Textdaten
<<< >>>
Autor: Rudolf Denhardt jun.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Wesen des Stotterns
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 212–215
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Nachtrag zum Artikel siehe Das Wesen des Stotterns (Nachtrag)
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[212]
Das Wesen des Stotterns.
Von Rudolf Denhardt jun. Lehrer für Stotterer in Burgsteinfurt (Westfalen).

Wir sind nicht wir, wenn die Natur
Gebeugt, dem Geist gebietet.
     Shakespeare.

Ein Aufsatz über das Wesen des Stotterns darf in Deutschland leider auf vielfältiges Interesse rechnen. Während dieses Leiden unter heißeren Graden nur vereinzelt auftritt, findet man es häufiger, je tiefer man in die gemäßigte und kältere Zone eindringt. Während in Italien das rasche Blut eine weichere Sprache formt, den Menschen zu lebendigster Darstellung seines Inneren treibt und somit seine Sprachorgane von Jugend auf übt, entwickelt sich der Nordländer ruhiger und innerlicher: die Ausbildung der Redegewandtheit verlangt ein höheres Maß von künstlicher Einwirkung, und abnorme Erscheinungen finden ein beschränkteres Uebungsfeld, um sich abzuschleifen. In Deutschland findet sich das Stottern häufiger als in Italien; in Dänemark übrigens, Schweden, Norwegen und dem größten Theile Rußlands häufiger als in Deutschland. Somit werden viele Leser dieses Blattes Gelegenheit gehabt haben, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Theilnahme mit einem derartig Leidenden zu empfinden, und diejenigen, welche bisher davon verschont blieben, sind nicht sicher, daß nicht auch in ihrem Kreise dieses Leiden unerwartet Jemanden befällt; daß sie sehen, wie ein vielleicht fähiger, jedenfalls sonst normaler Mensch sein Dasein und seine Wirksamkeit verkümmert sieht, sich selbst zur Last wird und seinem Lande nicht dasjenige zu leisten vermag, was er seiner sonstigen Entwickelung nach hätte leisten können.

Gern folge ich daher der ehrenden Aufforderung der Redaction der „Gartenlaube“, eine kurze Abhandlung über das vorliegende Thema zu liefern, um für meinen Theil richtigen Anschauungen über die Natur des Uebels eine größere Verbreitung zu schaffen, dadurch der Ausbildung des Gebrechens bei unserem jungen Nachwuchs rechtzeitig vorzubeugen und den damit schon Behafteten die Möglichkeit der Heilung näher zu rücken. Ich will zuerst kurz darlegen, wie das Leiden sich zu äußern pflegt, und in einer Reihe von Beispielen meiner Erfahrung die Grundlage bieten, von der auf das Wesen des Stotterns sich erkennen läßt, darauf die Ursache des Leidens und die Richtung, in der sich das Heilverfahren zu bewegen hat, feststellen, endlich einige Maßregeln vorbeugender Natur mittheilen.

In welcher Weise sich das Leiden äußert, ist bekannt. Man erinnere sich der Rolle des Kerbriand in Scribe’s „Feenhände“, wie etwa der treffliche Mittell sie darstellt. Der gute Chevalier ist nicht hochgradiger Stotterer. Er hat gute Gedanken in petto, aber er windet sich umsonst, sie gut herauszubringen; „er stößt an“; er kommt anscheinend über harte Consonanten und einzelne Silben nicht hinweg, er wiederholt sie oder bleibt auch stecken, und erst, als ein heiliger Zorn ihn außer sich bringt, rollen die Worte sicher über seine Lippen.

Schlimmer erging es dem Redner Demosthenes bei seinem Debüt auf der attischen Rednerbühne. Er vermochte das „r“ überhaupt nicht auszusprechen und zuckte so auffällig mit der Schulter, daß er, vor dem Gelächter der durch rhetorischen Glanz freilich verwöhnten Athener das Feld räumen mußte.

Der höchste Grad des Stotterns ist aber wahrhaft mitleiderregend: das Gesicht verzerrt sich; der Hals schwillt in würgender Arbeit auf; die Extremitäten zucken in krampfhaften Bewegungen; im Auge prägt sich Angst oder stiere Erwartung des erlösenden Momentes aus. Endlich gelingt es, einen Laut hervorzustoßen, fast unarticulirt, hart und polternd folgen einige Silben, oder auch die Anfangssilbe wird unzählige Male wiederholt, um in einem günstigen Moment endlich den Anschluß an die folgenden zu erhaschen.

