und Verwendung die allerschwierigsten Rettungen selbst da auszuführen, wo mitunter auch über Verschuldungen hinwegzusehen, gegen begangene Fehler und menschliche Verirrungen Nachsicht zu üben war. Sehr groß ist weit und breit die Zahl der Familien, die seiner Unterstützung und Aufhülfe ihr Wohlergehen zu danken haben, unter Anderem auch der Kinder und Jünglinge, denen er allein ihre Ausbildung in Handwerk und Gewerbe, in Wissenschaft und Kunst ermöglicht hat. Die regelmäßige Pensionen, welche er an alte und hülflose Leute zahlte, bildete eine beträchtliche Summe in seinem jährlichen Ausgabe-Etat. Ueber dies Alles, wie gesagt, konnten Näherstehende nicht im Zweifel sein, aber eine ganz deutliche Vorstellung von der ergreifenden Art und dem erstaunlichen Umfange jenes möglichst heimlich betriebenen Wohlthätigkeitsgeschäfts erlangte der Verfasser dieser Darstellung erst, als ihm einst vertraulich der Einblick in ein Convolut von Actenstücken, Quittungen, Rechnungen, Briefcopien und Dankbriefen gewährt wurde, welche der seltene Mann als einzige Genugthuung für den überreich gespendete Tribut in einem streng verschlossenen Kasten aufbewahrte. Eine Eigenthümlichkeit seines poetischen Sinnes war es, daß er seinen Liebesthaten gern die Form einer feinen und gewöhnlich sehr anmuthig ausgedachten Ueberraschung gab, wie überhaupt Fälle des Unglücks ganz besonders zu seinem Herzen sprachen, wenn sie nicht ohne einen gewissen dramatischen Reiz waren. Davon werden sich in später zu gebenden Erinnerungen an ihn noch die interessantesten Beispiele erzählen lassen, für welche hier gegenwärtig der Raum fehlt. Als unbedingt feststehend aber kann es inzwischen auch ohne solche Mittheilung von Einzelnheiten gelten, daß Keil auch als Mensch und in seinem persönlichen Leben das Humanitätsstreben und den volksthümlichen Charakter der „Gartenlaube“ redlich bethätigt hat. Was wir hier in dieser wie in jeder anderen Hinsicht von ihm sagen, gehört nicht in das Bereich der conventionellen Lobphrasen, in jeder Zeile beruht es auf Thatsachen, die durch Hunderte von Zeugen erhärtet, durch zahlreich in unseren Händen befindlichen Zeugnissen unwiderleglich bewiesen werden können.

An mannigfachen Angriffen und absprechende Urtheilen über einen auf so weit vorgeschobenem Posten kämpfenden Mann hat es natürlich im Laufe der Zeiten nicht gefehlt. Zu den unwahrsten und ungerechtesten dieser Behauptungen gehört der Vorwurf, daß er um äußerlicher Vortheile und geschäftlicher Zwecke willen „politische Schwenkungen“ gemacht habe und von seinen früheren Ueberzeugungen abgewichen sei. Forscht man dem Ursprunge dieser Beschuldigung nach, so kam und kommt alle hauptsächlich aus den Reihen unserer deutsche Particularisten aller Farben und Länder, die es der „Gartenlaube“ nicht verzeihen konnten, daß sie nicht in einer Opposition gegen Preußen verharrte, welche von ihr doch auch früher niemals wider den preußischen Staat als solchen und niemals wider seinen deutschen Beruf, sondern immer nur gegen das widerdeutsche und freiheitsfeindliche Junker- und Pietistenregiment der fünfziger Jahre gerichtet wurde. Zu diesem für ganz Deutschland so unheilvoll gewordenen Regimente hatte sich Keil nicht in einem schärferen Gegensatze befunden, als die gesammte liberale Partei und ihre Presse in Preußen selber, und nur eine ganz irrthümliche Auffassung seines politischen Standpunktes konnte an ihn die Zumuthung stellen, den Kampf auch dann noch fortzusetzen, als derselbe durch einen fühlbaren Wechsel des Systems in wesentlichen Punkten für ihn gegenstandslos geworden war. Es ist Keil nicht einmal als Verdienst anzurechnen, sondern es kam von selber und ohne jedes Ueberlegen aus der ganzen Entwickelung der Dinge, aus seinen innersten Ueberzeugungen, aus seinem lebhaften Vaterlands- und Pflichtgefühl, daß er einem segensreichen und gewaltigen Umschwunge aller vaterländischen Verhältnisse gegenüber auf einen so unvernünftigen und unpatriotischen Weg sich nicht begeben, sein mächtiges deutsches Blatt nicht zu einem Fractionsblättchen, einem dürftigen Groll- und Schmollwinkel kleiner Schaaren von Mißvergnügten herabgedrückt, den lebendigen Zusammenhang mit den großen Geschicken der Nation, mit den großen Wendungen und Strömungen des liberalen und nationalen Geistes nicht verloren hat. Daß er dabei Beziehungen zu regierenden Mächten gesucht und erlangt hätte, das hat offen noch kein verständiger Mensch zu behaupten gewagt, und es ist auch in der That ganz und gar unerfindlich, welche Art von Vortheilen ihm aus solcher Gunst hätte erwachsen sollen. Vom Beginn seiner Laufbahn bis zum letzten Tage seiner Thätigkeit ist ihm vielmehr das Bewußtsein seiner vollen Unabhängigkeit als die Bedingung und das stolzeste Gut seines Lebens erschienen, mit Eifersucht hat er dieses Gut nach jeder Seite hin sich bewahrt, und namentlich eine Verbindung oder auch nur ein Friedensschluß mit reactionären Gewalten und Bestrebungen irgend einer Art hätten gänzlich außerhalb der Grenzen seines inneren Könnens gelegen. Wenn geschäftige Zungen gern die Meinung verbreitet hätten, er habe Versprechungen gemacht, um die Zurücknahme des Verbotes in Preußen zu ermöglichen, so war das eben einfach eine aus den Fingern gesogene Lüge. Es ist ihm ein solches Versprechen von keiner Seite jemals angesonnen worden, noch hat er es freiwillig jemals geleistet. Manche Kämpfe hat er literarisch überhaupt nicht mehr aufgenommen, weil kritisches Raisonnement und specielle Polemik nicht in der unterhaltenden und schildernden Tendenz des Familienblattes lagen. Alles Derartige war in das abgezweigte Beiblatt „Deutsche Blätter“ verwiesen, wo es mit seiner Zustimmung rüstig verfochten wurde. Unentwegtes Festhalten aber an den entschiedensten Grundsätzen der Freiheit und Humanität, des Volks- und Menschenrechts ist bis zu seinem letzten Augenblicke das Erkennungszeichen und der innerste Lebenskern der „Gartenlaube“ geblieben, und dieser Geist wird ihr nicht entweichen können, so lange noch eine Spur von dem Geiste und der Gesinnung Keil’s in ihr lebendig ist. Das beste Zeugniß für ihn spricht aus dem Ganzen der fünfundzwanzig Jahrgänge, aber es spricht auch aus dem grimmigen Hasse, mit welchem die Finsterlinge aller Sorten ihn bis zur Gruft und über dieselbe hinaus unaufhörlich beschimpft und angeschwärzt, verfolgt und verkleinert haben. Diese Angriffe bereiteten ihm deshalb auch stets eine große Befriedigung. „Wenn die mich einmal loben und mit mir zufrieden sein würden,“ sagte er, „dann ist’s aus mit mir und mit der ‚Gartenlaube‘!“

