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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[781]

No. 47.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Großer Gott!“ rief die Hausfrau erblassend aus und fuhr von ihrem Sitze empor.

„Uffeln – da,“ sagte der Hausherr, „lebendig – leibhaftig da? Und das, das sagen Sie mit dieser Leichenbittermiene?“

„Mein Gott, welches Glück!“ stammelte Fräulein Adelheid ganz athemlos vor Bewegung.

„Er ist da,“ versetzte mit einem leisen Kopfnicken Herr Fäustelmann der Rentmeister, in demselben Ton und wie von der Wirkung, die seine Mittheilung hervorgerufen, nicht im geringsten berührt.

„Aber wo ist er denn? Weshalb bringen Sie ihn nicht her?“ rief Herr von Mansdorf in zitternder Aufregung.

„Er ist in meinem Hause,“ versetzte der Rentmeister. „Er kam vor einer Viertelstunde zu mir. Nachdem ich die Legitimationspapiere, die er mir vorlegte, angesehen, forderte ich ihn auf, sich mit mir zu Ihnen zu bemühen. Das lehnte er jedoch ab.“

„Er lehnte es ab? Und weshalb?“ rief die Hausfrau aus, deren anfängliche Blässe in ein helles Roth der Freude übergegangen war.

„Weil er ein sehr bescheidener, fast blöde zu nennender Herr zu sein scheint,“ versetzte der Rentmeister. „Er ist mit dem festen Glauben gekommen, daß sein Erscheinen bei Ihnen einen großen Schrecken hervorrufen müsse.“

„Er? Schrecken?“ rief Herr von Mansdorf. „Wahrhaftig, Fäustelmann, dann haben Sie ihn mit Ihrer Gespensterseherei angesteckt.“

„Schrecken,“ fuhr der Rentmeister, ohne sich zu einem Eingehen auf diese persönliche Bemerkung seines Herrn herabzulassen, fort, „Schrecken, insofern als er doch erschiene, Sie um die Hälfte Ihres Gutes zu bringen, welches Sie nun schon mehrere Jahre allein inne gehabt –“

„Ah bah – haben Sie ihm denn nicht gesagt, Fäustelmann,“ rief Herr von Mansdorf aus, „daß dieses Gut für mich nicht viel Anderes war, als eine verschlossene Geldlade, zu der man den Schlüssel nicht hat, und daß er just der Schlüssel ist, nach dem wir gesucht haben alle diese Jahre hindurch?“

„Freilich habe ich ihm das gesagt – und das hat ihn auch wohl beruhigt. Doch hat er mich inständig gebeten, ihn erst anzukündigen, bevor er selbst erscheine, und so kündige ich ihn denn an.“

„Und ich will nicht Mansdorf heißen, wenn Sie je in Ihrem Leben etwas Besseres und Erfreulicheres angekündigt haben, Fäustelmann,“ sagte der Hausherr, „und jetzt gehen Sie! Eilen Sie, bringen Sie ihn her, diesen schüchternen und blöden Lehnsvetter!“

„Ich will Herrn Ulrich Gerhard von Uffeln herbeiholen,“ entgegnete der Rentmeister, indem er sich wandte und des Weges, den er gekommen, zurückging.

Die Gesellschaft blickte ihm in athemloser Erwartung nach. Frau von Mansdorf faltete ihre Hände zusammen und rief: „Gott segne den Tag, der uns diesen Mann endlich bringt!“

Der Justitiar aber flüsterte betroffen: „Hoffentlich ist dieser Lehnsvetter keine Vorgeschichte des Spuksehers Fäustelmann.“




3.

Darüber konnte der skeptische Justitiar glücklicher Weise sehr bald beruhigt sein. Herr Fäustelmann brachte den Lehnsvetter richtig und leibhaftig herbei, und es war Nichts an ihm, was wie ein Visionsgebilde ausgesehen hätte. Ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, oder wenig mehr, mit blondem Haar, ziemlich ausdruckslosem Gesicht und ein wenig unsteten, schüchtern blickenden Augen. Er sei Militär, sagte er, er sei verabschiedeter französischer Officier; aber Soldatisches, Unternehmendes schaute nicht viel aus diesen Augen heraus. Er war verabschiedet, weil er, während er bei der Armee in Spanien gestanden, in einem Gefechte an der Hand verwundet worden. Der Regimentsarzt hatte ihn ungeschickt behandelt; so war seine rechte Hand gelähmt worden; er konnte wohl das Gelenk, aber nicht die Finger bewegen; wenn er etwas damit erfassen wollte, so mußte er mit der linken Hand es hineinlegen und die Finger darum drücken – dann hielten diese ganz fest wie gesunde. Aber dem Willen gehorchten sie nicht. Das war unheimlich – Fräulein Adelheid schauderte, als er diese Operation zum ersten Male vornahm, um es der Gesellschaft zu zeigen, davor wie vor etwas Abstoßendem zurück. Er war sehr jung schon in französische Kriegsdienste getreten, schon kurz nach der Errichtung des Rheinbundes; seine Eltern, die in Freiburg im Breisgau gelebt, wo der Vater die Stelle eines Syndicus des Domcapitels bekleidet, hatte er während des Feldzugs von 1809 verloren, und dann war er mit einem der Rheinbundregimenter nach Spanien geschickt worden und hatte da unglaubliche Strapazen erdulden, Noth und Entbehrungen aller Art durchkämpfen müssen; von diesen Strapazen und diesen Entbehrungen sprach er vorzugsweise, mehr als von den Schlachten, an denen er theilgenommen und den kriegerischen Thaten seines Corps – ein Umstand, der offenbar für seinen friedfertigen Sinn zeugte. [782] Daß er mit anderen, ganz entfernten Verwandten zur gesammten Hand mit einem Gute hier im Lande belehnt sei und daß ihm dies, oder wenigstens ein Stück davon einmal zufallen müsse, das hatte er als junger Mensch oft von seinem Vater vernommen, der aus dieser Gegend stammte. Aber während er Soldat gewesen, hatte er sich wenig darum gekümmert und erst, als er wegen seiner Verwundung entlassen und nur die Wahl zwischen irgend einem ganz kläglich besoldeten Posten in der Verwaltung im Innern Frankreichs, oder der erbärmlichen Pension eines als Invalide verabschiedeten Oberlieutenants gehabt, war er auf den Gedanken gekommen, wegen dieser Sache Schritte zu thun, und hatte sich zunächst an einen alten Freund seines Vaters in Freiburg gewendet, der denn auch richtig ermittelt, daß das fragliche Lehngut längst erledigt und daß man in den Zeitungen nach dem neuen Lehnsträger gesucht. Nun habe er, erzählte er weiter, noch den Zweifel gehabt, ob man sein Recht denn überhaupt noch etwas gelten lassen werde, da er doch gehört, daß die Franzosen, wie überall, auch hier zu Lande das ganze Lehn- und Majoratswesen, wie alle Unfreiheit der Menschen, aufgehoben, aber man habe ihm versichert, es sei das Alles wohl für die Zukunft aufgehoben, aber nicht für die Vergangenheit; wenn er in der Vergangenheit, vor der Einführung der neuen Gesetze, bereits belehnt worden sei und ein Recht erworben habe, so könne ihm dies nicht angetastet worden sein – die Folge der neuen Gesetze sei nur, daß er nicht mehr unter den Einschränkungen und Bedingungen des alten Lehnrechts besitzen werde, sondern als durchaus freier Eigenthümer und Herr. Darum solle er sich nur melden.

„Gewiß, gewiß,“ unterbrach hier der Justitiar die langsam und mit großer Bedächtigkeit vorgebrachte Erzählung des jungen Mannes, „und so hat denn auch Ihr Mitbelehnter, Herr von Mansdorf hier, von Wilstorp Besitz ergriffen; Sie, als der andere zum Erben Berufene, theilen sich mit ihm darein, sodaß Sie zusammen die unbeschränkten Eigenthümer sind; die mit gegenseitigem Einverständnisse, ohne sich weiter um die alte Lehnsbestrickung zu kümmern, thun und lassen können, was Sie wollen. Wenn es Sie zum Beispiele drücken sollte, daß keiner ohne den Miteigenthümer etwas Rechtsgültiges vornehmen kann, so steht nichts im Wege, daß Sie sich in den Besitz theilen, der Eine diese, der Andere jene Hälfte nimmt, der Eine seine Hälfte an den Andern verpachtet, verkauft, wie Sie eben wollen.“

Der Angekommene richtete während dieser Rede des Justitiars seine Augen mit einem so fragenden Blicke auf diesen, daß Herr von Mansdorf darin die Aufforderung sah, seinen Beamten förmlich vorzustellen.

„Herr Plümer, mein – verzeihen Sie, unser Justitiar!“ sagte er.

Ulrich Gerhard von Uffeln verbeugte sich mit würdiger Höflichkeit vor ihm und sagte dann:

„Haben wir denn hier noch die Patrimonialgerichtsbarkeit? Auch das hielt ich für aufgehoben.“

„In der Theorie,“ antwortete lächelnd der Justitiar, „in der Theorie allerdings aufgehoben, aber in der Praxis hat das Aufheben aller früheren Dinge nicht so rasch gehen wollen, und so haben wir hier denn bei den alten Einrichtungen für’s Erste bleiben müssen. Nur muß der alte Plümer sich in die neue Gesetzgebung finden und nach dem Code Recht sprechen.“

Frau von Mansdorf sandte jetzt ihre Tochter, um für den Angekommenen Erfrischungen zu besorgen, und in ihrer freudigen Erregung ging sie gleich nachher selber, um dabei zu helfen. Und was Herrn von Mansdorf angeht, so wurde er seinerseits nicht müde, den Gast zum Trinken aufzufordern und ihm einzuschenken, und dann auf das Wohl des Fremdlings anzustoßen, den er bald unter dem Einflusse hochgesteigerter Lebens- und Gemüthswärme in vertraulichster Weise behandelte und der sich dann schon Scherze über seine Hand gefallen lassen mußte – man wisse doch nun, sagte Herr von Mansdorf, wie man sich eigentlich solch einen „gesammten Hands“-Vetter vorstellen müsse, nämlich mit einer Hand, die nichts zusammenhalten könne; deshalb sei auch nicht zu besorgen, daß der Vetter ihm zu gewaltsam in seine Verwaltung von Haus Wilstorp eingreifen werde, was ihm sehr lieb sei, da sie, dank dem Schlendriane des Herrn Fäustelmann, der Alles beim Alten lassen wollte, kühne Griffe nicht vertrage.

Und dann war Herr von Mansdorf im Begriffe, dem Vetter zu versichern, er sei überhaupt ein vortrefflicher Mensch, den er ganz versucht sei, nicht als Vetter, sondern als seinen wiedergefundenen verlorenen Sohn zu behandeln, wenn seine überströmenden Gefühle in diesem Augenblicke nicht mit einer gewissen Plötzlichkeit in’s Innere seines Busens zurückgestaut worden wären durch einen strafenden Blick der wieder eintretenden gestrengen Hausfrau, und das war recht gut, denn Herr von Mansdorf wäre sonst am Ende noch dazu übergegangen, jetzt gleich in der ersten Stunde mit dem angekommenen Vetter Brüderschaft zu trinken.

Herrn von Mansdorf’s erhöhte Stimmung war übrigens sehr verzeihlich; er konnte sich nicht allein Glück dazu wünschen, daß jetzt der Bann von ihm genommen, der auf ihm gelegen bei allem, was er hatte vornehmen wollen, dieser Mann, der sich ihm endlich als der ersehnte Miteigenthümer vorgestellt, zeigte sich auch in allen seinen weiteren Aeußerungen als ein Charakter, mit welchem es sich auf das Angenehmste müßte verhandeln lassen, mit dem Geschäftsbeziehungen pflegen zu müssen durchaus nichts Drückendes und Schwieriges haben konnte. Was sonst noch für Eigenschaften in ihm versteckt liegen konnten, die erst bei näherer Bekanntschaft an den Tag kommen würden – arrogant, rechthaberisch, streitsüchtig war er sicher nicht; er war im Gegentheil ganz offenbar von einer schüchternen Anspruchslosigkeit, wie Herr von Mansdorf sie bei seinem Mitbesitzer nur wünschen und verlangen konnte. Er liebte es mehr, sich belehren zu lassen, als selbst zu sprechen; er zeigte nicht die geringste indiscrete Neugier, über die Verhältnisse seines Eigenthums Auskünfte zu erhalten, die doch für ihn von so großer Wichtigkeit waren; er bewies Frau von Mansdorf und Fräulein Adelheid die zuvorkommendste Aufmerksamkeit – und so wurde denn der ganze kleine Kreis, in welchem er heute so plötzlich aufgetaucht, mit dem befriedigendsten Eindruck von ihm erfüllt. In dem kleinen Thurmwinkel auf Haus Wilstorp war lange kein so heiterer Abend zugebracht, keiner war so tief in die Nacht hinein bei Windlichtern, kalten Speisen, mäßig gutem Graveswein[WS 1], sehr schlechtem Tabak und höchst lebhafter Unterhaltung verlängert worden, als dieser, der den ersehnten Vetter gebracht.

Nur der Rentmeister Fäustelmann hatte an dieser Heiterkeit keinen Theil genommen. Er hatte sich schon früh im Stillen bei Seite gemacht und war gegangen – „um Gespenster zu sehen,“ sagte Herr von Mansdorf in seiner erregten Laune.

Der sympathische Eindruck, den Herr von Uffeln auf Alle gemacht, hatte sich am andern Tage nur verstärkt. Man hatte zuerst einige geschäftliche Dinge abgemacht, wobei der Justitiar und der Rentmeister zugegen waren und Ulrich sich in Alles gefügt und geschickt hatte, wie man es ihm vorgelegt, namentlich wie der Rentmeister es einzurichten gerathen, zu dessen ernstem und abenteuerlichem Kopfe der junge Mann oft hinüberschaute und der ihn mit einer gewissen stillen Scheu zu erfüllen schien. Und dann, nach Tische, hatte man einen weiten Spaziergang durch die Felder und Wälder gemacht, um dem neuen Miteigenthümer die Ausdehnung derselben und die Grenzen bis an welche sein Recht ging, zu zeigen. Ulrich von Uffeln hatte das Alles mit einem erst nach und nach erwachenden lebhafteren Interesse betrachtet und sich dabei durch Fragen nach den Bewirthschaftungsmethoden, nach den Erträgnissen einzelner Gutsbestandtheile zu orientiren gesucht. Herr von Mansdorf hatte ihm dann mit innerlichem Vergnügen höchst ausführliche Auskunft gegeben, mit einem Vergnügen, wie es ein Mann empfindet, dem diese Rolle nicht oft zu Theil wird, sondern der, wie Herr von Mansdorf, verurtheilt ist, zwischen so gescheiten Leuten, wie der skeptische Justitiar und der melancholische Rentmeister, zu leben, von denen er fast immer überstimmt wird, und namentlich einen Rentmeister zu haben, der nicht nur die Dinge dieser Welt besser versteht als er, sondern auch noch über sie weg in die jenseitige zu blicken vermag. Und während so die beiden Lehnsvettern von der Gesammthand sich unterhielten, dachte Fräulein Adelheid, welche neben ihrer Mutter schreitend ihnen folgte, mit Rührung daran, wie dankbar sie doch Alle diesem Ulrich von Uffeln sein müßten, daß er ein so gutmüthiger Mann sei, der alle den schönen, auf sein Kommen gebauten Plänen nicht das Geringste schien in den Weg legen zu wollen, daß sie nun sich für den Winter frei machen könnten und in die Welt, in den [783] schönen Süden reisen würden, wohin ihr Arzt sie senden wolle, der gute, um ihre Gesundheit so sorglich bekümmerte Arzt. Adelheid dachte an die Miene, die dieser Arzt machen würde, wenn er heute Abend herauskäme, nach ihr zu sehen, und sie ihm dann sagen würde, daß der Vetter nun endlich da sei; an die freudige Ueberraschung, die aus allen seinen Zügen leuchten würde, sie nahm sich vor, ihm um die Zeit, wo sie ihn erwartete, ein wenig auf dem Wege nach Idar, wo er wohnte, entgegenzugehen, um ihm desto eher die Freudenbotschaft zu verkünden.

Es muß hier eingeschaltet werden, daß der Arzt, der einzige, den das Städtchen besaß, ein noch sehr junger und auffallend hübscher Mann war.

Die gestrenge Dame, Adelheid’s Mutter, war unterdeß mit anderen Gedanken und Plänen schwerwiegender Art beschäftigt, Gedanken, welche sich ihrer schon in der Nacht bemächtigt, sich jedoch noch in tiefes Schweigen hüllten. Dabei lag ein Ausdruck einer stolzen Rührung in ihren Zügen, wenn sie auf die beiden vor ihr wandelnden Männer blickte, ein Ausdruck, der verrieth, wie wohl es ihrem adeligen Herzen that, daß diese beiden Männer sich um einer so rückhaltslosen und unbegrenzten Ehrlichkeit ohne den geringsten Hintergedanken über ihre beiderseitigen Rechte verständigten, sodaß an jene feindliche Reibung der Interessen, die immer so leicht da zu entstehen pflegt, wo es sich um das Mein und das Dein handelt, hier gar nicht zu denken war.