Das ist das Eigentümliche des Stotterers, daß, während der normal Sprechende ohne Mühe durch einen Willensact die Sprechorgane aus dem Zustand der Ruhe in Thätigkeit versetzt, bei jenem zurückhaltende und vorwärtstreibende Nerven- und Muskelkräfte zugleich auftauchen, in deren Kampf die Erreichung des Zieles scheitert.

Unzählige Mittel ersinnt der Stotterer, um der letzteren Gruppe das Uebergewicht zu verschaffen. Wollte einer meiner Patienten im Laden Tinte, welches Wort er nur mit der größten Anstrengung aussprechen konnte, kaufen, so suchte er nach seinem Eintritte eiligst das Tintenflaschenregal zu erspähen, und, indem er energisch mit der Hand auf den gewünschten Gegenstand zeigte, vermochte er stotterfrei auszusprechen: „Ich wünschte Tinte zu kaufen.“ Ein Anderer, dem der Buchstabe „p“ Schwierigkeiten bereitete, verlangte an der Theatercasse ein Billet zum ersten Rang; dann, sich anscheinend besinnend, änderte er sein Verlangen und begehrte ein „Parquetbillet“, ohne zu stottern. Er mußte erst in Zug kommen und das schwierige Wort in einer mehr nachlässigen Redeweise unterbringen. Ein Dritter schrieb vor dem Eisenbahnschalter sein Verlangen jedesmal auf einen Zettel und steckte ihn in die Tasche. Dann vermochte er seinen Wunsch fließend zu äußern, ihm half die auf seine Seele beruhigend wirkende Vorstellung, daß er eventuell eine schriftliche Aushülfe habe. Ein Vierter suchte sich durch eine mähende Bewegung des rechten Armes zu Hülfe zu kommen, ein Fünfter wendete das Wörtchen „so“ oder „eben“ als Hebel an. Ein Anderer begann stets mit „freilich“, „natürlicher Weise“, „ohne Zweifel“, unter Umständen alle drei Ausdrücke hinter einander hervorsprudelnd. Ein Oekonom chassirte während des Spazierganges bei jedem schweren Worte vom Wege, und war erst dann im Stande, dasselbe auszusprechen, wenn er einen festen Gegenstand, einen Baum u. dergl. berührte. Eine große Zahl legt eine besondere Folge der Wörter sich zurecht, in der sie über die schweren Buchstaben hinwegzukommen glaubt. Es gelingt oft, werden sie aber in ihrer so einstudirten Rede unterbrochen, so tritt Stottern ein. Selbst alle jene krampfhaften Bewegungen, die oben erwähnt sind, müssen, wenn sie auch ihrer Entstehung nach unwillkürliche Hülfsmittel waren, als willkürliche betrachtet werden. Der Stotterer will sprechen; er kann nicht, respective glaubt nicht zu können; er will sich selbst durch eine andere Muskelbewegung voranstoßen – es gelingt nicht; er verdoppelt seine Anstrengungen, da er sprechen will oder muß, und gelangt zuletzt zu den extremsten Aeußerungen. Einer meiner Berliner Patienten gerieth bei jedem Versuche zu sprechen in so convulsivische Bewegungen, daß er der königlichen Charité überwiesen wurde, und zwar, wie er mittheilte, zuletzt der Irrenstation. Nachdem derselbe am 9. März 1875 als ungeheilt entlassen worden war, wurde er mir im Jahre 1877 von dem Geheimen Medicinalrath Professor Dr. Westphal, welcher sofort einen Stotterer in ihm erkannt hatte, zugesandt, und in vierzehn Tagen konnte er sich dem ausgezeichneten Arzte und dem Charitéverein als frei von seinem Leiden vorstellen. Er war in der That ein hochgradiger Stotterer: mit seinen fast epileptischen Bewegungen verloren sich auch die heftigen Kopf- und Brustschmerzen, an denen er litt.

