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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[629]
Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Herr Hirschfeldt verbeugte sich tief bei meinem Eintritt und dann, mir einige Schritte entgegenkommend, sagte er: „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, daß die Erinnerung an frühere Bekanntschaft mir den Muth giebt, Sie aufzusuchen! Ich baute darauf, daß hier in der Fremde ein Gesicht, welches Sie einst in der Heimath gesehen, Ihnen vielleicht nicht ganz unwillkommen sein dürfte. Habe ich zuviel gehofft, so heißen Sie mich einfach wieder gehen!“

Diese Worte, mit einer Stimme voll musikalischen Wohllautes in meinem geliebten, lange nicht vernommenen Deutsch gesprochen, ließen jede Fiber meines Herzens, wie von einem elektrischen Strome berührt, wonnevoll erbeben. Unwillkürlich streckte sich dem Redenden meine Hand entgegen, die er in die seinige nahm und leicht mit den Lippen berührte. „Das war eine Ueberraschung,“ sagte er, „eine Berliner Collegin hier in Woronesch wiederzusehen!“

Ich begrüßte ihn jetzt ebenfalls mit Herzlichkeit, lud ihn ein, Platz zu nehmen, und es war wunderbar, mit welcher Leichtigkeit und Zwanglosigkeit wir uns alsbald inmitten der lebhaftesten Unterhaltung befanden über alte Berliner und neue russische Erlebnisse, über das Conservatorium, über Musik etc. Ich endigte mit dem Vorschlage, Herrn Hirschfeldt meiner Gebieterin vorzustellen, und er ging bereitwillig darauf ein.

Zenaïde Petrowna’s Launen sind unberechenbar wie Aprilwetter. Ich zitterte also im Geheimen für den Erfolg, als ich ihr meinen Gast zuführte, aber siehe da – Alles ging gut über Erwarten. Er wußte sich freilich ihr gegenüber zu benehmen, wie der gewandteste Hofmann, und es kostete mich Mühe, unter einer unverändert ruhigen Außenseite meinen freudigen Schreck zu verbergen, als sie schließlich, indem sie den jungen Capellmeister huldvoll entließ, ihn zu unseren musikalischen Soireen einlud. Er sagte mit verbindlichem Danke zu, und Madame wußte ebenfalls, was sie that, als sie sich den „Künstler“ anwarb, um ihren Gesellschaften ein erwünschtes Relief zu verleihen.

Fort war er, und ich blieb zurück in einer unbeschreiblichen Stimmung – hingerissen, bezaubert. Was war es nur, das all mein Sinnen und Denken augenblicklich, unwiderstehlich und unrettbar an diesen mir beinahe ganz Fremden fesselte? Ich denke, es war der Geist, der da hinreißt, wo alle Andern dumm und alltäglich erscheinen. Und Geist ist es, der aus jenen dunkeln Augen blitzt, jedem seiner Worte Bedeutung giebt. Ich habe hier wahrlich schon genug Herren kennen gelernt, und unter ihnen manchen, der auf seine Schönheit stolz sein durfte, doch Alle ohne Ausnahme blieben sie mir gleichgültig. Ist nicht Constantin Feodorowitsch schön und der vollendetste Cavalier, den man sehen kann? Und doch würde er mir nie ein anderes Interesse einflößen als eben das, welches wir für einen amüsanten, gut erzogenen Gesellschafter haben. In seinen Augen begegnet mir zu oft ein Ausdruck von Blasirtheit, der mich unangenehm berührt, und unwillkürlich, wenn ich sein Urtheil über Welt und Menschen höre, drängt sich mir der Gedanke auf, das Leben habe den Schmetterlingsstaub bereits von seiner Seele gestreift. Wie anders dieser junge Musiker, dessen energischer Wille frisch und lebendig von seiner Stirne leuchtet, der einfach sagt: „Alles ist gegen mich in diesem Lande, in dem der Kastengeist regiert, Mangel an Rang und Reichthum, meine Abkunft, und dennoch – trotz Allem werde ich meinen Weg machen.“ Und man fühlt in demselben Augenblick mit Sicherheit: er wird ihn machen. In wirrem Durcheinander stürmten diese Gedanken durch meinen Kopf, als ich die vorhin unterbrochene Lectüre des langweiligen französischen Romans wieder aufnehmen mußte. Ich las vollkommen mechanisch, ohne selber ein Wort zu begreifen oder zu behalten, und dankte Gott in meinem Herzen, als neuer Besuch dieser Tortur ein Ende machte.

Ruhe freilich gab es darum doch nicht für mich; mein Herz befand sich in immerwährendem Zwiespalt mit der eigenen Vernunft und besseren Ueberzeugung. Herr Hirschfeldt hatte mir nämlich gesagt, daß seine Mutter und Schwester seit einiger Zeit zum Besuch bei ihm seien, daß Letztere mich neulich im Theater gesehen habe und ebenfalls meine Bekanntschaft zu erneuern wünsche. Er hatte an diese Mittheilung die dringende Bitte geknüpft, ich möge den Damen einen Besuch machen, und ich Unbedachtsame gab das Versprechen, noch bevor ich mich recht besonnen. Was sollte ich jetzt thun? Das Herz sprach unbedingt; Hingehen. Die Vernunft dagegen hieß mich zurückbleiben und mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft, anstatt es noch zu nähren, gegen ein Gefühl ankämpfen, welches mich zu überwältigen drohte. Die Vernunft trug endlich in mir den Sieg davon, und ich beschloß, so schwer es mir wurde, und auf die Gefahr hin, wortbrüchig zu erscheinen, mich zurückzuhalten, doch – wer kann seinem Schicksal entrinnen? Ich ging am Sonntage in die deutsche Kirche, und auf dem Rückwege begegneten mir auf der Promenade sämmtliche Hirschfeldt’s, Mutter, Bruder und Schwester. Sie redeten mich an, und nunmehr wurde es mir zur Unmöglichkeit, die erneute freundliche Einladung abzulehnen. Ich begleitete sie nach Hause und lernte in der

[630] Schwester ein durchaus angenehmes Mädchen kennen, das mir gleich nach unserer Ankunft erklärte, mich keinenfalls fortzulassen, bis ich Kaffee mit ihnen getrunken habe. Ich versuchte dankend abzulehnen – da trat der Capellmeister zu uns.

„Sie werden bleiben, nicht wahr?“ sagte er und sah mich mit seinen wunderbaren Augen an, daß mir ganz warm um’s Herz wurde. „Wir wollen einen rechten, echten gemüthlichen Berliner Kaffeeklatsch halten.“

Wo waren jetzt deine guten, in schwerem Kampfe dir abgerungenen Vorsätze, Helene? Ich blieb. Ich blieb zwei ganze Stunden und fühlte mich zum ersten Mal, seit ich auf russischer Erde bin, so recht gemüthlich. Wir plauderten immer in deutscher Sprache, über alles Mögliche, über das, was wir schon erreicht im Leben oder noch zu erreichen hofften, und Herr Hirschfeldt und ich gaben einander das Versprechen uns stets als gute Collegen zu behandeln, das heißt, aufrichtig, ohne uns je Complimente zu sagen, Einer den Andern fördernd, wo es sich thun läßt.

Die Mutter, obgleich sie von unserer Unterhaltung nichts verstehen konnte, litt es doch nicht, daß wir uns der französischen oder gar der russischen Sprache, in der ich noch sehr Anfängerin bin, bedienten, weil sie begriff, welche Freude mir die heimischen Laute bereiteten. Der klare, kluge Blick ihrer dunkeln Augen, die der Sohn von ihr geerbt hat, ruhte trotzdem mit wohlwollender Theilnahme auf uns. Sie kam mir vor wie eine jener Patriarchinnen aus der alten Zeit, die ruhig im Gefühle ihrer Würde den Familiengliedern gestattet, in ihrer Weise sich zu erfreuen und zu unterhalten, da sie doch stets ihrer Ehrfurcht einflößenden Stellung sicher ist und weiß, Alle sind bereit, auf einen Wink von ihr sich aufhorchend und ehrerbietig um sie zu versammeln.

Leider ging im Verlaufe dieser Stunden mein Herz vollständig verloren. Ich kämpfte nicht mehr. Ich überließ mich willenlos dem Strome, der mich fortriß, und erwarte jetzt mit verzehrender Ungeduld den Donnerstag Abend, mitunter auch mit Herzklopfen und einer tüchtigen Portion Angst, denn ich war doch nur ein Jahr am Conservatorium, um mich, weit entfernt von Künstlerideen, zur tüchtigen Lehrerin in der Musik auszubilden. Herr Hirschfeldt dagegen brachte volle drei Jahre daselbst zu, hat seinen Cursus beendet und ist Künstler und Componist. Wie werde ich mit meinem Spiel vor ihm bestehen? Ich denke zitternd daran.

Mitunter kommt es über mich, wie das Gefühl eines unaussprechlichen, überwältigenden Glückes, und dann wieder gleich einem Zustande schwerer Betäubung, in welchem mir erschreckend klar wird, daß eine fremde, mir bisher unbekannte Gewalt unwiderstehlich in mein Leben einzugreifen droht, daß sie mein ganzes Sein zu einem verzweifelten Kampfe herausfordert, von dem ich noch nicht einmal ahne, ob ich siegreich daraus hervorzugehen im Stande bin.


Den 23. October.

Gestern war der halb ersehnte, halb gefürchtete Musikabend. Da stehen die Buchstaben schwarz und unbeweglich vor mir, und Niemand ahnt, welch schweres Gewicht für mich in den wenigen Worten liegt. Noch weiß ich nicht, wie ich es ertragen werde, und immer wieder muß ich mich selber fragen, ob es denn möglich ist. Warum doch mir dieses Schicksal? Mein Leben gestaltete sich wahrlich ohnehin nicht allzu rosig, da es mir auferlegt ward, in der Fremde mich mühsam durchzukämpfen. Doch ich will versuchen ohne unnütze Reflexionen einfach die Thatsachen zu berichten.

Der Donnerstag Abend kam, doch mit ihm, da außerdem mehrere große Gesellschaften in Woronesch stattfanden, nur wenige Gäste, aber unter ihnen die Generalin Adrianoff mit ihrem Sohne und ihrer Wéra. Letztere hatte ich in der Woche einige Male kurze Zeit am dritten Orte gesehen und sie immer gleich reizend und liebenswürdig gefunden. So kam sie mir auch gestern entgegen.

Sie trug diesmal ein Kleid von schwarzer Seide und dabei kostbare Korallenschnüre im blonden Haare. Sie sah entzückend aus und spielte sehr gut zwei Sätze aus einem Trio von Reissiger, und dann trug ich zwei aus dem großen Trio von Mendelssohn vor. Es war mein Glück, daß ich nicht bemerkte, wie währenddessen Hirschfeldt leise eingetreten war. Dienstpflichten hatten ihn verhindert, früher zu kommen, und in dem Augenblicke, als ich, vom Instrumente aufstehend, ihn gewahrte, hatte ich eine Empfindung, als ob plötzlich ein Lichtmeer den ganzen Saal überfluthe. Ich fühlte, daß ich erröthete, als er zu mir kam und mir einige anerkennende Worte über mein Spiel sagte, und dann erschrak ich, als er die Ouverture zu „Elisa“ von Cherubini zu vier Händen auf das Instrument stellte und sagte. „Wir werden sie zusammen spielen.“

Ich hatte das Bewußtsein, einmal um’s andere blaß und roth zu werden, obgleich es mir im Ganzen an der Fähigkeit nicht fehlt, auch bei größter innerer Aufregung meine äußere Ruhe wohl zu bewahren „Ich kann nicht. Die Ouvertüre ist mir zu schwer,“ stieß ich hastig hervor.

Einige Secunden lang sahen mich die schwarzen Augen in fragender Verwunderung an. „Ich habe Sie soeben spielen hören und weiß, daß sie Ihnen nicht zu schwer ist,“ gab ihr Besitzer mir zurück.

„So versuchen wir es.“

Jede andere Empfindung trat in dem Augenblicke in mir zurück vor der Nothwendigkeit, Herr meiner selbst zu bleiben. Was mußte er von mir denken? „Ich will,“ sagte ich mir selber, und nahm den verlassenen Platz wieder ein. Bebend glitten zuerst meine Finger über die Tasten, dann aber, und zwar wunderbar schnell, riß die Sicherheit des Capellmeisters mich mit sich fort. Es ging wie von selber, und ich fühlte mich durch und durch getragen von freudigem Wohlbehagen. Bei der letzten Note nickte mein Begleiter mir zu, als wolle er sagen: „Sehen Sie, daß es ging.“

„Ich würde es nie für möglich halten,“ fuhr er dann, gleichsam den unausgesprochenen Gedanken ergänzend, fort, „daß Sie aus irgend einem Grunde sich sperren oder zieren könnten.“

Er stand auf, während ich noch vor dem Flügel sitzen blieb, nahm das Notenheft, aus dem wir eben gespielt, blätterte darin und richtete verschiedene Bemerkungen über die Composition an mich. Plötzlich sagte er, in dem anscheinend gleichgültigen Conversationstone fortfahrend, aber leiser und auf deutsch: „Sind Sie verschwiegen, Fräulein Helene?“

„Gewiß, das ist eine Eigenschaft, die mir selbst meine Feinde lassen müssen,“ antwortete ich, ohne noch zu begreifen, warum es mich bei des jungen Musikers Worten wie Schreck ergriff.

„Wenn Sie wollen,“ fuhr er fort, „werden Sie zwei Freunde in Woronesch haben.“

„Wen denn?“

„Fräulein Wéra und mich.“

„Ah, und wie das? Wie muß ich es anfangen, Ihr Beider Freundschaft zu gewinnen?“

Er sah mich an, so fragend und so durchdringend, daß es mich wie ein Schauer überlief. „Wissen Sie nicht, welch ein Drama hier spielt?“ fragte er. „Ich möchte in den nächsten Tagen kommen, um die Symphonie von Schumann vierhändig mit Ihnen zu üben. Dann hoffe ich, Sie allein zu sehen und Ihnen Alles zu erzählen, jetzt kann ich es nicht, denn man bemerkt uns. Bitte, kommen Sie mit mir!“

Er führte mich, die ich in einer Art von ahnender Betäubung an seiner Seite schritt, zu Fräulein Adrianoff. Wir fanden sie, den Kopf in die weiße Hand gestützt, nachsinnend und aufhorchend, wie sie wahrscheinlich unserm Vortrage gefolgt war, allein auf einem Eckdivane sitzend.

Der Capellmeister begrüßte sie ehrerbietig und sagte ihr in französischer Sprache: „Hier stelle ich Ihnen Fräulein Helene vor – eine Künstlerin!“

Ich fuhr auf und wollte mich gegen die Bezeichnung „eine Künstlerin“ verwahren, aber er fügte rasch und deutsch hinzu. „Lassen Sie sich von Fräulein Wéra erklären, wie ich das Wort verstehe!“ Dabei verbeugte er sich, als habe er irgend eine gesellschaftliche Phrase ausgesprochen, und verließ uns. Wenige Minuten später sah ich ihn bereits auf einem Tabouret neben unserer Gebieterin sitzen und so angelegentlich mit dieser plaudern, als sei er mit seiner ganzen Seele nur bei ihr.

