Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar

Textdaten
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Autor: Robert Keil
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Titel: Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, 37, 45, 46, S. 600–603, 618–620, 755–757, 768–772
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar.
Von Robert Keil.
1. Das Karl-August-Fest am 3. September 1875.

Groß und herrlich ist aus Krieg und Sieg das deutsche Reich zu neuem Glanze erstanden; als großer, einheitlicher Bundesstaat, als gewaltiges Kaiserreich hat das deutsche Volk den ihm so lange verkümmerten hervorragenden Platz unter den civilisirten Nationen wieder eingenommen. Aber vergessen wir nicht, daß vor allem die zahlreichen einzelnen Culturstätten es waren, welche die durch alle Gaue, alle Stände verbreitete hohe Bildung des deutschen Volkes und mit ihr die Pflege des deutschen Nationalgeistes ermöglicht haben! Vergessen wir nicht, daß unter all diesen Culturstätten dem kleinen Weimar für alle Zeit der erste und höchste Dank gebührt! Als Wiege der deutschen Kunst – wie einst der Oper, so nachher der Poesie – überhaupt der höheren deutschen Cultur wurde Weimar im Verein mit Jena und dessen hoher wissenschaftlicher Bedeutung aus dem geographischen zugleich der geistige Mittelpunkt Deutschlands. Jena und Weimar wurden, um mich der Worte Schlosser’s zu bedienen, die eigentliche Metropole Deutschlands und erhielten die Bedeutung für unsere Nation, welche London und Paris für die englische

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Karl August und Goethe in der Sturmperiode.
Nach Originalbildern aus der großherzoglichen Bibliothek zu Weimar, für die Gartenlaube entworfen und auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[602] und französische haben; sie hatten einen Ruf, wie ihn keine andere deutsche Stadt hat erlangen können. Und Weimar blieb nicht nur lange Zeit hindurch in diesem Sinne der Einheitspunkt, welchen der nationale Geist des deutschen Volkes gewonnen hatte, es war Weimar zugleich – und wieder im Bunde mit Jena – die Stätte, auf welcher die deutsche politische Presse, das nationale politische Leben und Streben, die politische Freiheit ihren Anfang und Ausgang nahm.

Daß das kleine Weimar zum Heile des gesammten Vaterlandes dies geworden, ist das Verdienst seines Herzogs Karl August. Ganz Deutschland, ja die ganze gebildete Welt hat es freudig in jenen unvergeßlichen September-Tagen des Jahres 1857 anerkannt, als in Weimar nicht nur den Heroen der deutschen Dichtkunst Denkmäler gesetzt, sondern auch auf dem Fürstenplatze zum Denkmale des „alten Herrn“ der Grundstein gelegt wurde. Es war der 3. September 1857, der hundertjährige Geburtstag des Herzogs. Achtzehn Jahre sind seitdem verflossen, wie vor hundert Jahren die achtzehn Jahre von Karl August’s Geburt bis zu seinem Regierungsantritt am 3. September 1775. Am bevorstehenden 3. September begeht Weimar, begeht Deutschland die Säcularfeier vom Regierungsantritte des Herzogs. Zwar werden im Festzuge leider manche jener hochverdienten Männer fehlen, welche einst vor achtzehn Jahren den Grundstein umstanden; der biedere, greise Commissionsrath, Hofbuchhändler Hoffmann, der, als ein Zeuge der schönsten Tage des Herzogs auch in weiteren Kreisen bekannt, im Morgenzuge nach der Fürstengruft den ältesten Bürgern der Stadt voranschritt, der Redner auf dem Friedhofe, Oberpfarrer Dittenberger, der Festredner bei der Grundsteinlegung, Superintendent Stier, wie der dortige Redner Minister von Watzdorff – sie alle sind inzwischen schlafen gegangen. Aber die jüngere Generation verehrt mit gleicher Begeisterung den genialen deutschen Fürsten, und wenn von dem ehernen Reiterstandbilde des Herzogs, welches der Bildhauer Professor Donndorf in Dresden, Weimars Sohn, mit vollendeter Meisterhand geschaffen, die Hülle fällt, wenn der Herzog, in Kraft und Würde neuerstanden, die Wenigen, die ihn noch persönlich gekannt, wie die zahlreichen ihn verehrenden Epigonen in unvergänglichem, strahlendem Glanze begrüßt, wird der Jubel weit über Weimars Marken hinaus durch alle deutschen Gaue erschallen.

Feiern wir den festlichen Tag durch einen Rückblick auf die Jugend des Herzogs, auf die Entwickelung seines Geistes und Charakters, auf die Zeit vor hundert Jahren!