Auf dem Heimwege, den man etwas rascher schreitend zurücklegte – denn Herr von Mansdorf zeigte sich von der Vorstellung gequält, daß der Lehnsvetter außerordentlich durstig geworden sei und ein brennendes Verlangen nach einem guten kühlen Trunke empfinden müsse – auf dem Heimwege schritten Ulrich von Uffeln und Adelheid neben einander.

„Wie ganz anders,“ sagte Adelheid, „mögen Sie sich dies Alles, unsere ganze Umgebung vorgestellt haben, als Sie es nun finden, Herr von Uffeln, ganz gewiß viel schöner und reicher!“

Ulrich schüttelte den Kopf. „Ob ich es mir schöner vorgestellt habe? O nein. Anders wohl – nun ja – doch um Ihnen die Wahrheit zu sagen, eigentlich habe ich es mir gar nicht vorgestellt. Ein Schloß, einen großen Grundbesitz umher, gütig und mit rührender Freundlichkeit mich aufnehmende Menschen – das Alles mir vorzustellen habe ich gar nicht gewagt. Mein bisheriges Leben war nicht so, daß ich an so etwas als mir beschieden denken konnte. Ich bin immer arm und auf mich selbst angewiesen gewesen im Leben; ich war Soldat und war es ohne Beruf dazu, ohne alle Neigung; ich fühlte mich seit je unglücklich in der schrecklichen Kriegsknechtsjacke, in der ich marschiren mußte und wieder marschiren, und immer marschiren nach Orten und Gegenden, nach denen mich absolut nichts zog; ich mußte mich in dieser Kriegsknechtsjacke als den Todfeind von Menschen betrachten, die todtschlagen zu helfen ich hunderte von Meilen weit hergekommen war, ohne daß diese Menschen mich irgend etwas angingen, ohne daß sie mir je etwas in den Weg gelegt hätten. Und wenn man so denkt und fühlt, Fräulein, so hat man unter den Soldaten, mit denen man leben muß, auch keine Freunde – und ist sehr, sehr allein. Ohne Heimath und Freunde und ohne einen Lebenszweck fühlt man sich als einen willenlosen Spielball des Schicksals und entwöhnt sich des Gedankens an die Möglichkeit, daß man einmal zu eigenem Rechte, zu Eigenthum und Selbstbestimmung gelangen werde. Man ist so herumgestoßen, so daran gewöhnt, nur nach dem Willen Anderer sich zu rühren und zu bewegen – wie kann man da noch an das Glück einer nur von sich selbst abhängenden Existenz glauben und sich in Gedanken die Dinge ausmalen, die eine solche Unabhängigkeit gewähren?“

Adelheid nickte, während ihr Begleiter mit sinnigem Tone so sprach, verständnißinnig und gerührt über das Schicksal einer so freudlosen und verlassenen Jugend, wie sie dieser gute Lehnsvetter gehabt hatte.

„Es ist wahr,“ sagte sie, „aber daß es so ist, hat nun doch wenigstens etwas Gutes. Denn nun sind Sie nicht mit übertriebenen Vorstellungen zu uns gekommen und finden sich durch die Beschränktheit und Anspruchslosigkeit unserer Verhältnisse nicht enttäuscht.“

„O nein, sicherlich nicht,“ rief er lächelnd aus, „ich bin überrascht, beschämt und ganz gedemüthigt bei dem Gedanken, daß ich in einer solchen reizenden kleinen Welt als eine Persönlichkeit betrachtet werde, die hier nun mit zu sagen und zu bestimmen habe, daß ich hier ein gleiches Recht wie Ihr Vater haben soll; es ist das erste Mal in meinem Leben, daß man mich nach meinem Willen fragt, und das macht mich – bis jetzt wenigstens noch – eher verzagt und beschämt als alles Andere. Ich möchte am liebsten Alles lassen, wie es ist, Alles in die Hände Ihres Vaters legen und mich zufrieden erklären, wenn Sie mich als Freund in Ihrem Hause aufnehmen und mich in dem schönen Eckzimmer, in dem ich diese Nacht einquartiert gewesen bin, ruhig bei meinen Musikübungen lassen wollen.“

„Ah, Sie sind musikalisch?“

„Ein wenig. Ich hatte nur während meines Kriegslebens nicht die Zeit, mich auszubilden. Und jetzt hindert mich meine verwundete Hand. Ich blase die Flöte.“

„O, wie fatal dann diese Verwundung ist!“

„Die mich doch zu Ihnen geführt hat – ich segne sie deshalb.“

„Es ist wahr,“ entgegnete Adelheid, die von seiner Gutmüthigkeit und Anspruchlosigkeit ganz gerührt war. „Da Sie nun aber hier sind, müssen Sie sich doch auch ein wenig in Ihre Herrenrechte und Pflichten einstudiren.“

„O ja, gewiß, ich will das ja auch. Stehen Sie mir darin ein wenig bei! Sie sehen, des Beistandes werde ich noch lange bedürfen. Nehmen Sie sich ein klein, klein wenig meiner an! Das würde mich sehr glücklich machen.“

„Ich will Ihnen wenigstens sagen, was ich Ihnen rathen würde,“ entgegnete Adelheid leicht erröthend. „Sehen Sie, mein Vater ist von einer gar zu großen Nachgiebigkeit und zu großem Vertrauen auf alle Menschen – er ist so gut, der Vater. Wenn Sie nun auch noch so vertrauensvoll und mit Allem zufrieden und einverstanden sind, dann entsteht die Gefahr, daß Sie beide mißbraucht und übervortheilt werden …“

„Sicherlich, aber Herr Fäustelmann scheint mir Alles so gründlich zu kennen und seiner Herrschaft so ergeben …“

„Fäustelmann? Nun ja, obwohl ich …“ Fräulein Adelheid dämpfte ein wenig ihre Stimme, „obwohl ich nicht recht weiß, ob meine Eltern recht thun, ihm so unbedingt zu glauben und zu vertrauen. Es ist mir oft – Sie verrathen mich nicht, nicht wahr? – es ist mir oft, als ob aus seinem Spuksehergesichte etwas von einem Schelm blickte; ich will ihm nicht zu nahe treten, und es ist ja gewiß eine wunderbare Gabe, die er hat; Sie werden selbst erleben, welche Vorgeschichten er sieht und wie wundersam sie sich erfüllen – aber ich meine, daneben wäre auch etwas Hinterhältiges in ihm und er spielte zuweilen mit den Menschen, die soviel Respect vor seiner übernatürlichen Gabe haben …“

„Sie meinen,“ fiel Ulrich von Uffeln wie betroffen ein, „er beutete den schönen Glauben der Leute an ihn zu seinem Vortheile aus.“

Adelheid nickte. „Ich habe ein Gefühl, als ob es zuweilen so wäre,“ sagte sie.

Ulrich von Uffeln schwieg darauf.

„Ich will es mir merken,“ sagte er nur nach einer langen Pause, ohne mit irgend einer Frage auf Herrn Fäustelmann’s übernatürliche Gabe zurückzukommen, die für ihn, als einen im Lande Fremden, doch sehr auffallend sein mußte. Menschen wie dieser Rentmeister waren eine specielle Eigenthümlichkeit seiner neuen Heimath, von der er doch bisher noch nicht vernommen haben konnte. Aber er fragte nicht weiter nach Herrn Fäustelmann. –

Als man heimgekommen war, nahm Herr von Mansdorf den Lehnsvetter mit sich in den epheuumwobenen Thurmwinkel und sandte seine Gemahlin nach Löschungsmitteln für den durch die Wanderung entstandenen Durst. Adelheid ging hinein und blieb eine Zeitlang in ihrem Zimmer; dann kam sie aus dem mittleren Thurme, in welchem die Wendeltreppe zu den Wohnräumen emporführte, mit einem Umschlagtuche gegen die Abendluft bekleidet, in frisch geordnetem und aufgestecktem Haar heraus, einen mit einem Asternstrauß geschmückten Strohhut in der Hand schaukelnd. Sie sah sehr hübsch aus, das schlanke Fräulein mit dem feinen leise gerötheten Kopf, wie sie elastischen Schrittes und offenbar fröhlich erregt so der alten Thorbrücke zuschritt. Aber noch hatte sie die morschen Bohlen dieser Brücke nicht betreten, als sie von ihrer Mutter eingeholt wurde.

„Adelheid, wohin willst Du noch?“ fragte die gestrenge Dame scharf.

[784] „Ich will dem Doctor Günther ein wenig entgegen gehen. Du weißt, Mama, er wird heute Abend kommen, um nach mir zu sehen.“

„Nun ja,“ versetzte die Mama, „so mag er kommen; es ist aber durchaus nicht nöthig, daß Du ihm in den Wald entgegenläufst.“

„Aber das that ich ja oft.“

„So ist es Zeit, daß es aufhört; es ist unpassend für Dich, und ich will es nicht. Was Doctor Günther Dir zu sagen hat, kann er Dir in meiner Gegenwart sagen.“

Frau von Mansdorf kehrte damit zum Thurmwinkel zurück, und Adelheid folgte ihr, ganz überrascht und ängstlich sich fragend, was diese plötzliche Strenge der Mama zu bedeuten habe.




4.

Herr von Mansdorf hatte mit dem neu angekommenen Lehnsvetter einen Besuch im fürstlichen Schlosse gemacht und Prinzessin Elisabeth ihn mit eigenen Augen gesehen – was Wunder, daß sie gründlich überrascht war, als sie bei der einige Tage darauf stattfindenden Waldbegegnung mit dem sonderbaren Fremden auf dessen Karte den Namen „Ulrich Gerhard von Uffeln“ las und in die Worte ausbrach: „Ein Doppelgänger!“

Es hatte nie in ihrem freilich noch jungen Leben etwas so ihre Phantasie in Anspruch genommen, wie die Erscheinung dieses Mannes und das Räthsel, das er ihr am Ende der Unterredung damals aufgegeben. Im Grunde war das nicht wunderbar. Ihr Leben war zwar nicht ganz so farblos melancholisch und von so trüber Einförmigkeit, wie er es sich vorzustellen schien, aber monoton und arm an aufregenden Ereignissen und neuen Erscheinungen, welche ihre Sympathie hätten gefangen nehmen können, war es in der That in hohem Grade, und wenn es das auch nicht gewesen wäre – wir glauben, dieser fremde Mensch mit seiner anziehenden Erscheinung, mit seiner ganz außergewöhnlichen Art, die Dinge aufzufassen und anzuschauen, mit den geistreichen, vornehmen Zügen hätte Prinzessin Elisabeth dennoch in ein unruhiges Nachdenken versenkt, von dem sie sich befangen fühlte, seit er von ihr geschieden war.

Jedoch mit dem Nachdenken und Brüten über das Räthsel, welches er ihr aufgegeben, kam sie nicht zur Lösung desselben, und da es sie täglich mehr reizte, eine Erklärung desselben zu erhalten, schlug sie endlich den Weg ein, der sich als der einzige bot: nämlich wieder ihre Zuflucht zu dem Meyer zu Jochmaring zu nehmen. Der Fremde hatte ihr verrathen, daß die Quelle dessen, was er von ihr gehört habe und wisse, der Meyer sei. Somit mußte dieser ihn kennen und Auskunft über ihn geben können; es stand nichts im Wege, einmal wieder eine Wanderung durch den Wald zum Meyer zu unternehmen.

Prinzessin Elisabeth machte also an einem schönen Nachmittage, von ihrer getreuen Marianne begleitet, diese Wanderung – als Vorwand diente ihr, daß sie dem Meyer den Schuldschein ihres Vaters über seinen Geldvorschuß bringen wolle; nach einem raschen Gange durch den Wald saß sie einmal wieder unter den Eichen auf dem Meyerhofe, auf dem kleinen Anger zwischen dem Hause und dem Flüßchen, das den Hof auf drei Seiten umkreiste, aber leider nicht dem ruhigen Meyer gegenüber, mit dem sich ein Gespräch sinnig einleiten und dann mit der klugen Ueberlegung, welche Prinzessin Elisabeth zu Gebote stand, allmählich dahin lenken ließ, wohin man es haben wollte, sondern der Frau Meyerin gegenüber, bei welcher dies vollständig unmöglich war, weil die Zunge der gutmüthigen, wohlgenährten kleinen Frau, einmal in Bewegung gesetzt, ihren eigenen Lauf nahm, von dem sie dann abzubringen eine hoffnungslose Sache war. Die Meyerin hatte Erfrischungen für die Prinzessin herausgebracht, Obst und Honig, und sie mit einigen höchst merkwürdigen Vorkommnissen bei den verschiedenen Stadien, welche die Production von Flachs, Garn und Leinewand auf dem Jochmaringhofe in diesem Jahre durchlaufen hatte, bekannt gemacht; dann hatte sie bereits dieselben kundigen Entwickelungen über das große Thema Butter begonnen, bis der Prinzessin klar wurde, daß sie hier direct auf’s Ziel losgehen müsse. Und so sagte sie geradezu, daß sie eigentlich gekommen, um den Meyer, der heute unglücklicher Weise beim Grummetschnitte auf den weit entlegenen Wiesen war, nach einem fremden Manne zu fragen, den er kennen müsse, weil derselbe sich bei der Prinzessin auf ihn berufen habe – sie könne aus diesem Manne nicht klug werden.

Die Meyerin blickte sie mit einem Gesichte an, aus dessen wasserblauen Augen das innere Vergnügen, über diesen Mann reden zu können, leuchtete.

„Sie haben ihn gesehen, mit ihm gesprochen, Durchlaucht?“ sagte sie, ihre Stimme dämpfend. „Nun darf ich ja mit Ihnen darüber reden – das ist der wunderlichste Heilige, der mir jemals vorgekommen ist. Der ist zu uns gekommen eines schönen Abends, um die Eulenflucht, und hat dem Meyer einen Zettel gebracht von unserem Anerben, dem Anton, wissen Sie, Durchlaucht, der in Spanien ist, und darauf hat gestanden: ‚Liebe Eltern, helft dem Herrn, der Euch dies bringt, in Allem und Jedem, dessen er benöthigt sein könnte! Er wird Euch das Weitere selber berichten.‘ Und das ist Alles gewesen, aber wir haben darauf gethan, was wir gekonnt haben und was er verlangt hat.“

„Und was hat er verlangt?“

„Ein Unterkommen und eine Wohnung, in der er ganz still und verborgen leben könne, von Niemandem gesehen und von Niemandem gestört; die erste Nacht hat er auf unserem Hofe geschlafen, am andern Tage aber hat er sich von unseren Köttern Den ausgesucht, der am weitesten entfernt und ganz abseit von der Welt liegt, und in dessen Kammer hat er sich eingerichtet, und da haust er nun; einen großen Koffer, den er mitgebracht, hat er sich durch den Kötter aus Stockheim holen lassen, und was die Kötterfrau ihm zurechtkocht und schmort, damit ist er zufrieden, und zuweilen kommt er und discutirt mit dem Meyer – aber wer er eigentlich ist und was er will, das wissen weder der Meyer noch ich; so können wir denn weiter nichts thun, als ihn gehen lassen und ihm den Gefallen thun, an dem ihm am meisten gelegen scheint – keiner Menschenseele etwas über ihn zu sagen.“

„Seltsam! Und das ist Alles, was Ihr von ihm wißt?“

„Alles, nur daß er in seinem Koffer vielerlei Bücher hat, über denen er die meiste Zeit des Tages hockt, und daß er den Kötter mit Gold bezahlt hat, das dieser hat in Idar wechseln lassen müssen und das, wie die Leute dort ihm gesagt haben, englisches Gold gewesen ist.“

(Fortsetzung folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
Der Schweißhund.


Eben hat der Windzug von der Thurmuhr aus dem nahen Orte die Schläge der zweite Morgenstunde durch den Wald herüber zur Forstwohnung getragen. Die zwei hohen Fichten vor derselben trifft schon eine Weile der Lichtschimmer aus des Oberförsters Stube. Der Waidmann, den es so frühe vom Lager getrieben, ist jetzt im Begriffe, aus seinem Gewehrschranke die alte gewiegte Büchse aus der berühmten Fabrik von Schmidt und Habermann in Suhl hervorzunehmen, um sie mit bedächtiger Vorsicht zu laden. Vor ihm steht sein Schweißhund „Hirschmann“, mit dem ernsten Blicke seiner großen dunkeln Augen und dem leisen Wedeln seiner Ruthe anzeigend, daß er sich der Dinge, die da kommen sollen, wohlbewußt sei. Es ist ein Thier von der Größe eines Hühnerhundes, braun von Hauptfarbe und glatthaarig, an Läufen, Hintererextremitäten, Schnauze und an zwei runden Flecken über den Augen entschieden dunkelfuchsfarben „gezeichnet“. Das ganze Behaben erinnert etwas an den englischen Pointer (glatthaarigen Hühnerhund), namentlich an den sogenannten Bracken-Pointer; doch ist des Schweißhundes Kopf bei aller oberen Breite länglicher, die Schnauze schmaler und der Behang viel länger und weicher, überhaupt die ganze

[785]

Hirschmann bei dem verendeten Wild.
Nach der Natur gezeichnet von C. F. Deiker in Düsseldorf.