Wéra hatte unterdeß meine Hand genommen und drückte sie mit einer Innigkeit, die meine Aufmerksamkeit ausschließlich wieder auf sie hinlenkte. Wahrheit, Aufklärung um jeden Preis, [631] das war der einzige Gedanke, der in diesem Augenblicke Raum in meiner Seele fand.

„Gnädiges Fräulein,“ richtete ich das Wort an die junge Dame, „in der Galerie ist jetzt eine der seltenen und prachtvollen weißen Camelien aufgeblüht, von denen wir neulich sprachen. Gefällt es Ihnen, so gehen wir, und ich werde sie Ihnen zeigen.“

Wéra nahm mit einem Blicke des Einverständnisses meinen Arm, und gleich darauf traten wir in die Galerie, die zu dem im entgegengesetzten Flügel des Gebäudes befindlichen großen Saale führt. Zwei Reihen hoher, umfangreicher, oben durch Rundbögen verbundener Säulen füllen beinahe diese Galerie aus. Zwischen ihnen stehen in großen Kübeln riesige Orangenbäume, und den Fuß einer jeden Säule umgeben pyramidalisch geordnete Gruppen immergrüner und selbst in dieser Jahreszeit blühender Gewächse. Versteckt angebrachte, mattweiße Glaskugeln erleuchteten sanft den sich vor uns ausdehnenden Raum, und wir ließen uns auf einigen der carmoisin gepolsterten Sessel nieder, die, überall zwischen den Säulen und dem Grün verstreut, zum Sitzen einluden.

„Nicht wahr, gnädiges Fräulein,“ nahm ich, äußerlich ruhig, aber von innerer Aufregung fast erstickt, wieder das Wort, „hier, wo wir ungestört sind, werden Sie mir das Räthselwort des Herrn Hirschfeldt erklären.“

Ein Zug liebreizender Zutraulichkeit gab dem schönen Gesichte meiner Gefährtin einen noch gewinnenderen Ausdruck, als sie sich zu mir neigte und flüsternd in deutscher Sprache mir mittheilte: „Es ist eine Art von Losungswort unter uns. Wenn Hirschfeldt von Jemandem zu mir sagt: ‚Es ist ein Künstler oder eine Künstlerin,‘ so bedeutet das: ‚Ich stelle Ihnen hier eine Person vor, auf die Sie sich verlassen, der Sie unbedingt Alles anvertrauen können.‘“

Mir wurde immer wirrer zu Sinne; trotzdem bewahrte ich meine Kaltblütigkeit. „Und darum glauben Sie an meine Aufrichtigkeit?“ fragte ich.

„O, unbedingt; er wird mir nie etwas sagen, was mich irre leiten könnte. Zudem bedurfte es kaum seiner Empfehlung. Von dem Momente an, da zuerst Ihre Augen mich klar und voll Theilnahme anblickten, lag für mich etwas Vertrauenerweckendes darin. Ein sympathisches Gefühl zog mich zu Ihnen und ließ mich hoffen, in Ihnen vielleicht eine Freundin zu gewinnen.“

„Und Sie, gnädiges Fräulein,“ konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, „Sie, inmitten Ihrer Familie, Ihrer Heimath“ – in meinem Herzen fügte ich hinzu: und so schön so reich und gefeiert – „Sie bedürfen einer Freundin und Vertrauten?“

Wéra schlug ihre großen Augen zu mir auf mit einem unsäglich traurigen Ausdrucke. „Und wie sehr!“ rief sie aus. „Sie wissen nicht, wie verlassen und rathlos, wie unglücklich ich oftmals bin.“

Unfähig, den Zustand der Ungewißheit noch eine Minute länger zu ertragen fragte ich mit Hast: „Betrifft es Hirschfeldt?“

Die junge Dame nickte zustimmend; ihre so überaus fein geformten, weißen und mit blitzenden Brillanten geschmückten Hände legten sich auf meinen Arm. „Sie wissen nicht –?“

„O, ich errathe es: Sie lieben ihn,“ rief ich aus, und in meiner Erinnerung tauchte plötzlich die Klatschgeschichte Olga Nikolajewna’s wieder auf. Das war also der Lehrer, wegen dessen man Wéra fortgeschickt hatte. Wie ein Nebel zerriß es vor meinem Geiste. „Sie lieben ihn.“

„Ja, ich liebe ihn, nein, ich bete ihn an.“ In schwärmerischer Begeisterung erglühten bei diesen Worten ihre Züge. Ihr Auge blickte mich in schwimmendem Glanze an. „Ich bete ihn an. Alexis ist für mich Alles, ist die Sonne, deren Strahl allein meinem Leben Werth verleihen kann.“

„Und er?“ Ich fühlte, wie sich all mein Blut zum Herzen drängte und Letzteres klopfte, als solle es mir die Brust zersprengen. Aber ich drückte die Hand darauf, und bleich, athemlos starrte ich das junge, liebliche Wesen an, welches mir gegenüber saß und, ganz mit sich selber beschäftigt, keine Ahnung von dem Seelenzustande hegte, in dem ich mich befand.

„Er?“ Sie verbarg ihr Antlitz in beide Hände, und dann, als sie es nach einer kurzen Pause wieder emporhob, strich sie die darüber herabgefallenen goldenen Locken von ihrer Stirn. „Er,“ sagte sie hochaufathmend, „liebt mich mit einer Leidenschaft, vor der ich oft selber erschrecke.“

„Und Sie können sagen daß Sie unglücklich sind?“ entfuhr es in zitternder Erregung meinen Lippen.

Fräulein Adrianoff sprang auf. Die schlanke und elastische Gestalt hoch aufgerichtet, stand sie vor mir; ihre kleinen Hände ballten sich; ihre fein geschnittenen Nasenflügel hoben und senkten sich, und ich entdeckte in diesem Augenblicke, daß die melancholisch-sanften Augen unter Umständen auch in funkelndem Glanze aufleuchten konnten. „Wissen Sie, was es bedeutet,“ sagte sie hastig und mit unterdrückter Heftigkeit, „durchaus ohne Hoffnung zu lieben, stets von dem Gegenstande unserer Anbetung getrennt und überdies bewacht, umlauert und von Spionen umringt zu sein? Fräulein Helene!“ Ich hatte mich ebenfalls erhoben, und sie umklammerte, bevor ich mich recht besonnen, mein Handgelenk, neigte ihr Haupt auf meine Schulter und brach in Thränen aus. „Fräulein Helene, Sie wissen nicht, wie elend ich bin.“

Zum Tode erschrocken, legte ich ihren Arm in den meinigen, führte sie die Galerie entlang und suchte, so schwer es mir wurde, das aufgeregte Mädchen durch einige ermuthigende Worte zu beruhigen. Es half mir wenig. Wéra schüttelte als Antwort nur stets den Kopf, aber wenigstens trocknete sie ihre Thränen.

„Sie kennen dieses Land und seine Sitten nicht,“ nahm sie endlich wieder das Wort, „wenn Sie irgend wie auf Hoffnung für mich hindeuten wollen. Nie, niemals wird meine Familie eine Verbindung zwischen Alexis und mir dulden. Ich verabscheue diesen Unterschied des Ranges und Standes, aber die Meinigen würden ihn aufrecht erhalten, und müßte ich darüber zu Grunde gehen.“

„Aber mein Gott, was soll denn daraus werden?“ Meine deutsche Anschauungsweise legte mir unwillkürlich die bürgerlich naive Frage auf die Lippen.

Wéra sah mich groß an. „Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie dann. „Daran denke ich auch nicht. Ich weiß nur, daß Hirschfeldt mein Alles ist, daß ich sterben werde, wenn ich ihn nicht mehr sehen darf.“

„Und weiß Ihre Mutter um diese Liebe?“

Die junge Dame schüttelte melancholisch den Kopf. „Wenn sie darum wüßte,“ lautete ihre Antwort, „so wäre ich nicht hier; davon seien Sie überzeugt! Aber ich glaube, daß sie Verdacht schöpfte und mich deshalb verreisen ließ gegen meinen Wunsch und Willen. Auch betritt seit meiner Rückkehr Alexis unser Haus nicht mehr, so daß ich muthmaße, man hat ihm zu verstehen gegeben, daß sein Erscheinen daselbst nicht gewünscht wird. Begreifen Sie jetzt, in welcher Aufregung ich mich heute befinden muß, da ich ihn nach längerer Trennung zum ersten Mal wiedersehe und bis jetzt nur fremde, gleichgültige Worte von ihm gehört habe?“

O, ich begriff nur zu gut, empfand jedoch zu gleicher Zeit eine nicht zu beschreibende Angst, daß das exaltirte Mädchen sich einem neuen Gefühlsausbruche hingeben möchte. „Aber Ihr Bruder,“ sagte ich daher, immer bemüht, ihr Muth einzusprechen. „Da ist noch Ihr Bruder, gnädiges Fräulein, der Sie so sehr liebt.“

Sie machte eine energisch abwehrende Bewegung. „Ja, mein Bruder liebt mich,“ rief sie fast heftig, „aber eben darum haßt er Alexis. Wenn er Gewißheit hätte von dessen Verhälntiß zu mir, seien Sie versichert, er würde ihn tödten ohne sich fünf Minuten zu besinnen. Mit derselben Entschlossenheit freilich würde er auch sein Leben für mich in die Schanze schlagen, das heißt – in seinem Sinne; für das, was er als mein Glück betrachtet. Bitte, sprechen Sie mir nicht von ihm! Ich zittre ohnehin, wenn ich weiß, daß er und Hirschfeldt sich in demselben Zimmer oder nur in derselben Gesellschaft befinden, und ich bin sicher, daß es ihn und meine Mutter schon nicht angenehm berührt hat, den Letzteren heute hier zu finden.“

Ich hörte ihre Worte, aber eigentlich nur wie im Traume und hatte eine Empfindung dabei, als ob alle Gegenstände um mich her einen Rundtanz aufführten. Die Säulen, die grünen Gewächse und schwebenden Lampen drehten sich vor meinen schwindelnden Blicken, und mir war zu Muthe wie Einem, der, am Krater eines Vulcanes hinwandelnd, deutlich und immer deutlicher erkennt, daß der Boden unter seinen Füßen zu [632] wanken beginnt und die Explosion über kurz oder lang unvermeidlich erfolgen muß.

Wir waren während unserer Unterredung in der Galerie auf- und abgewandert, und als wir uns allgemach wieder der Seite näherten, von welcher wir ausgegangen waren, sahen wir in der geöffneten Thür des Musiksaales einen hohen Schatten auftauchen, bei dessen Anblick wir Beide zusammenzuckten. Fräulein Adrianoff preßte meinen Arm mit Ungestüm an sich und zog mich näher zu der bewußten Thür.

Der Capellmeister kam uns bereits entgegen. Mit der Sicherheit, die ihn nie zu verlassen scheint, verfügte er auch jetzt wieder über einige Salonphrasen und begann sogleich bei der nächsten Blumengruppe eine so eifrige Unterhaltung über diesen Gegenstand, als hätten wir Alle an dem Abende für nichts Sinn als für botanische Studien. Ein einziger seiner adlerartigen Blicke mochte ihn übrigens belehrt haben, daß Wéra und ich uns verständigt hatten, denn alsbald begann er, nur dem Eingeweihten verständliche Bemerkungen einzuflechten, die sie schnell genug begriff und in ähnlicher Weise zurück gab. Jetzt strahlte ihr Antlitz vor innerer Glückseligkeit. Bald französisch, bald deutsch, rasch wie Blitzfunken flogen die Worte, die bald einen Doppelsinn, bald verdeckte zärtliche Betheuerungen enthielten, hin und wieder, und ich Unglückliche stand dabei mit äußerlich lächelnden, gleichgültigen Mienen, innerlich zerschmettert von dem deutlichen Bewußtsein, daß meine Gegenwart als diejenige einer unverdächtigen Dritten nur dazu diente, das verliebte Paar zu decken, indem es sich verbotene Liebeserklärungen machte. Und – o, er hatte Alles so fein eingefädelt, daß ich nichts daran ändern konnte, ohne mir eine Blöße zu geben. Es war um den Verstand zu verlieren, und wäre in diesem Augenblicke die Decke des Saales über uns herabgebrochen, uns Alle in einem Sturze begrabend – ich würde nicht einmal Schreck empfunden haben. Endlich kommt indessen der Mensch doch an die Grenze dessen, was ihm zu ertragen möglich ist. Als ich auch Constantin Feodorowitsch, der bis dahin, von unserem Gebieter in lebhafter Unterhaltung festgehalten, mit diesem im Saale auf- und abgewandert war, scharfe Blicke zu uns herüberwerfen sah, richtete ich an Hirschfeldt die dringende Aufforderung, noch einige Musikstücke vorzutragen.

„Für Sie thue ich Alles,“ antwortete er, „was Sie nur wollen. O Fräulein Helene, wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin!“

Ich hielt seinen leuchtenden Blick aus, ohne zu zucken oder die Farbe zu wechseln, das fühlte ich, und fragte ziemlich kühl: „Wie wissen Sie denn eigentlich, daß Sie sich auf mich verlassen können?“

Ueber seine Züge glitt ein unnachahmliches Lächeln. „Ich weiß es aus Ihrem Spiel,“ erwiderte er. „Sie haben mit Gefühl gespielt, also wußte ich, daß Sie ein Herz haben, und wenn ich sage, Sie sind Künstlerin, so wende ich es nicht auf das Spiel an, sondern auf das Herz. Sie haben ein warmes, fühlendes Künstlerherz, Sie verstehen also, daß der Geist und die Kunst den Menschen adelt und nicht die Geburt, was die Menschen nicht begreifen wollen in diesem Lande der Vorurtheile.“

Er ging an den Flügel und spielte hinreißend. Ich konnte ihm nicht zürnen, obwohl ich begriff, daß dieser Hymnus des Glückes nicht an mich gerichtet war, obwohl ich nur zu gut verstand, wie Alles, was an diesem Abende mächtig wogend durch sein Herz fluthete, was er mit Worten nicht aussprechen durfte, jetzt in brausenden Jubeltönen hervorbrach, bald durch rauschende Accorde sich verkündend, bald im sanften Adagio mit süßen Schmeicheltönen die Seele bestrickend.

Ich verstand, was diese Sprache sagen wollte, und dabei ließ Wéra für den Rest des Abends meine Hand beinahe nicht mehr aus der ihrigen und sah mich mit seligen, dankbaren Blicken an. Es war wie ein Rausch, wie ein Fieber, in dem ich mich befand, und dann, als sie Abschied genommen hatten, als ich endlich auf meinem Zimmer allein war, brach ich fast zusammen. Ich schlief in dieser langen, ruhelosen Nacht keinen Augenblick. Und am folgenden Morgen, da ich mich wieder von meinem Lager erhob, war ich gerade so wach, wie ich mich niedergelegt hatte. Ich fühlte mich matt zum Sterben und an allen Gliedern wie zerschlagen, aber ein Entschluß hatte sich doch in mir durchgerungen durch alle Verwirrung meines Geistes und Gemüthes in den Kämpfen dieser Nacht. Die schwache Menschennatur in mir möchte sich empören, Wéra zu hassen als meine Nebenbuhlerin, und dennoch kann ich es nicht, denn sie hat meine Seele eingenommen durch ihren Liebreiz, ihre hingebende Offenheit. Diese beiden Menschen, deren Vertraute ich so wider Willen geworden bin, sollen sich ungeachtet dessen nicht in mir getäuscht haben. Ich will thun, was in meinen Kräften steht, Wéra vor böser Nachrede zu bewahren, denn das ist mir bereits klar geworden, daß von allen Seiten Blicke voll Neugierde und Böswilligkeit spähend auf sie, die Vielbeneidete, gerichtet sind. Ich werde immer suchen, im geeigneten Augenblick an ihrer Seite zu sein, um hier bei uns wenigstens Unvorsichtigkeit ihrerseits zu verhüten, sie zu warnen. Was weiter werden soll? Gott helfe mir – ich habe keine Ahnung davon.