So waren in innerem Drang und Sturm, aber im Ganzen einförmig und ohne erhebliche äußere Zwischenfälle die Tage und Jahre dahingeflossen, als am Weihnachtsfeste 1871 ein düsteres Verhängniß plötzlich mit schneller und rascher Hand in dieses anspruchslose Leben griff durch den unvorhergesehenen Tod des einzigen Sohnes Alfred, der bekanntlich auf einer rüstig unternommenen Studien- und Vergnügungsreise nach dem Orient in Kairo einer Diphtheritis hatte erliegen müssen. Es war das ein fürchterlicher Schlag gerade für die Gemüthsart dieses Vaters, als er mit dem Sohne auch die erhoffte Stütze seines Alters, alle seine Hoffnungen auf die Zukunft seines Hauses und seiner Unternehmungen vernichtet sah. Bezeichnend aber für ihn ist es, daß er selbst unter den ersten Betäubungen des unbeschreiblichen Schreckens in den gewohnte Stunden fest an seinem Pulte stand und seine Pflichten gegen die „Gartenlaube“ nicht einen Tag aus den Augen verlor. Wohl länger als ein Jahr schüttelte ihn sodann der Schmerz, gab er in stilleren Augenblicken den herzzerreißenden Ausbrüchen des Grams sich hin, dann aber richtete er unter den weichen und sorglichen Händen einer starke Liebe, die um des Gebeugten willen den eigenen Mutterschmerz bekämpfte, im Angesichte der lieblichen Töchter und im Anschlusse an treue Freunde wunderbar sich wieder auf. Wenn auch fortan im Tone seines Wesens ein Ueberwiegen weicher Stimmungen zu bemerken war und er dem Andenken des Sohnes unablässig einen rührend wehmüthigen, ganz eigenthümlich gemüthvollen Trauercultus gewidmet hat, war er doch dem Leben und den Anforderungen des Kämpferberufs so weit zurückgegeben, daß ihn gerade sechs Jahre nach der grausamen Heimsuchung der Schluß des fünfundzwanzigsten Jahrgangs der „Gartenlaube“ ganz unverändert als einen wohlaussehenden, geistesfrischen und munterbeweglichen Mann fand, ohne jede Verwischung seiner scharf ausgeprägten individuellen Züge.

Aus Furcht vor Ablenkung von seinen Arbeitspflichten, aus Scheu auch vor jedem Herausstellen seiner Persönlichkeit hatte er eine Jubiläumsfeier durchaus nicht gewollt. Aber schon das Personal des Hauses wollte es sich nicht nehmen lassen, ihn durch einen Ausdruck verehrungsvoller Liebe zu erfreuen, und was die Welt draußen betrifft, so stand die Zahl fünfundzwanzig zu deutlich auf den Jahresprospecten und dem letzten Titelblatte der [580] „Gartenlaube“, als daß nicht Unzählige in der Nähe und Ferne mit herzlichen Glückwünschen, mit sinnigen Ehrenspenden, mit Beweisen des Vertrauens und der dankbaren Anhänglichkeit sich pünktlich hätten einstellen sollen. So brachten ihm denn in der That diese Tage eine Fülle stärkender Erquickung und erschlossen ihm die Wirkungen seines Ringens in so unzweideutiger Weise, daß er mit Gefühlen der Beruhigung auf die durchlaufenen Bahnen zurückblickte. Am Abend des ersten Januar vereinigte er seine Verwandten, nächsten Mitarbeiter und Freunde um sich und die Seinen zu einem gemüthlichen Feste – einem der wenigen, die in diesen stillen Räumen gefeiert worden sind – und alle Anwesenden sprachen gegenseitig ihre Freude aus, wie er so stattlich und munter war und scherzhaft selbst an dem improvisirten Tanze der Jugend sich betheiligte.

Gewiß ist es, daß er rüstiger, gehobener und hoffnungsvoller in dieses Jahr 1878 trat, als in eines der vorhergegangenen Jahre, und nicht wenig hatten dazu auch die ausdrücklichen und herzlichen Zusicherungen aller ihm werthen Mitarbeiter beigetragen, auch ferner mit ihm vereinigt – denn um diesen einen Punkt drehten sich stets alle seine Sorgen – die „Gartenlaube“ auf der Höhe ihrer Bahn, ihres Inhaltes und ihrer Bedeutung erhalten zu wollen. Aber noch ein anderer, ein rein persönlicher und gänzlich neuer Umstand belebte ihm die ersten Wochen des neuen Jahres in der freudigsten und erheiterndsten Art. Zwei Mal des Tages verließ er damals zu ungewohnter Zeit das Haus, kam erst nach Ablauf von einigen Stunden zurück und war bei seiner steten Neigung zu schelmischen Neckereien schon ungemein durch den Gedanken belustigt, wie seine gesammten Umgebungen sich nothwendig die Köpfe zerbrechen müßten über die Veranlassung zu diesen Gängen. Darüber jedoch beobachtete er ein beharrliches Stillschweigen und spannte nur schalkhaft die Neugier, indem er ein dunkles Geheimniß andeutete, das später sich enthüllen werde. Daß es nichts Unangenehmes sein könne, ersah man freilich aus seiner täglich sich steigernden Fröhlichkeit, aber unter allen möglichen Gründen vermochten doch selbst die Nächsten den wahren nicht zu errathen. Keil hatte einen unbedeutenden Fehler in seinem Sprachorgane, der nur in Augenblicken der Erregung seinen angenehmen Redefluß ein wenig störte, den übrigens seine Angehörigen und Bekannten kaum noch bemerkten, von dem geistreiche Damen sogar sagten, daß er die Erscheinung des Mannes noch interessanter mache, als sie es ohnehin sei. Wie er jedoch später gestand, hatte ihn selber dieses Uebel von Jugend an und während seines ganzen bisherigen Lebens im Stillen sehr unglücklich gemacht, ihn vielfach verdüstert und durch das (ganz irrthümliche) Gefühl herabgedrückt, er sei dadurch entstellt und von Anderen bemitleidet oder verlacht.