[786] Gestalt untersetzter. Das Nasenbein erscheint kaum merklich nach unten gebogen und endigt in der äußeren Bildung einer bedeutsamen Nase, dem Organe des feinsten Witterungsvermögens. Die breite Brust mit den tiefen Höhlungen an beiden Seiten des vorsehenden Brustbeines, die gute Wölbung der Rippen, die geraden, muskelkräftigen Läufe mit den starken Sprunggelenken, den geschlossenen Zehen und heraustretenden Hinterschenkeln, der stramme, gerade Rücken, die eingezogenen Weichen nebst den runden, breiten Hüften bekunden ebenso sehr große Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit, wie die lange, etwas tiefangesetzte Ruthe ein Zeichen echter Race ist. Hirschmann ist der schwarzen Race mit gleicher fuchsfarbenen Zeichnung, sowie der ganz fuchsfarbenen oder gelben sehr verbrüdert, auch zählt er glatthaarige wolfstreifige, hin und wieder selbst langhaarige Vettern von brauner oder schwarzer Färbung. Hingegen hat seine Normalrace nichts gemein mit den niedrig gebauten Thieren mit abstehenden Ellenbogen und etwas schiefen Läufen, welche gewaltig abstechen gegen die stramme Haltung und die hohe Action der Vertreter reiner Race.

Der braune Hirschmann, aus dem Braunfels’schen stammend, ist längst ein waidmännisch „vollkommener“ Hund. Ohne durch das sogenannte „Pfeifen“ (Winseln) die leidige Unruhe schlechter oder junger Schweißhunde zu verrathen, läßt er sich ruhig an die „Halsung“ (Halsband) mit dem „Hetzriemen“ oder „Fangstrick“ nehmen und folgt gemessen hinter der linken Seite seines Führers, der, aus dem Hause schreitend, nun bedächtig „zu Holz zieht“, um die „Frühpürsche“ auszuüben.

Schon verkünden den noch hinter den Bergen weilenden Tag blaß-weiße Streifen am Horizonte. Die Strophe des alten Waidmannsliedes:

„Es fängt schon an zu tagen,
Nun ist’s die rechte Zeit –“

geht eben unserem Jäger durch’s Gemüth, als plötzlich der alte Hirschmann an der Ecke einer Waldwiese still steht und „windet“ (mit der Nase in der Luft wittert). Sein aufmerksamer, behutsam dahinpürschender Herr hat den jähen Widerstand am Hetzriemen gemerkt und biegt sich vorsichtig in der Richtung, die der Hund mit seiner windenden Nase angiebt, am Waldsaume vor, die Wiese auszukundschaften. Ein dunkler Gegenstand in derselben verräth ihm, daß bereits ein Stück Wild auf dieselbe zur „Aeßung“ getreten. Noch kann aber nichts Näheres wegen der herrschenden Dunkelheit vermerkt werden. Hirschmann, als ein vollkommener Schweißhund, wird blos an der abgelegten Jagdtasche seines Herrn mit dem Hetzriemen an Ort und Stelle gelassen. Ruhig legt sich der Alte nieder, während sein Herr sich zum Anpürschen an das Stück Wild in der Wiese wendet. Dies kann auf einem alten Wege im deckenden Stangenholze längs des Wiesenrandes bewirkt werden und gelingt dem Schützen bis auf Büchsenschußweite. Im ersten Morgengrauen nun präsentirt sich dem überraschten Auge unseres Waidmannes ein „jagdbarer“ Hirsch, ein „Zehnender“, mitten auf der Wiese „breit“ (von der Seite). Es blitzt aus der Büchse, und mit dem Knalle sieht der geübte Waidmannsblick den Hirsch durch Zusammenfahren ein „Zeichen machen“, nachdem das aufmerksame Ohr auch die Kugel „schlagen“ gehört. Aber der Hirsch geht „flüchtig“ gegenüber der Wiese durch’s hohe Holz bergauf, der nächsten Dickung zu. Kein günstiges Zeichen!

Der „Anschuß“, das heißt die Stelle, wo der Hirsch getroffen, wird schnell „verbrochen“, das ist mit abgebrochenen Zweigen bezeichnet, und der an seinem Platze ruhig verweilende Hirschmann abgeholt oder waidmännisch „arretirt“. Der Hund zieht auf den Zuspruch; „Vorhin, Hirschmann, verwund’t!“ ruhig an dem Fangstricke vor dem Jäger her und „fällt“ sogleich den „Schweißgang an“. Eine Strecke über die Wiese in das hohe Holz hinein wird mit dem Hunde „nachgezogen“ (die schweißige Fährte verfolgt). Von ungestümem Vordringen, oder gar von „im Wind Suchen“ neben dem Gange ist bei Hirschmann keine Rede. Ruhig und regelmäßig, wie an einer Schnur „bringt er die Schweißfährte fort“ (verfolgt er sie), so spärlich dieselbe auch hin und wieder erscheint. Nur einmal ist es bei gänzlichem Mangel an Schweiß auf einer längeren Strecke nöthig, „vorzugreifen“ oder einen „Bogen zu schlagen“, das ist mit dem Hunde abseit so lange halbkreisförmig vorzuschreiten, bis man den Schweißgang wieder gekreuzt und der Hund ihn von Neuem aufgenommen hat. Plötzlich entdeckt man im Schweiße ausgeflossenes zermalmtes „Geäße“, ein Zeichen daß der Hirsch „weidwund“, das heißt in das „Gescheide“ (Gedärme) geschossen ist. Hirschmann wird arretirt oder von der Fährte zurückgenommen und dem „angeschweißten“ (verwundeten) Hirsche einige Stunden Zeit gelassen, sich in einer Dickung „niederzuthun“.

Nach mehreren Stunden ist unser Waidmann mit Hirschmann und begleitet von dem alten Wildhüter Peter, vulgo der „Hirschpeter“ genannt, wieder an Ort und Stelle, mit dem Hunde nunmehr ernstlich dem erfahrungsmäßig inzwischen „krank gewordenen“ Hirsche „nachzuhängen“ oder „nachzuziehen“. Hirschmann bringt den schweißigen Gang fort durch das hohe Holz bis zur nächsten Dickung, oben auf einem mäßigen Bergrücken. Hier an der Wand des sehr dichten jungen Holzes stehen die beiden Waldmänner in kurzer Jagdberathung, die zu dem Beschlusse führt, den Waldort mit Hirschmann vorerst zu umgehen, um den angeschweißten Hirsch zu „bestätigen“, ehe man mit der „Hatze“ auf Gerathewohl beginne. Hirschpeter nimmt den Hund und umkreist die Dickung mit demselben am Fangstricke. Nach einiger Zeit erscheint er von der anderen Seite des Dickichtrandes, dem Oberförster meldend, daß Hirschmann längs des Jungholzes nirgends einen Schweißgang angefallen, der Hirsch also im dichten Holze „stecken“ müsse. Auf diese Meldung hin, sicher wie ein Evangelium, wird der Hund nun vom Stricke „gelöst“, um allein den Hirsch „auszumachen“ oder zu finden. – Hat Meister Hirschmann doch schon zu wiederholten Malen, sogar auf „grobe“ (zwei- und mehrjährige) angeschweißte Sauen bekundet, daß man sich in der Alleinhatze, selbst im „Verlorensuchen“ auf ihn verlassen kann, und „Fehlhatzen“ (das heißt vergebliches Hetzen) bei ihm unter weiser Berücksichtigung der waidmännischen Verhältnisse von Seiten seines Führers nie vorfallen. Noch unlängst bewies er sich bei einem angeschweißten, noch flüchtigen „Hauptschwein“ (fünfjähriges Schwein), das er in einem Sumpfe verbellt, ebenso ausdauernd wie vorsichtig, da der „Keiler“, nur an einem Laufe lahm, den Hund „annahm“ (auf ihn losging) und um sich schlug. In gehöriger Entfernung von der Sau sich haltend, „gab“ der kluge Hund eine gute Viertelstunde anhaltend „laut aus“, bis man mit der „Hatz“ (Anzahl Saurüden) gefolgt war und den Keiler „auf den Boll hetzte“ (von den Hunden fassen ließ). – So wird der alte Bewährte auch heute seine Alleinhatze gut bestehen – schließen die beiden an der Dickung Stehenden.

Mehrere Minuten sind indeß in angestrengtem Aufhorchen auf die Jagd Hirschmann’s verstrichen, als derselbe plötzlich in der Dickung laut ausgiebt. Er hat einen „feinen Hals“ (hohe Stimme), so daß der dumpfe, tiefere Laut, den Hirschmann eben hören läßt, dem Eingeweihten um so deutlicher verkündet, er habe den Hirsch gefunden und verbelle ihn lebhaft. Rasch eilt man durch’s Holz der Stelle zu, wo der Hund anhaltend „standlaut“ ist. Man erreicht einen Erlenhorst, worin der Hirsch sich niedergethan und so krank geworden ist, daß er nicht mehr „hoch wird“ oder „aufsteht“. Nur schwach und unentschieden schlägt er mit dem Geweihe nach dem Hunde, der auf den Zuruf seines Herrn: „Hui faß’, Hirschmann!“ wie der Blitz den Hirsch an der Kehle gepackt. hat. So ist dem Jäger beste Gelegenheit geboten dem Kranken mit dem Hirschfänger den „Fang“ (Stich) hinter das Blatt zu geben. Hirschpeter „bricht“ waidgerecht den „verendeten“ Hirsch sogleich „auf“, um ihn bald darauf mit herbeigeschaffter Mannschaft auf dem Wildkarren, geschmückt mit „Brüchen“ (Laubzweigen), aus dem Holze zu schaffen.

Auf dem Heimzug erfahren wir von Hirschpeter noch manche Charakterzüge Meister Hirschmanns. Derselbe macht dem Oberförster einen Leithund überflüssig: denn er „zeichnet“ alle Fährten von Hochwild und leistet so beim „Bestätigen“ die besten Dienste, das heißt er zeigt den frischen Stand von Roth-, Dam- oder Rehwild, sowie einer Sau in einem Districte an, welch’ letzteren man dann getrost auf das bestätigte Wild abtreiben lassen kann. Er ist auch auf angeschossenes Kleinwild zu gebrauchen und verrichtet diese Jagd allein auf Hasen und Füchse vortrefflich, welch’ letztere er, „scharf“ wie er ist, tüchtig „abwürgt“, nachdem er nur erst der Nähe seines Herrn versichert ist, dem er [787] mit Standlaut-Geben den Ort, wo er das Raubzeug „geraumt“ (eingeholt), verräth. Mit gutem Erfolge hat man die Kreuzung Meister Hirschmanns mit der Hühnerhündin Bella versucht und in zweiter Linie auf Schweiß sehr tüchtig „arbeitende“ Hühnerhunde erzogen. Hirschmann ist außer dem Jagdamte ein braver, ruhiger Hund, der Haus und Hof treulich bewacht, auch kein Herumtreiber, sowie in Gefahr ein entschiedener Vertheidiger seines Herrn, wie er es bei Affairen und Wilddieben bewiesen. Warum sollte der Hund, der beherzt den jagdbaren Hirsch auf den Zuruf seines Herrn anpackt und an der Kehle würgt, der den Keiler tapfer verbellt, nicht seinen Mann stellen? Sein ebenso muskelkräftiger als geschmeidiger Körper, sowie sein vortreffliches Gebiß sind sichere Bürgschaften für seinen erfolgreichen Beistand wie auf der Jagd, so auch in Noth und Gefahr. Aber die vorzüglichste Eigenschaft, die den Hund zu einem wahren Kleinode auf der Wildbahn des Revieres gestempelt und ihm den Ruf eines Vollkommenen weit und breit erworben, ist das Laut-Ausgeben selbst von einem aufgefundenen schon verendeten Stück Wildpret. Das ist ebenso eine Race-Eigenthümlichkeit, wie das Lautjagen hinter krankem Wilde überhaupt. So sei denn auch, nach Hirschpeters Referat, noch kein Nachkomme Hirschmanns von der echten Art des Alten fehlgeschlagen: alle jagten laut, und von „Stummen“, denen man künstlich Glocken anhängen müsse, um ihrer Jagd folgen zu können, sei bei dieser Race keine Rede, noch viel weniger aber von sogenannten „Schwärmern“, die wie Phantasten mit hoher Nase im Winde herumvagirten und ein über das andere Mal die Fährte oder den Schweißgang übersprängen.

Einige Tage später haben wir Gelegenheit, Hirschmann diese seine höchste Bravour an dem Capitalhirsch, einem „Vierzehner“, dem „Einsiedler“, wie ihn Peter bereits getauft hat, bethätigen zu sehen. Der Einsiedler hat nach Peter’s Meldung seinen „Sommerstand“ in einem Felsgerölle genommen, das von dem zusammenhängenden Forste ab weit in ein Außenfeld vorspringt. Er geht auf die Wickenflur im Felde, und lange vor der Abenddämmerung sehen wir den Oberförster mit Peter und Hirschmann schon zum Ansitze am Außenfelde erscheinen. Schon mehrmals hat unser Waidmann vergeblich auf den Einsiedler angesessen – jedesmal hatte den Ankommenden der Heimliche in der Dickung „vermerkt“ und war erst in der Nacht auf das Feld zur Aeßung getreten, als der Jäger, des langen vergeblichen Abwartes müde, seinen Stand verlassen hatte. Das zeigte deutlich die frische Fährte des Capitalen Tags darauf den Blicken des das Feld abspürenden Peter. Heute aber gebraucht der Oberförster eine vom pfiffigen Hirschpeter vorgeschlagene Waidmannslist. In den Socken ist er dem vernehmlichen Schrittes ihm dicht nachfolgenden Peter bis zum Ansitze vorangegangen und nimmt nun den verdeckten Stand seitwärts des gewohnten „Wechsels“ in aller Stille und Behutsamkeit mit Hirschmann ein, während Peter geräuschvoll seinen Gang weiter fortsetzt, um den jedenfalls im Holze „sichernden“ (mit allen Sinnen thätigen) Einsiedler weidlich anzuführen. Dies scheint denn auch diesmal nach bestem Wunsche zu gelingen: denn mit der ersten schwachen Dämmerung vernimmt der Ansitzende das Geräusch des aus seinem Wechsel „von Holz ziehenden“ Hirsches.

In demselben Augenblicke entladet sich aber ein schon lange bedrohlich über dem Walde hängendes Gewitter mit dem ersten Blitzleuchten und Donnerschlage, der das Echo der nahen Felsen weckt; zugleich fallen die ersten schweren Tropfen aus dem Gewölke. Noch weilt der Hirsch im Holze, und es steht zu befürchten, daß das heranbrausende Wetter auch diesmal den Ansitz zu Nichte mache. Doch einen Augenblick später ist der Capitale, in dem hohen Feistzustande des Augustmonates prangend, „vertraut“ in’s Lichte vor das Holz getreten, dem Ansitzenden Gelegenheit zum besten Breitschusse bietend. Sacht hebt sich der Büchsenlauf des Schützen, und im nächsten Momente kracht der Schuß echohallend, dem des Himmels Donner in rollendem Crescendo sich gesellen. Jetzt entladen sich die vorüberwehenden Wolken mit einem heftigen Platzregen.

Wohl hat der Hirsch auf den Schuß ein sprechendes Zeichen in einer „Flucht“ (Satze) gemacht, aber er ist darauf „rennend“ durch die Dickung gebrochen; alles fernere Geräusch, daß er im Holze bald darauf zusammengestürzt oder schlecht getroffen weiter flüchtig geworden, ist durch das Toben des Gewitters selbst dem schärfsten Jägergehöre zu vernehmen unmöglich geworden. In größter Eile ist der Schütze auf dem Anschusse – jedes Zeichen erscheint von der Gewalt des strömenden Regens schon verwaschen. Wohl fällt Hirschmann den Gang des Hirsches an, und einen Moment zuckt der Jagdeifer durch die Seele des Oberförsters, den Hund zu lösen, aber auch ebenso schnell lenkt die innere Stimme des Waidmannes das Gemüth in die Geleise der Ruhe und Vorsicht ein. „Mit der ‚Nachsuche‘ bis morgen warten!“ ist die Losung für die nächste Frühe.