Als ich das Frühstückszimmer betrat, fand ich Olga in lebhafter Unterhaltung mit unserm Gebieter, und diesen allem Anscheine nach in der behaglichsten Stimmung. Sobald die Gouvernante mich erblickte, wechselte sie indessen, wie mir nicht entgehen konnte, das Gesprächsthema. Sie wendete sich an mich und sagte in einem Tone, dessen bedauernder Ausdruck unwillkürlich mein Mißtrauen weckte:

„Aber wie angegriffen Sie aussehen, Helene! Sollten das die Folgen der gestrigen Anstrengung sein?“

Ich gab mir Mühe, so gleichgültig wie möglich zu erscheinen, indem ich ihr erwiderte, daß sie sich wohl täuschen müsse, da ich mich vollkommen wohl fühle.

„Wer Ihnen das glauben wollte!“ sagte Olga Nikolajewna, und aus ihren glänzenden, blauen Augen flimmerte es mir wie versteckte Bosheit entgegen. „Sollten nicht am Ende gar die musikalischen Studien an der Blässe Ihrer Wangen schuld sein?“

„Es ist möglich,“ antwortete ich kühl und nahm dem Diener die Tasse ab, die er mir eben präsentirte. „Ich habe in den vorhergehenden Tagen recht viel geübt, und das greift stets ein wenig die Nerven an. Wie ich Ihnen aber schon bemerkte, ich spüre nichts davon.“

Olga versicherte mir, daß sie darüber entzückt sei, weil im ersten Augenblick mein Aussehen sie wirklich erschreckt habe, und dann erging sie sich in einem wahren Schwall von Lobeserhebungen über unsere gestrigen Musikaufführungen. Ich mußte ihr darauf antworten mit dem deutlichen Bewußtsein, daß von einigen Menschen ein zuvorkommendes Wesen unangenehmer berührt als ein gleichgültiges oder gar rücksichtsloses. Iwan Alexandrowitsch schien jedoch in dem Punkte anderer Meinung als ich.

Er ließ sich wenigstens die Aufmerksamkeiten, mit denen ihn Olga während des Frühstücks überschüttete, äußerst gnädig gefallen und richtete mehrmals in Anerkennung derselben Schmeicheleien an sie, deren vertraulicher Ton mich in Verwunderung setzte.

Ich kenne Iwan Alexandrowitsch weit länger als sie, und doch hat er in solcher Weise noch nie mit mir gesprochen, was ich freilich in keiner Weise bedaure. Diese kleine Gouvernante versteht die Männer entschieden an sich heran zu ziehen. Ich denke, es kommt daher, daß sie versteht, dieselben immer zu amüsiren, wenn sie auch in den Mitteln zur Erreichung dieses Zweckes nicht eben wählerisch ist.


(Fortsetzung folgt.)


Die Kehlkopfkrankheiten und der Kehlkopfspiegel.

So lange die Kehlkopfhöhle für das Auge des Arztes unzugänglich war, blieb auch die Kenntniß der Krankheiten dieses Organs, die zu den häufigsten Feinden der Gesundheit gehören und nicht selten lebensgefährlich werden, eine unvollkommene, weil die Diagnose derselben nicht auf direkter Anschauung beruhte. Erst mit Erfindung und Anwendung des Kehlkopfspiegels fiel auch diese Schranke für die ärztliche Kunst, und das Auge ist seitdem im Stande, unbehindert in die Tiefe dieses wunderbaren Organs der Tonbildung und Sprache einzudringen, ja selbst noch weiter hinab bis in die große Luftröhre, die wie der Kehlkopf [633] selbst häufig genug der Sitz mannigfacher Uebel ist. Durch diese neue, directe Untersuchung, die alle Theile des Halses für den Arzt genau sichtbar macht, vervollkommnete sich die Kenntniß der Krankheiten ganz wesentlich; besonders gewann die Diagnose einen sicheren Boden, und auch die Therapie, die Lehre von der Heilung, wurde eine fast völlig neue und erfolgreichere. An die Stelle der früheren inneren Behandlung mit Medicin trat auf Grund der directen Besichtigung die örtliche, indem die Heilmittel-Stoffe unmittelbar mit Pinsel oder Instrument in den erkrankten Kehlkopf eingeführt werden. Auf diese Weise gelingt es jetzt, Krankheiten des Halses zu heilen, denen früher nur unvollkommen oder gar nicht beizukommen war, und es ist daher wohl erklärlich, wenn die neue Behandlungsweise rasch das Vertrauen der Aerzte sowie der Kranken gewonnen hat.

Fig. 1. Künstliche Beleuchtung des Kehlkopfes.

Zum besseren Verständnisse hier einige Bemerkungen über die Halskrankheiten selbst. Wenn wir zunächst von denen des Kindesalters (Bräune, Diphtheritis) und den selteneren der Erwachsenen (Lähmungen, Polypen, Krebs) absehen, so sind besonders drei Arten wegen ihrer Häufigkeit und Hartnäckigkeit wichtig.

Fig. 2. Das Innere des Kehlkopfes, im Spiegel besehen.
a. Aufgeklappter Kehldeckel. b. Rechtes Stimmband, der Zwischenraum zwischen beiden: die Stimmritze. c. Raum unter den Stimmbändern: die Luftröhre. d.Seitenwand der Kehlkopfhöhle.

I. Der chronische Katarrh (oder Entzündung), chronische Heiserkeit. Er ist fast immer begleitet von Hustenreiz und Abgang eines zähen, schleimigen oder schleimig-eitrigen Auswurfs, ferner von Schling- und Athembeschwerden (Kurzathmigkeit). Bei geringeren Graden ist die Stimme nur wenig heiser oder belegt, aber immer unrein, rauh und klanglos, und der Kranke leidet an zu reichlichem Schleime im Halse sowie an Beschwerden beim Sprechen; in schwereren Fällen ist dagegen die Stimme dauernd heiser, dabei besteht oft starke Verschleimung sowie schmerzhafte Empfindung, und das Uebel ist dann schwer heilbar. Sein Entstehen verdankt er fast immer einem nicht rein abgeheilten acuten Katarrh. Jeder weiß, wie häufig im Winter und Frühjahr Erkältungen des Halses mit Heiserkeit, Husten etc. sind. Sie werden oft zu wenig beachtet und verschleppen sich deshalb leicht über Wochen und Monate, das heißt sie werden chronisch. Während nun die acuten (frischen) sich bei gehöriger Schonung und Warmhalten rasch verlieren und ohne Gefahr sind, ist der chronisch gewordene Katarrh (Heiserkeit) fast immer ein hartnäckiges Leiden, das im besten Falle leicht Rückfälle macht und nicht selten zu bleibenden Störungen des Stimmorgans (Geschwür, Anschwellung, Lähmung der Stimmbänder) führt. Die Hauptgefahr derselben liegt aber darin, daß sich der chronische Entzündungsproceß des Kehlkopfes längs der Luftwege nach unten fortsetzt und endlich in der Lunge zur chronischen Entzündung, der Lungenschwindsucht, führen kann, welche dann den Schlußact eines vernachlässigten Halskatarrhs bildet. Hierin liegt der Grund, weshalb die Halskatarrhe vom Laien sehr gefürchtet werden; und wenn der Zusammenhang beider Uebel nicht immer augenfällig ist, so trägt daran nur der Umstand die Schuld, daß oft Jahre bis zur Ausbildung der Lungenkrankheit vergehen, und weil das Weitergreifen nach den Lungen nicht von sehr auffälligen Symptomen begleitet ist. Nur zu oft wird der Kranke erst zu spät aufmerksam, wenn nämlich bereits Abmagerung, Entkräftung, eitriger Auswurf oder Blutspucken eingetreten sind und keine Hülfe mehr möglich ist.

II. Die Kehlkopfschwindsucht entsteht meist nur bei gleichzeitiger Lungenkrankheit und ist die gefährlichste Halskrankheit. Wo nämlich Lungenschwindsucht vorhanden, tritt oft Heiserkeit, Stechen und Hustenreiz im Halse, Schmerz beim Schlucken etc. ein, weil sich der gleiche Proceß wie in der Lunge auch im Kehlkopfe entwickelt hat und bald zu eiterigem Katarrh, bald zu Geschwüren und Substanzverlusten führt. Zum Glück tritt dieses so gefürchtete und oft unheilbare Leiden nur selten bei einem sonst gesunden Menschen ein, sondern fast immer nur im Gefolge der vorher vorhandenen Lungenkrankheit. Daß sich aber auch hin und wieder bei ganz Gesunden aus chronischen Katarrhen des Kehlkopfes die schwereren Formen der Kehlkopfschwindsucht entwickeln können, so daß also die Schwindsucht (Geschwürsbildung) im Kehlkopfe zuerst auftritt und sich dann auf die Lungen ausbreitet, wurde bereits oben erwähnt und davor gewarnt.

Hier kann sich der Kranke vor den Schädlichkeiten des Klimas und der Luft nicht genug schützen, und besonders müssen sich Brustkranke sorgfältig vor Rauch, Staub und Zugluft hüten, wenn sie sich vor einem Kehlkopfleiden bewahren wollen. Vor Allem ist aber auch vor dem zu reichlichen Gennß des Lagerbieres und anderer erhitzender Getränke zu warnen, wegen der damit verbundenen Aufregung des Nervensystems und der Herabsetzung der Ernährung. Der Respirator bleibt aber im Winter das beste Schutzmittel, besonders wenn er bei Zeiten und dauernd in Anwendung kommt.

III. Die letzte Kategorie der Halsleiden endlich sind die nervösen, meist hartnäckige, doch nicht gefährliche Uebel. Sie sind ebenfalls charakterisirt durch Beeinträchtigung der Stimme, welche leicht rauh, klanglos, heiser wird, sowie durch Neigung zum Hüsteln und ein Gefühl von Drücken oder von Trockenheit im Halse. Hier liegt weniger ein katarrhalischer Proceß, als eine Erschlaffung der Stimmbänder und ihrer Muskeln zu Grunde; man trifft daher diese „Schwäche“ oder Reizbarkeit der Stimme häufig bei Sängern, Geistlichen und Lehrern, welche die Stimme anstrengen. In Folge dieser Ursachen oder klimatischer Einflüsse, besonders in der rauhen Jahreszeit, treten diese nervösen Uebel bald als Ueberschnappen und Versagen der Stimme auf, wobei oft allerhand schmerzhafte Empfindungen beim Sprechen vorhanden sind, bald als Klanglosigkeit, Heiserkeit der Stimme, oft mit dem Gefühle eines fremden Körpers im Halse verbunden. Hier helfen in der Regel nur Curen mittelst des galvanischen Stromes, sowie eine zweckmäßige Kaltwasserbehandlung, oder auch Selters- und andere Mineralwässer mit heißer Milch getrunken. Von gutem Erfolge sind auch klimatische Curen bei gewissenhafter Schonung der Stimme.

Fig. 3. Kehlkopfspiegel in natürlicher Größe.

Die Technik der Kehlkopfuntersuchung ist nun im Wesentlichen [634] die folgende. Das Licht einer großen Flamme wird entweder direct mittelst eines großen Hohlspiegels oder, nachdem es durch ein Linsensystem und einen kleinen Hohlspiegel (Tobold’sche Lampe[1], Figur 1) concentrirt worden ist, in die weitgeöffnete Mundhöhle des zu untersuchenden Kranken geworfen, so daß dessen Rachen (Schlundkopf) von den concentrirten Strahlen hell erleuchtet wird. Der Arzt hält nun einen kleinen runden Planspiegel (Figur 3), der an einem längeren Griffe befestigt ist, so an die hintere Rachenwand, daß das in die Mundhöhle fallende Licht herab in die Kehlkopfhöhle geworfen wird, sobald der Kehldeckel durch Aussprechen des Lautes „Ae“ sich geöffnet hat. Dadurch wird dieselbe völlig erleuchtet und der Beobachter kann in dem kleinen Spiegel alle Theile bis herab in die Luftröhre genau abgespiegelt sehen. (In Figur 2 ist das so gewonnene Bild eines gesunden Kehlkopfes dargestellt, unter Beseitigung der aus der schrägen Lage des Spiegels hervorgehenden Verkürzung.) Noch günstiger ist das Sonnenlicht, das man entweder direct oder mittelst eines Planspiegels in den Hals fallen läßt.

Auf diese Weise gelingt es ohne Schwierigkeit, nicht blos die Krankheitserscheinungen (Entzündung, Anschwellung, Geschwür, Neubildung etc.) genau nach Sitz und Ausbreitung zu erkennen, sondern auch die Heilung durch unmittelbar dahin eingeführte Substanzen (vermittelst Einpinselung) zu bewerkstelligen. Am meisten hat sich diese Behandlung bisher bei der chronischen Heiserkeit, in Folge von Katarrh, wenn es noch nicht zu Geschwüren an den Stimmbändern etc. gekommen, bewährt, und hier übertrifft diese Behandlung jede andere an Sicherheit, weil durch das Einpinseln zusammenziehender Stoffe die Auflockerung und Absonderung der Schleimhaut am besten beseitigt wird. Durch die Beleuchtung des Kehlkopfes ist es ferner möglich, schneidende und kneipende Instrumente in denselben einzuführen, um kleine Geschwülste (Polypen) etc. auszurotten oder einen dahin verirrten Gegenstand (Gräte, Knöchelchen etc.) herauszuholen, oder endlich Geschwüre, die in Folge gewisser sexueller Leiden entstehen, mit ätzenden Mitteln zur Verheilung zu bringen. Nicht minder erleichtert der Kehlkopfspiegel die Behandlung mittelst des galvanischen Stromes, welcher bei Lähmung der Stimmbänder, wie sie nach Diphtheritis oder nach großer Anstrengung der Stimme nicht selten zurückbleibt, sowie bei nervöser Heiserkeit, angewandt wird. Noch ist freilich viel zu thun übrig: die schlimmsten Erkrankungsformen, besonders die mit Geschwürsbildung verbundenen und von Lungenkrankheiten begleiteten, sind zur Zeit noch meist unheilbar. Ihre Beseitigung glückt nur im Beginne der Krankheit, und darin liegt die ernste Mahnung bei verdächtigen Beschwerden, möglichst bald Hülfe zu suchen und vor Allem einen Respirator zu tragen sowie auch rauch- und staubgefüllte Räume unbedingt zu meiden.