Als Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar, der wunderliche, strenge Autokrat, im Jahre 1748 starb, schien die Sächsisch-Ernestinische Linie, welche einst in der Reformationszeit so hervorragende charakter- und kraftvolle Männer geliefert, dem Erlöschen nahe. Sein Thronerbe war sein einziger Sohn Ernst August Constantin, ein kränklicher Jüngling. Am 16. März 1756 vermählte er sich mit der siebenzehnjährigen Braunschweiger Prinzessin Anna Amalie, der Nichte Friedrich’s des Großen. Am 3. September 1757 schenkte sie dem Erbprinzen Karl August das Leben. Der Tag, an dessen Morgen der Prinz das Licht der Welt erblickte, sollte für die Stadt Weimar in den damaligen kriegerischen Wirren ein ernster Tag werden: am Nachmittage rückten von Arnstadt her Reichstruppen ein und besetzten die Stadt. Aber auch freundliche Zeichen fehlten nicht und wurden von den Bürgern als gute Vorbedeutung genommen; sah man doch während des Taufactes am 4. September bei heiterem Himmel und Sonnenscheine einen hellen Regenbogen über dem Schlosse, der Wilhelmsburg, stehen. Doch schon im Frühling des folgenden Jahres, am 28. Mai 1758, noch ehe die Herzogin von ihrem zweiten Sohne, Constantin, entbunden war, starb nach kurzer Regierung, durch Güte und Wohlwollen beliebt, der kaum einundzwanzigjährige Herzog, und der jungen, erst neunzehnjährigen Wittwe fiel die schwere Aufgabe zu, neben der Vormundschaft über ihre Kinder zugleich die Regentschaft des Landes in der stürmischen Zeit des siebenjährigen Krieges zu übernehmen. In bewundernswerther Weise löste sie diese Doppelaufgabe und bereitete zugleich in dem kleinen, bis dahin wenig beachteten Weimar mit deutschem Sinn der deutschen Kunst eine Stätte, welche bald darauf von ihrem großen Sohne im Vereine mit der genialen Kraft seines Busenfreundes zum Mittelpunkte deutscher Kunst und Literatur erhoben werden sollte.

Während der ersten Kinderjahre des Prinzen war Demoiselle Kotzebue, ein geist- und gemüthvolles Fräulein, seine Erzieherin; im fünften Lebensjahre desselben wurde Graf Johann Eustach von Görtz (der nachmalige preußische Minister) zu seinem Erzieher bestellt. Es war diese Wahl vielleicht kein glücklicher Griff Amaliens, denn Graf Görtz war ein mit aristokratischem Stolze erfüllter, pedantischer Mann, aber die ausgezeichneten Anlagen, mit denen die Natur den jungen Fürstensohn ausgestattet, der ihm von frühester Kindheit an eigene lebhafte und kräftige Wille schützten ihn gegen üble Folgen jener Erziehungsmethode; mit seinem Widerwillen gegen pedantische Regeln und Etiquettenzwang mag er seinen pedantischen Lehrern Noth genug gemacht haben. Bei dem Confirmationsexamen, welches am 27. März 1771 sein Instructor, der Oberconsistorialrath Seidler, bei offenen Thüren und „in Gegenwart ansehnlicher Versammlung“ mit ihm hielt, bewährte er die eigenthümliche Schnelligkeit, mit welcher er Ideen ergriff und in das Innerste jedes Gegenstandes eindrang. Sein gutes Herz aber bewährte er in demselben Jahre bei Gelegenheit der Hungersnoth und der Seuchen, welche damals ganz Thüringen verheerten; er bat den Geheimen Rath von Fritsch, die Erlaubniß der Mutter für ihn zu erwirken, daß er vierhundert Thaler aus seiner Schatulle dazu verwenden dürfe, sie unter die Weimarischen und Eisenacher Armen zu vertheilen. „Ich würde,“ schrieb der vierzehnjährige Prinz, „mein Geld nie besser anwenden können; die Fürsten sind zwar nur insoweit glücklich, als sie Gutes thun können.“

