Das Wesen des Stotterns (Nachtrag)

Textdaten
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Autor: Rudolf Denhardt jun.
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Titel: Das Wesen des Stotterns
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 354
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Das Wesen des Stotterns
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[354] Das Wesen des Stotterns. (Nachtrag zum Aufsatz in Nr. 13.) Für Kinder, welche die Disposition zum Stottern zeigen, ohne daß ihr Uebel bisher zur Ausbildung gelangt ist, möchte ich den Eltern und Pflegern Folgendes empfehlen:

Erstens: Vor Allem hüte man sich, derartige Kinder zu erschrecken oder zu ängstigen. Wie überhaupt ein solches Verfahren ein erziehlicher Mißgriff ist, so ist es bei einem zum Stottern disponirten Kinde ein um so größerer. Versucht man durch Schelten und Drohen ein Kind zum Sprechen zu bringen, so erreicht man das Gegentheil. Man muntere es vielmehr freundlich auf, den mißrathenen Satz laut und deutlich zu wiederholen.

Ferner: Man halte darauf, daß das Kind weder zu rasch noch zu langsam spreche, und berücksichtige dabei die Individualität des Kindes. Erfolgt die Gedankenbildung nach dem ganzen Eindruck, den man empfängt, langsam, so suche man auch ein langsameres Sprechen herbeizuführen. Denkt das Kind nach seinem Temperament rasch und lebhaft, so möge es immerhin etwas rascher sprechen; niemals aber so rasch, daß ein vernehmliches Aussprechen jeder Silbe zur Unmöglichkeit wird, wenigstens so langsam, daß ein Unterschied der Haupt- und Nebensilben sich ausprägen kann. Man gehe in deutlichem, verhältnißmäßig langsamem Sprechen dem Kinde mit gutem Beispiele voran. Das Sprechenlernen beruht in erster Linie auf Nachahmung; hört das Kind um sich nur rasches Reden, so ahmt es dasselbe nach, ohne die Schnelligkeit der Gedanken, noch die Uebung der Sprachorgane Erwachsener zu besitzen, und kommt dadurch leicht zum Stottern.

Ferner: Es ist dem Kinde nicht zu empfehlen, daß es vor jedem Satze genau überlege, was es sprechen soll; einfach darum, weil es unnatürlich ist. Kein Mensch thut das. Aber auch deshalb, weil bei der vorhergehenden Ueberlegung sich der Gedanke, man werde stottern, leicht ausbildet. Ein fließendes, sicheres sprechen wird nirgends durch langes Vorbedenken erzielt, sondern durch die Gewöhnung an deutliches, ausdrucksvolles und verhältnißmäßig langsames Sprechen, das der Gedankenbildung auch während des Sprechens Raum läßt. Der Satz: „Ueberlege doch, was du sprichst!“ hat in logischer und sittlicher Beziehung seine volle Wahrheit; er möge dem gedankenlos Plappernden, dem vorschnell Urtheilenden oder tactlos sich Aeußernden zugerufen werden. Der Stotterer muß natürlich auch wissen, was er sprechen will; aber jedes Ueberschreiten des knappesten Maßes vorheriger Ueberlegung ist dem Stotterer verderblich.

Ferner: Man gewöhne dem Kinde ab, wozu es leicht Neigung zeigt, die Consonanten scharf und hart auszusprechen. Fühlt das Kind Schwierigkeit beim Sprechen, so glaubt es auf diese Weise größere Sicherheit zu erlangen. Es irrt sich; dadurch wird das Uebel verstärkt. Nur scheinbar fällt die Aussprache eines Consonanten dem Stotterer schwer; in der That liegt es an der Vocalbildung, und vor Allem der unmittelbaren Verbindung des Consonanten mit dem Vocal. Je reiner und sicherer der Vocal erzeugt wird, desto leichter und mühsamer fließt die Rede dahin. Die Accentuation des Consonanten aber schwächt gerade die Intonation des Vocals und vermehrt das Uebel. Der Consonant ist deutlich, aber ohne irgend eine Härte zu beginnen.

Ferner: Man halte darauf, daß das Kind gerade und mit auswärts gekehrten Füßen geht und turnt. Jene Haltung ist die normale und befördert die normale Respiration, eine Vorbedingung zum Sprechen. Bemerkt man, daß das Kind vor dem Sprechen erst etwas ausathme, so suche man ihm das abzugewöhnen; es muß recht natürlich Athem holen und zugleich mit dem Ausatmen zu sprechen beginnen.

Endlich: Man ermuntere das Kind, daß es den Mund beim Sprechen recht aufthue, um hübsch deutlich zu sprechen und – last not least – man mache das Kind durchaus nicht auf sein Gebrechen aufmerksam, sondern suche jene Regeln ihm ohne Aufhebens, nur mit dem Hinweise auf ein schönes, deutliches Sprechen, zur zweiten Natur zu machen.

Pädagogen haben mir versichert, wie unendlich günstiger der Eindruck derjenigen Kinder sei, die von Hause aus an ein langsames, lautes Sprechen mit möglichst offenem Munde gewöhnt sind, gegenüber denen, die hastig, leiser und mit fast geschlossenen Zähnen die Sätze hervorstoßen. Und es gereicht mir zur Befriedigung, daß die Normen, zu denen ich aus langjähriger Beobachtung und Heilung von Stotterern gelangt bin, den Grundsätzen der neueren Pädagogik so vielfach begegnen. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß viele zum Stottern Disponirte, ohne es zu wissen, gerade einer fortgeschritteneren Pädagogik ein normales Sprechen verdanken. Wenn die Herren Schulmänner, wie es doch meist geschieht, auf laute, deutliche Aussprache halten; wenn, zumal in der Volksschule und den unteren Classen höherer Lehranstalten, in der Regel ein ganzer Satz, nicht nur ein einzelnes Wort als Antwort verlangt wird, wenn man den Schwachen und Zaghaften ermutigt und nach der Erregungstheorie die Selbsttätigkeit und das aus sich Herausgehen des Kindes zu erzielen sich bestrebt, so wüßte ich nicht, welche bessere Unterstützung ein Kind auch zur Beseitigung der in Rede stehenden Disposition sich wünschen könnte. Wenn die Herren Schulmänner dazu noch den oben entwickelten, specifisch auf das Stottern bezüglichen Grundsätzen ihre Aufmerksamkeit zuwenden würden, und Schule und Haus somit zu vorbeugenden Maßregeln sich vereinigten, so würde nach meiner Ueberzeugung das Uebel weniger oft zur Entwickelung gelangen und eine nicht unbedeutende Summe peinlicher Empfindungen aus der Welt verschwinden.

Rudolf Denhardt jun.