Besonders ist aber die arbeitende Classe vor dieser schlimmsten Geißel der Menschheit zu warnen, weil sie unter ihr die meisten Opfer sucht. Der Grund davon liegt nicht blos darin, daß diese den Ursachen der Lungenkrankheit am meisten ausgesetzt ist, sondern gewiß auch in der großen Gleichgültigkeit, mit der man beginnende Leiden behandelt, und zum nicht geringen Theile ist auch die Abneigung schuld, welche jetzt Viele der unteren Stände gegen die wissenschaftliche Heilkunde erfüllt, sowie die Eitelkeit, Alles besser wissen zu wollen als der Arzt. Erst nachdem die für die Heilung günstige Zeit mit unnützen Quacksalbereien verloren worden ist, und die Krankheit das Leben bedroht, wird ärztliche Hülfe gesucht; so erklärt sich die traurige Wahrnehmung, die auch ich leider nur zu häufig in meiner Klinik für Halskranke gemacht habe, daß die Kranken erst dann zur Behandlung kommen, wenn sie unheilbar sind. –

Da nun die Heilung im entwickelten Stadium so schwierig ist, kommt Alles auf vorbauende Maßregeln an. Als wirksam haben sich im Anfange sowohl bei der Schwindsucht der Lungen wie des Kehlkopfes, im Uebrigen richtige Diät und Schonung vorausgesetzt, Einathmungen von Tannin, Salmiak- oder Kochsalz erwiesen, und neuere Erfahrungen haben gezeigt, daß vor diesen Stoffen die wegen ihrer desinficirenden Kraft jetzt viel angewendete Carbol- und Salicylsäure noch den Vorzug verdienen, welche, gehörig mit Wasser verdünnt, als Inhalation aus einem Einathmungsapparate mit bestem Erfolge im ersten Stadium dieser Krankheiten angewendet werden. Sind sie auch in vorgeschrittenen Fällen kein Heilmittel, so doch bei Beginn des Leidens das beste Schutzmittel, da sie die krankhafte (eiterige) Absonderung der Schleimhaut beseitigen und so den Husten und Auswurf am rationellsten bekämpfen. Jedenfalls ist von ihnen mehr zu erwarten, als von den sonst üblichen innerlich zu nehmenden Arzneistoffen, die den Hustenreiz nur zu lindern vermögen.

Selbstverständlich müssen diese Einathmungen unter Leitung eines Arztes und längere Zeit hindurch angewendet werden; ich bemerke ausdrücklich, daß sie nicht dann noch Wunder thun können, wenn bereits Geschwürszerstörungen im Kehlkopfe und in den Lungen eingetreten sind und der Organismus durch Fieber und Nachtschweiße zerrüttet ist. Am besten wirken sie im Beginne der Krankheit, wo die Kräfte noch gut erhalten sind, vorausgesetzt, daß der Kranke sonst vernünftig lebt und sich gehörig schont. Ich empfehle übrigens damit keineswegs eine neue Behandlungsweise, da sie schon längst und von vielen Aerzten gehandhabt wird; wohl aber ist ihre Anwendung insofern eine beschränkte geblieben, weil sie unbequemer ist als das Einnehmen von Medicin, und weil die Apparate nicht überall zu haben sind.

Auch gehört ja die Anwendung der Carbolsäure und besonders der Salicylsäure erst der jüngsten Vergangenheit an, da man erst seit kurzer Zeit ihre bedeutende antiseptische (fäulnißwidrige) Kraft zur Heilung zahlreicher Krankheitsprocesse verwerthen gelernt hat, und es ist begründete Aussicht, daß die Heilkunde mit dieser neuen Behandlungsweise, welche ihren Erfinder, Professor Lister, zunächst durch die Behandlung der Wunden so rasch berühmt gemacht, noch manchen schönen Sieg in der Heilkunde feiern wird.

Noch auf einen Hauptfehler in der Lebensweise der Brustkranken möchte ich aufmerksam machen: Die Kranken suchen den Ausfall der Kräfte und den Verlust des Appetites durch Reizmittel (scharfe, pikante, sehr gesalzene Speisen, in den niederen Classen durch Spirituosen) zu decken; das ist verkehrt und sehr nachtheilig. Die Reizmittel vermehren den Magenkatarrh, und die Nahrung geht dem Körper nicht zu Gute. Kräftige Kost ist wohl nöthig, aber leicht verdaulich muß sie sein, denn die Erhaltung des Appetits geschieht am besten durch passende Diät. Diät leben heißt aber freilich oft den liebsten Genüssen entsagen, und dazu will sich Arm und Reich nur schwer verstehen.

Dr. Klemm.



Die Kreuzesschule in Oberammergau.

Ein seltsamer Zug war’s, der sich vor einigen Wochen die Landstraße am Starnberger See dem Gebirge zu bewegte und überall eine verwunderte Menschenmenge an sich lockte, als da waren: Bauern, die Mund und Nase aufsperrten, elegante Sommergäste, der Herr Pfarrer und die Schuljugend bis zum kleinsten Kinde herunter, kurz Alles, was eine halbe Stunde weit laufen konnte, um dem riesigen Ungethüme, der eigens zu diesem Zwecke gebauten Massei’schen Straßenlocomotive, ein Stück Weges das Geleit zu geben. Sie schleppte keuchend einen zehn Fuß breiten eisernen Wagen nach, dessen dreihundert Centner schwere Last, in ein kolossales Balkengerüst eingeklammert und von Blumenkränzen und wehenden Fahnen bedeckt, fremdartig genug durch die Landschaft zog.

Es war der große Christus, die Mittelfigur zur Kreuzesgruppe, die König Ludwig der Zweite der Gemeinde Oberammergau als Anerkennung für das Passionsspiel von 1871 geschenkt hat und die solchergestalt aus des bekannten Meister Helbig’s Atelier in München über Berg und Thal den schwierigen Weg nach ihrem Bestimmungsorte nahm. Die letzte Strecke, besonders der bekannte entsetzlich steile Ettaler Berg, wo sämmtliche Passionsspiel-Reisende [635] aussteigen müssen und die leeren Wagen mit Vorspann weiter befördert werden, schien dem Transporte ein unübersteigliches Hinderniß entgegen zu stellen. Aber die sinnreiche Construction des Wagens trug den Sieg davon: seit vierzehn Tagen sind alle Figuren in Ammergau angelangt, leider nicht ohne das Opfer dreier Menschen, welche ein kleines Versehen beim Hinaufwinden der letzten Figur, des Johannes, mit dem Tode unter der herabstürzenden Kiste büßen mußten. Die Reisecaravane wälzt sich heute achtlos an dem Orte vorüber, wo aufgewühltes Erdreich, hingeworfene Bretterstücke und geknickte Bäume deutlich genug die Unglücksstelle verkünden. Dicht daneben steht ein großer Ameisenhaufen unbeschädigt – ringsum flüstern die Hochwaldtannen, drunten rauscht der Wildbach. Es ist eine echte Hochgebirgsstraße, auf der, wie der Postillon gleichmüthig versichert, schon viel Unglück passirte.

Beim hochgelegener Kloster Ettal, wo der Reisende die Wahl hat zwischen der raschen Besichtigung der prachtvollen Kirche oder – einer „Stehhalben“, (die Meisten entscheiden sich für das Letztere) wird wieder eingestiegen und nun geht’s durch die sinkende Nacht vollends nach Oberammergau, dessen Kirchthurm und Häusergiebel sich scharf vom Nachthimmel abheben. Das Gefühl des „Unternommenwordenseins“, was sich schon herwärts durch die Art der Verpackung und Beförderung sehr bemerkbar macht, erreicht seinen Höhepunkt in dem Augenblicke, wo man, Einer nach dem Andern, sein in München erstandenes Wohnungsbillet in einer schlechtbeleuchteten Parterrestube vorzeigt und darauf als Nummer so und soviel gefaßt und in irgend einem nahen Bauernhause untergebracht wird.

Beiläufig sei hier für diejenigen, welche das Spiel noch zu besuchen gedenken bemerkt, daß diese sehr prosaische Beförderungsmethode dennoch die einzige sichere ist. Man nimmt in München bei Juwelier Thomas eine Karte für Schiff, Omnibus, Wohnung und Theater und ist damit aller Sorge ledig. Andernfalls kann man am Abend sehr rathlos in dem überfüllten Orte stehen. Wir begaben uns in’s nahegelegene Wirthshaus, wo dem Vernehmen nach die Patriarchen und Apostel sammt dem Herrn Christus ihren Abendtrunk hielten, und hatten uns richtig nicht getäuscht. In der niedrigen, rauchigen menschenüberfüllten Wirthsstube mußte Einem trotz des Alles erfüllenden Qualms dieser Tisch voll prachtvoller, langbärtiger Männerköpfe sofort auffallen. Da saß obenan „der Christus“ in einer grauen Lodenjoppe, auf welcher sich das langherabwallende schwarze Lockenhaar seltsam genug ausnahm, und unterhielt sich eifrig mit dem nebensitzenden Abraham – über das Bier. Abel und Kain, Joseph und seine Brüder hatten gleichfalls ihre Maßkrüge vor sich stehen und waren für heute noch „Menschen, wie die Andern auch“. Sehr hervorzuheben ist es indessen, daß der große Erfolg ihrer Spiele den Leuten nicht den Kopf verdreht hat. Der Christus sprach sich mit aller Bescheidenheit über die allseitigen Leistungen aus und meinte, man möge keine großen Ansprüche machen, es sei eben doch nur ein Bauerntheater und keine Hofbühne. Manchen alten Bekannten vom Passionsspiele her sahen wir noch, Annas und Kaiphas, sowie die Jünger Jesu. Nur Johannes war nicht zu sehen – er ist seit zwei Jahren beim Militär.

Eine Stunde später wiegte der rings herniederplätschernde Regen ganz Ammergau zur Ruhe, welcher sich Diejenigen mit besonderem Hochgefühle hingaben, die, vom Schicksale begünstigt, im Hause des „Prologs“, Joseph’s von Arimathia oder gar der heiligen Jungfrau übernachteten. Die Letztere, Herrn Zeichenlehrer Flunger’s schöne Tochter, „thut“ dieses Jahr nicht mit, dagegen ihre jüngere Schwester, welche die Rolle der Sarah spielt.

Trotz der schlechten Vorbedeutung des gestrigen Regens glänzte am andern Morgen heiteres Frühlicht über dem Thale, und bei seinem Scheine trat ich noch einen kleinen Rundgang vor der Vorstellung an. Mitten in dem schönen, offenbar sehr wohlhabenden Dorfe steht die Kirche in dem etwas erhöhten Friedhofe, dessen vordere Ecke von einem stattlicher Denkmale für die Gefallenen des letzten Feldzuges gekrönt wird. Das Hochamt war im Gange. Goldstarrende Geistliche an drei Altären, das Volk regungslos auf den Knieen – man konnte spüren, welche Macht der Clerus hier zu Lande ausübt. Noch ein Gang hinüber nach dem Aussichtshügel, wo die kolossalen Kisten liegen und die Locomotive rastet, von wo das neue Crucifix künftig über Dorf und Thal schauen wird, und nun endlich nach dem Theater!

Die große Bretterbude des „Passionsspiels“ hat die Hälfte vom Zuschauerraum eingebüßt und ist vollständig gedeckt, so daß nicht wie ehemals der blaue Himmel und die grünen Alpenweiden über die Scene hereinschauen. Im Innern kämpft das Tageslicht mit der Lampenbeleuchtung, der Vorhang zeigt eine römische Säulenhalle mit der Aussicht auf Jerusalem. Die „Logen“ und „Sperrsitze“ erweisen sich sämmtlich als tannene Bänke, auf welchen es schon ziemlich eng zu werden anfängt, und während der noch übrigen Minuten gewährt ein musternder Blick in das buntgemischte Publicum großes Interesse, denn die Gegensätze von Bauern, Engländern, Münchener Ultramontanen und Berliner Journalisten berühren sich hier nahe genug. Auch der hochwürdige Clerus ist in imposanter Menge vertreten.

Inzwischen beginnt, von dem Schullehrer Herrn Josef Kirschenhofer als Componisten geleitet, das Orchester die Introduction. Während derselben theilt mir ein Nachbar mit, daß die Kreuzesschule in der alten Form zuletzt im Jahre 1825 aufgeführt und nun als Feier und Dank für die geschenkte Kreuzesgruppe von Herrn geistlichen Rath Daisenhofer neu bearbeitet worden sei. Das Passionsspiel wird bekanntlich in Folge eines Gelübdes alle zehn Jahre aufgeführt. Diese Kreuzesschule ist eine Art von Gegenbild, denn während dort die „Handlung“ das Leiden Christi darstellt, mit eingeflochtenen symbolischen „Vorstellungen“ aus dem Alten Testament, bildet dieses hier den eigentlichen Stoff und kommen dazwischen als lebende Bilder oder „Vorstellungen“ die Scenen aus der Passion.

Während der Schlußaccorde im Orchester treten von rechts und links gleichzeitig mit gemessenen Schritten die „Schutzgeister“ unter Führung des „Prologs“ auf, treffen in der Mitte vor dem geschlossenen Vorhang zusammen und stehen dann ernsthaft in einer Reihe, ein wenig hölzern, alle mit der gleichen Handbewegung den Mantel auf der Brust festhaltend, aber mit so viel feierlicher Andacht in den frischen Gesichtern, daß ein Abglanz davon auf das Publicum übergeht. Mittlerweile beginnt der „Prolog“, ein schöner Mann mit dunklem Vollbarte in scharlachrothem Mantel und goldener Krone, seine Rede vom Erlöser.

Er knieet dann mit den Schutzgeistern rechts und links am Proscenium nieder und deutet während des Chorgesanges beim Heben des Vorhanges auf ein von anbetenden Gruppen umgebenes hohes Kreuz. Alle Darsteller, bis zum kleinsten Kinde herunter, zeigen eine staunenswerthe Ausdauer. In langen Minuten, während des Wechselgesanges der Engel, wird keine Bewegung sichtbar, selbst die zur Höhe gehobenen Arme zittern kaum merklich. Endlich senkt sich der Vorhang. Die Schutzgeister verlassen die Bühne feierlich gemessen wie sie kamen und es folgt die erste Abtheilung: der Bruderhaß.

In einer ganz hübsch gemalten Palmenlandschaft, vor der elterlichen Hütte, erscheint der mit Tigerfellen bekleidete Kain und ergeht sich in leidenschaftlichen Hassesreden gegen den bevorzugten Abel, dieser selbst kommt bald darauf und gießt mit seiner ahnungslos erzählten Opfergeschichte Oel in’s Feuer. Von Kain’s lauten Verwünschungen erschreckt, eilt Eva herbei und sucht Frieden zu stiften, was ihr bei der Ankunft Adam’s noch nicht recht gelungen ist, der traurigen Herzens die Folge seiner Sünde betrachtet.

Adam, der Christus des Passionsspieles, ist eine königliche Erscheinung voll Freiheit und Grazie der Bewegung; den sämmtlichen Anderen wird jede leidenschaftliche Gefühlsäußerung zur Klippe; Eva jammert ihre Klagen sehr gleichmüthig herunter, während Kain viel mehr mit den Armen ficht und über die Bühne tobt, als nöthig wäre. Die friedlichen Mitglieder der Familie Adam sind in Lämmerfelle gekleidet und nehmen sich, mit Ausnahme Abel’s, eines unscheinbaren Männchens, sehr gut aus. Während die Engel wieder singend auftreten, hat sich Adam rasch zum Christus metamorphosirt und treibt als solcher in der „Vorstellung“ die Wechsler aus dem Tempel. Ein lebendes Bild von circa fünfzig bis siebzig Personen, mit überraschendem Geschick und künstlerischer Empfindung gruppirt. Das Zusammenwirken der ganzen Gemeinde zu einer solchen Leistung fühlt sich [636] deutlich aus der hohen Vollendung des Ganzen heraus. Jedes lebende Bild ist von erklärenden Worten des Prologs, wechselnden Arien und Chorgesang der Engel begleitet, größtentheils eigene Composition des Dirigenten, untermischt mit eingelegten Gesangsstücken. Die Musik ist durchweg ausdrucksvoll, stellenweise nimmt sie sogar einen Anlauf zu Wagner’schen Effecten.