So hatte Friedrich der Große, sein Großoheim, gewiß nur vollkommen Recht, als er in eben diesem Jahre 1771, von dem vierzehnjährigen Prinzen zum ersten Mal begrüßt, voll Bewunderung zu den Umstehenden äußerte: „einen so vielversprechenden Prinzen, wie diesen, hab’ ich noch nie gesehen.“ So war es auch Wahrheit, nicht Schmeichelei, als im folgenden Jahre Wieland, damals Professor der Philosophie und kurmainzischer Regierungsrath in Erfurt, der Verfasser des „goldenen Spiegels“, nach wiederholten Besuchen des Weimarischen Hofes, an die Herzogin Amalie über deren Sohn Karl August schrieb: „Es ist dieser hohe Grad von gesunder Vernunft, diese natürliche Richtigkeit des Verstandes, die Begierde, sich zu unterrichten, diese Liebe zur Wahrheit, dieser Widerwille gegen die Schmeichelei, die der Prinz ohne alle Frage im höchsten Maße besitzt. Das sind lauter vortreffliche Anlagen. Man mache aus ihm einen aufgeklärten Fürsten, und ich stehe für sein Herz ein.“ Von der Herzogin Amalie, auch auf Karl August’s Bitte, zum Instructor ihrer beiden Söhne nach Weimar berufen, trat Wieland im September 1772 in seinen neuen Wirkungskreis als Erzieher neben Graf Görtz ein, und noch in demselben Jahre konnte er seinem Freunde Jacobi voll Zuversicht schreiben: „Ich habe das Vergnügen gehabt, in der Hoffnung bestätigt zu werden, welche ich mir von unserem jungen Fürsten mache. Wenn der Himmel ihn und ein paar gute Freunde, die er hat, leben läßt, so sollen Sie in sechs Jahren von Dato einen kleinen Hof sehen, der verdienen soll, daß man von den Enden der Welt komme, ihn zu sehen.“ Wie schön sollte diese Prophezeihung sich erfüllen!

Inzwischen nahm, während Graf von Görtz und Wieland gemeinsam als seine Erzieher fungierten, der junge Prinz, mit seinem durchdringenden Verstande, seinem Ehrgeiz, seinem festen, fast unbeugsamen Charakter, mehr und mehr eine selbstbewusste Stellung ein. Er beanspruchte die äußere Ehrenstellung des Herzogs, welche gegen den Gebrauch anderer Höfe ihm, dem minderjährigen, zur Regierungsnachfolge gelangten Fürsten, bisher vorenthalten worden war, und indem der intriguante, kluge von Görtz, der milde, nachgiebige Wieland diesen Wunsch unterstützten, die Mutter und Regentin aber diesen Ansprüchen der „aufgehenden Sonne“ entgegen war, trat damals zwischen Sohn und Mutter eine Verstimmung so tiefgehender Art ein, daß letztere schon mit dem Gedanken der Niederlegung der Regentschaft sich trug, als ihr Minister, Geheimer Rath von Fritsch, vermittelnd eintrat und der Prinz „eine Art kleinen Hof“, wie auch die Einführung in das Geheime Conseil erlangte. Ebenso charakteristisch für den jungen Fürsten ist seine Haltung nach dem Brande, welcher in der Nacht vom 5. bis 6. Mai 1774 die Wilhelmsburg in Schutt und Asche legte. Er wählte das [603] Landschaftshaus, später Fürstenhaus genannt, zur Wohnung; die Mutter widersprach, er aber blieb fest bei seinem Entschlusse, und Mutter und Regierung mußten sich fügen.

Doch Ehrgeiz und Eigenwille waren es nicht allein, die ihn erfüllten. Ihn drängte es, wie die lästigen Fesseln der Hofetiquette, so überhaupt in Leben und Kunst die Fesseln engherzigen, pedantischen Zwanges, die veralteten Formen zu brechen, neue Bahnen zu öffnen, tüchtiges Neues an die Stelle des Alten zu setzen. So empfing er wie seine Mutter mit freundlichem Wohlwollen den Pädagogen Basedow, welcher im Jahre 1774 Weimar besuchte und „durch Ahnung von der Wohlfahrt, die durch Karl August’s Gewissenhaftigkeit und Geschäftigkeit werde fortgesetzt und vermehrt werden, herzlich erfreut wurde“. So begrüßte er mit voller Sympathie den genialen Sturm und Drang, welcher vom Rheine her, das junge, feurige Dichtergenie Goethe’s an der Spitze, eine neue Zeit ankündigte, und noch vor seiner Volljährigkeit wurde ihm Gelegenheit, den rasch berühmt gewordenen jungen Doctor Goethe persönlich kennen zu lernen. Vom Herbste 1774 bis zum Sommer 1775 führte der Prinz jene Reise nach Frankreich aus, welche für ihn so äußerst bildend werden sollte und ihn überdies mit seiner nachherigen Gemahlin, der Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt bekannt machte, deren „männlicher, guter, wahrer und entschiedener Charakter“ ihn gewann. Auf dieser Reise war es, wo er in Frankfurt unter Vermittlung von Knebel’s die erste persönliche Zusammenkunft mit dem Verfasser des „Götz“, des „Werther“, des „Clavigo“ hatte, und trotz des übermüthigen Angriffs, welchen Goethe erst kurz vorher in seiner Farce „Götter, Helden und Wieland“ auf den verehrten Erzieher des jungen Fürsten schonungslos derb ausgeführt hatte, war vom ersten Augenblick an Karl August von Goethe, Goethe von Karl August gewonnen. Zwei universelle geniale Naturen hatten sich erkannt, sich gefunden, gefunden für immer.