Aus vielen der vorstehenden Beispiele ist schon ersichtlich, daß dem Leidenden die mechanische Fertigkeit zu sprechen überhaupt nicht abging. Es kam aber sehr auf die Umstände an, ob sie die Fähigkeit in die That umsetzen konnten. Zum Theil zeigten sich die Hülfsmittel wirksam, zum Theil nicht und verschlimmerten selbst die Erscheinungen. Eine Heilung schuf keines.

Noch mehr aber tritt in folgenden von mir beobachteten Fällen zur Evidenz hervor, daß das Uebel nicht in einem Unvermögen derjenigen Muskelgruppen basirt, die beim Sprechen die Action der Sprachwerkzeuge vermitteln.

Ein Patient stockte vor dem Worte „kann“ im Satze: „Kann nicht Fürstendiener sein,“ ohne einen Versuch zu machen, das Wort auszusprechen. „Welches Wort fällt ihnen schwer?“ fragte ich. „Kann’ kann ich nicht sagen,“ erwiderte er unverzagt, nicht denkend, daß er das Wort jetzt zweimal stotterfrei ausgesprochen. Ein Schwede, den ich behandelte, stotterte in seiner Muttersprache, aber nicht, wenn er deutsch oder dänisch sprach; ein Russe deutscher Abstammung wohl im Deutschen, aber nicht beim Gebrauche des Englischen, Russischen und Französischen. Keiner meiner neunhundert Patienten stotterte beim Singen. Von mir gesprochene Worte vermag selbst der schwere Stotterer in der Regel nachzusprechen. Viele können an Gesellschaft bei getheilter Unterhaltung ziemlich fließend sprechen, sowie aber die Veranlassung [213] sich ergiebt, unter Aufmerksamkeit Aller allein zu sprechen, stocken sie. Ein Gymnasiallehrer, den ich behandelte, pflegte beim Beginn des Diners schnell mehrere Gläser Wein zu trinken; dann sprach er lebhaft und fließend. Ein Student konnte in angeheitertem Zustande fließend lange Reden halten. Der Erstere hielt wiederholt öffentliche Vorträge; kurz vorher – in Privatunterhaltung – stotterte er noch ganz bedenklich; sowie er auf der Tribüne stand, war jedes Hemmniß verschwunden. Officiere, die ich behandelte, stockten, mit Ausnahme eines, niemals beim Commandiren, im hohen Grade aber bei kurzen Rapporten. Dieser eine, ein nicht unbedeutender Stotterer, stotterte gar nicht, so lange er mit einem Tafelmesser spielte. Nahm er statt dessen ein anderes Messer, so trat Stottern wieder ein.

Es giebt Fälle, daß hochgradige Stotterer gewisse Buchstaben oder Wörter überhaupt nicht aussprechen können; diese sind zugleich Stammler. Solche Mängel aber lassen sich durch mechanische Sprachübungen unter richtiger Leitung leicht beseitigen und sollen darum hier nicht in Rücksicht gezogen werden. Im Uebrigen aber ist allen gemeinsam, daß sie in der Einsamkeit ganz oder fast fließend lesen, sprechen, nach ihrer Vorbildung selbst glänzende Reden halten können, sowie aber ein Zuhörer in Person oder auch nur in ihrer Einbildung sich einfindet, stocken sie.

Außerdem lehrt die Erfahrung: je ruhiger und bestimmter der Stotterer sich ausdrücken soll, desto mehr macht ihm sein Uebel zu schaffen; je lauter und mit je freierer Wahl des Ausdrucks, um so weniger. Im Ganzen fällt ihm das Sprechen des Morgens schwerer, als des Abends, bei großer Ermüdung tritt aber des Abends das Uebel noch stärker hervor. Jede Gemüthserregung übt Einfluß: niederdrückende Affectionen einen ungünstigen, aufstrebende Affecte, Zorn, Unwille, lebhafte Freude etc. einen günstigen.

Das Uebel nimmt, sich selbst überlassen, nach meinen statistischen Aufzeichnungen zu und tritt häufiger auf bis zum dreißigsten Lebensjahre. Darüber hinaus nimmt es dem Grade und der Häufigkeit nach ab.