Nun folgt der Brudermord, Kain lockt Abel mit falschen Liebesreden auf’s Feld hinaus, um ihn dort zu erschlagen, und kommt dann, während Eva sich in neuen ausdruckslosen Wehklagen ergeht und Adam den Sohn draußen sucht, mit blutigen Händen zurück. Sofort erscheint der Engel, ihm sein Schicksal zu verkünden. Er stürzt verzweifelnd hinaus, während von der andern Seite Adam, den erschlagenen Sohn auf den Armen, daherkommt. Sanft legt er ihn nieder und tritt dann von der jammernden Eva weg, um mit prophetischen Worten den künftigen Erlöser zu verkünden. Die sämmtlichen Darsteller sprechen ein sehr fragwürdiges Hochdeutsch, reichlich mit hartem ch und sonstigen Dialekt-Eigenthümlichkeiten untermischt.

Kain’s Blutthat wird symbolisirt durch den Verrath des Judas. Nach der Einleitung zeigt sich das Innere des Tempels, wo Judas den Blutlohn aus der Hand des Hohenpriesters empfängt. Die sämmtlichen Costüme der Kriegsknechte, Juden und Priester sind so, wie wir sie auf Albrecht Dürer’s und seiner Zeitgenossen Bildern sehen, mittelalterliche Kürasse, türkische Kopfbunde und gehörnte Priestermützen – eine ganz rein erhaltene Ueberlieferung aus dem sechszehnten Jahrhundert. Bis hierher verhielt sich das Publicum ziemlich still, nun fangen einzelne Urtheile an, laut zu werden. „Wundervoll!“ „Weit unter meiner Erwartung,“ heißt es von rechts und links mit den verschiedensten Begründungen. Die folgende Handlung, Melchisedek’s Opfer, liefert den Vertretern der letzteren Ansicht reiches Material, denn es gehört eine Bauerngeduld dazu, die langathmigen Verhandlungen Abraham’s und des Königs von Sodom über den freien Durchzug für das Kriegsvolk ohne Langeweile anzuhören, um so mehr, als die Qualität des Gesprochenen keineswegs für die Quantität entschädigt. Aber der frühere Besucher des Passionsspiels sieht mit Ungeduld der nächsten Vorstellung des „Abendmahl Christi“ entgegen, welches nun in seiner ganzen herzbewegenden Schönheit sichtbar wird.

Getreu dem Leonardo’schen Bilde, sitzen die Apostel an der langen Tafel, prächtige Charakterköpfe voll Ausdruck und Leben, in ihrer Mitte der wahrhaft ideale Christus in violettem Gewande und rothem Mantel, das schöne Haupt wehmüthig segnend gegen sie geneigt – ein Anblick von so edler Großartigkeit, daß kein Auge unergriffen auf ihm ruhen kann. Die kurzen Minuten verstreichen allzu rasch, ich erinnerte mich auf’s Lebhafteste dieser Scene im Passionsspiele, wo Christus mit einer hoheitsvollen Anmuth, um die ihn jeder Hofschauspieler beneiden könnte, die Fußwaschung an den Jüngern vollzieht, dann in stillem Gebete Brod und Wein segnet und ihnen austheilt. Dies zu sehen, sogar nur hier als lebendes Bild, ist die Reise werth. Der Eindruck davon bleibt unverlöschlich im Gedächtnisse stehen.

Auch läßt sich nicht leugnen, daß diese neutestamentlichen Bilder die Glanzpunkte der heutigen Vorstellung sind. Die vierte Abtheilung, Abraham’s Ergebung in den göttlichen Willen, ist mehr zu erdulden als zu genießen, denn auch hier muß die gute Meinung und treuherzige Naivetät der Darsteller für viel langweiliges Gerede entschädigen. Sarah, eine schöne große Figur, wie aus Schnorr’s Bilderbibel, spielt weit lebendiger als Eva und bringt den Schmerz der Mutter beim Vernehmen des göttlichen Befehles besser zur Darstellung als Abraham, der mitten in seinem Jammer plötzlich ganz beruhigt sagt:

„Weg von mir, ihr zweifelnden Gedanken!“

und geht, seine Vorbereitungen zu treffen. Auch der verkündende Engel leistet in Theilnahmlosigkeit das Unglaubliche, wie denn überhaupt diese plötzlich hereinprallenden Bauernbubenengel mit ihren gellenden Stimmen das einzige bis zum Lächerlichen Triviale der ganzen Darstellung sind.

„Christus im Garten Gethsemane“ bildet die Vorstellung zum Vorhergehenden, ein schönes ruhiges Bild voll Mondesglanz auf den schlafenden Jüngern und dem eben mit tiefgeneigtem Haupte knieenden Christus. Von rückwärts fällt rother Fackelschein auf Judas und die eindringenden Häscher.

„Abraham’s Opfer“ ist um kein Haar dramatischer als Abraham’s Ergebung. Der Verfasser hat aus unbekannten Gründen vorgezogen, den Standpunkt nicht auf dem Berge Moriah zu nehmen, so daß wir nach Isaak’s wohlgemuthem Abschied: „Ich gehe zum Vater, aber über ein Kleines werdet ihr mich wiedersehen“, längere Zeit die Bitten und Klagen der hübschen Sarah anhören, bis endlich ein Diener und nach ihm Abraham und Isaak zurückkommen und das Vorgefallene erzählen. Die Einheit des Ortes und der Zeit ist damit allerdings glänzend festgehalten und das ländliche Publicum hört den langen Reden auf’s Andächtigste zu.

Nun kommt der Höhepunkt, das große Kreuzigungsbild, das den Weltruf der Oberammergauer Passion begründet hat. Der Vorhang rollt auf, und vor dem erschütternden Anblicke der drei hochaufgerichten Kreuze geht eine starke Bewegung durch den Zuschauerraum. Aber nicht nur ergreifend, sondern zugleich so wunderbar schön ist diese „Kreuzigung“, daß ein Gefühl der feierlichsten Andacht Jeden, und wäre er der blasirteste Weltmensch, bei ihrem Anblicke überkommt. Die kurzen Augenblicke genügen nicht, das figurenreiche Bild vollständig in’s Auge zu fassen, die Gruppen der weinenden Frauen, die Kriegsknechte, die unter dem Kreuze das Loos um den Mantel werfen, und das umstehende Volk: alle Blicke sind festgeheftet an dem ergebungsvoll geneigten schönen Haupte unter der Dornenkrone, an den tadellosen Linien dieser edeln Gestalt, die wie siegreich schwebend am Kreuze hängt. Die beiden Schächer, in der Weise befestigt, daß die Kreuzesarme unter ihren Schultern durchgehen, sind auch schön gebaute junge Männer, aber sie verschwinden vor dieser Christusfigur, welcher gegenüber, wie ich fest glaube, sich Niemand der augenblicklichen Illusion entschlagen kann. Kein Schauspieler von Profession könnte etwas Aehnliches leisten, denn gerade die vollständige Naturwahrheit und die völlige Verschmelzung mit der Rolle, die hier bis zur geringsten Kleinigkeit geht, machen den überwältigenden Eindruck.

Der Schauspieler muß ihr sehr genau entsprechen, da von künstlerischen Verschönerungsmitteln kaum die Rede ist, und eben weil er auf der Bühne seine wahre Persönlichkeit giebt, nimmt er auch ein Stück der Rolle in sie auf und trägt es in’s Leben mit hinaus. Auch in sittlicher Beziehung muß sein eigener Charakter mit der dargestellten Figur übereinstimmen, nur ein völlig unbescholtener Mann darf den Christus, nur ein züchtiges Mädchen die Maria spielen „Auch unter die Apostel,“ sagt Steub, „werden nur ehrsame und reife Männer aufgenommen, aber bei den römischen Kriegsknechten und den conservativen altjüdischen Bummlern, die es dem lieben Jesus verübelten, daß er das Christenthum stiften wollte, ist die Einreihung an weniger lästige Bedingungen geknüpft.“ Sämmtliche Theilnehmer des Spieles müssen überdies Ortsangehörige sein. – Das Glöckchen hinter der Scene klingt Allen zu früh, die sich mit großem Bedauern von dem ergreifend schönen Bilde trennen.

Die sechste und letzte Abtheilung „durch Dunkel zum Licht“ begreift als Handlung das glückliche Wiedersehen Joseph’s und seines Vaters Jakob, als Vorstellung die Auferstehung des Heilandes in sich. Keines von Beiden bietet besonderes Interesse; der alte Jakob könnte sich, so gut wie Abraham und Isaak, kürzer fassen, und der auferstandene Christus, mit Silberzindel behangen und auf einem Postamente stehend, mahnt bedeutend an die Krippenfiguren unserer Kinderjahre.

„Durch Treue in der Prüfungszeit
Folgt Jesu nach der Herrlichkeit,
Ihm nach in’s sel’ge Vaterhaus!
Dort ruht von Kampf und Mühen aus!
     Alleluja!“

schließt der Chorgesang die Vorstellung, und die Zuschauer verlassen, theils enttäuscht, theils hoch befriedigt, das Theater. Der laute Meinungsaustausch setzt sich noch über die große Wiese auf dem Wege zum Wirthshause fort, dem Alle schleunig zustreben, in der schwachen Hoffnung, noch Platz zum Essen zu finden. Vergebens! Bis unter die Hausthür schwillt der Strom der Gäste. Schweißtriefende Kellnerinnen rennen im Sturmschritte und beantworten keine Frage. Es bleibt nichts übrig, als sich mit Lebensgefahr in die prasselnde Küche zu wagen und ein paar Teller mit Braten zu annectiren. Oben am Saalfenster findet sich auch ein Plätzchen, ihn zu verzehren und zwischendurch [637]

Der Kaiser und sein Künstler.
Nach der Natur auf dem Teutberg aufgenommen von Knut Ekwall.




das Menschengewühl der Straße und die riesige Wagenburg zu betrachten, die sich binnen einer Stunde entwirren und in Bewegung setzen wird, denn die Abfahrt von Oberammergau ist so geschäftsmäßig regulirt wie die Ankunft.

Auf meine Fragen nach der Verwendung der großen Einnahmen erwiderte mir mein Nachbar, ein junger Bildschnitzer aus dem Orte, daß die einzelnen Darsteller durchaus kein großes Honorar beziehen. „Man vergütet ihnen natürlich die versäumte Arbeitszeit, und die Versäumnisse sind ziemlich bedeutend, da Alles mit der größten Sorgfalt eingeübt wird; im Uebrigen kostet die Garderobe ein bedeutendes Geld, und das Uebrige verwendet die Gemeinde für allgemeine Zwecke. Das neue Schulhaus, der Weg auf den Kreuzeshügel, das Denkmal für die Gefallenen sind aus den Spieleinnahmen hergestellt worden.“

Meine Frage, ob die ausgezeichnete Leistung des Christus diesem ein besonderes Gewicht im Dorfe verschaffe, verneinte er bestimmt. „Man erkennt gern an, daß er seine Sache sehr gut macht, aber im Uebrigen ist er ein einfacher Bildschnitzer, wie wir Andern auch. Die fremden Damen freilich,“ setzte er lächelnd hinzu, „wollen das gar nicht glauben. Sie würden sich wundern, wenn Sie all die kostbaren Geschenke sähen, die er nach dem vorigen Spiele bekommen hat. Ja, dem ist’s schon ein rechter Schaden, daß er vor dem Jahre 1870 verheirathet war,“ schloß er philosophisch, „der hätte große Partien machen können. Manche haben gemeint, sie können gar nimmer fort.“ In diesem Augenblicke ging der Besprochene selbst am Fenster vorbei, ich muß aber gestehen, daß ich in seiner Straßenerscheinung, abgesehen von den prächtigen Locken, Nichts fand,

[638] was die Begeisterung der Damen erklärte. Er war wirklich nur ein einfacher, wenn auch recht hübscher Bildschnitzer. Das anfangs zufällige Erhaltenbleiben des Passionsspieles hier im Orte, während es anderwärts aufhörte, hat demselben einen ganz besonderen Charakter verliehen, der sich überall fühlbar macht. Auch während der neun Ruhejahre zwischen zwei Vorstellungen hört das Leben nicht auf seinen Bezug darauf zu nehmen. Es bildet sich nach und nach die Meinung über die künftigen Hauptfiguren, die ihrerseits das Möglichste thun, sich ihrer Rolle würdig zu machen. Wenn man das Dorf durchwandert und die vielen gut erhaltenen religiösen Fresken an den Häusern sieht, welche letzteren nicht, wie in anderen erzkatholischen Orten, vernachlässigt und schmutzig, sondern reinlich und wohlhabend aussehen, so kann man sich der Erkenntniß nicht verschließen, daß hier eine eigene Welt für sich existirt, die durch kein von draußen her mitgebrachtes Schnitturtheil abzuthun ist. Ein religiöser Zug geht durch das Ganze und bringt hier, statt Fanatismus und Aberglaube, wie sonst mancher Orten, in Verbindung mit Kunstgefühl und Gemeinsinn eine alle zehn Jahre neu ausbrechende Blüthe hervor, die als Oberammergauer Passion eines wohlverdienten Weltrufes genießt.




Der Ehrentag des Teutoburger Waldes.

Eine bange Sturmnacht lag hinter uns. Von Mitternacht bis zum frühen Morgen hatte die Windsbraut den Gebirgswald durchtobt und die alten Eichenwipfel des Teutberges in wildem Kampfe geschüttelt. Es schien fast, als ob nun auch die Elemente ihre Ungunst an dem Heldenbilde auslassen wollten, welches seit mehr denn einem Menschenalter seiner Vollendung entgegengeharrt hatte und von den Stürmen manch trüber Zeit viel erzählen konnte. Wenn sie das Werk selbst, welches fest wie der Fels, auf dem es errichtet ist, von der Höhe des Teutberges in die Lüfte ragt, auch nicht mehr zu schädigen vermochten, so drohten sie doch, den lange erwarteten Ehrentag, zu dem Tausende von nah und fern herbeigeeilt waren, in einen grauen, unfreundlichen Regentag zu verwandeln und so den Glanz des Festes zu trüben.

Es war in der Frühe des letzten Tages vor dem Weihefeste, als ich durch den morgenfrischen Wald zu der Höhe hinanstieg, von der das Erzbild Armin’s hinabschaut auf die einst von ihm beherrschten Gaue und auf die Gefilde, in denen die römischen Legionen dem Racheschwerte seiner Deutschen erlegen waren. Drunten in den Gründen und Schluchten des Osning brauten wallende Nebelmassen, die in ihrem Ringen der Phantasie ein Bild des Kampfes boten, der vor nunmehr fast zweitausend Jahren dort gekämpft wurde und den auch heute der dort oben aus hoher Bergeszinne stehende, mit seinem Schwerte weithin über Berg und Thal winkende Feldherr wie damals zu lenken schien.