Die letztwillige Verfügung des verstorbenen Vaters Ernst August Constantin hatte auf das vollendete achtzehnte Lebensjahr des Erbprinzen den Zeitpunkt festgesetzt, wo für ihn bei dem kaiserlichen Hofe die Volljährigkeitserklärung erbeten werden sollte, welche Karl August nöthig hatte, um selbst die Regierung seines Landes führen zu können. Dieser Zeitpunkt nahte mit dem 3. September 1775 heran; vom Kaiser wurde die Mündigkeit des Erbprinzen ertheilt; am 3. September erfolgte sein Regierungsantritt, und wenige Wochen später, am 3. October, seine Vermählung mit Louise. Bei der Durchreise des neuvermählten Paares durch Frankfurt und dem Wiedersehen Goethe’s wiederholte der junge Fürst die Einladung desselben nach Weimar, und gegen den Wunsch und Rath seines Vaters folgte Goethe der Einladung. Am 17. October hielten Karl August und Louise ihren festlichen Einzug in Weimar, und schon am 7. November traf daselbst Goethe ein. Von diesem Tage datirt das innige, treue Freundschaftsverhältniß, welches zwischen Dichter und Fürst über fünfzig Jahre bis zum letzten Athemzuge des Herzogs fortbestand, – ein Freundschaftsverhältniß so wahrer, herzlicher Natur, daß noch nach vierunddreißig Jahren der Herzog seinem Freunde als Dank für dessen Glückwunsch zu seinem Geburtstage, 3. September 1809, erwiderte: „wenn Du thätig, froh und wohl bist, so lange ich noch mit Dir gute Tage erleben kann, so wird mir mein Dasein höchst schätzbar bleiben;“ – ein Freundschaftsverhältniß selbst über den Tod hinaus, denn Karl August ordnete letztwillig an, daß Goethe dereinst in der Fürstengruft neben ihm ruhen sollte. Von jenem Tage datirt aber auch der Einfluß, welchen der geniale Dichter nicht nur während der köstlichen, lustigen Tage der „Genieperiode“, – in denen er so oft Tisch und Schlafzimmer, die Borkenhütte im Parke, mitunter selbst die Streu, und alle Studien, Abenteuer und Reisen mit dem Freunde theilte, – sondern während des ganzen Lebens des Herzogs auf diesen übte, indem er ihn einestheils körperlich zu stärken, anderntheils zur Anschauung der Natur hinzuleiten, ihn in seiner Neigung zu wissenschaftlichen Forschungen, in der Erkenntniß und Bethätigung alles Tüchtigen und Wahren zu befestigen suchte.

Die Empfänglichkeit des Herzogs hierfür zeigte sich schon in seiner äußern Erscheinung. Während gemäß der zwangvollen französischen Hofetiquette, in welcher er erzogen war, bisher ein starr gestickter Rock und eine ebensolche Weste, seidene Strümpfe mit abgestumpften Schuhen und großen silbernen Schnallen, ein großer Federhut auf dem hohen, wohl gekräuselten Toupet, und ein Degen mit vielen Bandschleifen sein Costüm gebildet hatte, nahm er nun das Werthercostüm seines Freundes: den blauen Frack mit gelben Metallknöpfen, Lederhosen und Stulpenstiefeln an. Unglaublich groß aber sind, um mit Wieland’s Worten zu reden, die Verdienste, welche Goethe um den Herzog in dessen erster Regierungszeit gehabt, die Selbstverleugnung und Aufopferung, mit welcher er sich ihm gewidmet und Edles und Großes, das in dem fürstlichen Jüngling noch schlummerte, hervorgerufen und zur Entwickelung gebracht hat. Ihn, den Dichterfreund, welcher zunächst nur als Gast am Weimarischen Hofe weilte, dort festzuhalten, ihm auch in seinem Ministerrathe den Platz an seiner Seite zu geben, war der Wunsch Karl August’s, und weder der Neid und die Kabalen, welche die Ernennung des Frankfurter Rechtsanwalts zum Mitgliede des Geheimen Conseils zu verhindern suchten, noch auch die Bedenken des Geheimen Raths von Fritsch konnten ihn von der Verwirklichung dieses Herzenswunsches abhalten. Wohl nicht mit Unrecht bezweifelte der erfahrene, strenge von Fritsch für jene Zeit die Tauglichkeit des jungen Rechtsanwalts und Dichters „einem dergleichen beträchtlichen Posten“, ja er ging soweit, geradezu zu sagen: „das Collegium müsse durch die Placirung des Dr. Goethe in selbigem in den Augen des Publici gar sehr heruntergesetzt werden“; er machte ferner auf „die Rechte anderer langgedienter Diener“ aufmerksam und bat sogar um seine eigene Dienstentlassung, da er „in einem Collegio, dessen Mitglied Dr. Goethe anjetzt werden solle, länger nicht sitzen könne“. Aber alles dies konnte den willensstarken Fürsten, welcher sich seinem Freunde mit aller Wärme und Begeisterung angeschlossen, von der energischen Ausführung seines Planes nicht abhalten. Von Beaulieu-Marconnay hat in seinem trefflichen Buche „Anna Amalia, Karl August und der Minister von Fritsch“ (1874) den denkwürdigen Brief des Herzogs an von Fritsch, in welchem der Erste seinen festen Entschluß erklärte, vollständig wieder gegeben. Ich kann daraus hier nur wenige Stellen einschalten.