In der von meinem Vater im Jahre 1826 zu Burgsteinfurt gegründeten Anstalt befanden sich bis heute neunhundertfünfundachtzig Stotterer, von welchen neuhundertsiebeundvierzig im Alter bis zu dreißig Jahren und nur achtunddreißig das dreißigste Lebensjahr überschritten hatten.

Bei den im Auslande (Schweden, Norwegen, Dänemark, Rußland, Italien, Oesterreich, der französischen Schweiz) von mir behandelten Stotterern war das Verhältniß ungefähr dasselbe. Der Grund ist leicht zu erkennen. Je mehr der Verstand und die ästhetischen Gefühle sich entwickeln, desto mehr wächst das Schamgefühl über das Gebrechen; je abhängiger sich der Leidende von bestimmten Factoren seiner Laufbahn fühlt, desto zaghafter macht ihn sein Leiden. Beide Momente verstärken sein Leiden. Je mehr aber jene Empfindungen von einem Gefühl des eigenen Wertes, innerer Sicherheit und freierer Lebensstellung zurückgedrängt werden, desto mehr tritt auch das Uebel zurück. Wenn einer meiner Patienten, ein Forsteleve, auch vor seinem Jagdhund zu stottern sich nicht entwöhnen konnte, so findet sich bei der Mehrzahl doch die Erscheinung, daß sie Kindern, Verwandten und Freunden gegenüber weniger oder gar nicht stottern, um so mehr aber in Gegenwart von Vorgesetzten und – jungen Damen.

Was die Quelle des Uebels angeht, so war dasselbe in den meisten von mir beobachteten Fällen erblich und häufig zurückzuführen bis auf die Urgroßeltern. Moses Mendelssohn war Stotterer; in der folgenden Generation trat das Uebel nicht auf, wohl aber in der dritten und vierten. Mein Vater stotterte bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre. Durch Willeskraft und Uebung befreite er sich von dem Uebel; er verheiratete sich in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre. Zwei meiner Geschwister und ich haben gestottert, obwohl wir nie Gelegenheit gehabt haben, mit Stotterern zu verkehren.

Im Jahre 1873 meldete sich bei mir in Kopenhagen ein Mann, Namens Denhardt, nebst zwei seiner Kinder, welche stotterten. Nach kurzer Unterredung mit ihm stellte sich heraus, daß er selbst auch anstieß; ebenso auch vier seiner übrigen Kinder. Der Namensvetter stammte aus Thüringen, woher mein Großvater gleichfalls gebürtig war, und es liegt die Vermuthung nahe, daß diese Familie der meinigen entfernt verwandt ist. Viele Herren, welche mir ihre Kinder brachten, litten ebenfalls früher an dem Uebel; durch Willenskraft wollten sie es dann überwunden habe. Sie bestanden die Probe übrigens oft recht schlecht; wenn sie sich gerade entfernen wollten, rief ich ihnen unerwartet nach: „Darf ich noch einmal um Ihren werthen Namen bitten?“ In fast allen Fällen verfielen die Herren dann in ihren alten Fehler; sie errötheten und konnten nur mit Mühe und unter häufigen Stocken ihren Namen hervorbringen. Weniger ihre Willenskraft als der psychische Einfluß ihrer wachsenden Selbstständigkeit war wohl die Ursache der Abnahme ihres Leides.

Das Stottern tritt beim weiblichen Geschlechte seltener auf als beim männlichen. Bei der Zusammenstellung der von mir behandelten Stotterer ergab sich das Verhältniß von 1:8. Bei Kindern und Personen bis zum zwanzigsten Lebensjahre, bei welchen die Disposition zum Stottern vorhanden ist, wird dasselbe am häufigsten durch starke Nervenaffectionen bei Krankheiten, Scharlachfieber, Masern, oder durch Erschrecken, Fall und Schlag auf den Kopf hervorgerufen. Die beiden einzigen Fälle meiner Erfahrung, in denen das Leiden nach dem zwanzigsten Lebensjahre eintrat, waren: der eine bei einem Eisenbahnbeamten, den die Entgleisung seines Wagens in die höchste Gefahr brachte, der andere eine Folge des Typhus. – Ein großes Contingent Leidender schaffen sicherlich die Ammen und Kindermädchen, welche die Kinder, um sie zur Ruhe zu bringen, ängstigen. Hierfür spricht schon die Thatsache, daß das Uebel in den unteren Volksschichten viel seltener auftritt. Dagegen habe ich die Behauptungen der Herren Klenke und Lichtinger nicht zutreffend gefunden, daß Scropheln und Eingeweidewürmer die Ursache des Gebrechens sein sollten. In meiner Familie z. B. finden sich diese Erscheinungen gar nicht.