Als nun in diesem Winter Herr Denhardt, ein rühmlich bekannter Lehrer für Stotternde, sich zeitweilig in Leipzig aufhielt und ihm von befreundeter Seite redactionell sehr warm und unter Vorlegung glänzender Zeugnisse empfohlen wurde, faßte er die Sache sofort im persönlichen Interesse auf. Er wendete sich an den Mann und nahm sodann Tag für Tag, trotz seiner einundsechszig Jahre, an dem anstrengenden Uebungsunterrichte desselben mit einem Eifer Theil, daß er schon zu Anfang März seine drei Redactionsgenossen nebst einem vertrauten Jugendfreunde an einem Abend feierlich zu sich laden und ihnen endlich die Ursache seiner heimlichen Wege in einer langen, ohne Stocken und Anstoß gesprochenen Rede enthüllen konnte, die zugleich eine Probe des überaus günstigen Erfolges war. Unbeschreiblich rührend war das Gefühl des Glückes und der freudenvollen Erregung, welche des Mannes in Folge dieser Heilung sich bemächtigt hatte. Wie umgewandelt war er. Als ob ein Alp ihm von der Brust gewälzt, ein beklemmendes Zagen von seinem Wesen genommen sei, als ob er erst jetzt das Recht zu voller Betheiligung an dem Leben gewonnen habe, so richtete freier als jemals, mit frohem Ausblicke in den Rest des Daseins sein Haupt sich auf. Es waren das selige Tage für ihn und mit seinem publicistischen Pflichtgefühl trug er sofort auch Sorge, daß eine Kunde von dem Vorhandensein dieser glücklichen Methode nunmehr in die weitesten Kreise dringe. Für die „Gartenlaube“ wurde auf seine Anregung ein Artikel über die Sache verfaßt, den er selber redigirte und mit einer von ihm unterzeichneten Anmerkung versah, deren Schlußzeile nachdrücklich betonte, welchen innigen Dank ein Streben verdiene, dem es gelinge, „aus scheuen, tief unglücklichen Stotternden frohe selbstbewußte Menschen zu machen, die sich jetzt mit Sicherheit in ihren Berufssphären und in der Gesellschaft bewegen.“

Nicht umsonst werden diese Worte hier buchstäblich angeführt, da sie unstreitig auf seine eigene Person sich beziehen und das ganze Wohlgefühl, den jung erwachten Lebensmuth der Stimmung zeigen, die ihn in jener ersten Märzwoche beseelte. Dunkles Verhängniß des Menschenlooses, traurige Ohnmacht menschlicher Berechnungen! Sehen wir uns die Nummer an, in welcher die erwähnte Anmerkung Keil’s enthalten ist; er selbst hat sie nicht mehr gesehen: auf beigelegtem schwarzumrändertem Blatte brachte sie zugleich die Trauerkunde, daß Ernst Keil fortan nicht mehr sprechen und schreiben werde, sondern schon seit einer Reihe von Tagen ein stiller Mann geworden sei. Es waren jene Schlußworte, aus denen so viel neue Hoffnungsfreude leuchtete, die letzten, welche er überhaupt für die Veröffentlichung geschrieben hat. Nicht eine Ahnung hatte er, daß mit dem Punkte, den er hinter jener Zeile gemacht, seine literarische Laufbahn für immer geschlossen sei.

Wie bei jeder Nummer der „Gartenlaube“, so lag auch natürlich bei der betreffenden Nummer (13) ein Zeitraum von drei Wochen zwischen der redactionellen Herstellung und dem Erscheinen. Möchten wir einen Schleier breiten können über die jähe Schicksalswendung, welche in diesen drei Wochen ein munteres und friedliches, idealem Streben geweihetes Haus in eine Stätte der Angst, des Schreckens und trostlosen Schmerzes verwandelt hatte. Da aber hier und da die Meinung verbreitet ist, Keil sei einer Erschöpfung und Aufgeriebenheit seiner Kräfte erlegen, so muß dieser irrigen Annahme widersprochen werden. Schon seit zwei Jahren hatten allerdings bei ihm wiederholte Anfälle eines Körperleidens sich eingestellt, dessen Ursache die Aerzte durchaus richtig als eine Gallensteinbildung erkannten. Die Anfälle waren heftig, schmerzhaft und schwächend, aber die Schnelligkeit, mit der er sich jedesmal nach wenigen Tagen wieder zu voller Rüstigkeit erholte, ließ mit Recht auf die Ungefährlichkeit des Leidens sowohl wie auf eine ungewöhnliche Lebenskraft und Dauerhaftigkeit seines Organismus schließen. So gab denn auch der am Abend des 8. März nach längerer Pause wieder einmal eingetretene Sturm keinen Grund zur Beunruhigung, bis nach einigen Tagen plötzlich schlimme Zufälle einen ernsteren Charakter des diesmaligen Verlaufes zeigten. Ein zu großer Stein konnte seinen Weg durch enge Canäle nicht vollenden, und nur dieses rein mechanische Hinderniß war es, das diese noch so daseinsfrohe, noch so sturm- und wetterfeste Natur rettungslos und mit hastiger Grausamkeit vernichtet hat. Entsetzlich waren die Schmerzen und Qualen, die er zwei Wochen hindurch mit stiller Geduld, in lichten Augenblicken sogar mit einem Schimmer des alten Humors und unter fortwährender Sorge um seine „Gartenlaube“ erdulden mußte. Aber alle Anstrengungen der Aerzte, alle Macht einer aufopfernden Liebe, die Tag und Nacht an seinem Schmerzenslager weilte, hat den raschen Gang des Verhängnisses nicht aufhalten können. In der Morgenfrühe des 23. März hat der Begründer und Herausgeber des „Leuchtthurm“ und der „Gartenlaube“ sanft und ruhig sein wirkungsreiches Leben ausgehaucht.

Je weniger man außerhalb des Hauses von seiner Erkrankung gehört hatte, um so größer war die Bestürzung, um so lebhafter waren die Gefühle der Trauer und Theilnahme, die allenthalben in der Nähe und Ferne bei der unerwarteten Nachricht von seinem Tode zu allerinnigstem Ausdrucke kamen. Wie würde er, der im Leben so gern um Liebe geworben, wie würde er beseligt und ergriffen gewesen sein, hätte er den wahrhaft gewaltigen Drang reicher und aufrichtiger Liebe gesehen, die zu seiner großartigen Bestattungsfeier herbeigeeilt, die heiß an seinem Sarge und Grabe geweint, seine Reste mit Lorbeer und Blumen überschüttet und seinem Andenken aus allen Theilen des Vaterlandes massenhafte Beweise verehrungsvollster Dankbarkeit gewidmet hat! (S. Nr. 14 der „Gartenlaube“.) Erst nach seinem Tode hat es ganz unverkennbar sich gezeigt, wie tief die Spuren sind, die er auf seinem Wege in den Herzen seines Volkes zurückgelassen hat.