„Wäre“ schrieb im Mai 1776 der noch nicht neunzehnjährige Fürst an seinen Minister, „wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen, Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen; nicht allein ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt etc. Einen Mann von Genie nicht an dem Orte gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt denselben mißbrauchen etc. Die Welt urtheilt nach Vorurtheilen, ich aber, und jeder der seine Pflicht thun will, arbeitet nicht um Ruhm zu erlangen, sondern um sich vor Gott und seinem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln etc. Wie sehr muß es mich befremden, daß Sie, statt sich ein Vergnügen daraus zu machen, einen jungen, fähigen Mann, wie mehrbenannter Dr. Goethe ist, durch Ihre, in einem zweiundzwanzigjährigen treuen Dienst erlangte Erfahrung zu bilden, lieber meinen Dienst verlassen, und auf eine, sowohl für den Dr. Goethe, als, ich kann es nicht leugnen, für mich beleidigende Art; denn es ist als wäre es Ihnen schimpflich, mit demselben in einem Collegio zu sitzen, welchen ich doch, wie es Ihnen bekannt, als meinen Freund ansehe, und welcher nie Gelegenheit gegeben hat, daß man denselben verachte, sondern aller rechtschaffenen Leute Liebe verdient. – Hier haben Sie mit aller möglichen Aufrichtigkeit, was ich über Ihren Entschluß denke. Sie sind Herr und Meister, zu thun, was Sie wollen; ich hielte es für eine Ungerechtigkeit, es sei wer es wollte, in so wichtigen Vorfallenheiten seines Lebens einzuschränken; aber wie sehr wünsche ich, Sie bedächten Sich anders.“

Diesmal intervenirte die Herzogin Amalie bei dem Minister; er blieb, und Karl August berief seinen Freund Goethe – „wegen seiner uns genugsam bekannten Eigenschaften, seines wahren Attachements zu uns und unsern daher fließenden Zutrauens und Gewißheit“ am 11. Juni 1776 als Geheimen Legationsrath in sein „Geheimes Consilium“.

[618] Charakterisiert jener Brief den Herzog nach Wärme des Herzens, Adel der Gesinnung und Festigkeit des Willens, so sind die Notizen, welche Goethe in jenen Jahren über seinen fürstlichen Freund in sein Geheimtagebuch machte, für die Persönlichkeit und Entwickelung des jungen Fürsten noch weit bezeichnender. In den Mittheilungen über Weimar, Goethe und Corona Schröter aus den Tagen der Genieperiode, welche ich soeben unter dem Titel „Vor hundert Jahren“ im Verlage von Veit u. Comp. in Leipzig erscheinen ließ, wird dieses Geheimtagebuch Goethe’s von 1776 bis 1782, wovon bisher nur Bruchstücke und Auszüge bekannt waren, nach zwei aus Riemer’s Nachlaß in meinen Besitz übergegangenen Copien zum ersten Male vollständig veröffentlicht. Es sei mir verstattet, einige wenige, besonders charakteristische Stellen daraus über Karl August – welcher im Tagebuch fast überall mit dem Zeichen des Jupiter: ♃ bezeichnet ist – in chronologischer Ordnung hier folgen zu lassen.