Die Grundursache des jedesmalige Stotterns ist jedenfalls der Gedanke, stottern zu müssen, verbunden mit einem dem Stotterer eigenthümlichen Angstgefühl und der Furcht vor der Aussprache bestimmter Buchstaben und Wörter. Analogien liegen nahe: Ein plötzlich heranrollender Wagen raubt Manchen die Fähigkeit, auszuweichen. Er will forteilen; die Angst lähmt ihn. Eine Kraft zieht ihn vorwärts – die andere rückwärts: er kommt nicht von der Stelle. – Der Bürgermeister einer rheinischen Stadt begann seine wohlstudirte Rede beim Empfang einer fürstlichen Person mit den Worten: „Gemeine Bande“… „umschließen den Fürsten und sein Volk,“ wollte er sagen. Allein die Angst hielt ihn fest, bis der hohe Herr ihm die Schulter klopfte mit den Worten: „Lassen’s gut sein, Herr Bürgermeister! Es war wohl nicht so schlimm gemeint.“ Diese Befangenheit, die viele hochgestellten Personen gegenüber befällt, in potenzirtem Grade ist auch die Grundursache des wirkliche Stotterns. Der starke Stotterer hat zuerst die größte Angst jedesmal vor dem Moment, in dem er in die Weltgeschichte eingreifen soll, nämlich vor dem ersten Worte einer noch so unbedeutenden Bemerkung, welche die Aufmerksamkeit eines Anderen auf ihn lenkt. Ist der große Schritt aber gelungen und der Zuhörer in die Aufmerksamkeit auf seine Worte eingeführt, so fühlt jener sich unbefangener, und er benutzt die gewonnene Lage gern zu langen Excursen. Die knappe Dialogform, mit kurzer Rede und Gegenrede, ist ihm verhaßt. Liest er einen Satz vor, so schweift sein Auge schnell voraus, um einen schwierige Laut zu erspähen und sich innerlich auf denselben vorzubereiten. Je näher er dem betreffenden Worte kommt, desto größer wird seine Angst. Unmittelbar vor demselben bricht er ab; er kann nicht weiter, lediglich darum, weil er glaubt, nicht weiter zu können. Hätte er vorher nicht daran gedacht, so würde er unbefangen darüber hinweggekommen sein.

Ich lernte mehrere Stotterer kennen, welche nur an diesem Angstgefühl litten, bei welchen das Stottern, aber nie zum Ausbruch gekommen war. Eine Dame brachte in Frankfurt am Main ihr sechsjähriges Töchterchen zu mir, das bisher nur wenig gestottert hatte, plötzlich aber nach dieser Consultation in hohem Grade das Uebel zeigte. Der Grund war unzweifelhaft der, daß das Bewußtsein, zu stottern, stärker in dem Kinde erwacht war, es sich nun vorher ängstlich besann und darum desto mehr stotterte. – Ein Arzt hatte das Gebrechen ganz überwunden als er nach Jahren bei dem zufälligen Wiederholen eines Wortes von einem Freunde darauf aufmerksam gemacht [214] wurde, gerieth er in Sorge, das Uebel möchte wiederkehren und von Stunde an trat es wieder auf.

Selbst beim Clavierspiel stand einer meiner Patienten unter diesem Banne. Er sah den schwierigen Tact immer vorher, und wenn er ihn spielen sollte, waren die Finger förmlich steif und es war ihm unmöglich, eine Taste anzuschlagen. Aehnliche Erfahrungen übrigens wird Mancher gemacht haben, wenn er als hoffnungsvoller Sohn des Hauses vor einer größeren Gesellschaft hat vorspielen sollen. – Ein Russe stotterte – wenn man will – beim Schreiben. Er war jeden Augenblick genöthigt, die Tinte von der Feder zu spritzen, bisweilen drei- bis viermal hintereinander, bevor er fähig war, den Buchstaben, den er schreiben wollte, hinzusetzen.