Nun haben über seiner Gruft schon die Lerchen gesungen und die Rosen geblüht, aber viele Sommer und Winter werden noch über diese Ruhestätte hinweg ziehen, ohne daß in Deutschland das Gedächtniß des Mannes wird erblassen können, der [581] nicht blos ein großer Buchhändler, ein hochbegabter Redacteur und liebenswerther Schriftsteller gewesen ist, sondern der aus dem deutschen Leben seines Zeitalters auch weit hervorragt als ein eigenartig wirksamer Charakter von seltener und eisenfester Bürgertugend, als eines der imponirendsten Beispiele von der versittlichenden Macht des unabhängigen Freiheits- und Humanitätsgedankens, welcher die Richtschnur und das Ziel seines Lebens war. Stolz ohne Dünkel, überzeugungsstark ohne Pedanterie, poesievoll ohne Phantasterei, schlicht und herzensgut ohne Schwäche, ernst und tapfer ohne Härte und Lieblosigkeit, dabei strahlend von heiterer Frische ohne eine Spur von Frivolität, so haben wir ihn im Privatleben wie in der öffentlichen Thätigkeit allezeit ungebeugten Hauptes seine mühselige Bahn nach aufwärts wandern sehen, ein ganzer Mensch und ein wahrer Mann des Volkes, bis sein Auge sich geschlossen hat. Daß nicht Jedermann mit jeder Richtung seines Geschmackes, mit jeder seiner Redactionsmaximen einverstanden war, kann bei Unbefangenen der vollen Würdigung seiner Bedeutung wie seines Manneswerthes keinen Eintrag thun. Blicken wir auf das Ganze seines Lebens zurück, wie es hier wahrheitsgetreu von seinen ersten Anfängen geschildert wurde, so finden wir nach allen Seiten hin und in Bezug auf jedes einzelne Wort bestätigt, was die Mitglieder seiner Redaction in der Erschütterung des ersten Schmerzes ihm nachgerufen haben. „Es hat in ihm die deutsche Literatur eine ihrer machtvollsten Stützen, der nationale Journalismus einen seiner verdienstvollsten Kämpfer und großartigsten Förderer, das deutsche Vaterland aber einen seiner besten Bürger verloren!“ Gilt es als eine Pflicht des Menschen, daß er offen und ausführlich Zeugniß ablege von Gutem und Reinem, Hohem und Schönem, was er in seinem kurzen Erdentagen erfahren und mit eigenen Augen gesehen hat, so bin ich in der obigen Darlegung ein solcher Wahrheitszeuge gewesen.

Leipzig, im Juli 1878.
Albert Fränkel.




Am Grabe Ernst Keil’s.



Der Märzwind rauscht durch Deine Grabeskränze;
     Ich steh’ am Hügelsaum gedankenvoll.
Noch liegt vom Herbst das Laub und Todtentänze
     Nun tanzt es mit dem Wind. In Bangniß schwoll

5
Der Busen mir in diesen Schmerzenstagen:

     Jetzt naht die Wehmuth sich mit sanft’rem Schritt
Und bringt die Thräne mir und läßt mich klagen –
     Millionen weinen meine Thränen mit.

Weiß doch von Deiner Thaten reichem Samen

10
     In preisender Bewunderung die Welt,

Und deutsche Zungen segnen Deinen Namen
     Am Delaware und Nil, am Rhein und Belt.
Wo Ketten lähmten freie Geistesflüge,
     Da funkelte Dein Schwert – der Krieg begann;

15
Es schmückten Dich des schönsten Menschthums Züge:

     Ein Kämpfer warst Du, und Du warst ein Mann.

[582]

Für Freiheit nährtest Du, für Menschenrechte
     Ein unverbrüchlich heiliges Gefühl;
Für alles edel Schöne, mannhaft Echte

20
     Trugst Du das Banner hoch im Schlachtgewühl.

Ein Anwalt warst Du Allen, die da litten
     Bereit zur Hülfe, ohne Falsch im Rath;
Weichherzig fanden Dich der Armuth Bitten,
     Und Keiner bat umsonst, der würdig bat.

25
Und dieses Herz, nun ruht’s im Grabesschweigen;

     Es weht darüber hin der Frühlingswind.
Mir ist’s, als rief ein Gott mir aus den Zweigen:
     „Sieh hin, wie sterblich Eure Besten sind!“
Ich weiß, ich weiß – es wälzt auf blut’gem Raine

30
     Vergänglichkeit ihr ewig rollend Rad,

Und Trost gewährt dem Herzen nur dies Eine:
     Es stirbt der Mensch – unsterblich lebt die That.

Unsterblich auch, was Du vollbracht! Wie Sterne
     Steht eingeprägt in Deines Volkes Buch

35
Und leuchtet in entlegne Zeitenferne,

     Was Gutes Du gewirkt hast, Zug um Zug.
Horch! aus dem Grabesschmuck mit leichtem Flügel
     Schwirrt eine Amsel – Stille sonst und Ruh’ –
Und von dem frischen thaubeperlten Hügel

40
     Trägt sie ein Lorbeerblatt der Sonne zu.


     Im März 1878.

Ernst Ziel




Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

„Undankbarkeit? Habe ich denn ein Recht, Dankbarkeit von jenen Menschen zu verlangen?“ fragte Raven mit ruhiger Bitterkeit. „Zwischen uns hat nie irgend ein Band des Vertrauens existirt. Sie brauchten mich zur Ausführung ihrer Pläne, und ich brauchte sie um emporzusteigen. Es war ein ewiger Kriegszustand, ein ewiges Abwägen der gegenseitigen Kräfte. Ich habe sie oft genug die Macht des gehaßten Empörkömmlings fühlen lassen; jetzt, da die Macht in ihren Händen ist, stürzen sie mich. Ich konnte und durfte nichts Anderes erwarten, aber ich fühle jetzt, daß Rudolph Recht hat. Es ist doch etwas werth, an sich selber und an seine Ideale zu glauben. Wer mit und für seine Ueberzeugung fällt, der kann auch den Fall ertragen. Wer wie ich die besten Kräfte seines Lebens an eine Sache setzte, der er kein Herz entgegenbrachte und die er im Grunde seiner Seele anklagen und verachten mußte, dem bleibt nichts, woran er sich im Sturze halten kann.“

„Und ich?“ sagte Gabriele vorwurfsvoll.