 13. September 1776. Morgens kam ♃, rein und lieb.
 8. Januar 1777. Der Herzog gegen Mittag von einem starken Ritte rein und dumpf und wahr.
 8. October 1777. ♃ wird mir immer näher und näher und Regen und rauher Wind rückt die Schafe zusammen. Regieren!!
 8. Januar 1778. Nachts mit ♃ viel über unsere Zustände.
 31. Juli 1778. Der ♃ ist zusammengefaßt und gut und frisch.
 14. December 1778. Gespräch mit ♃ über Ordnung, Polizey und Gesetze. Verschiedene Vorstellung. Meine darf ich nicht mit Worten ausdrücken, sie wäre leicht mißverstanden und dann gefährlich etc.
 December 1778. Der Herzog immer sich entwickelnd und wenn sich’s bey ihm aufschließt, kracht’s, und das nehmen die Leute übel auf.
 1. Februar 1779. Conseil. Dumme Luft drinn. Fataler Humor von Fr(itsch). ♃ zu viel gesprochen. Mit gessen. Nach Tisch eine Erklärung über zu viel reden fallen lassen, sich vergeben, seine Ausdrücke mäßigen, Sachen in der Hitze zur Sprache bringen, die nicht geredt werden sollten. Auch über die militärischen Macaronis. ♃ steht noch immer an der Form stille. Falsche Anwendung auf seinen Zustand, was man bey andern gut und groß findet.
 23. März 1779. Früh Conseil, mit ♃ allein gessen. Er wird täglich reiner, bestimmter.
 Juni 1779. ♃ ist bald über die große Krise weg und giebt mir schöne Hoffnung, daß er auch auf diesen Fels heraufkommen und eine Weile in der Ebene wandeln wird.
 15. Juni 1779. Vor Tisch viel mit ♃ über sein Wachsen in der Vorstellung der Dinge, sein Interesse an den Sachen und wahrer Erkenntniß.
 Juli 1779. ♃ macht es ein Vergnügen, die Rolle des Pylades zu lernen[1]. Er nimmt sich außerordentlich zusammen und an innerer Kraft, Fassung Ausdauer, Begriff, Resolution fast täglich zu.
 13. Juli 1779. Außer dem Herzog ist Niemand im Werden, die anderen sind fertig wie Drechslerpuppen, wo höchstens noch der Anstrich fehlt.

Soweit das Goethe’sche Tagebuch. Fügen wir zur Vervollständigung des Bildes noch die Urtheile anderer bedeutender Zeitgenossen aus eben diesen Jahren bei. Am 3. November 1777 schrieb Goethe’s Freund Merck, nach seinem Besuche von Goethe und Karl August in Eisenach, an Nicolai: „Das Beste von Allem ist der Herzog, den die Esel zu einem schwachen Menschen gebrandmarkt haben, und der ein eisenfester Charakter ist. Ich würde aus Liebe zu ihm eben das thun, was Goethe thut. – Ich sage Ihnen aufrichtig, der Herzog ist einer der respectabelsten und gescheidtesten Menschen, die ich je gesehen habe, und, überlegen Sie, dabei ein Fürst und ein Mensch von zwanzig Jahren.“ Nach der Reise, welche Karl August und Goethe nach Berlin und Dessau gemacht, schrieb Wieland im Juni 1778: „Alle Lande, wo sie gewesen, sind ihres Ruhmes voll. Im ganzen Ernst, zu Leipzig, zu Dessau, zu Berlin, ist alle Welt von unserm Herzog ganz eingenommen. Das hat Bruder W. (Goethe) wohl hübsch gemacht. – Ich werde je länger, je mehr überzeugt, daß ihn Goethe recht geführt, und daß er am Ende vor Gott und der Welt Ehre von seiner sogenannten Favoritenschaft haben wird.“ Forster endlich, welcher dem Fürsten und dem Dichter auf ihrer Reise nach der Schweiz begegnet war, schilderte in einem Briefe vom 24. October 1779 den Eindruck, den er vom Herzog empfangen: „der Herzog ist ein artiger kleiner Mann, der ziemlich viel weiß, sehr einfach ist und gescheite Fragen thut. Für einen zweiundzwanzigjährigen Herzog, der seit vier Jahren sein eigener Herr ist, fand ich viel mehr in ihm, als ich erwartete.“