Die widersprechendsten Erscheinungen erklären sich aus dieser potenzirten Befangenheit. Es kommt lediglich darauf an, welche Umstände der sensitiven Natur des Stotterers ein ängstliches Vorgefühl heraufführen oder auf ihn ermuthigend wirken. Der Eine spricht nicht bei der Begrüßung, wenn er angesehen wird; der Andere gerade, wenn dies nicht geschieht. Der Erstere wird durch den Blick des Partners angefeuert und vorwärts getrieben, der Letztere gehemmt. Ebenso sprechen die Meisten im Dunkeln gut, bei Licht schwer. Aber auch das Umgekehrte findet sich. Ein Patient versicherte, bei zunehmender Dämmerung im Kreise seiner Familie fast gar nicht sprechen zu können, sowie aber ein Zündholz aufflackere, sei der Bann von ihm genommen. Im Ganzen fällt das Sprechen schwerer vor Fremden, als vor Bekannten, unter harmlosen Verhältnissen leichter, als unter peinlichen. Aber die Angst kann auch hier unter Umständen belebenden Einfluß ausüben. Wie sie in Gefahr oft zu übermenschlicher Kraftanstrengung befähigt, wie nach Herodot der Sohn des Krösus durch die Angst um das Leben des Vaters seine Sprache wieder erlangt haben soll, so glückte es einem meiner Patienten, sowohl beim Confirmationsexamen in dicht gedrängter Kirche, wie beim Abiturienten- und Staatsexamen fast oder ganz fließend sich zu äußern. Ein Anderer stotterte in ganz fremder Gesellschaft fast gar nicht. Die Angst vor Beschämung trieb ihn vorwärts, sowie aber nur ein Wort mißglückt war, fehlte das treibende Moment: er war beschämt, und in Reaction gegen den vorangegangenen Affect trat nun das Gebrechen um so heftiger hervor.

Versucht man nun, ausgehend von der psychischen Ursache des Leidens, die daraus resultirenden Störungen des physiologischen Apparates festzustellen, so ergiebt sich aus der Vergleichung der normalen und abnormen Erscheinungen, des fließend Redenden und des zum Stottern Disponirten, Folgendes: Jeder, der sprechen will, beabsichtigt einen erzeugten Gedanken durch Worte darzustellen. Dem Entschlusse zur unmittelbaren Ausführung der Absicht folgt mittelst der Nervenleitung der telegraphische Befehl an die verschiedenen Muskelgruppen, aus deren Zusammenwirken das Wort und der Satz resultirt. An der Unfähigkeit dieser Muskulatur liegt aber, wie wir gesehen haben, das Mißlingen des normalen Sprechens nicht, mag der Sprachorganismus auch noch so complicirt und seine Thätigkeit eine noch so verwickelte sein. Die mechanische Sprachfertigkeit fehlt ja dem Stotterer nicht; die Grundursache, daß er sie nicht überall betätigen kann, liegt also weiter zurück. Sie liegt in dem Schwanken des Entschlusses, hervorgerufen durch den fast zur fixen Idee gewordenen Gedanken, nicht sprechen zu können, und dem damit verbundenen Angstgefühl, vornehmlich beim Beginne der Rede, bei starken Stotterern auch im Verlaufe des Sprechens. Dieses Schwanken hat zunächst die unregelmäßige Functionirung der Nervenleitung und in Folge dessen die des Muskelapparates zur Folge. Das Stottern wird hervorgerufen durch eine Functionsstörung desjenigen Nervenapparates (Ganglienzellenapparates), welchen man sich nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft als den Sitz des Willens vorzustellen pflegt. In dem Augenblicke, in welchem man das gefürchtete Wort nicht aussprechen zu können glaubt, reflectiren diese Nerven auf diejenigen Nerven im verlängerten Rückenmarke, welche den Muskelbewegungen der Sprachwerkzeuge vorstehen, und von diesen werden genau die Bewegungen ausgeführt, welche man gedacht hat, ausführen zu sollen. Der Wille, zu sprechen, setzt sie in Thätigkeit, in demselben Augenblicke hält sie die Scheu aber wieder zurück.