Der werdende Tag trifft die Jäger mit Hirschmann auf dem Anschuß, und der im Holze alsbald gelöste Hund ist mit dem Zuspruche seines Herrn: „Verloren, Hirschmann, such’!“ schnell im Dickicht verschwunden. Eine erwartungsvolle längere Pause folgt, nachdem man einige Augenblicke noch die Suche des durch das Holz dahin eilenden Hundes vernommen. Mit einem Male aber erschallt vom Felsgerölle her ein kurzes Lautgeben, dem ein langgezogenes Geheul folgt. „Hoho! gefunden!“ schallt der lakonische Ausruf Hirschpeters, der dem durch das Holz eilenden Oberförster flugs bis zum Felsgerölle gefolgt ist. Hier am Fuße eines stark vorhängenden Felsblockes liegt der capitale Vierzehner, beim Zusammenstürzen in das Geäste mit dem Geweihe noch so gehalten, daß es den lebhaften Anschein hat, als wolle er jeden Augenblick in seiner ganzen „Stärke“ (Größe) hoch werden. Ein überraschender Anblick, in welchem die beiden Männer des Waldes selbst, einige Augenblicke überwältigt, verharren bis sie des Hundes wiederholter Laut zu dem begeisterten Ausrufe weckt: „Ho, Hirschmann, brav gefunden! Du Meisterhund des Reviers!“

Adolf Müller.



Das erste Ständchen.

Mit den classischen Worten: „Schon die Alten kannten die Liebe“ begann, wie erzählt wird, ein zerstreuter Schulmann seine Abhandlung über die Lyrik der Griechen und Römer. Aber schon eine ansehnliche Reihe von Jahrtausenden vor Pindar und Ovid blühte die Kunst der Troubadoure auf Erden, und schon unter den allerersten Festlandthieren hat Dr. Scudder die Ueberreste eines ältesten Spielmannes entdeckt, welcher der jungen Welt, wahrscheinlich zum ersten Male, etwas vorgeigte.

In jenen grauen Zeiten, in denen noch ein allgemeines Meer das Erdenrund umfluthete, hatte die Natur außer dem Heulen der Winde, dem Brausen der Wellen und dem Donner der Wolken keine vernehmliche Stimme. Die Meerpflanzen flüstern nicht miteinander, und sollten auch einige Muscheln castagnettenartig mit ihren Schalen geklappert, einige Urkrebse drohend mit ihren Panzern gerasselt haben, das waren nur Geräusche, die mit der allgemeinen Wellensymphonie verschmolzen, keine Klänge, denen man mit Behagen hätte lauschen mögen. Selbst heute noch begnügen sich die meisten echten Wasserwesen – den „musikliebenden“ Delphin und die übrigen Wassersäuger rechnen wir zu den Luftthieren – mit einfachen, unmusikalischen Gehörswerkzeugen, denn noch immer ist die krystallene Fluth ein schweigender Schooß, in welchem sich Freud’ und Leid nicht mit hellem Lachen oder lautem Schmerzensschrei äußern, in welchem kein Ständchen gebracht und auch nicht nach Musik getanzt wird, wie uns „Flick und Flock“ glauben machen möchten.

Erst als Inseln und Festland emporgestiegen waren, Wasserthiere und Pflanzen einen ersten Versuch überstanden hatten, an Stelle der in Wasser aufgelösten Luft das reine Element zu athmen und in der dünneren Flüssigkeit zu schwimmen, da begannen die Blätter im Winde zu flüstern und die Thiere wurden inne, daß doch in dieser lichten Oberwelt Alles ganz anders schalle, als in dem blaugrünen Schooße, in dem sie ihre Jugendzeit verbracht hatten. Die Stammältesten der Insectenwelt waren die ersten Thiere, welche sich dem Luftleben vollkommen anzupassen [788] vermochten. Während das junge Wirbelthier nach kurzem Aufenthalte am Ufer immer von Neuem dem Wasser zueilte, hatten sich die Vettern der Urkrebse kaum überzeugt, daß sie mit ihrem harten Panzerkleide den austrocknenden Einflüssen der Luft prächtig widerstehen könnten, und daß die Landpflanzen einen reineren Geschmack hätten, als die Meeresalgen, als sie für immer dem mütterlichen Elemente Lebewohl sagten und zwei Paar Ruder in Schwingen umwandelten, um als vorläufige Alleinherrscher der Luft, vor verfolgenden Vögeln noch lange sicher, die Landschaft zu beleben. Diese Erstlinge waren Insecten, die zwischen Termiten und Heimchen ungefähr in der Mitte standen, sogenannte Urflügler, deren Kindeskinder ihr Ringelwurmdasein noch heute im Wasser beginnen, um mit später wachsenden Flügeln die Lüfte zu besuchen.

Die Wiesen und Felder jener Tage, deren Ernte ihnen Niemand streitig machte, das Jugendkleid der Erde, dessen Ueberreste wir Steinkohle nennen, zeigte ein einfacheres Aussehen, als das Prachtgewand, welches sich jetzt, in den Tropen mit einem farbenschimmernden Gürtel eingefaßt, um ihre Glieder legt. Es war noch nicht, wie heute, mit Blumen gestickt; Moose und moosartige Bärlapppflanzen bildeten den einförmig grünen Teppich der Wiesen, und riesenhaften Moosen glichen auch die höchsten Bäume der Steinkohlenwälder. Unter diese sogenannten Siegel- und Schuppenbäume mischten sich jene Pflanzen, welche heute unsere unfruchtbarsten Felder kennzeichnen, Farnkräuter und Schafthalme, zum großen Theile ebenfalls von baumartigem Wuchse. Wenn es erlaubt ist, jenen Riesenschafthalmen des jungen Insellandes ebenso rauhe Zweige zuzuschreiben, wie sie ihre Abkömmlinge besitzen und welche deshalb von den Hausfrauen in den guten alten Zeiten des Zinngeschirres zum Putzen desselben benutzt wurden, so glichen sie ohne Zweifel, wie wenige Pflanzen, jenem singenden Baume der Scheherazade, und der Steinkohlenwald muß im Winde eine wunderbare Musik entwickelt haben.

Und gar früh haben die Bewohner des Ton-Elementes dieses melodische Säuseln der Schafthalmbäume mit eigener ähnlich erzeugter Instrumentalmusik zu begleiten gewußt. Das hornartig harte Familiengewand dieser Thiere verführte, wenn es irgend rauhe Stellen darbot, zum Musiciren, wie ein Seidenkleid seine Trägerin zum durch die Säle Rauschen verführt. Und nirgends konnte ein Ruf oder Lockton erwünschter sein, als unter diesen im Naturbilde verschwindenden Wesen, die, in der Vorwelt nicht größer als heute, im Laube versteckt bleiben, so daß die Geschlechter einander kaum finden können, und nächtlich schwärmende Arten , z. B. die Johanniskäfer, sogar die Vorsicht gebrauchen müssen, wie Hero ein Licht anzuzünden, um ihrem Leander den Weg zu zeigen. Man kann sich daher mit Dariwn leicht vorstellen, wie sich die Anfänge eines musikalischen Apparates bei den Insecten durch natürliche Zuchtwahl bald vervollkommnen mußten, da nur die besseren Musikanten Aussicht hatten, eine Familie zu gründen.

Was nun die Entstehung der ältesten Musik anbetrifft, so wolle sich der geneigte Leser zunächst erinnern, daß an sich schwache Geräusche leicht zu einem hellen Tone anschwellen, wenn sie einander mit großer Schnelligkeit folgen. Wenn wir mit der Spitze einer Gänsefeder langsam über eine Feile oder über sehr fein chagrinirtes Papier hinwegfahren, so hören wir das Rasseln der einzelnen Töne, welches bei beschleunigter Bewegung erst in einen zirpenden, dann in einen schrillenden und endlich, wenn die Feile recht fein ist, in einen unerträglich gellenden Ton übergeht. Von ähnlicher Einfachheit war das Instrument der ältesten Musikanten. Betrachten wir eine der auf unseren Feldern und Wiesen während des Sommers in ungeheurer Masse musicirenden grauen oder grünen Feldheuschrecken, so bemerken wir mit der Loupe an der Innenseite der aufgestützten Hinterschenkel, da wo sie den Flügeldecken anliegen, eine Reihe sehr dichtstehender, zahnförmiger Erhöhungen, welche die sogenannte „Schrillader“ bilden, die, gegen eine erhabene Leiste der Flügeldecken gerieben, beim lebenden und todten Insecte den bekannten schnarrenden Ton hervorbringt. Es ist also ein echtes Geigenspiel auf zwei Instrumenten, mit dem sie das Weibchen locken. Die bald abwechselnd, bald gleichzeitig über die einzelne Saite geführten Schenkel entsprechen dem mit Colophonium rauh gemachten Bogen. Die näheren Verwandten der Feldheuschrecken, die Feldgryllen und die Heimchen unserer Wohnungen, besitzen ganz ähnlich gebaute Schrilladern auf der Unterseite der Flügeldecken, während die erhabene Leiste auf der Oberseite derselben liegt. Ihre beim Zirpen etwas emporgehobenen Flügeldecken dienen hierbei zugleich als Resonanzboden, indem sie wie die in der Luft geschwungene Guitarre den Ton verstärken. Bei den lautere Töne hervorbringenden Laubheuschrecken, zu denen der bekannte Liebling der Jugend, das große Heupferd gehört, kommt ein besonderer schallverstärkender Apparat hinzu, zur Geige gesellt sich das Tambourin. Die rechte Flügeldecke, welche bei ihnen stets unter der linken liegt, zeigt nämlich dicht an der Flügelwurzel ein zartes leicht schwingendes Häutchen, den sogenannten Spiegel, welcher von einem fünfeckigen Rahmen eingefaßt wird. Auf den Leisten dieses Rahmens geigt nun die Schrillader der darüber liegenden linken Flügeldecke und bringt so den durch das Tambourin verstärkten Ton hervor.

Schon jenes in den devonischen Schichten Neubraunschweigs von Scudder entdeckte Urinsect besaß diesen verbesserten Tonapparat, und wenn wir also im Frühlinge die Gryllen und Heimchen zum ersten Male vernehmen, so klingt in unserem Ohre das älteste Concertstück der Erde, eine vorweltliche Symphonie, wieder. Mit derselben noch etwas eintönigen Streichmusik wurden die jungen Fluren eingeweiht; bei ihrem Klange wuchsen später die Steinkohlenwälder, lange bevor das Lied der Singvögel die Fluren belebte. Es war kein seelenvoller aus froher Kehle erschallender Gesang, aber doch immerhin eine Aeußerung der Sehnsucht nach gleichgestimmten Seelen, das erste Ständchen der Natur. Die Weibchen dieser Thiere haben entweder gar keine, oder doch nur eine wenig ausgebildete Schrillader, die sie nie gebrauchen: so weit läßt sich die von den Singvögeln wie vom Menschen beobachtete Sitte zurückverfolgen, daß nur das starke Geschlecht Ständchen bringen geht, während das zartere den Tönen der Sehnsucht lauscht, um den guten Musikanten endlich zu erhören. Und dieser Ton, der in seiner unermüdlichen Andauer unserem Ohre zuletzt unerträglich wird, übt eine bestrickende Gewalt über die Weibchen, noch mit dem todten und künstlich zum Tönen gebrachten Männchen kann man sie locken, und Scudder betrog das Weibchen des an seinem Herde eingemietheten Heimchens sogar durch ein rohes, mit einer Feder auf einer Feile abgeraspeltes Liebesgezirp. Die Höhe des Schrilltones hängt von der Zahl der in einem bestimmten Zeitabschnitte an der Tonleiste vorbeigeführten Hervorragungen der Schrillader ab, also einerseits und hauptsächlich von der Dichtigkeit der letzteren, andererseits aber auch von der Geschwindigkeit des Anspielens. Da diese Spielgewandtheit bei den Urinsecten in gewissen Grenzen bleibt, obwohl die jüngeren und feurigeren Liebhaber sich in etwas höheren Tönen ausseufzen, so bleibt doch die Zahl der auf eine bestimmte Ausdehnung kommenden Rillen der Schrillleiste zunächst maßgebend, und aus ihr kann man deshalb, wenigstens annähernd, die Höhe des Liebesgezirps eines vorweltlichen Insects feststellen.

Bei Musikliebhabern setzt man selbstverständlich auch ein geschultes Ohr voraus, und neuere Naturforscher, wie Leydig, Siebold und Ranke haben daraufhin die Gehörorgane der ersten Musikanten untersucht. Wirklich konnten sie bereits in dem kleinen Kreise der Heuschrecken eine Fortbildung des Insectenohres nachweisen. Bei den Feldheuschrecken, welche nur schnarrende Töne mit ermüdender Ausdauer hervorbringen, fanden sie, ihrer Erwartung entsprechend, einen einfacheren, aus gleichlangen Schwingstäbchen gebildeten Apparat, der nur eine einfache Tonempfindung vermitteln kann, während die Laubheuschrecken, die mehrere und musikalischere Töne erzeugen, auch ein zusammengesetzteres Gehörsorgan mit ungleichlangen Schwingstäbchen aufweisen. Die Lage der Gehörsorgane ist übrigens eine ungewöhnliche und verschiedene, sofern sie bei den Feldheuschrecken über dem Ursprunge des letzten Fußpaares, bei Gryllen, Heimchen und Laubheuschrecken hingegen dicht unter dem Kniegelenke der Vorderbeine liegen.

Es ist übrigens wahrscheinlich, daß diese Erfinder der Streichmusik nicht nur jenes auch unter den Menschen beliebte Gesellschaftsspiel „Nach der Musik suchen“ üben, sondern auch durch ihr Geigenspiel einander vor drohender Gefahr warnen und andere Empfindungen mittheilen. Rösel von Rosenhof, der [789] Verfasser der „Insectenbelustigungen“, welcher uns die bissigen Feldgryllen mit Strohhalmen aus ihren Löchern zu ziehen gelehrt hat, erzählt, wie dieselben einst in seiner Schachtel, beim Nachhausetragen, ein so gellendes Angstconcert vollführten, daß er eiligst laufen mußte, um nicht der lieben Straßenjugend zum Gespötte zu werden. Aber dieser getreue Naturbeobachter erkannte bereits, daß es doch meistens Liebeslieder seien, welche diese kleinen Geiger zum Besten geben, und dieser Gedanke ist uns auch viel sympathischer, als wenn wir einen Musikanten uns vorstellen sollen, der, wie jener in die Bärengrube gefallene Baßspieler, die ganze Nacht aus purer Angst geigt.

Die ersten Verwandten der Gradflügler, welche in das Naturconcert mit einstimmten, dürften ihre muthmaßlichen Leibeserben, die Käfer gewesen sein, von denen einzelne ebenfalls ziemlich laute Streichmusik hervorbringen. Doch ist die Lage der Geige bei diesen Thieren meist eine andere; die Schrillader befindet sich gewöhnlich auf einem der Querringel des Hinterleibes oder der Brust, die sich, wie die Auszüge eines Fernrohres, auseinander- und zusammenschieben, wobei die Musik durch die Reibung gegen Brust- oder Flügeldecken hervorgebracht wird. Die bekannten Todtengräberkäfer tragen zwei solcher Schrillleisten auf dem fünften, breiteren Hinterleibsringe und benutzen dieselben vermuthlich, um ihre Brüderschaft zum Begräbnisse der kleinen Feldleichen, dessen sie sich mit so vielem Eifer unterziehen, herbeizurufen.

Am bekanntesten unter den zirpenden Käfern sind wohl die kleinen Lilienhähnchen und die oft sehr ansehnlichen Bockkäfer, die mit ihren langen, hörnerartig zurückgebogenen Fühlern, einem Steinbocke gleich, paradiren. Da bei ihnen Männchen und Weibchen besonders laut zirpen, wenn man sie angreift, so ist es wahrscheinlich, daß sie durch dieses sanfte Gebrüll den Angreifer in Schrecken zu setzen und in die Flucht zu jagen hoffen, ähnlich wie zankende Menschen einander durch Schreien den „Marsch blasen“. Merkwürdig erschien es nun, daß die kleinsten Bockkäferarten, wenn man sie angreift, genau dieselben, bei ihren großen Vettern das Zirpen hervorrufenden Auf- und Abwärtsbewegungen mit Kopf und Vorderbrust machen, ohne daß man den geringsten Laut vernähme. Prof. Dr. H. Landois in Münster, welcher die Untersuchung der Tonapparate bei Insecten und anderen Thieren zu seinem Specialstudium gemacht hat, und dessen unlängst erschienenem, jedem Naturfreunde dringend zu empfehlenden Buche über die „Thierstimmen[1] wir mancherlei Belehrung und Anregung zu dieser Schilderung verdanken, untersuchte nun einige dieser kleinen Bockkäfer genauer und fand sie nichtsdestoweniger ebenfalls mit Schrilladern begabt. Allein während der bekannte große Eichenholzbock (Cerambyx heros) auf seiner viertehalb Millimeter langen Schrillader zweihundertachtunddreißig Rillen besaß, zeigte der kleine rothhörnige Blüthenbock (Grammoptera ruficornis) auf einer wenig über den neunten Theil so langen Leiste bereits einhundertdreizehn Rillen, also auf eine gleiche Ausdehnung hin etwa viermal so viel als jener. In Folge dessen mag der Ton, welchen der kleine Bockkäfer hervorbringt, mehrmals so hoch sein, wie der des Eichenbocks, und das geht weit über unsern Horizont; wir hören die Drohungen des kleinen Schmähers nicht – es ist stumme Musik für unser Ohr.