So stellt sich Wesen und Charakter des jungen Fürsten während seiner ersten Regierungszeit dar, und diesem Charakter ist Karl August in steter Fortbildung bis zur letzten Lebensstunde treu geblieben. In der Jugend oft hitzig, leidenschaftlich entschieden, feurig und ungestüm, zeigte er auch in späterer Zeit wohl oft genug eine derbe, soldatische, schroffe Weise, doch all dies war nur die rauhe Schale des edelsten Kerns. Karl August war eine groß angelegte, naturwüchsige Persönlichkeit, eine auf das Große gerichtete, edle, geniale und durchaus gesunde Natur in einem abgehärteten, kraftvollen Körper. Mit steter Wißbegierde, mit Empfänglichkeit für alles Große und Schöne im Leben wie in der Wissenschaft, mit lebhaftem Interesse für Alles, wenn es einigermaßen bedeutend war, es mochte nun in ein Fach schlagen, in welches es wollte, besonders aber für die Naturwissenschaften und jeden Fortschritt auf dem Gebiete der Künste vereinte er eine reine, ungetrübte Anschauung der Dinge, gesundes, schlagendes Urtheil und bewundernswerthen Scharfblick; mit festem, entschlossenem Willen und Ausdauer in der Verfolgung des Zieles verband er Raschheit der Ausführung, rastloses kräftiges Schaffen, unermüdliche Thatkraft. Gerad und geradezu, kernig und treu, bethätigte er als Mensch und Fürst die redlichste, menschenfreundlichste Gesinnung und schätzte und ehrte Jeden, auch den Geringsten, wenn er nur in seiner Lebensstellung ehrlich seine Pflicht erfüllte. Einfach, schlicht und anspruchslos, dabei heitern, lebensfrohen Temperaments, mischte er, der wahre Bürgerfreund, sich frei unter das Volk. Mit köstlichem Behagen konnte er die bäuerlichen Kirchweihen besuchen, die Bauernmädels im Tanze schwingen, auf den Schützenfesten mitschießen und den Bänkelsängerliedern vor den blutrothen Bildern der „Mordthaten“ zuhören. Ebenso freigebig als leutselig half er den Menschen, wo er nur konnte, mit Rath und That, und immer war seine Kraft der Förderung des Gemeinwohls zugewandt.

So wirkte er für seine Residenzstadt, in welcher unter seiner und seines Freundes Goethe Leitung die beengenden Mauern und Thore fielen, die Bibliothek aufblühte, Schloß, Theater, Bürgerschule etc. und vor allem der unvergleichlich schöne Park entstanden.

So wirkte er als echter Mann des Fortschritts für sein Land. Was irgend an guten neuen Erfindungen und Einrichtungen in jener Zeit hervortrat, suchte er (laut Goethe’s Zeugniß) „bei sich einheimisch zu machen; manche Abhandlung, manches Gesetz hat er selbst abgefaßt, und zwar meistentheils gut.“ Seine großen Zwecke mit energischem Willen unermüdlich verfolgend, hob er Land- und Forstwirthschaft und Gewerbe, schuf eine durchgreifende Reform der Justiz, der Verwaltung, der Stadtordnungen, der Steuerverfassung, des Medicinalwesens und förderte emsig die allgemeine Volksbildung durch Besserung der Schulen, durch Begründung des Seminars und durch Berufung der bedeutendsten Gelehrten aller Zweige der Wissenschaften nach der Universität Jena. Sie, die thüringische Universität, verdankt ihm, ihm vor Allen, ihre Blüthe; seiner [619] Pflege verdankt sie es, daß sie nicht nur der Hauptherd für die Fortschritte der kritischen Philosophie, sondern überhaupt der Brennpunkt der deutschen Wissenschaft wurde und mehrere Decennien hindurch blieb. Und mit dem ihm eigenthümlichen feinen Verständnisse für den Genius zog er im Bunde mit Goethe die genialen Koryphäen deutschen Geistes, deutscher Kunst nach Weimar. Deutschland

nennt keinen großen Namen,
Den dieses Haus nicht seinen Gast genannt.

Und nicht Gast allein; Karl August wußte sie in Weimar zu fesseln. Sehr treffend sagte Goethe im Tasso:

Ein edler Mensch zieht edle Menschen an
Und weiß sie fest zu halten.

So erfolgte, namentlich auf Goethe’s Betrieb, die Berufung Herder’s, und Karl August war es, der ihn gegen die Anfeindungen von orthodoxer Seite schützte; so erfolgte später die Berufung Schiller’s nach Jena, seine Uebersiedlung nach Weimar, und wieder war es Karl August, der für Schiller’s äußere Stellung nach Kräften Alles zu thun bereit war und sich des Freundschaftsbundes von Schiller und Goethe und ihres gemeinsamen Wirkens freute.