Höher wand sich der Weg längs dem Abhange des Berges hinan, mit jedem Schritte fast einen neuen Abschnitt des herrlichen Gebirgspanoramas entrollend, bis, am Fuße des Denkmals angelangt, ein vollständiger Rundblick dem Auge sich bot, welcher um so überraschender wirkte, als inzwischen Sonne und Wind die Nebel und Wolken hinweggescheucht hatten und nun die Gegend, vom hellen Glanze der Morgensonne bestrahlt, in ihrer ganzen Schönheit dalag. Gegen Norden schweift der Blick über das lippische Ländchen mit seinen freundlichen Städten und Dörfern bis zur Porta und den Weserbergen; nach Osten ragt der Brocken auf, während in Süden und Südwesten eine schöngeschwungen blaue Linie die hessischen und sauerländischen Berge bezeichnet, denen sich, im Dufte der Ferne immer mehr verschwindend, die bergischen und rheinischen Höhenzüge anreihen, bis weiter nach Westen hin die malerische Kette des Teutoburger Waldes mit ihren frischgrünen Laubmassen das Rundbild schließt.

Von dieser Stelle, wie man sie aus weit und breit nicht schöner hätte finden können, schaut der Cheruskerheld über das Land hinaus; und neben der Schönheit und Großartigkeit des Denkmals selbst ist es wohl gerade die Erhabenheit des sich hier dem Auge bietenden Gesammtbildes, was den Zauber spinnen hilft, von dem Jeder, der diese Stätte betritt, sich umweht fühlt.

Der Held, dessen Erzbild dort vor unseren Blicken sich erhebt, ist uns als Individualität zwar fremd geworden; sein in der Blüthe der Jahre dem Wohle des Vaterlandes geopfertes Leben verschwindet, wie sein tragisches Ende, im Dunkel der Geschichte, aus welchem nur seine große That gleich einem hellen Sterne hervorstrahlt; um so größer aber steht er, nicht als Person, sondern als Repräsentant einer großen Idee vor unseren Augen da, uns menschlich näher geführt durch den diese glanzvolle Erscheinung umhüllenden Schatten eines schweren Verhängnisses, welches Sohn und Gattin von des Helden Seite riß und ihn nach einer kurzen ruhmreichen Laufbahn einsam unter Mörderhänden verbluten ließ. Ein Ideal an jugendlicher Mannesschönheit, wie unser geistiges Auge ihn geschaut, so zeigt es sich uns auch hier, in übermenschlicher, hünenhafter Größe, das wuchtige Schwert in starker Faust hoch erhoben, ein Sinnbild deutscher Kraft.

Allgemach beginnt es auf dem Platze um das Denkmal und unter den Bäumen des Waldes lebendig zu werden. Ueberall, wohin man sieht, ragen Zelte und Bretterbuden aus dem dunkeln Laubgrün empor. Darüber wehen bunte Wimpel im Morgenwinde und ein lustiges Völkchen treibt sich emsig schaffend dazwischen umher. Dort vor seinem Waldhause erblicken wir den Schöpfer des Denkmals, den „Alten vom Berge“. Von einem zahlreichen Kreise seiner Kinder und Enkel, sowie einer Schaar zum Theil aus weiter Ferne herbeigekommener Freunde umgeben, sieht er, an einen Pfeiler seines Häuschens gelehnt, den Arbeitern zu, welche eben die letzte Hand anlegen, um den Platz zum Empfange der zahlreich erwarteten Gäste herzurichten, deren erste heute schon in hellen Haufen von allen Seiten den Berg hinanziehen. Trotz des warmen Augustmorgens hat er einen dicken warmen Pelzrock angelegt; denn die kühlen Nächte und das unfreundliche rauhe Wetter der letzten Tage, welches sich hier oben auf der Höhe doppelt fühlbar macht und dem das kleine Waldhaus wohl nur einen ungenügenden Widerstand entgegenzusetzen vermag, haben seine Gesundheit angegriffen und ihm heftige Gliederschmerzen zugezogen. Dennoch konnten alle Bitten seiner Freunde, drunten im Städtchen eine bequemere und geschütztere Wohnung zu beziehen und dort den Tag der Feier abzuwarten, ihn nicht dazu bewegen, sein altes Heim zu verlassen. Hier, wo er so lange gewirkt, will er nun auch ausharren als treuer Wächter bis zu dem Augenblicke, wo er sein Ziel ganz erreicht und das Werk seines Lebens dem deutschen Volke übergeben haben wird. Dieser Augenblick ist nun nahe, und welche Gedanken mögen wohl an dem Geiste des greisen Meisters vorübergehen, wenn er jetzt, nach siebenunddreißig langen Jahren mühsamer Arbeit und oft harten Kampfes hinblickt auf das in herrlicher Vollendung vor ihm dastehende Denkmal, das eigenste Werk seines Geistes und seiner Hand – und dann seinen Blick über den sonst so stillen Wald schweifen läßt, welcher belebt ist von den Schaaren derer, die von allen Enden Deutschlands herbeigekommen sind, um morgen seinen Ehrentag mit ihm zu feiern.

In dem Gasthause eines am Fuße der Grotenburg gelegenen kleinen Dörfchens, in welchem ich am Abend zuvor mit einer Schaar fremder Festgäste eingekehrt war, hängt das Bild eines schönen stattlichen Mannes mit ernsten, aber noch jugendlichen Zügen. Die edel geformte, mächtige Stirn und das große, leuchtende Auge lassen auf den ersten Blick den geistig bedeutenden Menschen erkennen und veranlaßten mich näher zu treten, um zu sehen, wen das Bild darstelle. Ich las: „Ernst von Bandel, Bildhauer“. Zwischen jetzt und der Zeit, aus welcher jenes Bild stammt, liegt ein volles Menschenalter, und so lehrt uns ein Blick auf dieses Bild und das Denkmal, was fester Wille und muthige Ausdauer zu erringen vermögen.

Der Platz vor dem kleinen Waldhause wird keinen Augenblick leer; bald sind es Freunde und Bekannte, bald Fremde, denen freilich der Alte vom Berge schon längst ein alter Bekannter geworden ist, und die ihn nun hier begrüßen. Aber so viele ihrer auch kommen mochten, für jeden hatte der in diesen Tagen

[639] gewiß viel Geplagte ein freundliches Wort. Als ich ihn zu Hut und Stock greifen sah, um in Begleitung seiner Gattin einen Spaziergang über den Festplatz und durch den Wald zu machen, trat auch ich auf ihn zu, grüßte ihn und bat um die Erlaubniß, mich ihm bei seinem Gange anschließen zu dürfen, was er freundlich gewährte. Die mannigfachen Ausschmückungen des Festplatzes schienen nicht gerade den besondern Beifall des alten Herrn zu besitzen, welcher wohl der Ansicht sein mochte, daß der rings den Festplatz umrahmende Wald den besten Schmuck abgebe; und in der That nahmen sich denn auch schon jetzt die theilweise noch von dem vergangenen Tage herrührenden und allmählich welkenden Kränze und Guirlanden seltsam genug neben dem frischen Laubgrün des Eichwaldes, dem sie entnommen waren, aus. Bald verließ ich den Gefeierten, der von immer neuen Andringlingen in Anspruch genommen ward.

Je weiter der Tag fortschritt, um so bunter wurde das Bild des sich hier oben entwickelnden Lebens, und erst der nahe Abend führte die fremden Gäste wieder zu der freundlichen mit Fahnen, Kränzen und Laubgewinden festlich geschmückten Lippe’schen Residenz hinab, wo man jetzt die Ankunft des Kaisers erwartete.

Gegen seine Gewohnheit ließ der Kaiser diesmal ziemlich lange auf sich warten. Endlich, es war etwa sieben Uhr, da dröhnte der erste Kanonenschuß durch die Luft; mit feierlichem Klange fielen die Glocken ein und donnernder Jubelruf brauste durch die menschengefüllten Straßen. Wenige Minuten später erschien der Kaiser, welcher zuvor am Thore von den Vertretern der Stadt und einer Schaar weißgekleideter Jungfrauen begrüßt worden war, in einem von vier prächtigen Isabellen gezogenen Wagen in der Biegung der Straße, neben ihm der Fürst zur Lippe. Auf’s Neue brach der Jubel los, welcher sich gleich einem Echo beim Erscheinen des im zweiten Wagen sitzenden Kronprinzen wiederholte und die hohen Gäste bis zu ihrer Einfahrt in den Schloßhof begleitete. Mit dem Eintritte der Nacht stiegen rings von den Höhen mächtige Feuergarben empor, den morgenden Festtag weithin über das Land verkündend.

Lange noch tönte der Jubel der Menge um das alte Schloß, und wiederholt trat der Kaiser, für die ihm geltenden Zurufe freundlich dankend, an das Fenster, so daß endlich ein altes lippisches Bauernmütterchen, in großer Entrüstung darüber, daß man den Kaiser immer von Neuem störte, ärgerlich ausrief: „Nee, nu is et genaug, de oole Mann möt sin’ Ruh häbben, hei kann ja kaum en Bieeten eeten! Loatet doch nu mal den Jungen kommen!“

Endlich ist der Jubel verrauscht, und nächtliche Stille ruht über dem Städtchen.

Der Festtagmorgen brach an, die Straßen wachten auf und lange vor dem Abmarsche des officiellen Festzuges begann der Zug des Volkes zum Berge. Wo der Weg am Fuße des Teutberges in den Wald einbiegt, erhob sich ein stattlicher Ehrenbogen, mit welchem dort die Söhne des Waldes den Kaiser beim Eintritte in ihr Reich empfangen. Dunkles Tannengezweig bildete das Material zu dem Bogen, der mit prächtigen Geweihen und einer interessanten Sammlung von Jagdwaffen, von der Saufeder und dem mittelalterlichen Radschloßgewehre bis zu dem modernen Hinterlader geschmackvoll decorirt war. Einen originellen und wirklich höchst malerischen Schmuck des Bogens aber bildeten vier kräftige Jägergestalten, welche je rechts und links, hüben und drüben, das Gewehr im Arme und den Schweißhund am Leitriemen, als lebende Statuetten in den mit braunem Haidekraute drapirten Nischen aufgestellt waren. Damit nichts an dem Bogen sei, was nicht dem Walde entstammte, hatte man sogar das in mächtigen Lettern über dem Bogen prangende „Willkommen im Teutoburger Walde“ aus Birkenrinde gefertigt, deren schneeiges Weiß sich wirksam gegen das dunkle Tannengrün abhob. Dieser wirklich prächtige Bogen, an welchem der Kaiser bei Fahrt zum Denkmale von achtzig lippischen Forstbeamten unter Führung ihres Chefs, des Forstmeisters Feye, mit dem klangvollen Waidmannsrufe „Ho-rü-do!“ empfangen wurde, erregte dessen lebhaftes Interesse, so daß er einige Zeit vor demselben halten ließ.

Nun aber hieß es für uns sich eilen; um noch vor dem Kaiser zur Höhe des Berges zu gelangen. Wir schlossen uns einer Schaar frischer, junger Forstleute an, und mit ihnen ging’s „auf wildverwachsenen Wegen, die noch kein Fuß betrat“, steil hinauf. Wohl zwanzig Minuten waren wir, ohne aufzublicken, bergan gestiegen; da lichtete sich der Tann – wie Wetterstrahl leuchtet es durch die Wipfel: das Erzbild Armin’s vom Glanze der Morgensonne umstrahlt. Noch wenige Schritte, und wir sind auf der Höhe. Wie das dort vor uns lebt und wogt! „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“

Auch ohne daß wir nach der engeren Heimat fragen, verräth uns der Laut der Sprache die Manigfaltigkeit der Landsmannschaft. Jedes Eckchen des großen deutschen Vaterlandes zählte seine Söhne hier; und daß auch das neue deutsche Reichsland nicht fehlte, zeigte uns das dort drüben luftig im Winde flatternde Turnerbanner von Straßburg, dem der unter dem Jubelrufe der Menge dort angelangte Kaiser seinen Gruß zuwinkte. Es war ein wahrer Wald von Bannern, die dort mit lustigem Wehen den Kaiser grüßten. Das wallte und flatterte in allen Formen, Farben und Zeichen: die meist schlichternste Fahne des Kriegers neben dem reichgestickten Banner des Sängers und Turners. Selbst von jenseits des Meeres waren sie herübergekommen, die Söhne Deutschlands; und wenn sie auch jetzt das Sternenbanner der neuen Heimath zum Gruße an das alte Vaterland flattern lassen – die Herzen sind deutsch geblieben!

Das Bild, welches sich jetzt dem Auge bot, bedürfte des Malers, um es in seiner bunten Mannigfaltigkeit und großartigen Eigenthümlichkeit wieder zu geben: Dort, gegenüber dem Bandelhäuschen, unter dessen blumengeschmückter Veranda der „Alte vom Berge“ neben seiner greisen Gattin, von seinen Kindern und Freunden umgeben, steht und mit freudig-bewegtem Blicke auf sein vollendetes Werk hinsieht, gewahren wir auf der mit Laubgewinden und Fahnen geschmückten Hoftribüne den Kaiser mit seinem Sohne, umgeben von einem Kranze fürstlicher Herren und Damen, so wie den Vertretern der Regenten von Sachsen, Bayern, Hessen und Baden; dahinter ein zahlreicher im Glanze von Orden und reichen Uniformen strahlender Hofstaat. Hüben und drüben, zu beiden Seiten, dichtgefüllte Tribünen. Den Raum zwischen der Kaisertribüne und der Bandelhütte nimmt der Festzug ein, dessen Vorhut, die sechszehn Horn’schen-Schlachtschwertirer in ihrer romantisch-mittelalterlichen Tracht, mit Panzerhemden und sechs Fuß langen Schlachtschwertern, gleichzeitig die Ehrenwache des Kaisers bildete. Der Ursprung dieser seltsamen Schaar reicht bis weit in das Mittelalter zurück, wo der Sage nach die Bürger des unweit Detmold gelegenen Städtchens Horn einst ihren Edelherrn, einen Vorfahren des jetzigen Fürsten, mit bewaffneter Hand aus der Gefangenschaft befreiten. Zur Erinnerung daran sind die bei dieser That gebrauchten Waffen und Rüstungen aufbewahrt und auf Kind und Kindeskinder vererbt; sie bilden bei feierlicher Gelegenheiten noch heute den Ehrenschmuck der dazu berechtigten Bürger. Neben diesen ernsten Gestalten, meist älteren Männern, zeigen sich die jugendlichen Gestalten der Turner und Studenten, letztere in vollem Wichse, mit Schläger und Federbarett; neben und hinter diesen die übrigen Mitglieder des Festzuges, und weiter hinaus, Kopf an Kopf gedrängt, die bunte, fröhliche Menge, welche bis hinauf zum Denkmal den weiten Raum füllt und noch auf den Stufen des Unterbaues Platz gefunden hat, während Der, dem alles dieses gilt, unbekümmert um das Treiben zu seinen Füßen, ruhig von seiner Höhe hernieder schaut. Den Rahmen zu diesem farben- und gestaltenreichen Gemälde bildet der das Ganze umschließende prächtige Eichwald, in dessen Wipfeln, wie auf dem Dache des Bandelhäuschens, eine Schaar kühner Kletterer ihren Platz gewählt hat; und über dem Allen wölbt sich der von goldigem Sonnenlichte durchstrahlte Himmel, an welchem lichte Wölkchen dahinsegeln.