Es mag gar viele Naturtöne geben, welche uns in ähnlicher Weise wegen ihrer Höhe entgehen. Das menschliche Gehör umfaßt die Töne von dreißig Doppelschwingungen auf die Secunde als tiefste, und bis zu fünfundzwanzigtausend Doppelschwingungen als höchste Töne. Aber nicht bei allen Menschen reicht die Empfänglichkeit des Gehörorgans so hoch hinauf, und wenn in einer Gesellschaft älterer Personen eine Stufenleiter immer höherer Töne hervorgebracht wird, so tritt endlich der Fall ein, daß sich Einzelne über das ohrschmerzende Gellen derselben beklagen, während Andere sie verwundert anblicken, da sie gar nichts mehr von denselben vernehmen. Ich selbst habe einen alten feinhörigen Herrn gekannt, der, wenn wir an Sommerabenden zusammen im Garten saßen und über das unerträgliche Geschrill der Laubheuschrecke sprachen, uns auslachte, da für sein Ohr eine vollständige Abendstille herrschte, ein Verhältniß, welches übrigens nach Wollaston’s Beobachtungen sehr häufig vorkommen soll. Die vor vielen Jahrzehnten ausgesprochene Vermuthung dieses Physikers, daß es Thiere geben könne, deren Lautäußerungen für immer dem Wahrnehmungsvermögen des menschlichen Ohres entrückt seien, hat Prof. Landois, wie wir sehen, auf das Glänzendste an den Bockkäferchen bestätigen können, und auch bei den Bienen-Ameisen (Mutilla) fand dieser Forscher Tonapparate, deren Schallwellen unser Ohr offenbar nicht mehr anregen können. So mögen vielerlei Naturstimmen dem Menschen, dessen Sinnen nur eine mittlere Empfindungssphäre zukommt, ebenso entgehen, wie die schnelleren Lichtwellen, die man dunkle oder chemische Strahlen nennt.

Zu den Geigern aus der Classe der Gradflügler hatten sich bereits im Steinkohlenwalde in den zu den Netzflüglern gehörigen Termiten und deren gefräßigen Verwandten Trommler und Tactschläger gesellt, die noch heute mit regelmäßigem Aufschlagen ihrer Kiefer einander Zeichen geben und sich locken. Der Todtenuhrkäfer, welcher mit seinem Ticktack schon so manches abergläubische Gemüth in Schrecken gesetzt hat, benützt also nur ein Verständigungsmittel, welches bereits die Insecten des Steinkohlenwaldes ausprobirt haben und welches von ihm wiederum die Klopfgeister gelernt zu haben scheinen. Statt uns zu erschrecken, ist die Todtenuhr vielmehr höchlichst geeignet, uns die Langeweile schlafloser Nächte zu verkürzen, sobald wir uns erinnern, daß der in unsern Möbeln klopfende Bursche ein liebebedürftiges Wesen ist, der eine Freundin bittet, ihm ein Zeichen zu geben, um sie in den dunkeln Gängen finden zu können, und sein Liebesgetrommnel fortsetzt, bis er Erhörung gefunden. Da die Weibchen Antwort klopfen, so können wir mit diesen Thieren leicht ein Gespräch anknüpfen, indem wir mit dem Zeigefingernagel abwechselnd mit ihnen auf das Holzwerk pochen und so durch ein Klopfduett ihrer Sehnsucht Nahrung geben. Gar mancher unserer modernen Spiritisten, der sich mit einem Geiste zu unterhalten glaubte, dürfte mit einem verliebten Käfer zu thun gehabt haben, und dieselbe Beobachtung ist es wohl, welche den alten Wahrsager Melampus in den Ruf gebracht hatte, die Sprache der Holzwürmer zu verstehen und sich mit ihnen unterhalten zu können.

Die ersten geflügelten Wesen, welche die junge Vegetation umschwirrten, scheinen durchweg nur Instrumental-, aber keine Vocalmusik geübt zu haben. Unter denn Patriarchen der Insectenwelt, den Gradflüglern, Netzflüglern und Holzkäfern, giebt es selbst heute kaum mit einer wirklichen Bruststimme musicirende Vertreter. Die Flötisten und Posaunisten im Naturconcerte, die Pfeifer und Fagottisten erschienen erst später. Wir wissen nicht, ob die Amphibien, welche als Erstlinge des Wirbelthierreiches die Gewässer der Steinkohlenwälder belebten, vielleicht diesem Mangel abgeholfen haben, es ist aber nicht wahrscheinlich, denn sie näherten sich mehr dem schweigsamen Geschlecht der Molche und Salamander, als demjenigen der geschwätzigen Frösche. Und gerade deshalb hat das Gezirp der Heimchen und Gryllen, der Feld- und Laubheuschrecken für den Naturkundigen einen so entschieden urweltlichen Charakter, und wir sind entschuldigt, daß wir uns von denselben auf ein Stündchen in vorsündfluthliche Träumereien einlullen ließen.

Carus Sterne.



Der Ultimus.
Ein Lebensbild von Ferdinand Dieffenbach in Darmstadt.

„Setz’ Dich, Liebig! Du bist ein Schafskopf.“

Der, welcher so sprach, war Herr Johann Justus Storck, Conrector am Gymnasium zu Darmstadt, ein gefürchteter Schulmonarch, der sich durch seine Ausgaben der Fabeln des Phaedrus und des Cornelius Nepos auch eine gewisse literarische Unsterblichkeit von kurzer Dauer im Kreise der hessischen Schuljugend erworben hat.

Der mit dem Titel „Schafskopf“ Beehrte war Justus [790] Liebig, der vierzehnjährige Sohn des Materialisten Georg Liebig zu Darmstadt. Liebig saß mit noch zwei Unglücksgefährten untenan, auf jenem Plätzchen, auf dem man in der Schule nicht minder große Qualen aussteht, als sie wohl jemals ein armer Teufel auf der Armsünderbank, dem man vor seinen Augen das Stäbchen zerbrach, erdulden mußte.

Der Conrector Storck hatte gerade seinen schlechten Tag, denn ebenso unbefriedigt schied er von dem unter Liebig sitzenden Jungen, Georg Gervinus,[2] dem dreizehnjährigen Sohne des Darmstädter Gerbers Gervinus.

Nun drohte sich das Unheil über dem Haupte desjenigen, der zu allerunterst saß, dem eigentlichen Ultimus, dem vierzehnjährigen Johann Jacob Kaup, gleichfalls einem Darmstädter Bürgersohn, zu entladen. Allein der Gestrenge zog es vor, statt diesen auf die Folter zu spannen, wieder zu dem jungen Liebig zurückzukehren.

„Was willst Du werden, Liebig?“

„Chemiker.“

„Dummkopf – was ist denn das!?“ entgegnete Herr Storck mit verächtlichem Achselzucken. „Seht Ihr,“ fuhr er fort, „Ihr drei seid unwürdig in die Hallen der Wissenschaft einzutreten. Köpfe habt Ihr zwar größer und dicker wie alle Anderen, aber der Spiritus fehlt darin. Spart Euch die Mühe und Euren Eltern das schöne Geld! Liebig, Dein Latein reicht gerade aus zum Apotheker; Du, Gervinus, kannst weder Latein noch Deutsch, und Du, Kaup, kannst überhaupt gar nichts.“

In der That wurde Liebig – es war im Jahre 1814 – bald darauf zu einem obscuren Apotheker in Heppenheim in die Lehre gethan, und Gervinus wurde Lehrling in dem in Darmstadt noch bestehenden Ellenwaarengeschäfte von G. Schwab. Einige Jahre länger hielt es Kaup aus, wiewohl auch er die Anstalt nicht absolvirte.

Alle Drei sind in der Folge hochberühmt geworden, dem Conrector Storck aber bleibt der Ruhm, die drei größten Männer, welche überhaupt noch auf den Bänken des Darmstädter Gymnasiums saßen, für Dummköpfe erklärt zu haben.

Der Conrector Storck war sicher kein Genie, aber auch einem klügeren wäre es möglich gewesen, die drei späteren großen Gelehrten als Knaben zu unterschätzen. Es ließe sich ein eigenes Capitel über das Thema schreiben: „Das Genie auf der Schulbank.“ Die Genies bilden bekanntlich eine verschwindende Minderheit. Unsere Schulanstalten sind nicht dafür bestimmt, diese vereinzelten Genies aufzusuchen und ihre speciellen Fähigkeiten zu entwickeln, sondern sie sind für die große Zahl der Durchschnittsmenschen berechnet, und ihre Aufgabe ist es, diese in den Schulwissenschaften möglichst weit vorwärtszubringen. Das Genie aber empfindet in der Jugend nur die Befähigung für sein Fach, und erst später greift es auf andere Gebiete hinüber. Es ist eine gewisse einseitige, aber dafür um so kraftvollere Entwickelung der Geistesfähigkeiten nach der Seite des Faches hin, für welches es bestimmt ist, vorhanden. Daher sind dem Genie die Schulwissenschaften nicht immer der Weg, der zu dem ersehnten Ziele der Fachwissenschaft führt, sondern das Hinderniß, das es beseitigen soll, ehe es zu demselben gelangen darf. So kann’s kommen, daß ein mittelmäßig begabter, aber braver, fleißiger Junge, dem wir später in unbedeutender Stellung begegnen, als Primus der Classe und das Genie eines Liebig als Ultimus figurirt. Eine klägliche Rolle aber spielt dem nüchternen Schulmann gegenüber der phantasievolle Dichter, der, um in die Welt zu passen, einen Lebensberuf erwählen muß, zu dem er aber, er, der mit Zeus im Himmel lebt, selten recht passen will. Einer unserer ersten Romanschriftsteller gestand mir einst, daß es ihm als Gymnasiast nicht besser wie Liebig, Gervinus und Kaup ergangen sei, und von Vater Goethe, auf den heute jede Facultät stolz sein könnte, weiß man, daß er zu Straßburg im Doctorexamen durchfiel.

Wir schreiben diese Einleitung zum Troste der Eltern, deren Buben nicht recht auf der Schulbank vorwärtskommen. Zwar wird nicht aus jedem Ultimus ein Liebig, Gervinus oder Kaup, aber es ist doch Hoffnung vorhanden, daß, wenn ein Beruf für ihn erwählt wird, der seinen speciellen Befähigungen entspricht, noch ein ordentlicher und tüchtiger Mann aus ihm wird, der sich in seinem Kreise hervorthun und auszeichnen kann. Das Leben wird immer vielgestaltiger und mannigfaltiger und jede Befähigung, auch diejenige, welche sich innerhalb ganz enger Grenzen bewegt, kann zum Nutzen des Ganzen verwendet werden und Ehre und Geld einbringen. Einer meiner Jugendfreunde, der nie ein Examen machte und an dem Hopfen und Malz verloren schien, wurde, sobald er nur einige Anfangsgründe der Chemie kannte, auf eine anscheinend unbedeutende technische Frage aufmerksam, die ein Professor zu berücksichtigen nicht der Mühe werth gefunden hätte. Unbekümmert um schlechte Schulzeugnisse und Examina, lebte er nur für seine Lieblingsidee, und es gelang ihm, eine Erfindung zu machen, die sich von solcher Tragweite erwies, daß sie ihm jährlich viele Tausende einträgt.

Es gehört mit zur Bestimmung der „Gartenlaube“, Vorurtheile zu zerstreuen. Vorurtheile gegen einzelne Individuen entspringen aber gar zu häufig in der Schule. Unsere Schulmeister rühmen sich zwar, Königgrätz und den französischen Krieg gewonnen zu haben, aber wie manches Talent haben sie auch schon geschädigt und verkannt, wie manches Vorurtheil ist schon entsprungen durch unüberlegte Bemerkungen dünkelvoller Schulfüchse! Ein gewisser Kaiser hielt jeden für einen Räuber und Mörder, der mit seiner verballhornten griechischen Grammatik nicht zurecht kam. Mancher hat zeitlebens an solchen Vorurtheilen zu tragen. Eines dieser Vorurtheile ist dasjenige, welches sich häufig dem Ultimus anheftet, und um dagegen anzukämpfen, haben wir uns Ultimus Kaup zu unserer Schilderung auserwählt.

Im Jahre 1821 bezog Kaup die Universität Göttingen, die er bald enttäuscht wieder verließ, denn in dem berühmten Blumenbach erkannte er eine bedeutungslose Persönlichkeit, deren Grimassen und Hanswurstiaden nur für die Unterhaltung des zahlreichen gut zahlenden Auditoriums berechnet waren. Mit wenigen Gulden in der Tasche machte er sich auf den Weg nach Holland und fand einen gutmüthigen Schiffer, der ihn eine große Strecke rheinabwärts unentgeltlich mitnahm. Dort, in Leyden, war es, wo Temmink, der berühmte Director des großen Museums daselbst, sich des wissensdurstigen Jünglings annahm. Mit Ausbalgen von Thieren und Vögeln erwarb sich dieser seinen Lebensunterhalt, und als er, zweiundzwanzig Jahre alt (1825), in seine Vaterstadt zurückkehrte, war er ein Mann von reichem Wissen und unermüdlichem schöpferischem Streben. An dem Naturaliencabinete, dessen Inspector er nach einigen Jahren wurde, fand er eine Anstellung, und in der Folge verdankte ihm die Wissenschaft eine Fülle von Entdeckungen, die seinen Namen bei den Gelehrten aller Welttheile bekannt machten. Wiederholt hielt er sich später in Frankreich und England auf. Wissenschaftliche Koryphäen wie Owen, John Gould, John Edward, George Gray, Falconer Enneskillen und der Earl of Derby zählten zu seinen Freunden, und in Neuseeland benannte der berühmte Geolog Dr. Julius Haast in Christ-Church einen Berg ihm zu Ehren „Mount Kaup“. Das Darmstädter Naturaliencabinet, vorher in den Händen eines Oberforstrathes, für welchen die Wissenschaft ein verschlossenes Buch war, wurde durch ihn, namentlich durch seine paläontologischen Funde und Entdeckungen, zu einem der ersten des Continents, und noch heute kommen Naturforscher aus weiter Ferne, welche seine prachtvolle Sammlung vorsündfluthlicher Thiere benutzen. Als redende Zeugen der Größe Kaup’s stehen hier die gewaltigen Gerippe des in Eppelsheim aufgefundenen Dinotheriums, des Mastodons, des Halitheriums, des Mammuth und anderer Riesenthiere der Vorwelt.

Eine reiche wissenschaftliche Literatur verdanken wir Kaup und „von keinem anderen Zoologen,“ schreibt Professor Röder in Heidelberg, „kann in neuer Zeit gesagt werden, daß er wie er von früher Jugend bis zu seinem vollendeten siebenzigsten Jahre mit so beharrlichem Fleiße und solchem so überaus seltenen vergleichenden Scharfsinn nach und nach die ganze Thierwelt der eingehendsten Forschung unterzogen.“ Gleich [791] seinen Schulfreunden Liebig und Gervinus war er anerkanntermaßen ein Gelehrter und Forschergeist ersten Ranges. Seinen Darmstädter Landsleuten ist dieses nie recht klar geworden, ein Umstand, der zum Theil in einem bekannten Sprüchworte, zum Theil aber auch darin seine Erklärung findet, daß seine Wissenschaft nicht so unmittelbar in das praktische Leben eingreift wie die Chemie und daß sie der großen Masse der Gebildeten nicht so nahe liegt wie die Geschichte.

Der Umstand, daß das von Kaup bebaute wissenschaftliche Gebiet dem großen Publicum allzufern liegt, hindert uns auch auf seine wissenschaftlichen Leistungen näher einzugehen, nur eins sei hier gesagt: die Thatsache, daß wir in ihm einen deutschen Vorgänger Darwin’s vor uns haben, welcher dem englischen um viele Jahrzehnte voraus war, erregt heute, wo die Darwin’sche Theorie so viel von sich reden macht, ein allgemeineres Interesse. Im Jahre 1829 erschien von ihm eine kleine Schrift: „Skizzirte Entwickelungsgeschichte der europäischen Thierwelt“ – ein Werk, worin der später von Darwin verfochtene Gedanke einer Entwickelung höherer aus niederen Thierarten in einer Anzahl parallel laufender, vom Amphibium an durch die Vogelwelt hindurch bis zum Säugethier aufsteigender Reihen dergestalt bis in’s Einzelne durchgeführt war, daß diese geistreiche, von genauester Sachkunde zeugende Arbeit sicherlich das größte Aufsehen erregt haben würde, wenn der Verfasser ein Ausländer gewesen wäre, oder wenn englische und französische Naturforscher damals sich in dem Maße wie heutzutage mit der wissenschaftlichen Literatur unseres Vaterlandes beschäftigt hätten.