„Ja Du!“ rief der Freiherr mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit aufflammend. „Du bist mir noch allein geblieben. Ohne Dich hätte ich dieses Ende nicht ertragen.“

„Wirst Du es denn überhaupt ertragen?“ fragte das junge Mädchen beklommen. „Ach, Arno, mir ist, als könnte auch ich Dich nicht mit einer Zukunft versöhnen, in der alles fehlt, was Dein eigentliches Leben ausmacht. Du wirst Dich verzehren in der Einsamkeit, auch wenn ich an Deiner Seite bin.“

„Laß das jetzt!“ sagte Raven sanft ablenkend. „Davon sprechen wir später. Ich habe den Schleier von meiner Vergangenheit gezogen; Du solltest sie und mich ganz kennen lernen. Jetzt aber ist es genug mit den düsteren Erinnerungen; sie sollen uns nicht länger diese Stunde trüben.“

Er richtete sich empor mit einem Ausdruck, als wolle er alles Quälende weit hinter sich werfen. Sie war in der That schön, diese Stunde in der mondbeglänzten Einsamkeit des Gartens. Die halbentlaubten Bäume, die blumen- und duftlose Erde, all die traurigen Zeugen des Herbstes schienen ihren längst verlorenen Reiz zurückzugewinnen in dem geisterhaften Lichte, das so mild verschleierte, was ihnen die Herbststürme geraubt hatten, und sie in seinen verklärenden Glanz tauchte.

In träumender Stille lag der Schloßgarten und die weite Landschaft, auf die er den Blick eröffnete. Jetzt leuchtete sie freilich nicht mehr in der goldigen Klarheit des Sommertages; heut ruhte das Thal halb verborgen im duftigen Schimmer der Mondnacht. Vom Fuße des Schloßberges her blinkten die Lichter der Stadt herauf, deren Dächer und Thürme sich hellbeschienen in die Nachtluft emporhoben. Deutlich standen die nächsten Berggipfel da; die zackigen Felshäupter schienen sich von der dunklen Masse Gebirges loszulösen, aber weiterhin wurden die Linien zarter, unbestimmter und die ferneren Höhenzüge verschwanden ganz im bläulich schimmernden Duft. Das bleiche Licht überströmte wie mit unendlichem Frieden all die Wälder, die Höhen und Ortschaften ringsum. Unten im Thale, auf den Wiesen und Feldern regte sich geheimnißvolles Nebelweben, nur hier und da blitzte eine der Windungen des Flusses auf. Hoch oben wölbte sich der Himmel in seiner Sternenpracht, und über dem Allen lag es wie ein zarter, durchsichtiger Schleier, aus Mondesstrahlen und Nebelduft gewoben – es war ein Bild von traumhafter Schönheit und tiefer unaussprechlicher Ruhe.

Auch hier oben schwebte der Nebelduft über dem Rasen, und der Mondesstrahl webte ringsum seine phantastischen Gebilde. Die grauen, moosbewachsenen Gestalten des Nixenbrunnens schienen Leben zu gewinnen in diesen Strahlen; es war, als regten sie sich unter dem feuchten Wasserschleier, der, voll und ganz von dem weißen Lichte getroffen, wie ein funkelnder Silberregen aussprühte und wieder niedersank. In sein Rieseln und Rauschen mischten sich all die Stimmen, die nur in der Sage der Nacht aufwachen, dunkel und räthselhaft wie die Nacht selbst. Der Wind ruhte; die Luft war völlig unbewegt, und doch regte sich oft ein Flüstern und Wehen das wie Geisterhauch vorüberzog und dahinstarb.

Der Abend war so mild und klar, daß man sich in den Frühling zurückträumen konnte, und es war auch ein Frühlingstraum, der jetzt durch die Seele Raven’s zog. Freilich ein später, kurzer Traum, aber für ihn drängte sich darin doch alle Seligkeit zusammen, welche die Erde nur zu geben vermag, und dies Geständniß strömte jetzt heiß und innig über seine Lippen, während er das holde junge Wesen in den Armen hielt, das ihn Liebe und Glück kennen gelehrt hatte. Wer Arno Raven in dieser Stunde sah und hörte, der begriff es, daß er trotz seiner Jahre und seiner strengen Verschlossenheit, trotz all der Schattenseiten seines Charakters doch Sieger bleiben mußte gegen jeden Andern, wo er wirklich liebte. All die lang zurückgehaltene Gluth und Zärtlichkeit flammte wieder in ihm auf, jedes Wort, jeder Blick sprach von einer Leidenschaft, die in solcher Macht und Tiefe in keiner Jünglingsbrust, sondern nur in der Seele des Mannes lodern kann. Das fühlte auch Gabriele, als sie, dicht an ihn geschmiegt, das Haupt an seine Schulter gelehnt, mit glückseligem Lächeln zu ihm empor sah. Die trüben beklemmenden Ahnungen hielten nicht Stand vor dem Zauber, den die Nähe des Geliebten ausübte, und in seine Worte hinein klang wieder das Rieseln des Quells, die einförmig süße Melodie, unter der diese Liebe aufgewacht war. Das „Eden von Glückseligkeit“, das einst in der schimmernden Ferne, weit hinter den blauen Bergen zu liegen schien, war jetzt herangeschwebt und umschloß die Beiden. Es war eine Stunde so vollen, reinen Glückes, wie sie das Leben nur einmal geben kann – sie wog aber auch ein ganzes Leben auf.

Unten in der Stadt verkündeten die Uhren langsam und deutlich die elfte Stunde. Der Freiherr zuckte leise zusammen bei dieser Mahnung, dann erhob er sich rasch, wie mit einem gewaltsamen Entschlusse.

[583] „Wir müssen in das Schloß zurückkehren,“ sagte er. „Die Nacht wird kühl, und Du bedarfst der Ruhe nach Deiner schnellen und anstrengenden Reise. Komm, Gabriele!“

Sie legte ohne Widerspruch ihren Arm in den seinigen und folgte ihm. Sie schritten an dem Nixenbrunnen vorüber und verließen den Garten. Die Thür schloß sich hinter diesem mondbeglänzten Frieden, hinter dieser Stunde des Glückes – der Frühlingstraum war zu Ende.