Die ihrem Inhalte nach wirklich schwungvolle und von patriotischer Wärme getragene Festrede vermochte, da sie leider nur von Wenigen verstanden wurde und deshalb mehrfach zu Aeußerungen der Ungeduld Anlaß gab, die Feststimmung allerdings nicht zu erhöhen; doch bedurfte es dessen auch nicht, denn als nun der Weiheact selbst durch Entfalten der Reichsfahne und Kanonendonner unter Jubelrufe der Menge vollzogen war, hätte Nichts die Weihe des nun folgenden Augenblicks überragen können. Von dem Adjutanten des Kaisers geführt und auf den Arm seines Sohnes gestützt, schreitet dort der ehrwürdige

[640]

Festscene bei der Einweihung des Hermann-Denkmals.
Nach der Natur aufgenommen von Knut Ekwall.

[641] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [642] Meister durch die lautlos harrende Menge zur Kaisertribüne. Dort erheben bei seinem Eintritte Alle sich ehrerbietig, während der Kaiser den Künstler mit herzlichem Händedrucke bewillkommnet, ihm Glück wünscht zur Vollendung des Werkes und ihm im Namen des ganzen Volkes dankt.

Es war der bedeutungsvollste Augenblick des ganzen Festes, als beide Greise, der Kaiser und der Künstler, dort standen, Hand in Hand; Jeder auf der Höhe seines Wirkens, Jener in der Mitte seines durch ihn geeinigten Volkes, ein würdiger, nur glücklicherer Nachfolger des Helden, dessen Erinnerung die Feier des Tages galt; Dieser am Ziele seiner Arbeit und seines Strebens, den Lorbeer des Ruhmes empfangend.

Mit diesem Bilde hätten wir am liebsten die Feier beschlossen; allein die Pflicht der geschichtlichen Treue läßt uns nicht sofort abkommen.

Nicht ohne ein leises Unbehagen sah man abermals einen Redner die kleine Tribüne besteigen; es war ein Freund des Künstlers, Justizrath Lüders, der in kurzen herzlichen Worten das Verdienst des Meisters würdigte, welcher während dieser Ansprache, so viel als es ihm möglich wurde, sich den Blicken der Menge zu entziehen suchte und, mit der mächtig ihn überkommenden Bewegung kämpfend, still vor sich hinblickte. Nur einmal, als der Redner der mannigfachen Hindernisse gedachte, welche sich der Vollendung des Denkmals entgegenstellten, und gegenüber der oftmals eintretenden Muthlosigkeit aller Anderen die niemals wankende Zuversicht des Meisters schilderte, der auf alle gegen ihn laut werdenden bangen Zweifel stets nur die Antwort gehabt habe: „Seid unbesorgt, mit Gottes und des deutschen Volkes Hülfe schaffe ich das Denkmal doch noch fertig!“ – da erhob der Meister sein Haupt, und mit einem strahlenden Blicke die Menge überfliegend, schien er gleichsam sagen zu wollen: „Und seht Ihr wohl, daß ich mich nicht in meinem Vertrauen getäuscht habe!“

Vieltausendstimmig erschallte jetzt das Hoch auf den Meister durch den Wald, mit dem die Menge in den Ruf des Redners einstimmte. Der Kaiser selbst führte den Gefeierten von seinem Sitze an die Brüstung der Tribüne, um ihn der jubelnden Menge zu zeigen. Noch einmal umfuhr er dann das Denkmal in Begleitung des Meisters und verließ dann den Berg, während die Menge im Schatten der Bäume sich lagerte, um in geselligem Kreise beim Klange der Becher die Eindrücke des eben Erlebten in sich nachhallen zu lassen.

Während hier noch die Becher klangen, flog die Kunde von der herrlichen Feier auf den Flügeln des Blitzes bereits nach allen Winden über Land und Meer, um Alle, welche diese Feier mit uns begingen, mit uns an dem Durchlebten Antheil nehmen zu lassen, und um die Grüße zu erwidern, welche aus der Ferne gesandt wurden. Und gar reichlich waren sie gekommen, nicht allein aus allen Theilen Deutschlands, von der Nordsee bis zu den Alpen – weit über Deutschlands Grenzen hinaus, so weit überhaupt Deutsche über den Erdkreis verstreut sind, hatte man des Festes gedacht; da waren unter anderen Telegramme aus Paris, aus Rom:

„Hermann warf den römischen Feind aus deutschen Gefilden,
Deiner denken vereint heute die Deutschen in Rom;“

von den Sachsen Siebenbürgens: „Die aus allen Gauen des Sachsenlandes zu einem Vereinsfeste versammelten deutschen Siebenbürger entbieten den zur Feier in Detmold versammelten Vertretern des deutschen Volkes herzlichen Brudergruß“; aus New-York, Richmond in Virginien, aus Amoy in China: „Ihrem ruhmreichen Kaiser senden bei Veranlassung des Armins-Denkmals herzlichen Gruß die Deutschen in Futscheu“.

An dem Tage, an welchem das Denkmal Armin’s dem deutschen Volke übergeben wurde, durfte billig auch derer nicht vergessen werden, welche in nun vergangenen Tagen ihrem Volke das Bild des tapferen Cheruskerfürsten in Wort und Schrift gezeichnet und so das Andenken an denselben lebendig erhalten haben, nun aber längst unter dem kühlen Rasen ruhen. Der talentvolle, unglückliche Grabbe, der Dichter der „Hermannsschlacht“, ein Sohn Detmolds, und der durch seine Untersuchungen über die Varusschlacht verdiente Geschichtsforscher Clostermeyer. Für die Gräber beider waren von dem Dichter Ferdinand Freiligrath, bekanntlich ebenfalls einem Detmolder Kinde, Kränze gesandt, mit welchen die Ruhestätten der Heimgegangenen geschmückt wurden. Dem Dichter aber sandte man als Dank für seine sinnige Gabe einen von dem bei der Feier anwesenden Emil Rittershaus verfaßten poetischen Gegengruß:

„Vom Haus, wo Deine Wiege stand,
Sei heute Dir ein Gruß gesandt.
Jetzt hast Du Heimath allerwärts.
Dein Heim, es heißt das deutsche Herz.“

Der Jubel des Festes ist verrauscht, und an der Stätte, welche an jenem Tage in den Tausenden von deutschen Männern aus allen Gauen des Vaterlandes das Abbild des unter einem Herrscher geeinigten Deutschlands sah, rauscht der Wald wieder seine alte Melodie; von hoher Bergeswarte aber wird, der Macht der Elemente und den Stürmen von Jahrhunderten trotzend, das Erzbild des großen Cheruskerfürsten noch über ferne Geschlechter hinabschauen, als eine Mahnung, hochzuhalten das Panier der nationalen Freiheit und Selbstständigkeit, gleichviel ob die Waffen mit welchen der Kampf um jene Güter gekämpft wird, dem Schwerte Armin’s gleichen, oder ob es die Waffen des freien Geistes sind, mit welchen wir heute nach zweitausend Jahren abermals kämpfen unter dem Schlachtrufe: „Wider Rom!

Rudolf Scipio.




Des Lieblingskindes letzter Festzug.
Von Adolf Ebeling.

Die erste Februarwoche des vorigen Jahres war für Kairo eine überaus geräuschvolle und glänzende: der Vicekönig verheirathete nämlich seine jüngste Tochter Zenab-Hanem mit seinem Neffen Ibrahim-Pascha, dem Sohne seines älteren Bruders Achmet, der im Jahre 1860 so unglücklich war, im Nile zu ertrinken. Die Festlichkeiten dauerten volle acht Tage, und man muß so etwas im Oriente gesehen und mitgemacht haben, um sich eine richtige Vorstellung davon zu machen; denn so oft dergleichen auch schon geschildert worden ist, immer bleiben diese Schilderungen weit hinter der Wirklichkeit zurück. Bei solchen Gelegenheiten wird die sprüchwörtliche orientalische Pracht in ihrer ganzen Fülle entfaltet, und der vielgebrauchte Vergleich mit „Tausend und Einer Nacht“ ist alsdann ganz an seinem Platze.

Der siebente Februar bildete den Glanzpunkt der Feste, denn an jenem Tage begab sich die Braut in einem unermeßlichen Prunkzuge nach dem Palaste ihres Gatten, der sie sehnsüchtig erwartete, um sie in seinen Harem zu führen, von welchem Momente an sie alsdann den Blicken der Außenwelt entzogen wurde; denn so will es die strenge Sitte des Orients. Ich müßte Seiten füllen, um die Einzelnheiten dieses Prunkzuges zu beschreiben; da aber mein heutiges Thema nicht ein Hochzeits-, sondern ein Leichenzug ist, und zwar der Leichenzug eben dieser selben Prinzessin, so gehe ich schnell darüber hinweg. Damals ahnte wohl Keiner unter den hunderttausend Zuschauern, die zu beiden Seiten der Muskih dichtgedrängt standen und all die schimmernde Pracht und Herrlichkeit, namentlich den, nach der Sitte des Landes, im öffentlichen Aufzuge mit gezeigten Brautschatz von außerordentlichem Glanze und Werth anstaunten, daß die Gefeierte, die in ihrem sechsspännigen über und über vergoldeten Galawagen auf den weißatlasnen Polstern wie eine kleine Huldgöttin saß, daß sie nach kaum achtzehn Monaten dieselbe Straße ziehen würde, wieder wie damals ein Schauspiel für Hunderttausende, aber als Leiche, vom unerbittlichen Tode plötzlich und unerwartet dahingerafft.

Nach der Hochzeit war die Prinzessin so gut wie ganz aus dem öffentlichen Leben verschwunden, als junges Mädchen durfte sie sich noch manche Freiheiten erlauben, denn sie war ganz europäisch erzogen worden, sie sprach französisch und englisch, trieb Musik und Malerei, und alle Welt lobte ihren leutseligen Charakter

[643] und ihr freundliches, herzgewinnendes Wesen. Nach ihrer Vermählung sah man sie wohl manchmal, wenn sie nach Kairo kam, in der Schubra-Allee dicht verschleiert spazieren fahren; sonst lebte sie beständig in Ramleh bei Alexandrien in einem schönen, dicht am Meere gelegenen Palaste, den ihr der Vicekönig geschenkt hatte. Und in diesem Palaste ist sie auch gestorben und zwar so plötzlich, daß man gar nichts von ihrer Krankheit, sondern nur ihren Tod erfuhr.

Die sofort einbalsamirte Leiche wurde in der darauffolgenden Nacht durch einen Specialtrain nach Kairo geschafft, wo die Beerdigung schon am nächsten Tage stattfand. Bei der Großartigkeit derselben ist es wirklich staunenswerth, wie es in so kurzer Zeit möglich gewesen, alle nöthigen Vorbereitungen zu treffen.

In Kairo angekommen, wurde die Leiche zuerst nach dem am Nil gelegenen viceköniglichen Palais Kasr el Nil gebracht, von wo aus sich der Zug schon um sechs Uhr Morgens in Bewegung setzte, denn der vorgeschriebene Weg ging durch die ganze Stadt bis zu der neuen Moschee Rifaï, am Fuße der Citadelle, wo sich das Erbbegräbniß der viceköniglichen Familie befindet. Mohammed Ali, der Gründer der jetzigen Dynastie, ist übrigens in der von ihm erbauten Moschee auf der Citadelle selbst beigesetzt. Fast alle in Kairo liegenden Linientruppen waren aufgeboten und bildeten auf dem ganzen Wege, der wohl eine deutsche Meile lang war, zu beiden Seiten Spalier; alle Soldaten in frischer weißer Uniform und im rothen Tarbusch und mit zu Boden gesenktem Gewehr, als Zeichen der Trauer. Schon dies sah sehr imposant und feierlich aus. Die berittene Leibgarde des Vicekönigs in husarenähnlicher Uniform (blau, roth und Silber) sprengte hin und her, um die Straßen frei zu halten, denn der Volksandrang war begreiflich ungeheuer. Man schätzte die Anzahl der Zuschauer auf wenigstens zweihunderttausend, außerdem waren alle Fenster dicht besetzt, namentlich mit verschleierten Frauen, und das eigentliche Leichengefolge mag sich wohl auf fünfzigtausend Menschen belaufen haben. Unser Balcon in der Muskih, der so günstig liegt, daß man von ihm beinahe die ganze Straße hinauf und hinunter überschauen kann, bot einen ausgezeichneten Observationsplatz, und schon lange bevor der Zug erschien, sahen wir auf einen Ocean von weißen und rothen Turbanen herab, die sich mit jeder Viertelstunde dichter und dichter zusammendrängten. Endlich kamen die ersten großen Fahnen vom Esbekiehplatze her zum Vorscheine und nach weiteren zehn Minuten zog der Leichenzug selbst an uns vorüber.

Eine Abtheilung berittener Kawassen in dunkelblauem türkischem Costüme eröffneten ihn; alle trugen an langen Stäben die fliegenden Eisenkugeln, die sie vor zwanzig Jahren noch auf die Köpfe der Menge herabfallen ließen, wenn man ihnen nicht schnell genug auswich; jetzt aber hatten sie dieselben nur als Abzeichen ihrer Würde, denn die Civilisation hat hier gewaltige Fortschritte gemacht. Nach den Kawassen kamen fünfundzwanzig große fette Büffelochsen, jeder von zwei Treibern an Palmstricken, die um die Hörner gewunden waren, geführt. Das war das sogenannte vom Koran vorgeschriebene „Opfer“ für das Volk, was schon bei jedem vornehmen Begräbnisse geschieht, wo immer einige Ochsen und Hammel für die Armen geschlachtet werden. Hier bei dem Begräbnisse eines Mitgliedes der viceköniglichen Familie mußte es eine ganze Heerde sein, denn fünfundzwanzig andere Büffel waren schon vorher nach der Moschee getrieben worden und außerdem noch zweihundert Hammel, die sämmtlich in den folgenden Tagen geschlachtet und unter die Armen der Stadt vertheilt wurden. Hinter den Ochsen gingen einige dreißig Kameele, deren jedes zwei große hölzerne Kisten trug. Diese Kisten waren ganz neu, aus weißem Holze sehr sauber gearbeitet und mit Brod und allen möglichen Früchten bis an den Rand angefüllt. Zwischen ihnen, auf dem Rücken des Thieres, saß jedesmal ein Araber, der unaufhörlich den Inhalt seiner Kisten über das von den Soldaten gebildete Spalier hinaus unter die Menge warf. Man kann sich das Balgen und Drängen im Volke, vorzüglich unter der arabischen Jugend, leicht vorstellen, aber auch dieses Opfer gebietet der Koran. Die dritte Spende bildet alsdann das Wasser, und auf die Kameele folgten einige fünfzig Wasserträger, wie deren viele Hunderte in allen Straßen von Kairo während der acht heißen Monate, täglich von früh bis spät, umherziehen. Nur schenken sie diesmal nicht ihr gewöhnliches Nilwasser, sondern Rosinen- und Zuckerwasser, und der Zuspruch war von allen Seiten so groß, daß das Spalier immer durchbrochen wurde. Aber hier im Oriente nimmt man es nicht so genau mit der Ordnung, und die Soldaten tranken selbst so gut wie die Anderen.