Die Unentschlossenheit und Angst läßt den Leidenden nicht ruhig respiriren; der Athem stockt oder vibrirt; der Kehlkopf verliert damit die Grundbedingungen seiner Action; er sucht das Ausbleiben seines Lebenselementes durch heftige, krampfhafte eigene Arbeit zu ersetzen, die aber gerade die Vernichtung der normalen Functionirung herbeiführt, welche leicht und spielend die Worte bildet. Diese Störung reflectirt energisch auf die Sprachorgane der Mundhöhle, macht oft die Thätigkeit derselben unmöglich, sowie der Kehlkopf sich ganz schließt, und es tritt jenes Würgen ein, oder aber der Luftstrom zieht unregelmäßig und hastig durch den Kehlkopf, und dann folgt ein Ueberstürzen der folgenden, oder das Repetiren einer einzelnen Silbe. In dieser Beklemmung scheut sich auch der Patient, den Mund aufzuthun; der locale Spielraum, aus dem die Organe die verschiedensten Stellungen und Actionen einzugehen haben, wird unnatürlich verengt, und die Formationen und ihre Uebergänge werden unnatürlich erschwert.

Endlich sei über das Heilverfahren Einiges erwähnt. Vor Allem muß ich hervorheben, daß ich nach Erfahrung und Studium ein geschworener Gegner der bisher noch so vielfach üblichen sogenannten Tact- und künstlichen Respirations-Methode bin, wie sie von Professor Merkel, welcher bis an sein Lebensende stotterte, Leweß, Dr. Klenke, Günther und Anderen beschrieben worden ist und bis heute von fast allen Lehrern für Stotternde ohne wesentliche Verbesserungen angewandt wird. (Dr. Klenke in Hannover beansprucht zur Heilung des Stotterns [siehe Klenke, die Heilung des Stotterns, Leipzig 1863] einen Aufenthalt von wenigstens zwanzig Wochen in seiner Pensionsanstalt und warnt in seinem bekannten Hauslexikon die Stotterer vor denjenigen Lehrern, welche ihnen versprechen sie in vier Wochen von ihrem Uebel zu befreien. Mein Vater und ich haben nun während unserer Praxis eine Anzahl Schüler dieses Herrn kennen gelernt, welche nicht zwanzig Wochen, sondern sieben Monate bis ein Jahr und darüber hinaus sein Institut frequentirt hatten, und nach dieser Cur nach wie vor stotterten.) Ich will mich hier principiell in keine weitere Polemik einlassen; diejenigen der geehrten Leser, welche die Tactmethode kennen, die obigen Ausführungen gelesen haben und eine fließende unbefangene Redeweise als Resultat der Heilung verlangen, werden meine Gegnerschaft verstehen. In neuerer Zeit haben Heilkünstler versucht, Medicin, Tropfen dreimal täglich verordnet, bestehend aus rectificirtem Spiritus, Chloroform und Pfefferminzöl zur Anwendung zu bringen. Außerdem wird dem Patienten Rücken, Brust und Bauch mit einer fettigen Substanz eingerieben. Selbstverständlich verurtheile ich auch dieses Verfahren. Will man damit eine psychische Einwirkung erzielen und eine Veranschaulichung des Satzes: Der Glaube kann Berge versetzen – in Scene setzen?

Bezüglich der Mittheilung der Grundsätze eines rationellen Heilverfahrens lege ich mir, sofern es sich um die Behandlung des ausgebildeten Leidens handelt, absichtlich die größte Zurückhaltung auf – aus zwei Gründe: Erstens, will ich nicht Veranlassung geben zu den unglücklichsten Selbstversuchen. Es liegt meiner Erfahrung eine zu große Blumenlese von derartigen Experimenten vor. Einer meiner Patienten, der vor Allem auf Selbsthülfe hielt, versuchte zuerst nach Art des Demosthenes in’s Reine zu kommen. Auf dem Gymnasium stotterte er fast gar nicht; seine Lehrer bemerkten das Uebel nicht; denn er sprach ganz fließend, auch in längeren Ausführungen, oder glaubte er einmal, nicht vorwärts zu können und schwieg er, wie ein Unwissender oder Trotziger, dann mochte auch der Unwille der Lehrer erregt werden. Die Universitätsjahre wollte er sich nicht durch das Uebel verbittern lassen; er suchte daher die Tiefen des Kottenforstes bei Bonn auf, um mit Kieseln im Munde etc. sich zum athenischen Volksredner auszubilden. Er verschlimmerte damit das Uebel bedeutend. Später hörte er etwas von meinem Heilverfahren; er griff die Fragmete zu geeigneter Verwendung begierig auf, um tiefer und tiefer sich in das Uebel zu verstricken.