Oben im Schlosse, in dem Corridor, der zu den Zimmern der Baronin Harder führte, blieb der Freiherr stehen. Versagte auch ihm die eiserne Kraft? Sein ganzes Wesen bäumte sich auf im wilden Schmerze des Scheidens, aber er hatte nicht umsonst die ahnungsvollen Fragen Gabrielens gehört. Er wußte, daß die geringste Unvorsichtigkeit seiserseits ihr Alles verrathen und sie einer nutzlosen Todesangst preisgeben würde. Der Schlag mußte nun einmal fallen; besser er traf sie unerwartet.

„Gute Nacht!“ sagte Gabriele ahnungslos, ihm die Hand reichend. „Wir sehen uns ja morgen wieder.“

„Morgen!“ wiederholte Raven schwer. „Ja, gewiß.“

Er hob sanft das Haupt des jungen Mädchens empor, so daß es voll von dem Lichte der herabhängenden Lampe beleuchtet wurde, und sah lange in das holde Antlitz, das jetzt wieder von dem rosigen Hauche des Glückes unflossen war, in die klaren, sonnigen Augen – so lange und tief, als wolle er dieses Bild für ewig festhalten. Dann beugte er sich nieder und küßte sie.

„Lebe wohl, meine Gabriele – gute Nacht!“

Gabriele entzog sich leise seinen Armen und ging. Auf der Schwelle ihres Zimmers blieb sie noch einmal stehen und warf einen letzten Gruß zurück; dann schloß sich die Thür hinter ihr. Arno stand regungslos und blickte auf die Stelle, wo sein „Sonnenstrahl“ verschwunden war. Seine Stimme bebte, als er halblaut sagte:

„Armes Kind, wie wirst Du erwachen!“




Der nächste Tag begann mit einem trüben, dichtverschleierten Nebelmorgen, wie ihn der Spätherbst häufig bringt. Es war noch sehr früh, und draußen war es eben erst hell geworden, als Oberst Wilten das Schloß betrat. Er kam zu Fuße und wurde von einem Diener, der bereits Weisung erhalten hatte, sofort in das Zimmer des Freiherrn geführt. Gleich darauf erschien dieser selbst. Er war bereits fertig, aber in seinen Zügen deutete auch nicht die leiseste Spur auf eine unruhige oder durchwachte Nacht hin. Er hatte in der That tief und fest geschlafen, bis zu dem Augenblicke, wo sein Diener ihn weckte, und begrüßte jetzt mit ruhigem Ernst den Oberst. Man wechselte einige Bemerkungen über den Nebel, über die Fahrt, über Ort und Stunde der verabredeten Zusammenkunft. Dann zog Raven den Schlüssel zu seinem Schreibtische hervor und übergab ihn dem Oberst.

„Ich möchte Sie ersuchen, für den Fall meines Todes die ersten und nothwendigsten Anordnungen zu übernehmen,“ sagte er. „Meine Papiere sind geordnet. Dort in jenem Fache liegt mein Testament nebst einigen persönlichen Verfügungen, die ich gestern noch getroffen habe. Sie werden dort auch einen Brief finden, den ich bitte, unverzüglich an seine Adresse – Doctor Rudolph Brunnow – zu befördern.“

„An Ihren Gegner?“ fragte Wilten, auf’s Aeußerste befremdet.

„Ja. Es handelt sich um eine Erklärung, die ich ihm schuldig bin, die ich ihm aber unmöglich vor dem Duell geben konnte. Er findet sie in jenem Schreiben. Und nun noch Eins! –“ der Freiherr hielt einen Augenblick inne und zog dann langsam einen zweiten Brief aus seiner Brusttasche hervor. „Diese Zeilen sind für mein Mündel, Gabriele von Harder, bestimmt. Ich möchte aber nicht, daß sie den Brief unvorbereitet empfängt oder unvorbereitet von einem – Unglück hört; sie würde tödtlich erschrecken. Ich bitte Sie daher, den Brief selbst in ihre Hände zu geben, aber dabei mit Vorsicht zu Werke zu gehen – mit der äußersten Vorsicht. Ein so zartes junges Wesen, wie Gabriele, bedarf der Schonung. Wenn die Nachricht sie jäh und plötzlich träfe, könnte sie ihr erliegen.“

Wilten verbarg mit Mühe seine Ueberraschung bei diesen Worten, die ein halbes Geständniß enthielten. Es begann ihm jetzt klar zu werden, weshalb sein Sohn eine Abweisung erhalten hatte.

„Ich habe also Ihr Versprechen?“ fragte der Freiherr.

„Für den Fall Ihres Todes wird Baroneß Harder den Brief nur aus meinen Händen empfangen, und ich selbst werde ihr so schonend wie möglich die Nachricht überbringen. Mein Wort darauf!“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Raven sichtlich erleichtert. „Und nun werden wir wohl aufbrechen müssen. Mein Wagen hält bereits unten. Darf ich Sie bitten, allein voraus zu fahren und an der Rückseite des Schloßberges halten zu lassen? Ich möchte bei diesem frühen Aufbruche jedes Aufsehen vermeiden und deshalb nicht am Hauptportal einsteigen. Ich komme durch den Schloßgarten.“

Oberst Wilten fand diese Anordnung ein wenig seltsam, fügte sich aber schweigend. Raven klingelte nach Hut und Mantel, und nachdem der Diener ihm beides gebracht hatte, verließen die beiden Herren das Zimmer, um sich erst unten an der Treppe zu trennen.

Als der Freiherr über den Schloßhof schritt, begegnete er dem Hofrath Moser, der soeben aus seiner Wohnung kam und sehr verwundert aussah, als er seinen Chef zu so ungewohnter Stunde erblickte. Raven blieb stehen.

„Sieh da, Herr Hofrath! Wollen Sie so früh schon ausgehen?“

„Ich sah nur nach dem Wetter,“ erklärte der Hofrath. „Ich pflege sonst täglich einen Morgenspaziergang zu unternehmen, aber bei diesem kalten, feuchten Nebel ziehe ich es doch vor, zu Hause zu bleiben“

„Da thun Sie recht,“ meinte der Freiherr. „Das Wetter ist nicht einladend.“

„Und Excellenz wollen doch ausgehen?“ fragte Moser.

„Ich habe einen nothwendigen Gang, der sich nicht aufschieben läßt. Adieu, lieber Hofrath!“

Damit reichte der Freiherr ihm die Hand, die der alte Herr bestürzt und ehrfurchtsvoll ergriff. Er hatte zwar von seinem Chef schon viele Beweise des Wohlwollens, aber noch kein einziges Zeichen der Vertraulichkeit erhalten. Diese ungewohnte Freundlichkeit ermuthigte den Hofrath zu einer Aeußerung, die er schon lange auf dem Herzen hatte.