Dies war gewissermaßen der materielle Theil des Leichenzuges; jetzt kam der mehr religiöse Theil. Knaben in langen weißen Gewändern, mit rothen Leibbinden und rothem Tarbusche, trugen unter prächtigen goldgestickten blauen, grünen und gelben Atlasdecken mehrere Exemplare des Korans, andere folgten mit silbernen Schalen und Gefäßen voll wohlriechender Essenzen, und noch andere mit silbernen Kohlenpfannen, nach der Art der katholischen Weihrauchbecken; jene sprengten ihre Essenzen unter das Volk und diese sandten blaue Wolken ihres duftenden Räucherwerks nach allen Seiten. Dann kam eine lange Reihe von Knaben, welche Gebete sangen, sehr einförmig und auch nicht sehr melodisch, und so viel wir davon verstehen konnten, fast immer dieselben Worte und immer mit „Allah! Allah!“ untermischt. Jetzt ein Wogen und Wehen von unzähligen, meist rothen und grünen Fahnen mit weißgestickten Koranversen, und mit ihnen die Derwische der verschiedenen Orden in langen schwarzen oder dunkelblauen Talaren, die einen mit spitzen zuckerhutförmigen Filzmützen, die anderen mit weißen oder bunten Turbanen und noch andere ohne Kopfbedeckung in wirren, zerzausten Haaren, und manche halbnackt; das sind die „Heiligen“, die beim gemeinen Volke in großem Ansehen stehen. „Allah il Allah! Allah akbar!“ so zieht es fast ohrbetäubend an uns vorüber, und die Fahnen bilden, von oben gesehen, ein wallendes, buntfarbiges Meer.

Auf diese ziemlich wilde Gesellschaft folgten, und zwar weit gemessener und ehrbarer, die verschiedenen Zünfte und Corporationen der Stadt Kairo, mit ihren Bannern und Emblemen, von denen viele mit Goldstickereien förmlich überladen waren, die in der Sonne augenblendend funkelten und blitzten. Da man ferner im Orient die schwarze Farbe als Leichentrauer nicht kennt, so konnte man hier eine Menge der schönsten und prächtigsten türkischen Costüme bewundern: Kaftane von Atlas oder Seide, immer in den schreiendsten Farben, roth, blau und gelb, oder auch vielfarbig buntgewirkt, und das Obergewand in der Regel weiß mit bunter Stickerei, dazu Gürtel und Turbane aus feinen Caschmirshawls und Schnabelschuhe von rothem oder gelbem Leder. Ein Maler hätte hier eine reiche Ausbeute gehabt, denn es waren auch stattliche Männer darunter, Greise mit schönen weißen Bärten und jugendliche Gestalten mit echt orientalischem Typus.

Nun erschienen die Hofbedienten des viceköniglichen Hauses in moderner goldbordirter Livrée, ganz an die Dienerschaft des ehemaligen kaiserlichen Hofes in Paris erinnernd, den sich bekanntlich der Khedive von Aegypten in so Vielem zum Muster genommen hat; Einige behaupten gar, in zu Vielem, doch das gehört heute nicht hierher.

Jetzt kommen sehr vornehme Persönlichkeiten: der Kadi, der Mufti und die Ulemas mit ihrem Gefolge; wieder eine Fülle der prächtigsten orientalischen Costüme, und darunter manche grüne Turbane mit breitem Goldrande, als Zeichen, daß der Träger zu den directen Nachkommen des Propheten gehört. Dicht hinter ihnen und von Ordonnanzofficieren in schimmernden Uniformen umgeben, die Hauptleidtragenden, in erster Reihe der Thronfolger und die übrigen Söhne und Schwiegersöhne des Vicekönigs; der Khedive selbst war nicht erschienen und der Gemahl der Verstorbenen, der Prinz Ibrahim, war noch in Europa, wohin ihm der Telegraph die Todesbotschaft gebracht hatte. Nach den Prinzen kamen die Minister und unter ihnen die sympathische Figur Nubar-Pascha’s; alsdann folgte eine lange Doppelreihe von Paschas, Generalen, sonstigen hohen Staatsbeamten, Beys und Stabsofficieren, eine ganze Musterkarte von den verschiedenartigsten goldgestickten Uniformen, fast allzuviel Gold und Stickereien, aber hier im Ensemble von überaus imposanter Wirkung. Nur der schlichte rothe Tarbusch mit der schwarzen Troddel war allen diesen hohen Herrschaften gemeinsam, und selbst der Vicekönig und sogar der Sultan in Stambul tragen Beide keine andere Kopfbedeckung.

Hierauf bildete sich ein freier Raum für die große grüne Fahne des Propheten, ein Heiligthum, das auf der Citadelle in [644] der Moschee Mohammed Ali’s aufbewahrt und nur bei den größten Feierlichkeiten dem Volke gezeigt wird, und gleich hinter ihr – „in ihrem Schatten“, wie sich die bilderreiche arabische Sprache ausdrückt – der Sarg. Von einem christlichen Sarge ist allerdings der mohammedanische durchaus verschieden denn dieser besteht nur aus einem länglichen hölzernen Kasten, der bei den Aermeren sogar nicht einmal einen Deckel hat; in diesen Kasten wird die in Tücher gewickelte Leiche gelegt, die aber bei der Beerdigung herausgenommen wird, denn der Koran verlangt, daß der Körper des Gläubigen ohne Sarg direct in die Erde gebettet werde. Ein rother Shawl bedeckt unterwegs das Ganze, und die weiblichen Särge haben noch am Kopfende, das aber nach vorn getragen wird, eine aufrechtstehende buntumwickelte Stange, die mit Blumensträußen, Flittergold und sonstigen Zierrathen geschmückt ist.

Aehnlich war auch der Sarg der Prinzessin, aber selbstverständlich überaus prächtig und kostbar. Statt des üblichen rothen Kaschmirshawls war derselbe mit einem grünen golddurchwirkten bedeckt, ein Vorrecht, das im Orient nur den Fürsten zukommt, denn Grün ist die Farbe des Propheten. Die eben erwähnte Stange war gleichfalls mit einem ähnlichen Shawl umwickelt und auf ihrer Spitze funkelte ein großes Diadem von Brillanten. Auch sonst war die Stange ihrer ganzen Länge nach mit dem kostbarsten brillantenen Schmucke behängt, man sagte, im Werthe von einigen Millionen Franken, was wir gern glaubten, weil uns der oft an’s Fabelhafte grenzende Luxus der ägyptischen Harems, gerade in dieser Beziehung, genügend bekannt war.

Hinter dem Sarge gingen nach orientalischer Sitte die Klageweiber, in dunkeln Gewändern und dicht verschleiert, wohl gegen hundert; sie erfüllten die Luft mit ihrem stereotypen kreischenden Geheul, langvibrirenden Tönen im höchsten Discant und für ein europäisches Ohr ebenso befremdlich wie unschön. Nach ihnen kamen die Schüler der öffentlichen Volksschulen, wie fast jede größere Moschee eine solche besitzt, es mochten leicht gegen tausend Knaben sein, große und kleine, schwarze, braune und gelbe, und jede Abtheilung von ihrem Lehrer, dem Fiki, geführt. Sie sangen wieder ihre einförmigen Koranverse mit Allah il Allah! – aber, wenn man uns anders recht berichtet hat, so waren die meisten dieser Burschen innerlich recht vergnügt: jeder erhält nämlich bei dieser Gelegenheit vom Vicekönig einen neuen Anzug aus weißem Baumwollenzeuge, mit einem kleinen bunten Gürtelshawl und einem rothen Tarbusch. Da erklärte sich ihre Freude leicht, denn unzählige von ihnen schienen einer solchen Auffrischung ihrer Toilette sehr zu bedürfen. Man kann aber hiernach und nach manchen obigen Notizen schon ungefähr die Kosten berechnen, die eine solche Beerdigung für die vicekönigliche Civilliste mit sich bringt und die wir in runder Summe auf zehntausend Pfund Sterling anschlagen hörten.

Auf die Schuljugend folgten nun noch die Effendis in langen Reihen, sowohl untere Beamte der verschiedenen Ministerien und sonstigen Behörden und Administrationen, als auch Privatpersonen, und nach ihnen, ganz zum Schluß, das eigentliche Volk in unabsehbaren wogenden Massen.

Damit war der Leichenzug zu Ende, der im Vorüberziehen eine volle Stunde gedauert hatte. Ueber die Ceremonien in der Moschee könnten wir nur nach Hörensagen berichten, da es uns „Ungläubigen“ nicht gestattet war, sie zu betreten. Sie sollen sich übrigens nur auf einige kurze Gebete beschränkt haben; aber der innere Raum unter der großen Kuppel war mit tausenden von Kerzen erleuchtet, die in ihren zierlichen Glasglocken bis an den Abend brannten.

Am nächsten Morgen rollten eine Menge Wagen und Equipagen, mit leichtfüßigen, goldgestickten Läufern voran, aus allen Gegenden der Stadt über die große Nilbrücke nach Gesireh, dem Schlosse des Vicekönigs. Jeder, der irgendwie von nah oder fern zum Hofe gehörte oder sonst ein Anrecht hatte, dort zu erscheinen, beeilte sich, dem Vicekönig seine Condolenzvisite abzustatten. Es wurde aber Niemand vorgelassen, der Khedive – oder sagen wir lieber der Vater, denn das klingt natürlicher – wollte mit seinem Schmerz allein sein: er hatte sein Lieblingskind verloren.




Blätter und Blüthen.

Waldmenschen in München. Wir waren in Innsbruck. Unsere treuen Reisegefährten, Bädecker, Meyer, Grieben, Amthor, alle sprachen so zu uns. „Am Fuße des Berges liegt Schloß Amras oder Ambras, einst Lieblingsaufenthalt Erzherzog Ferdinand’s des Zweiten († 1595) und seiner Gemahlin Philippine Welser etc.“ oder doch so ähnlich. Wir hatten also die Wahl zwischen Amras und Ambras, entschieden uns für erstere Lesart und fuhren hin. Die Aussicht in’s Innthal – gehört nicht hierher; wir genossen sie mit stillem Behagen von der Schloßterrasse, zogen die Glocke am Schloßthore, und ein freundlicher Castellan, vielleicht der Enkel des Enkels von Ferdinand’s Castellan, führte uns im todten Schlosse umher und zeigte uns Alles, was schön war, als das Schloß noch Leben hatte. Wir kamen zwei Treppen hoch in den Corridor links. „Nun bitte, treten’s a bissel daher. Da werden’s schauen in Lebensgröße das Bild eines Mannes, was hat gelebt zu München zur Zeit Ferdinand’s, und das Bild der Frau und das Bild des Sohnes zu dem Manne. Die Frau war wohlgestalt, der Mann hatte lange Haare im Gesichte und am ganzen Körper, der Sohn auch. Nachdem der Großherzog ein Gaudi hatte, wann er curiose Menschen sah, so hat er sich die Familie abmalen lassen.“

So sprach der Castellan, wie er vielleicht schon tausendmal gesprochen hatte. Ich hörte kaum auf ihn und sah starr in das Gesicht des alten Müncheners, in dieses Gesicht mit den langen ruppig büschelförmig stehenden Haaren, in dieses vollständige Affenpintschergesicht, aus dem doch Mund und Augen so sehr klug und gutmüthig hervortraten. Und der Sohn war das treue Abbild seines Vaters, nur einige Nummern kleiner. Wo hatte ich den Münchener schon gesehen? Ich durchlief die Reihen meiner Freunde, meiner Bekannten bis in die letzten Ausläufer – wilde Männer waren nicht darunter. Und doch, doch mußte mir diese Menschenbildung schon nahe getreten sein.

Wir reisten weiter. Gossensaß und Franzensfeste, Hochgall und Schwarzenstein. Alles sehr schöne Alpenbilder, aber sie traten nur neben, nicht vor jenes merkwürdige Menschenbild. Da sah ich in Taufers auf der Wirthstafel die „Gartenlaube“ liegen, umkreist in weitem Bogen von einem ganz schwarzen Manne mit einem kleinen weißen Tonsurfleckchen. Ich aber nahm das Blatt seiner Beunruhigung ruhig in die Hand und – merkwürdige Zickzacke der Erinnerung – ich wußte sofort, wohin ich den Münchener zu thun hatte.

Nach Hause zurückgekehrt, blätterte ich rückwärts die Jahrgänge der „Gartenlaube“ durch; ich brauchte nicht lange zu blättern, Jahrgang 1874, Seite 61, fand ich das getreue Conterfei des Müncheners, nur daß er hier Andrian Jestichew heißt, tief aus dem Innern Rußlands gebürtig ist und noch unter den Lebenden weilt. Genau wie Jestichew dort abgebildet ist, genau so sehen der alte Münchener und sein Sohn aus, alle haben sie ein äußerst kluges, gutmüthiges Affenpinschergesicht. Der Herr Verfasser jenes Artikels „Was uns die Waldmenschen erzählen“ giebt an, daß nach vielfachen Berichten dergleichen Waldmenschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gelebt haben, einen directen Beweis aber, wie ihn nur ein Bild bringen kann, hat der Herr Verfasser nicht liefern können, wenigstens nicht aus eigener Anschauung. Ich freue mich daher, ein solches eclatantes Beweisstück zwar nicht entdeckt, aber doch zur Sprache gebracht zu haben, denn wir haben es hier wiederum mit einer Thatsache zu thun, die im Vereine mit vielen anderen die Darwin-Häckel’sche Lehre vom Ursprunge des Menschengeschlechtes aus dem Gebiete der hohen Wahrscheinlichkeit immer mehr in das der Gewißheit hinüber trägt. Sonderbare Verkettung der Umstände! Jener Mann aus dem stolzen Fürstengeschlechte, welcher der Selbstüberhebung seiner Kaste einen so argen Ruck versetzte und in dreißigjähriger glücklicher Ehe mit der Bürgerstochter den Beweis von der Gleichheit des Menschengeschlechtes antrat, er ging, wenn auch unbewußt, noch einen Schritt weiter und lieferte uns ein Beweisstück dafür, daß das Menschengeschlecht im Gefühle seiner Würde gegen die sogenannten untergeordneten Geschöpfe nur ganz leise auftreten darf.



Kleiner Briefkasten.

G. v. D. Wie gern die Gartenlaube allen Festen von nationaler Bedeutung ihre Aufmerksamkeit und Theilnahme widmet, ist bekannt; nur muß sie, eben ihrer langen Herstellungszeit wegen, ihre Betheiligung weniger in festbeschreibenden, als in festeinleitenden Artikeln zeigen. In dieser Weise ist auch am Karl-August-Feste die Betheiligung in Nr. 36 und 37 bereits geschehen. Eine genaue Festbeschreibung, die doch nur wie ein verspäteter Nachklang aus dem Chorus der Tageszeitungen erscheinen würde, werden unsere Leser uns deshalb gern erlassen.

W. A. in Münster. Es sind uns verschiedene Compositionen des Fallersleben’schen Liedes eingesandt, sämmtlich aber als unaufnehmbar bei Seite gelegt worden.


  1. Vergleiche die Abbildung, die mit gütiger Erlaubniß der Verlagshandlung dem „Lehrbuche der Laryngoskopie“ von Dr. A. Tobold (Berlin, Hirschwald) entlehnt ist.