Verkehrte Uebungen erschweren die Heilung unendlich. Darum auf diesem Gebiete keine Selbsthülfe! Es kommt hinzu, daß die erforderlichen Uebungen sich mit der nöthigen Genauigkeit nicht beschreiben lassen, am wenigsten in einer kurzen Abhandlung; sie müssen, sollen nicht die verderblichsten Mißverständnisse eintreten, von einem Lehrer, welcher selbst gestottert hat, gezeigt werden. Der zweite, und zwar der Hauptgrund meiner Reserve aber ist der, daß die Uebungen allein nach aller Erfahrung [215] nichts helfen und nach obiger Darlegung des Leidens nicht helfen können. Da die Grundursache eine psychische ist, alles Uebrige aber, vor Allem die örtliche Functionsstörung der Muskelapparate, die zur Ausathmung und zur Laut- und Wortbildung beitragen, nur eine Folge jener psychischen Ursache ist, so treffen die diesen secundären Erscheinungen entgegenarbeitenden Uebungen die Wurzel des Uebels nicht. Sie dürfen zwar nicht fehlen, damit dem Stotterer die äußeren Bedingungen des normalen Sprechens gezeigt und wiedergegeben werden, aber vornehmlich kommt es auf die psychische Behandlung des Patienten seitens des Heilenden an, der die Fähigkeit, ihn völlig zu beherrschen besitzen muß, und diese Kunst läßt sich schriftlich nicht mittheilen.[1]

Bezüglich der Behandlung von Kindern dagegen, welche die Disposition zum Stottern zeigen, ohne es schon ausgebildet zu haben, werde ich, da es mir in der heutigen Nummer an Raum gebricht, später in einem Nachtrag einige vorbeugende Maßregeln angeben.


  1. Wir haben den obigen Mittheilungen des Herrn Rudolf Denhardt aus Burgsteinfurt nur noch hinzuzufügen, daß – wie wir aus eigener Anschauung in den Unterrichtsstunden uns überzeugt haben – das Heilverfahren desselben ein ebenso rationelles wie einfaches und erfolgreiches ist. Herr Denhardt verstand es, ohne alle Medicamente, ohne Operation und mit Vermeidung der ebenso falschen wie erfolglosen Tactmethode, selbst hochgradigen Stotterern, die nicht im Stande waren vier Worte hintereinander zu sprechen, bereits nach vierzehn Tagen oder drei Wochen zum fließenden Gebrauch ihrer Sprache zu verhelfen und ihnen jede beliebige Conversation, jeden Vortrag einer längern Rede, ohne Fratzenschneiden oder alberne Tactbewegungen zu ermöglichen. Der Genannte ist somit, außer seinem zweiundsiebenzigjährigen Vater, augenblicklich in Deutschland der einzige Sprachlehrer, der mit stets gleichen Erfolgen ein Gebrechen zu heilen versteht, das selbst von Aerzten noch falsch aufgefaßt wird und noch niemals richtig bekämpft worden ist. Freilich fordert er auch nach den Unterrichtstunden ein energisches Beachten der Methode, aber wenn dies geschieht, so ist auch ein Rückfall in den alten Fehler unmöglich. Die freudige, wahrhaft rührende Dankbarkeit, mit der alle Geheilten an Herrn Denhardt hängen, beweist nur, wie sehr er es verstanden hat, aus tief unglücklichen scheuen Stotterern frohe und selbstbewußte Menschen zu machen, die sich jetzt mit Sicherheit in ihren Berufssphären und in der Gesellschaft bewegen. Die Redaction der „Gartenlaube“.
    E. K.