Später, vom Jahre 1848 an, verwarf er auf Grund reiferer wissenschaftlicher Kenntnisse und Erfahrungen diese seine frühere Ansicht auf das Entschiedenste und in Briefen an Professor Leonhardi zu Prag 1871 erklärte er seine „Entwickelungsgeschichte“ für eine Jugendsünde. „Es giebt körperliche Epidemien,“ sagt er „die, wie Pest, Cholera und Blattern, wie ein Wunder in der Welt liegen und ganze Welttheile anstecken; allein es giebt auch geistige Epidemien wie Autodafés, Hexenprocesse, Bluthochzeiten, Infallibilitäten, Tischrücken, Homöopathie, Gall’sche Schädellehre und die Lehre von Transmutationen und dem den Giraffenhals verlängernden Kampf um’s Dasein. Statt zu sagen: ‚in den Giraffen tritt der Vogeltypus auf, wie bei der Hyäne, dem Faulthiere, der Fledermaus, den Pitheciden (Orang, Chimpanse, Gorilla), und es ist deshalb ganz natürlich, daß die vorderen Extremitäten höher entwickelt als die hinteren sind,‘ nimmt man lieber Wunder an und glaubt, daß ein kurzhalsiges Thier mit kurzen Vorderbeinen durch den stetigen Gebrauch immer länger und länger geworden sei. Gnade der Zoologie, Botanik, Mineralogie, Anatomie und Chemie, wenn ein solcher Unsinn sich weiter Bahn brechen könnte.“

Dieser Widerruf Kaup’s ist natürlich für die Wissenschaft nicht maßgebend, dem großen Publicum kann er aber eine Mahnung zur Besonnenheit sein. Bei Kaup ist es anzuerkennen, und er hat diese Tugend mit seinem Jugendfreunde Liebig gemein, daß er frühere, von ihm später als irrig erkannte Meinungen ungescheut und rückhaltslos widerrief. Ein Ruhm aber muß ihm noch bleiben, der nämlich, daß er zu einer Zeit, wo wissenschaftliche Vorurtheile und phantastische Hypothesen manchem Gelehrten Ruhm und Ansehen verliehen, gleich seinem Freunde Liebig durch Anwendung strenger analytischer Methoden zu einer rationellen Entwickelung der zoologischen Wissenschaft den Grund legte.

Kaup starb am 4. Juli 1873, siebenzig Jahre alt, nach kurzer Krankheit.

Möge ihm, dem Todten, seine Vaterstadt die Anerkennung zu Theil werden lassen, die sie dem Lebenden versagt hat! Man sammelt schon seit längerer Zeit in Darmstadt zu einem Liebig-Denkmal. Wäre es nicht geeigneter, die drei großen Söhne Darmstadts, die drei Jugendfreunde Liebig, Gervinus und Kaup, durch ein gemeinsames Denkmal zu ehren? Diese Anregung dient vielleicht dazu, in der Heimath und im Ausland an diese Ehrenpflicht zu mahnen. Wir schließen mit dem Ausspruche eines gefeierten deutschen Naturforschers, mit Georg Forster’s Worten: „Der Nachruhm ist das eigentliche Erbe der wenigen Edlen. Oft zündete die Ehre, die man dem Andenken eines großen Mannes weihte, den Funken des Genius in einem anderen Busen an, und ein Zeitalter, welches bei den Verdiensten eines großen Mannes schweigt, verdient die Strafe, daß es keinen ähnlichen Mann aus seiner Mitte hervorbringen kann.“




Deutsche Erfolge auf amerikanischem Boden.


Nr. 2. Kunst und Industrie.


Von der Volkserziehung durch die Presse zur Volkserziehung durch das öffentliche Schulwesen ist nur ein Schritt. Wie in jener werden wir auch in dieser des deutschen Einflusses auf amerikanischem Boden überall in erfreulicher Stärke gewahr, wo das Bevölkerungselement, von welchem er auszugehen hat, stark und geeinigt genug ist, um ihn mit dem nöthigen Nachdrucke zu üben. In erster Reihe ist dies in jenen großen und größeren Städten der Fall, von denen bereits gesprochen wurde. Und so sind vornehmlich auch sie es oder doch die meisten von ihnen, in denen es im Laufe der Jahre gelungen ist, dem Lehrplane der öffentlichen Schulen den deutschen Sprachunterricht einzuverleiben und darin zu erhalten. Darin zu erhalten – denn allen guten Erfolgen zum Trotze darf es nicht verschwiegen werden, daß nicht nur die Errungenschaft an sich ein Gegenstand und ein Ziel langer und lebhafter Kämpfe gegen die englisch sprechende und nativistisch-amerikanisch denkende Majorität war, sondern daß auch ihre Sicherung und Wahrung nur der Preis beständiger Wachsamkeit und stetiger Bereitschaft zu neuem Kampfe ist. Haben wir doch jüngst erst in New-York – der Zusammensetzung seiner Bevölkerung nach der drittgrößten deutschen Stadt, die es überhaupt giebt – erleben müssen, daß seitens einer Yankee- und Irländermajorität in der städtischen Schulbehörde der Versuch gemacht wurde, den seit Jahren in öffentlichen Volksschulen der Stadt eingeführten deutschen Unterricht durch einen ebenso geschickt wie geheim geplanten Act der Ueberrumpelung zu beseitigen.

Der Handstreich mißlang. Er mißlang dank der Schlagfertigkeit, mit welcher das deutsche Mitglied des Schulraths dem augenblicklichen Ansturme zu begegnen verstand, und dank der Entschiedenheit und Nachdrücklichkeit, mit der das gesammte New-Yorker Deutschthum erst durch seine Presse, dann aber und vornehmlich durch eine großartige Massenversammlung gegen diese Vergewaltigung Einsprache erhob.

Nicht minder rühmlich und erfreulich ist, was sich uns auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Kunst darstellt. Auf Schritt und Tritt begegnen wir deutscher Geistesarbeit und ihrer Einwirkung. Sind doch, um aus der Fülle der Beispiele nur einige herauszugreifen, die vornehmsten ärztlichen Namen des Landes (und unter ihnen wieder in vorderster Reihe die von jenen Männern, welche sich durch Gründung des New-Yorker deutschen Hospitals auch zu Wohlthätern der Allgemeinheit gemacht haben) deutschen Klanges. So starb vor drei Jahren ein Franz Lieber vom Columbia-College, einer der hervorragendsten Geschichts- und Rechtslehrer der Union. Und so war einer der größten Civil-Ingenieure, die noch in den Vereinigten Staaten der Kühnheit ihrer Pläne zeitentrotzende Denkmale errichten durften, jener Thüringer Johann Röbling, welcher die Ueberspannung des Niagara erdachte und bei seinem 1869 erfolgten Tode im Riesenwerke der Ueberbrückung des Eastriver-Meerarmes einen Torso, doch neben demselben auch einen Sohn zurückließ, der des Vaters Weltwunder zu vollenden versteht.[3]

Was aber die helikonischen Schwestern anbelangt, so hat bisher keine derselben in der neuen Welt so große und so absolute Eroberungen gemacht, wie die Musik. Und gerade sie liegt ausschließlich in deutschen Händen. Und gerade sie hat [792] deutschen Talenten das weiteste, stolzeste und unbestrittenste Eroberungsfeld auf amerikanischem Boden erschlossen. Sie haben so gut wie keinen Mitbewerb aufkommen lassen, diese deutschen Talente. Seit Jahren haben sie allen italienischen Opern und allem Bostoner Jubiläenspectakel zum Trotze das maßgebende Wort gesprochen, bis endlich auf dem Boden, den so geniale Vorkämpfer wie Karl Anschütz, E. Sobolewsky und Karl Bergmann geebnet hatten, eine Dirigentenerscheinung wie die von Theodor Thomas möglich wurde. Aber selbst trotz so unschätzbarer Vorarbeiten waren es keine kleinen Kämpfe, welche dieser unübertreffliche musikalische Organisator zu bestehen hatte, ehe er endlich aus seinem Orchester eine ständige Schöpfung machen konnte, und es heißt durchaus nicht dem idealen Streben des Mannes zu nahe treten, wenn man seiner professionellen Ausdauer und seinem geschäftlichen Unternehmungsgeiste die ganze Anerkennung zollt, welche sie verdienen. Denn nur die Vereinigung von Beidem konnte hier zu Lande das zuwege bringen, was Thomas zuwege gebracht hat – auf dem Flügelpferde allein hätte Orpheus selbst auf die künstlerische Eroberung der anglo-amerikanischen Welt verzichten müssen. Theodor Thomas’ Name ist heutigen Tages der des ersten Musikrepräsentanten der Vereinigten Staaten, ihres musikalischen Erziehers und Bildners. Was er im Laufe des letzten Jahrzehntes geleistet, füllt ein bedeutsames Blatt in der geistigen und ästhetischen Entwickelung dieses Landes überhaupt. Neben aller Richtung auf das Praktische eine echte und vornehme Künstlernatur, hat er Amerika nicht nur der Classik Beethoven’s und Schumann’s unterthan gemacht, sondern auch im Vollbewußtsein der unfehlbaren technischen Hülfsmittel, die er in seinem Orchester beherrscht, Wagner, Liszt und Rubinstein auf diesem Boden das Bürgerrecht erkämpft.

Den Sommer hindurch, während dessen er allabendlich im eigens hierzu errichteten luftigen Garten- und Saalbaue die beste New-Yorker Gesellschaft zu sogenannten populären Concerten versammelt, gehört er der Metropole allein an. Während des Winters muß sie sich mit einer bestimmten Anzahl Symphoniesoiréen begnügen, um den Löwenantheil an seiner Thätigkeit den anderen Großstädten des Landes zu überlassen für welche sein und seines Orchesters gastweises Erscheinen dann stets die Bedeutung von Musikfesten im großen Style gewinnt. Und wie tiefe Wurzeln der Einfluß unseres deutschamerikanischen Meisters edelster Tonkunstpflege nachgerade im ganzen Lande geschlagen hat, dafür legt die eine Thatsache das beredteste Zeugniß ab, daß selbst in dem der großen Herbstkrisis von 1873 folgenden Winter von allen Kunstunternehmungen die seine die einzige war, welche keine materielle Einbuße erfuhr.

Doch nicht nur die tönende Kunst borgt sich in der Union ihre mehr oder minder tonangebenden Namen aus den Reihen des eingewanderten Deutschthums, auch ihre bildende Schwester hat sich, wenngleich nicht so ausschließlich, zu ähnlicher Anleihe genöthigt gesehen. Sie hat ihren ersten Historienmaler und ihren, wenn auch nicht ersten, doch immerhin ausgiebigsten Landschafter aus demselben Deutschland wie ihre Heerführer im Bereich der ausübenden Musik bezogen. Emanuel Leutze und Alfred Bierstadt, die beiden Namen haben einen kosmopolitischen Klang. Leutze, der als vierjähriger Knabe mit seiner Familie nach den Vereinigten Staaten kam, kehrte als Fünfundzwanzigjähriger nach Deutschland zurück, um ihm als eines der hervorragenden Mitglieder des Düsseldorfer Künstlerbundes von 1841 bis 1858 anzugehören. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens – er starb 1868 – verbrachte er wieder in seiner amerikanischen Adoptivheimath, nach der ihn Aufträge umfangreichster und ehrenvollster Art zurückberufen hatten. Aber sein Bestes schuf er doch am Rhein, und vor allen Dingen war es jenes Werk historischer Darstellung, das sich in Amerika einer vom vornehmsten Palast bis zur niedrigsten Hütte, von New-York und Boston bis in die fernsten westlichen Lager reichenden Volksthümlichkeit erfreut, „Washington’s Uebergang über den Delaware“, welches er im Jahre 1851 als künstlerische Weihegabe dem Lande seiner Wahl über das Weltmeer sandte. Auch Bierstadt, ein geborener Westphale, kam in zartester Jugend nach den Vereinigten Staaten. Doch auch er wandte, wie Leutze, sich nach Deutschland zurück, als es galt, seiner natürlichen Begabung das künstlerische Können zu erobern. Diese Studienjahre (1853 bis 1857) trugen ihm reiche Ernte. Nach Amerika zurückgekehrt, theilte er, ein echter Schatzjäger und Pfadfinder seiner Kunst, sein Leben zwischen Reisen nach dem fernen und fernsten Westen und der farbigen Wiedergeburt dessen, was er dort erschaut und in sich aufgenommen. So entstanden seine Riesenbilder aus den Rocky Mountains und den californischen Sierras, welche, in der alten wie in der neuen Welt gekannt, neben der lebhaftesten Bewunderung auch mannigfache Verneinung hervorriefen, jedenfalls aber Alles thaten, nur nicht gleichgültig ließen.

Es könnten noch andere deutsch-amerikanische Künstlernamen genannt werden, welche, wie die des geistvollen Washingtoner Malers Theodor Kaufmann, des New-Yorker Bildhauers Georg Heß und der beiden hervorragendsten Carricaturenzeichner des Landes, des Pfälzers Thomas Nast[WS 2] und des in wenigen Jahren zu einer Berühmtheit seines Faches herangediehenen Wieners Joseph Keppler, längst auch in transatlantischen Kunstkreisen gekannt und geschätzt sind. Es sei mit diesen genug! Große materielle Erfolge sind den deutsch-amerikanischen Künstlern freilich nur ganz ausnahmsweise geworden. Wollen wir diese als Lohn deutscher Ausdauer und deutscher Fachtüchtigkeit auf amerikanischem Boden sehn, so müssen wir uns schon jenen praktischeren Berufen zuwenden, welche in erster Reihe auf dem Gebiet des geschäftlichen[4] Betriebes erblühen. Glücklicher Weise schließen dieselben das künstlerische Element nicht grundsätzlich aus. Es treten uns vielmehr gerade in ihrem Bereiche zwei auf das Glänzendste entwickelte Zweige kunstindustrieller Thätigkeit entgegen, deren amerikanische Vertreter trotz alles numerischen Uebergewichts, das sie ursprünglich hatten, es nicht haben verhindern können, daß sich deutsche Concurrenten in unbestrittenster Weise an ihre Spitze gestellt haben: der Pianobau und die Photographie.

Man weiß in Europa sehr wohl, was die amerikanische Clavier-Fabrikation zu bedeuten hat. Die Londoner und Pariser Weltausstellungen von 1862 und 1867 haben es gelehrt. Zugleich lehrten sie aber auch, daß es schon damals eine deutsche Firma war, die, allen amerikanischen Mitbewerb überflügelnd, seit Mitte der fünfziger Jahre nicht nur das größte Geschäft dieser Art in den Vereinigten Staaten, sondern in der Welt überhaupt aufgebaut hatte. Dennoch sind die Steinway’s – denn von ihnen ist hier die Rede – keineswegs die einzigen deutschen Clavierbauer der Union, deren zu gedenken ist, wenn von diesem großartigen Kunstindustriezweig der neuen Welt gesprochen wird. Unter allen den Firmen, welche neben ihnen den Pianofortemarkt Amerikas beherrschen, W. Knabe u. Comp., Gebrüder Decker, Steck u. Comp., Albert Weber und Chickering, sind nur die Letztgenannten Amerikaner, – sie allerdings ihrem Lande und ihrem alten Namen die höchste Ehre machend. Ein Verdienst aber haben die Steinway’s allein in Anspruch zu nehmen, ein Verdienst um das New-Yorker und mit ihm um das amerikanische Musikleben überhaupt: den Bau jenes berühmten Concertsaales – der Steinway Hall – an der vierzehnten Straße, in welcher die Tonkunst der Metropole seit Ende der sechsziger Jahre ihre vornehmste, um nicht zu sagen, ihre ausschließliche Heimstätte besitzt. Er bildet gewissermaßen die ideale Krönung eines geschäftlichen Baues, welcher auch ohne dieselbe um so mehr zu bewundern gewesen wäre, als er das Werk einer so kurzen Zeit war. Denn erst in der Mitte der fünfziger Jahre geschah es, daß die aus Braunschweig Eingewanderten in New-York in den kleinsten Verhältnissen auf eigene Rechnung zu arbeiten begannen, um seitdem diese dürftigen Anfänge zu einer Geschäftsblüthe heranwachsen zu sehen, von deren Großartigkeit die nachstehenden Zahlen – und was spräche in derartigen Fällen deutlicher als gerade Zahlen? – einen ungefähren Begriff geben. Die Anzahl der Instrumente, welche bis zum April dieses Jahres aus dem Steinway’schen Etablissement hervorgegangen waren,

[793]

Der Wilhelm Kurtz’sche Neubau in New-York.

betrug 34,000. Sechszig werden in neuerer Zeit per Woche geliefert. An ihrer Fertigstellung arbeiten 1100 Werkleute der verschiedensten Art, – 700 in der riesigen New-Yorker Fabrik, etwa in den Hülfswerkstätten zu Astoria. Diese letzteren bilden den Mittelpunkt eines Anwesens, das in der unmittelbaren Nachbarschaft der Stadt 380 Acres bedeckt und auf dem sich, zugleich mit eigener Schule, eigenen Communicationsmitteln und sonstigen gemeinnützigen Anstalten ausgerüstet, eine besondere Arbeiterstadt erhebt, welche den Werkleuten der Firma und ihren Familien für alle Zeit gesunde, behäbige und billige Wohnungen bietet. Die New-Yorker Fabrik endlich nimmt mit ihren himmelhohen Baulichkeiten, Maschinenhäusern, Holzhöfen und Lagerräumen fünf volle Acres ein, und das in einem Theile der Stadt, wo Grund und Boden einen Werth haben, welcher jenem der werthvollsten Lagen von Paris und London kaum nachstehen dürfte.