„Wenn ich mir eine Frage erlauben dürfte,“ begann er schüchtern. „Man spricht davon – es war wenigstens gestern Abend in der Stadt das Gerücht verbreitet, Excellenz beabsichtigten Ihren Posten zu verlassen. Ist das wahr? Wollen Sie wirklich gehen?“

„Ja, ich gehe,“ sagte Raven mit ruhiger Bestimmtheit, „und zwar bald.“

Der Hofrath senkte traurig den Kopf. „Dann werde auch ich wohl nicht mehr lange bleiben,“ entgegnete er leise. „Ich habe längst daran gedacht, mein Abschiedsgesuch einzureichen.“

Der Freiherr blickte ihn schweigend an. Die Anhänglichkeit des alten Mannes rührte ihn; Moser allein hatte stets treu und fest zu ihm gehalten und war der Einzige gewesen, der sich durch keine gegen Raven ausgesprengte Verleumdungen beirren ließ.

„Gehen Sie in das Haus zurück, lieber Moser!“ sagte Raven freundlich. „Sie werden sich erkälten in der scharfen Morgenluft und in Ihrem leichten Hausanzuge. Nochmals – Adieu!“

Er reichte ihm noch einmal die Hand, diesmal mit einem kurzen herzlichen Drucke, und ging dann.

Der Hofrath blieb stehen und sah ihm nach. Er, der sonst so ängstlich jede Erkältung scheute, vergaß jetzt völlig, daß er ohne Ueberrock und Kopfbedeckung war. Der Händedruck hatte ihn ganz verwirrt gemacht und das „Adieu!“ hatte ihm so seltsam geklungen. Es war ihm, als müsse er seinem Chef nacheilen und noch irgend eine Frage an ihn richten, nur um noch einmal sein Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören, und nur der Gedanke an das Unpassende eines solchen Benehmens hielt ihn zurück. Erst als Jener verschwunden war, ging er wieder nach seiner Wohnung, aber ein schwerer Seufzer entwand sich seiner Brust, als er die Treppe hinaufstieg. Es war also doch geschehen. Der Gouverneur hatte seine Entlassung genommen.

Raven schritt inzwischen langsam durch den Schloßgarten. Er hatte dem Wunsche nicht widerstehen können, ihn noch einmal zu betreten, und eine Verzögerung war das kaum. Der Garten stand durch eine kleine Mauerpforte in directer Verbindung mit dem Schloßberge. Von dort führte ein Fußpfad in wenigen Minuten nach der Stadt. Der Gouverneur hatte stets diesen Weg benutzt, wenn er irgendwo durch sein Kommen überraschen, und nicht erst das Hauptportal und die Militärposten passiren [584] wollte. Er kam wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Wagen an, der einen Umweg machen mußte.

Am Nixenbrunnen verweilte der Freiherr einige Minuten lang. Was war aus dem mondbeglänzten Eden von gestern Abend geworden! Die Morgennebel hielten alles dicht umzogen. Der Rasen schimmerte weiß unter der Reifdecke, die sich darauf gelagert hatte, die mächtigen Linden, mit ihrem spärlichen Laub, standen dunkel und unheimlich in dem feuchten Dunst, und die fallenden Blätter deckten welk und naß den Boden. Der Nixenbrunnen rauschte noch, aber seine Wasserstrahlen waren jetzt nur ein trüber und farbloser Regen, der sich über graue, halbverwitterte Steinfiguren ergoß, und sein Nieseln klang so unsagbar traurig. Das verklärende Licht, das die ganze Umgebung in seinen Glanz getaucht hatte, war geschwunden, und nur die Wirklichkeit blieb zurück – der Herbst in seiner ganzen trostlosen Oede.

Raven zog den Mantel fester um die Schultern, der Morgenwind strich eisig an ihm vorüber. Er wandte sich nach der Mauerbrüstung, wo sich sonst die weite Landschaft öffnete. Gestern lag das Thal dort, so zauberhaft schön im duftigen Schleier der Mondnacht; heute war alles erfüllt von unruhig wogenden Nebelmassen. Nur einzelne Thürme der Stadt tauchten undeutlich daraus hervor; das Thal, die Berge und die Ferne waren völlig verhüllt. Der Blick des Freiherrn streifte über die Stadt hin, die er so lange beherrscht hatte, und verlor sich dann in jenem gährenden Nebelmeer. Was mochte sich dahinter bergen? Ein goldener Sonnentag oder düsteres Nebelgrauen?

Noch ein letzter Blick flog hinaus zu den Mauern des Schlosses, aber er blieb nicht dort haften. Gabrielens Zimmer lagen nach der anderen Seite hinaus, man konnte von hier aus ihre Fenster nicht sehen. Raven öffnete die Mauerpforte und trat in’s Freie. Er kam fast gleichzeitig mit dem Wagen unten an; in der nächsten Minute saß er an der Seite des Oberst Wilten und bald lag die Stadt hinter ihnen.

Die Fahrt ging rasch vorwärts, an dampfenden Wiesen vorüber, an dem brausenden Flusse entlang, dem Gebirge zu. Nach einer halben Stunde war das Ziel erreicht, die Waldungen, welche hier begannen. Der Freiherr und sein Begleiter verließen den Wagen und gingen zu Fuß weiter nach dem Orte der Zusammenkunft, der in ewiger Entfernung am Rande des Waldes lag. Die Gegenpartei war schon dort eingetroffen, Doctor Brunnow, mit seinem Secundanten und seinem Sohne, welcher der Verabredung gemäß den ärztlichen Beistand leisten sollte. Die Herren grüßten sich schweigend, nur die beiden Secundanten hatten eine kurze Besprechung mit einander und schritten dann sofort zu den Vorbereitungen.

(Fortsetzung folgt.)



     In der Rast.
     Ein Gruß aus den Bergen zum Sedantage.
     (Oberbairische Mundart.)


So schön, wie heunt, war’s dengerscht[2] nie im Schlag,[3]
So frisch und kühl, koa Wölkei umadum.[4]
Es geht der Bergwind in die F(e)ichten drin;
Am Wendelstoa’ is d’ Sunna scho’ herobn,

5
Und drunt im Kahr sie(c)ht ma’ a grüne Alm.


Da hat a Holzknecht g’arbeit’t in dem Schlag,
An Brustfleck off’[5] und d’ Hacken in der Hö(c)h,
Daß’s weithin hallert[6] bei an jeden Stroach.
All’s is voll Bleaml no’(ch) und lautern Thau;

10
Jetzt klopft a Specht; jetzt schlagt a Drossel droben;

A Re(c)h kimmt ’raus – und na is wieder staad …
Und nix mehr hörst, als wie die Scheiter krachen.
Seit viere fruah scho’ is der Holzknecht auf;
Jetzt rast’t er aus und setzt si(ch) auf an Stoa’

15
Und wie’s so still is, alles umadum,

Wird’s ihm ganz seltsam auf amal im G’müth.