Und nun zum Schluß zur Photographie, zu ihrer Camera obscura und mit ihr zu einem weiteren deutschen Erfolge auf amerikanischem Boden, der Alles, nur nicht obscur ist, sondern sich vielmehr soeben das hellste und weithin sichtbarste Zeugenmal mitten im Herzen der Eleganz der Metropole der neuen Welt errichtet hat! Es ist die photographische Anstalt von Wilhelm Kurtz am Madison-Square, dem derzeitigen Mittelpunkt des New-Yorker vornehmen Lebens und aller mit ihr zunächst in Verbindung stehenden Geschäftsbetriebe, von welcher die Rede sein soll.

[794] Selbst im Prater, gelegentlich der großen Weltausstellung des Jahres 1873, war unser wackerer Landsmann seinen europäischen Collegen und Preisrichtern kein Fremder mehr; sie gingen in der Anerkennung des seltenen Vereins künstlerischer und technischer Gediegenheit seiner Arbeiten so weit, der Regel, welche die Verleihung einer doppelten Auszeichnung an einen und denselben Aussteller verwehrte, entgegen, für ihn eine Verbindung der industriellen Fortschritts-Medaille mit der eigens für die Kunstgruppe bestimmten Geschmacks-Medaille zu beschließen. Sie kannten ihn bereits vom Pariser Marsfelde her, wo er 1867 New-York (von jeher ein Paradies der Photographen, dieser echtesten „Schwarzkünstler“ unserer Tage) in würdigster Weise vertreten und seinen ersten großen Erfolg eingeheimst hatte. Aber welch ein Zeitraum sind für einen rastlos Vorwärtsstrebenden in Amerika sechs Jahre! Unserm deutschen Schwarzkünstler hatten sie genügt, um seinen bescheidenen Anfang in der Bowery gegen eine stattliche, mit jedem Jahre sich mehr und mehr ausdehnende Kunstwerkstätte am oberen Broadway zu vertauschen, und als selbst diese, obwohl bereits die umfangreichste der Stadt, sich nicht mehr hinreichend erwies, einen eigenen Bau in jenem bereits charakterisirten Mittelpunkte der Metropole zu errichten, wie ihn die Photographie bisher weder auf dieser noch auf der andern Seite des Oceans besessen. Ein derartiger Erfolg kann jedes besonderen Lobes entrathen. Es genügt, den Weg zu bezeichnen, der in so kurzer Zeit zurückgelegt worden, um das Beste und Bezeichnendste, was sich über ihn sagen läßt, gesagt zu haben.

Der Kurtz’sche Neubau – von dem gelegentlich seiner Eröffnung nicht nur die gesammte New-Yorker Presse, sondern auch eine Anzahl hervorragender Blätter Deutschlands eingehend und anerkennend Notiz nahmen – der Kurtz’sche Neubau erstreckt sich über eine Baufläche von fünfzig Fuß Breite und zweihundert Fuß Tiefe. Der vordere, in Eisen und Glas ausgeführte Theil des Gebäudes, dessen seiner artistischen Bestimmung nicht unentsprechend phantastische Front zu einer Gesammtfläche von fünfundsiebenzig Fuß aufragt, dient, mit Ausnahme des Erdgeschosses, in allen seinen Räumen ausschließlich der Schwarzkunst seines Eigenthümers.

Das erste Stockwerk, zu dem ein äußerst geräumiges Treppenhaus emporführt, enthält die Empfangslocalitäten und die Geschäftsbureaux, das zweite und dritte, mit ihren breiten gläsernen Ausbauten und einfallenden Lichtern, die Ateliers nebst deren Zubehör von Toilette- und Wartezimmern, Alles in prächtigster und geschmackvoller Ausstattung, mit dem verschiedenartigsten Aufnahmezubehör und reicher bildlicher Ausschmückung, darunter verschiedene Köpfe, welche uns lehren, den Hausherrn auch in seinem ursprünglichen Berufe, dem eines Portraitmalers, zu schätzen. In der Mitte des Gebäudes und von dem Geschäftstheile desselben durch die eigentlichen geheimen Werkstätten, die bekannten finsteren Kammern, die Druckerräume, die chemischen Vorrathsgelasse etc. geschieden, erhebt sich durch zwei Stockwerke ein großer Ausstellungssaal für Gemälde und Zeichnungen. An diesen sich anschließend, erstreckt sich nach der rückwärts liegenden Straße und mit seinem Haupteingang von dieser her das Clubhaus des New-Yorker „Malkastens“, des Künstlerclubs „Palette“ mit seinen Restaurations-, Gesellschafts- und Studienräumlichkeiten. Der Ausstellungssaal (Kurtz’ Art Gallery) mit seinen stattlichen Raumverhältnissen, seinem bequemen Eingange und tadellosen Oberlichte ist ohne Zweifel die beste Anlage dieser Art in der Stadt und offenbar berufen, in nicht zu ferner Zeit für ihre Malercolonie dieselbe Rolle zu spielen, wie die Steinway-Hall in ihrem Musikleben. Eine in ihr zur Feier der Uebersiedelung der „Palette“ abgehaltene Ausstellung bot die Gelegenheit, die neue Kunsthalle alsbald in ihrer künftigen Bestimmung zu erproben. Diese Probe fiel ausgezeichnet aus, und mit Recht sagte damals der „New-York Herald“, sicherlich das letzte amerikanische Blatt, welches sich ohne die zwingendste Nöthigung zur Anerkennung eines deutschen Unternehmens herbeiläßt: „W. Kurtz hat Alles gethan, was gethan werden konnte, um seinen Bau zu Dem zu machen, was er sein soll und sein wird – zum Kunstmittelpunkte von New-York.“ Und wenn es nicht der „Herald“ gewesen wäre, hätte das Blatt hinzufügen können: „Und zu einem der rühmlichsten Zeugenmale deutscher Fähigkeit und deutscher Ausdauer auf amerikanischem Boden.“

New-York, 1875.

Udo Brachvogel.




Judas, der Erzschelm.


Eine Charakterstudie.


Armer Ischarioth! Wie ist es dir nach deinem unseligen Ende im Laufe der Zeiten ergangen – welche Wandlungen hast du erlebt! Keine Ruhe haben sie dir gelassen in deinem selbstgeschaffenen Grabe. Der Fluch von Jahrhunderten hat dich über dasselbe noch weit hinaus begleitet, hat dich immer von Neuem wieder in Wort und Bild verfehmt, gehenkt und zerbersten lassen. Ja, dieser Fluch und Haß hat sich auf dein ganzes Volk übertragen. Mit Feuer, Schwert und Strick hat die gläubige Christenheit es fast das ganze Mittelalter hindurch verfolgt, gemartert und vernichtet um deines Verrathes an dem Herrn willen. Als das verworfenste sittliche Scheusal ausgestellt an dem Pranger der christlichen Liebe, überliefert an den Satan, ja, ihm verlobt von Kindesbeinen an, im Judas-Kusse und Judas-Lohne begrifflich gebrandmarkt für alle Zeiten – hat auf einmal in dem aufdämmernden Lichte einer humanern Zeit dein Schicksal fröhlich sich gewandelt. Man hat sich deiner in Gnaden erbarmt, hat dich wieder heraufgeholt aus dem tiefsten Schlunde der Hölle, in welchen der Fanatismus christlicher Gläubigkeit dich gestoßen, und dir wieder ein menschliches Gewand umgeworfen. Ja, noch mehr als dies. Unter der Sonde des Psychologen, aber noch weit mehr unter dem Zauberstabe des Poeten ist aus dir, dem großen Sünder, ein fast ebenso großer Heiliger geworden. Wie durch die Pilatus-Wäsche eines modernen Gelehrten aus dem Urbilde aller grausamen Tyrannen, aus dem finstern Tiberius ein Muster von Herrschertugend sich herausgeschält hat, also hat die Theologie so gut wie die Poesie den schnödesten aller Verräther zum Träger und Märtyrer einer berechtigten Idee gestempelt und ihm den idealen Strahlenkranz eines tragischen Helden auf die gebrandmarkte Stirn gedrückt.

Die Angaben der Heiligen Schrift über Judas sind nur dürftig, so dürftig, daß David Strauß bemerkt: Wie Jesus dazu kam, einen solchen Jünger zu erwählen, und wie Judas dazu kam, ihn zu verrathen, das werde uns durch die drei ersten Evangelisten nicht begreiflich, durch Johannes geradezu unbegreiflich. In der Jüngerschaft Jesu spielt Judas lange Zeit keine Rolle. Wir erfahren eigentlich erst etwas von ihm bei der Salbung Christi durch Maria Magdalena. Da murrt er wider die Verschwendung des kostspieligen Nasses. Das hat ihm den Vorwurf des Geizes eingebracht, und da ihn Matthäus unmittelbar darnach zu den Hohenpriestern gehen läßt, auch den Geiz zum Motive seines Verrathes gestempelt. Dann treffen wir ihn wieder beim Passahmahle, wo Christus ihn bestimmt als seinen Verräther bezeichnet und nach Johannes ihn geradezu auffordert, die verbrecherische That zu vollziehen, indem er zu ihm sagt: „Was Du thust, das thue bald!“ Nach diesem Evangelisten ist erst in diesem Momente der Entschluß zum Verrathe in Judas gereift – ein Moment psychologisch so bedeutsam, daß er von den meisten späteren Judas-Erforschern als Ausgang ihrer Forschungen festgehalten worden ist. Dann kommt die Scene in der Nacht zu Gethsemane. Des Judaskusses geschieht bei Johannes keine Erwähnung. Der die That vorauswissende Meister überliefert sich da freiwillig den Häschern. Nur bei Matthäus und im Eingange der Apostelgeschichte erfahren wir etwas über das weitere Schicksal des abtrünnigen Jüngers, über seine Reue, seine Rückgabe des Blutgeldes, seinen Selbstmord. Eine spätere Legende ließ seinen Leib, seinen Kopf und seine Augenlider aufschwellen, und da er wegen seines Körperumfangs und seiner Blindheit einem entgegenkommenden Wagen nicht ausweichen konnte, ihn von diesem überfahren werden, „so daß ihm die Gedärme aus dem Leibe quollen“. Die spätere [795] christliche Anschauung betrachtete den Verrath, wie überhaupt die Verurtheilung und Kreuzigung Jesu als ein Werk des Satans, und in den geistlichen Spielen des Mittelalters, den sogenannten Mysterien, fand dieser Gedanke eine sehr drastische Verwirklichung.

Der Darsteller der Judas-Rolle pflegte unter seinem gelben Kittel einen „schwarzen Vogel“ zu verbergen, den er zum Zeichen, daß der Satan bei ihm seinen Einzug hielt, in der Passahmahlscene vor dem Munde herumflattern ließ. Auch übernahm beim Tode des Ischarioth Beelzebub als Abgesandter Lucifer’s das Amt des Henkers. Er zog ihn an einem Stricke hinter sich her zur Leiter hinauf, die schräg an einem auf der Bühne befindlichen Baume lehnte, legte ihm nach einer von ihm gehaltenen kläglichen Rede, in welcher er sich als das Opfer des Geizes und der sieben Todsünden bezeichnete, den Strick um den Hals, setzte sich sodann hinter ihn und riß ihm das Kleid auf, aus welchem im buchstäblichen Sinne die Gedärme herausfielen, denn der Schauspieler trug eine Partie Därme gleichfalls unter seiner Kutte. Hierauf glitten Beide mittelst angebrachter Rollen an dem Seile hinab, das von dem Baume nach einem im Podium befindlichen Loche führte. Dieses Loch repräsentirte die Hölle. Vor dem Eintritte in das dunkle „Höllenthor“ meldete Beelzebub den neuen Ankömmling erst bei Lucifer, dem Commandanten der Hölle, mit den drastischen Worten an:

Ihr Teufel, thut auf der Hölle Thor!
Gottes Verräther Judas ist davor,
Der Jesum seinen Herrn hat verrathen.
Wir haben einen guten schmutzigen Braten;
Seel’ und Leib ist unser eigen.
Er muß jetzt tanzen unsern Reigen,
Wann er hat sich an uns ergeben,
Dieweil er annoch war im Leben.
Lucifer, lieber Herre mein,
Empfah Judas, den Diener dein.

Da steigt Lucifer aus der Tiefe der Hölle herauf, nimmt Judas vom Seile ab, bekennt, daß er längst ein großes Verlangen nach ihm gehegt habe, und verspricht ihm sofort ein Bad aus Schwefel, Pech und Feuer zu bereiten.

Im Oberammergauer Passionsspiele, das ja noch auf den alten Mysterien fußt, erscheint zwar die Figur ihres höllischen Beiwerks entkleidet, aber das kleinliche Motiv des Geizes ist hier noch ängstlich festgehalten, doch hat der Verfasser des Dramas es verstanden, den Zusammenhang zwischen dem kleinen Beweggrund und der großen That dadurch psychologisch wahrscheinlich zu machen, daß er den Gedanken an den Verlust der dreihundert Denare für den Ankauf des Salböls, den die Casse der Jünger, welche Judas verwaltete, erlitt, in diesem zur fixen Idee werden läßt, die ihn ruhelos verfolgt und sein ganzes Denken also verwirrt, daß er, nur darauf bedacht, diesen Verlust zu ersetzen, in den Verrath hinein kommt – er weiß selbst nicht wie. Die Figur schrumpft da freilich zusammen zu der eines ängstlichen pedantischen Cassenbeamten, und nur in der Schilderung der Größe ihrer Verzweiflung wächst sie wieder empor.

Auch Renan, der novellistische Darsteller des Lebens Jesu, befindet sich in wohl nur zufälliger Uebereinstimmung mit dieser Auffassung, wenn er angiebt, Judas habe die Interessen der Casse über das Werk gesetzt, für das sie bestimmt war; der Verwalter habe den Apostel erstickt, und dergleichen.

Die protestantisch-theologische Kritik machte sich gar früh über den ausgestoßenen Jünger her, und es fehlte ihr nicht an den verschiedenartigsten Motiven für das unerklärliche Handeln des dunkeln Charakters. Da, wo sie nicht mit ihm fertig werden konnte, suchte sie wohl auszuführen, daß die ganze Judasgeschichte ein bloßes Werk der Erfindung des spätern Paulinismus sei, der einen der Apostel habe anrüchig machen wollen, um den allerdings mißlungenen Versuch zu machen, ihren eigenen Vertreter in die geheiligte Zwölfzahl der Apostel einzuschmuggeln, eine Ansicht, die durch Strauß ihre Widerlegung findet. Dagegen irren und schwirren die Motive des verrätherischen Handelns unseres Helden im buntesten Wesen durch den wissenschaftlichen und poetischen Luftkreis. Da ist es bald der gereizte Zorn gewesen, bald die empfundene Zurücksetzung gegen die andern Jünger, bald wieder die Unbefriedigtheit der eigenen weltlichen Messiashoffnungen, wie überhaupt die ganze weltliche Sinnes- und Denkungsweise, bald wieder Stolz und verbrecherische Eitelkeit, die den räthselhaften Apostel in seine verhängnißvolle That gestürzt haben sollen, bis endlich eine Auffassung sich Bahn brach, welche die Figur ganz ihrer niedern dunkeln Umgebung enthob. Diese Auffassung ist niedergelegt in Goethe’s Wahrheit und Dichtung. Obwohl er sich selbst zu ihrer Urheberschaft bekennt, ist dieselbe uns doch nicht ganz zweifellos. Sie mag sich auch wohl damals schon in wissenschaftlichen Kreisen das Bürgerrecht erworben haben.

Goethe führt uns das Problem seiner beabsichtigten Ahasver-Dichtung vor und berührt dabei auch das Verhältniß des Judas zu Christus. Danach lebte Judas so gut wie die anderen Jünger der Ueberzeugung, daß Christus sich als Regent und Volkshaupt erklären werde. Um nun das bisherige unüberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur rettenden That zu drängen, habe er, Judas, so erzählt er in der Werkstatt Ahasver’s, die Priesterschaft zu Thätlichkeiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt hätten. Von der Jünger Seite wäre man auch nicht unbewaffnet gewesen und wahrscheinlicher Weise wäre Alles gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie, die Jünger, in den traurigsten Zuständen zurückgelassen hätte. In der durch Ahasver’s bittere Stachelreden noch gesteigerten Verzweiflung schritt denn der schwer Getäuschte zur Selbstentleibung.

Es war hier gewissermaßen der Geist von Hamlet’s Vater heraufbeschworen. Der „dunkle Ehrenmann“ war gerettet, wenn auch nicht moralisch, so doch mindestens ästhetisch. Es war nun nicht mehr der Haß, sondern geradezu die Liebe das treibende Rad seines Handelns.

Andersen in seiner Dichtung „Ahasver“ führte wohl zuerst, die Goethe’sche Judas-Idee dichterisch weiter aus. Aber auch die Dichter der mannigfachen neuen Jesus- und Ischarioth-Dramen stehen auf dieser Basis. In den Dramen tritt neben Judas meist auch noch eine andere, ebenfalls etwas anrüchig gewordene biblische Figur in den Vordergrund. Es ist dies das bekehrte Weltkind Maria Magdalena, deren sich auch sonst die dichtende und bildende Kunst liebend angenommen und sie zum Typus einer bestimmten Species weiblicher Charaktere gemacht hat. Sie erscheint da als die frühere Geliebte des Judas, den sie aus begeisterter Liebe zu dem neuen Messias, dessen Ideen sie ein größeres Verständniß als Jener entgegenträgt, aufgiebt und ihm damit ein neues Motiv zuführt, seinem Herrn und Meister zu grollen.

Auch mit einer bis dato unbekannt gebliebenen Mutter unseres Helden machen wir hier und da Bekanntschaft, welche die geistige Größe ihres Sohnes in mütterlicher Eitelkeit überschätzt, wohl auch eigene Messiashoffnungen auf ihn überträgt und ihm so den unheilvollen Weg mit bahnen hilft, den er betritt. Sie erntet dafür regelmäßig den Fluch des verzweifelnden Sohnes. Um gleichsam zu zeigen, daß es auch noch schlechtere Menschen als ihn giebt, läßt ihn Andersen noch die Freundschaft des Barrabas genießen, der in der Maske eines wüsten, verkommenen und verbrecherischen Don Juan’s auftritt.

Construiren wir uns an der Hand dieser mannigfachen Vorlagen auf möglichst psychologischer Grundlage den modernen Judas-Charakter, so erhalten wir etwa folgendes Bild.

Judas von Karioth, später Ischarioth, das heißt der Mann (Isch) von Karioth, genannt, war ein treuer und warmer Anhänger seines Meisters. Er faßte aber das verheißene Reich Christi noch im concreten altjüdischen Sinne als das Reich David’s auf oder er war doch, wie nicht minder die anderen Jünger, höchstens mit Ausnahme von Johannes, über die eigentlichen und höheren Ziele des Herrn nicht im Klaren. Unter dem doppelten Drucke der Herrschaft der Römer und der eigenen frivolen und grausamen Fürsten nicht minder wohl auch der geistigen Tyrannei einer Priesterkaste, nährte das jüdische Volk in verstärktem Maße seine Hoffnung auf einen befreienden Messias.

Die thatkräftige und energische Natur des Judas – er verband damit einen wesentlich praktischen Sinn, der ihm das Amt eines Schatzmeisters verschafft hatte – verlangte, zumeist wohl nach dieser Richtung hin, wirkliche und greifbare Ziele. Daß diese sich ihm nicht zeigten, das erzeugte mehr und mehr in [796] ihm zunächst eine gewisse Ungeduld. Diese Ungeduld brachte bei ihm den Unmuth hervor, eine allgemeine seelische Verstimmung.

Da kam der Einzug des Herrn in Jerusalem unter den begeisterten Hosiannahrufen des zum Passahfeste herbeigeströmten jüdischen Volkes. Unmittelbar daran reihte sich die Säuberung des Tempels von den Wechslern und Händlern, das offene Auftreten gegen die Anmaßungen der Hohenpriester und Schriftgelehrten. Das war etwas Greifbares, etwas Thatsächliches und Sichtbares. Jetzt schien die Messiasidee im Sinne des Judas sich zu verwirklichen. Aber des Weiteren geschah nichts. Der hoffend begrüßte, geliebte Meister verließ den Schauplatz wieder, ging nach Bethanien und beschäftigte sich hier mehr als je mit den Gedanken und Vorhersagungen seines nahenden Todes. Das rief den Unmuth des Judas wieder von Neuem in noch weit verstärkterem Maße hervor. Zu diesem Unmuthe gesellte sich dann noch die Unklarheit über die dunkeln Worte des Meisters, die der eigenen Auffassung seiner Mission so zuwiderliefen. Das mehrte noch die Verwirrung in dem ohnehin schon verdunkelten Geiste und Gemüthe.

Die mißvergnügte Aeußerung über den verschwenderischen Gebrauch der kostbaren Salbe zum Nachtheile der Casse der Jüngerschaft zu einer Zeit, wo – wir sprechen immer im Sinne des Judas – Geld sehr nützlich werden konnte, erscheint dann ganz nebensächlich. Eine bereits vorhandene allgemeine Verstimmung hält leicht unbedeutende Nebendinge fest, um sich dort gleichsam abzulagern.

Aus dieser Verstimmung heraus erwuchs nun in dem thatkräftigen Charakter die Erwägung, ob da nicht zu helfen, ob da nicht selbst etwas zu thun sei, um den bereits betretenen Weg zum Ziele wieder zu gewinnen und rechtzeitig zu beschleunigen. Welches Mittel bot sich ihm hierzu dar? Welches?

Der Meister zeigte es ihm selbst. Er zeigte es ihm in der directen Vorhersagung und Bezeichnung des Verrathes beim Ostermahle, der sich in der weitern Rede: „Was Du thust, das thue bald!“ die bestimmte Aufforderung zu handeln anschloß. Nehmen wir an, daß die Pharisäer und Hohenpriester bereits den Plan zur Gefangennahme des ihre Herrschaft gefährdenden neuen Propheten gefaßt und bereits Versuche gemacht hatten, den unmuthigen und dabei thatenlustigen Jünger für sich zu gewinnen, ein Umstand, der dem Scharfblicke des Herrn nicht entgangen sein konnte, so mußte diese eigenthümliche Aufforderung zum eigenen Handeln in der That außerordentlich bestimmend, nicht etwa verstimmend, auf Judas wirken. Derselbe konnte sich, wie eine neuere anonym erschienene Studie über den Judascharakter treffend bemerkt, jetzt sagen: Der Herr will in die Hände seiner Feinde geliefert werden, um seine göttliche Kraft zu bethätigen. So ging er hin und verrieth den Herrn. Wir legen hierbei die, wie es uns scheint, psychologisch richtigere Wiedergabe der Reihenfolge der Thatsachen im Evangelium des Johannes zu Grunde.

Daß Judas nicht in Wahrheit die Interessen des Hohen Rathes bei seinem Verrathe im Auge gehabt habe, dafür spräche dann namentlich sein Verhalten unmittelbar nach seiner That, das Hinwerfen des Blutgeldes, das kühne, Trotz und Verachtung bedeutende Auftreten in dem mächtigen, gefürchteten Priestercollegium, der wider dasselbe geschleuderte Fluch. Auch die Reue und Verzweiflung, die über Judas in ihrer ganzen furchtbaren Größe hereinbrechen, finden so ihre weit natürlichere Erklärung. Der Judaskuß wird aus einem Symbole des Verrathes ein Symbol der Liebe, indem er bekunden soll, daß der Jünger nur äußerlich, nicht innerlich abgefallen sei.

Welch tiefe Tragik aber beherrscht nun die Lage, in welche Judas nach der That und durch dieselbe sich versetzt findet! Das, was er nur scheinen wollte, ist er nun wirklich geworden, der Verräther, der Mörder seines Herrn und Meisters, des Herrn, an dem seine ganze Seele mit unbegrenzter Liebe hing. Die ganze Reihe seiner im Unmuthe gefaßten Schlüsse erweist sich als falsch und trügerisch. Das Werk, das er fördern wollte, sieht er mit seinem Meister für immer vernichtet. Verkannt und auf allen Seiten verachtet und ausgestoßen, verliert er unter sich allen Boden zu seiner Weiterexistenz, und da er auch keinen Richter hat, der ihn vermöchte zu richten, so bleibt ihm fast nichts weiter übrig, als sein eigener Richter zu werden.

Um der Tragödie seines Lebens einen versöhnenden Schluß zu geben, läßt ihn die Dichtkunst wohl noch in seiner letzten Stunde den Sieg der Christusidee erleben und empfinden.

Ja – dieser Ischarioth kann nicht blos anreizen zu einer Charakterstudie, er ist und war schon längst ein wirklicher Studiencharakter.

Fr. Helbig.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal die Lebensversicherungsfrage. Mit Bezug auf den in Nr. 41 abgedruckten Artikel von Gallus empfingen wir vor einigen Tagen aus Luxemburg nachfolgende Zuschrift: „Dieser Tage unterhielt ich mich mit dem Vertreter einer belgischen Lebensversicherung über die Bitte, welche der Director der Leipziger Versicherungsbank in der letzten Nummer der ‚Gartenlaube‘ an die deutschen Frauen richtet. Da es wohl von Interesse ist, die Ansichten eines Ausländers über das von Herrn Gallus behandelte Thema zu hören, so erlaube ich mir, Ihnen die Mittheilungen meines Gewährsmannes in diesen Zeilen wiederzugeben. Auch er macht häufig die Wahrnehmung, daß Frauen ihre Männer abhalten, einer Lebensversicherung beizutreten; zum Theil sei Aberglaube, vielfach jedoch auch allzu großes Zartgefühl daran schuld. So sei es ihm vor noch nicht langer Zeit vorgekommen, daß eine Wittwe, deren Mann sich ohne Wissen derselben versichert hatte, die bedeutende Summe von hunderttausend Franken nicht habe annehmen wollen, weil es ihr widerstrebe, eine Geldentschädigung für den Tod ihres Mannes zu erhalten.

Der hauptsächliche Grund, daß sich die Lebensversicherungen in Deutschland noch nicht in dem Maße wie in verschiedenen anderen Ländern eingebürgert hätten, sei jedoch in der Art und Weise zu suchen, wie die deutschen Gesellschaften die Versicherungen abzuschließen pflegten. Man bekomme einen Fragebogen vorgelegt, dessen gewissenhafte Beantwortung nicht allein sehr schwierig sei, sondern der auch sofort das Gefühl erwecke, als sei er dazu angelegt, der Auszahlung der Versicherungssumme möglichst Hindernisse in den Weg legen zu können, wie denn auch in der That Processe aus dieser Ursache keine Seltenheiten seien. Bei den belgischen und französischen Gesellschaften hingegen sei der Abschluß der Versicherung viel einfacher. Sobald der zu Versichernde gesund sei, habe er keine weiteren Verpflichtungen einzugehen, als seine Prämie pünktlich zu bezahlen, und selbst in dieser Beziehung seien schon wiederholt Fälle vorgekommen, daß, obwohl der Versicherte mit der letzten Prämie im Rückstande gewesen, die Versicherungssumme ohne jeglichen Anstand ausgezahlt worden sei. Die meisten jener Gesellschaften legten Werth darauf, Streitigkeiten, wenn irgend thunlich, zu vermeiden, was ihnen indirect zu großem Nutzen gereiche.

Sind die erhaltenen Mittheilungen genau – was zu bezweifeln ich keine Ursache habe – so wäre es den deutschen Gesellschaften, von denen ja die meisten bekanntlich äußerst solide sind, wohl in beiderseitigem Interesse nicht genug anzuempfehlen, sowohl beim Abschlusse der Police, wie auch bei der Auszahlung der Versicherungssumme zuvorkommend zu sein.“ –




Eisenbahnwünsche. Die Erfahrung ist die Mutter der Verbesserungen, und wenn die Menschen den Winken dieser Mutter immer, nach Art guter und verständiger Kinder, hübsch folgten, würde es um Vieles schöner auf der Welt sein. Besonders aufmerksam sollten auf solche Winke Diejenigen sein, deren Thätigkeit dem Wohle des großen Ganzen dient, und dazu gehören vor Allem die Leiter der allgemeinen Verkehrsanstalten. Aber gerade bei der jetzt unentbehrlichsten derselben, bei der Eisenbahn, begegnen wir der Erscheinung, daß viele Verwaltungen derselben diese vom Publicum sehr verehrte Mutter als eine Stiefmutter betrachten, die sie in immer neue Unkosten stürzen wolle. Es ist daher nothwendig, sie gegen solche Mißachtung überall in Schutz zu nehmen, wo sie in offenbarem Rechte ist. Für diesmal haben wir zwei aus solchen Erfahrungen erwachsene Wünsche zu verdeutlichen.

1) Es sind wohl mehr als einmal, und nicht erst jüngst auf der neuen Saalbahn mit ihren noch unvollendeten Bahnhöfen, während der Fahrt Erkrankungsfälle vorgekommen. Auf solche Vorkommnisse ist auf den meisten Bahnhöfen noch nicht Rücksicht genommen worden: es gebricht fast überall an einem Raume, in welchem Erkrankte oder Verunglückte passende Unterkunft und erste Pflege finden könnten. Dieser Erfahrungssatz sollte nirgends außer Augen gelassen und bei allen Bahnhof-Neubauten sofort berücksichtigt werden.

2) Eine der häufigsten Klagen, namentlich bei langen Eiltouren, betrifft ein Bedürfniß, das nur arge Prüderie von einer öffentlichen Besprechung ausschließen könnte. Hatte es früher Tadel hervorgerufen, daß auf manchen Bahnhöfen die Anstalten „für Männer“ und „für Frauen“ zu entfernt von den Ein- und Aussteigestellen der Perrons angebracht waren, so gehen jetzt die Ansprüche weiter. Es ist längst der Anfang damit gemacht, die Eisenbahnzüge selbst mit Aborten zu versehen. Freilich eignet sich dazu nur das amerikanische Personenwagen-System, das dem Reisenden jeden Augenblick den Gang durch die gesammte Wagenreihe gestattet. Allerdings ist auch bei Wagenzügen deutschen Systems die Einrichtung besonderer Abort-Wagen getroffen, die Benutzung derselben ist aber mit dem offenbar sehr leidigen Zwang verbunden, solche Anstalten nur während der Haltezeit auf einer Station betreten und, wenn nur wenige Minuten Aufenthalt gestattet sind, erst auf der nächsten Station wieder verlassen zu können. In dieser Beziehung ist Abhülfe dringend nöthig, denn hier hat die Sorge für die Gesundheit der Reisenden ein sehr erfahrungsreiches Wort mitzusprechen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Freiburg im Breisgau 1874, Herder’sche Buchhandlung.
  2. Die in Obigem enthaltenen Mittheilungen über die Jugend der drei Gelehrten beruhen theils auf eigenen Mittheilungen Kaup’s, wie er sie seinen Angehörigen erzählte, theils auf Mittheilungen von Schulfreunden. Einer der letzteren weicht nur hinsichtlich des jungen Gervinus von den anderen ab und versicherte mich, derselbe sei zwar fleißig gewesen und habe einen besseren Platz als seine Jugendfreunde inne gehabt, habe aber in gleicher Weise unter dem Zorne des gefürchteten Storck leiden müssen.
  3. Auch an der St. Louiser-Mississippi-Brücke waren vornehmlich deutsche Ingenieure, Zeichner und Rechner beschäftigt, welche der geniale Oberbaumeister des Werkes, Capitain James B. Eads, um sich zu versammeln verstand.
  4. Es giebt in Amerika keinen Zweig des geschäftlichen Lebens, in welchem die Deutschen es nicht verstanden hätten, bis in die allervorderste Reihe vorzudringen. So Poppenhusen und König in College Point bei New-York, deren Guttaperchafabrikation Dimensionen gewonnen hat, wie sie kein zweites Etablissement dieses Schlages aufweist; so im Fache der Tabakfabrikation Gayl und Ax in Baltimore, in der Chromolithographie L. Prang in Boston und so endlich die amerikanischen Bierbrauereien, die ausschließlich in deutschen Händen sind.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gravoswein
  2. Vorlage: Rast