Heunt san’s acht Jahr; heunt an dem nämli’n Tag.
Da is er draußten g’standen, draußt im Feld,
Bei Sedan hoaßt man’s. – Hunderttausendweis

20
War’n da Soldaten, alles schwarz vor Leut’.

Da hat er’s g’hört, wie's g’schrien und g’achezt[7] habn,
Wie s’ g’sungen habn auf d’ Nacht bei ihre Feuer;
Da hat er’s g’seh(g)n, wie s’ tausend-tausendweis
Die Todten trag’n, und Fahnenwerk und G’schütz

25
Mit weiße Roß’ – und an Franzosenkaiser

Ganz z’sammabrochen … wie der fortg’führt wird.

Der Holzknecht sitzt in seine Bloama[8] drin;
Er kann’s nit glaubn; es is, als hätt’s ihm ’traamt[9].
Er lupft an Aermel von sein Hem(e)d auf

30
Und sie(c)ht sein Schuß – den hat er dorten kriegt.

Sein spitzig’s Hütl mit ’n Gamsbart drauf.
Dös thuat er abi – er war aa dabei.
Luus[10] – drunten läut’s. Jetzt wandeln’s[11] scho’ im Dorf.
Er hat as Beten und as Kirchengehn

35
Wohl oft versaumt, heunt aber kimmt’s ihn an;

Es war koa Vaterunser nit, wie sunst,
Und dengerscht g’spürt er’s, dengerscht woaß er’s g’wiß:
So hat er nie in koaner Kirch’ no(ch) bet’.
Und all’s, wie’s g’west is, kimmt da drinna für:[12]

40
Er sie(e)ht die hunderttausend Leut im Feld,

Es hat der oane nit den andern kennt,
Und is do(ch) oaner für den andern g’storb’n.
Weit is ihr Sprach’ und Heimath auseinand,
Und do(ch) habn’s g’wißt – mir alle g’hören z’samm’!

45
Acht Jahr san’s heut – es waar’ ihm wohl der Tag

Um Geld und Gut, um Haus und Hof nit feil.

As Läuten drunt, es is scho’ lang vorbei.
Er setzt sei Hütl mit’n Gamsbart auf
Und nimmt sei’ Hacken und geht an sein Baam.[13]

50
Es rauscht der Bergwind in die F(e)ichten drin;

Es klopft der Specht; es schlagt a Drossel droben;
All’s is voll Bloama und voll lautern Thau – –
So schön, wie heunt, war’s nie no(ch) in sein’ Schlag.

     Tegernsee, 1878.
 Carl Stieler.





Für die Hinterlassenen der verunglückten Seeleute vom „Großen Kurfürsten“

gingen ferner ein: A. K. in St. M. 9; Gesangverein „Germania“ zu Estebrügge im Alten Lande M. 10; Lieutenant de Ridder in Mons, Belgien, 5 Franken = M. 4.4; G. L. in Cöln M. 10; Albert Braun in Rheda (Westfalen), gesammelt bei einem gemüthlichen Zusammensein eines Scatclubs M. 12; Ertrag einer Sammlung durch H. Steinrück und E. Kümmell in Cosbach M. 184.70; Ertrag eines Concertes des Musikcorps zu Stadt Ilm M. 20.80; zur Versöhnung zwischen Wildbach, Rare und Schlörb in Grünberg (Hessen) M. 10; Damenkränzchen in Hausach in Baden M. 10; einige Beamte der Güterexpedition in Karlsruhe M. 4.20; W. Voelter in Poix 15 Franken = M. 12.10; Dilettanten des „Krieger-Männer-Turnvereins“ und der „Societät“ durch A. H. Raabe M. 220.65; Glaß Irion in Solowska 2 Rubel = M. 4.20; aus der Casse des „Mittwochsclub“ in Dannenberg M. 20; „Liedertafel“ in Sonneberg M. 12; O. H. in Cüstrin-Neustadt M. 5; aus der Badehütte in Zabern i. E. M. 35.40; Ertrag eines Concertes der Gymnas.-Capelle in Burgsteinhof M. 207.60; von einem Briefmarkenhändler, der zu wohlthätigen Zwecken gebrauchte Briefmarken kauft (Adresse bei der Redaction) M. 5; Alb. Steffen in Charlottenburg M. 3; F. G. R. in Gerdauen M. 5; „Verzeihung“ M. 10; Gottespfennige aus Ottensen M. 10; Johann Louis Fisteden M. 1; in Frauensee gesammelt durch Herrn Stadtrath Julius Francke aus Leipzig M. 45; Sammlung der Redaction des „Waldenburger Wochenblattes“ M. 30.50; F. S. M. 2; gesammelt bei einer Abendunterhaltung in Rheinzabern M. 6.60; Ertrag einer Theatervorstellung der Realschüler in Aschersleben, durch Director Dr. Hüser M. 180; E. Filk in Hirschberg M. 3; Jakob Wegener aus Bruchenbrücken M. 3; Lehrercollegium, Schüler und Schülerinnen höherer Lehranstalt in Greiz M. 115; E. in Gothenburg M. 5; freiwillige Gaben aus Florsheim in Rheinhessen M. 50; gesammelt in der Postrestauration in Klingenthal M. 16.46; Sammlung von Moskaus Deutschen, durch G. Völcker M. 1200; Leser der „Gartenlaube“ in Norden M. 3; K. Both in Szvèg-Ardó M. 1.75; Dr. G. in Bromberg M. 5; Ertrag eines Concerts in Allendorf an der Werra durch Buchdruckereibesitzer Herrmann M. 77.80; Reinertrag eines Dilettantenconcerts in Buchweiler durch Steuerempfänger Grünthal M. 100; Nachlese zur Sammlung in Heidelberg durch Buchhändler G. Koester M. 39.50; Erlös für die Aquarelle „Feldblumenstrauß“ (siehe Nr. 33) M. 12.

Die Redaction.

  1. Das Original des unserer Darstellung beigefügten wohlgetroffenen Portraits, das er noch selber in der photographischen Anstalt von W. Höffert in Leipzig fertigen ließ, ist aus den letzten Monaten seines Lebens.
  2. doch.
  3. Holzschlag, der ausgelichtet wird.
  4. ringsum.
  5. mit offener Brust.
  6. hallt.
  7. wehrufen (die Verwundeten).
  8. Blumen.
  9. geträumt.
  10. horch.
  11. die Wandlung in der Messe feiern.
  12. kommt in seiner Andacht, in seinem Gebete vor.
  13. zu dem Baum zurück, den er eben fällt.