Und über die engen Grenzen seines Landes weit hinaus bethätigte der Herzog seine deutsch-patriotische Gesinnung. Der Gedanke, welcher erst in unseren Tagen zum Heile des Vaterlandes verwirklicht worden, erfüllte ihn schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seine Sehnsucht, seine Hoffnung ging – nach seinen eigenen Worten – dahin, „daß der träge Schlummergeist, der Deutschland seit dem westphälischen Frieden drückte, endlich einmal zerstreut werden könnte – daß der Nationalgeist, von dem leider auch die letzten Spuren täglich mehr zu erlöschen schienen, erweckt werden könnte;“ er betrachtete den deutschen Fürstenbund, mit Preußen an der Spitze, als das Mittel zur Wiedergeburt des Gesammtvaterlandes, „seines beinahe erloschenen Gemeingeistes und seiner tiefgesunkenen Gesammtkraft,“ und wirkte und warb für diese Union mit Feuereifer.

Aber noch traurigere Zeiten sollten für Deutschland kommen und gerade in Karl August’s Lande, bei Jena, die Entscheidungsschlacht geschlagen werden. Durch die Mangelhaftigkeit der Heeresorganisation und die Unfähigkeit der Führer auf preußischer, durch die kluge Benutzung des Terrains, so namentlich des Rauthales, auf französischer Seite ging die Schlacht für Preußen, für Deutschland verloren. Wie anders hätte die Entscheidung fallen können, wenn die preußischen Oberbefehlshaber den weimarischen Herzog, ihn, dem jeder Zugang, jede Schlucht seines Landes genau bekannt war, in jenen verhängnißvollen Tagen nicht mit der Avantgarde nach Ilmenau beordert hätten! Während seine muthige, deutsche Gemahlin im Schlosse zu Weimar dem siegreichen Corsen, dessen zweihundert Kanonen ihr keine Furcht hatte hatten einjagen können, mit Ruhe und Würde Achtung abzwang und dadurch ein Ende der Plünderung ihrer Stadt und Schonung des Landes erlangte, befand sich der tapfere Herzog an der Spitze der preußischen Reiterei und suchte, nordwärts rückend, zu retten, was noch zu retten war. Mußte er dann auch der Nothwendigkeit der Rückkehr, wie des Beitrittes zum Rheinbunde sich fügen – sein deutsches Herz, sein Sinn blieb auch während der übermüthigen französischen Gewaltherrschaft deutsch, ungebeugt und tapfer, so daß Napoleon ihn mit Recht „den widerspenstigsten Fürsten von Europa“ nannte, und als endlich die Stunde der Erlösung geschlagen, rief er das Volk zu den Waffen und focht als russischer General und Befehlshaber eines deutschen Bundescorps selbst mit im glorreichen Befreiungskriege.

Und als der Sieg entschieden war und andere deutsche Fürsten das dem deutschen Volke so feierlich gegebene Wort der Einheit und Freiheit des Vaterlandes schmachvoller Weise uneingelöst ließen, war es Karl August, der schon als souveräner Fürst des Rheinbundes im Jahre 1809 trotz dem harten Drucke der äußeren Verhältnisse seinen altfürstlichen Landen eine verbesserte landständische Verfassung gegeben hatte und nunmehr in dem Grundgesetze vom 5. Mai 1816 seinem vergrößerten und zum Großherzogthume erhobenen Lande die erste constitutionelle Verfassung gab. Er ließ sich durch die Bedenken seines Ministeriums, welches eine solche Umformung der Staatsverhältnisse für gefährlich hielt, nicht abhalten; er, der wahre Freund des Volkes, war freisinniger als sein Ministerium, freisinniger selbst als sein Landtag, welcher aus wundersamer Aengstlichkeit die vom Fürsten wiederholt beantragte Oeffentlichkeit der Sitzungen nicht acceptiren mochte. Jene Verfassung aber, die erste in ganz Deutschland, und die gewährte Preßfreiheit waren der Anfangspunkt des deutschen constitutionellen Lebens.

Und mit welcher Freude sah Karl August den Nationalgeist die jungen Schwingen heben! Zu dem Wartburgfeste 1817 ertheilte er, trotz allerhand Einflüsterungen und Vorstellungen, die förmliche Erlaubniß, veranlaßte die Beherbergung der Burschen in den Bürgerhäusern, räumte ihnen die Wartburg ein, öffnete zum Festmahle die Fischteiche und bewilligte zum Siegesfeuer das Holz aus den Forsten. Er vertheidigte das vielgeschmähte Fest gegen die österreichischen und preußischen Bevollmächtigten. Er begünstigte und schützte die in Jena begründete „Deutsche Burschenschaft“ als die Bewahrerin und Pflegerin des Geistes der deutschen Einheit und Freiheit, des deutschen Nationalbewußtseins. Gern nahm er in Jena den von der Burschenschaft dankbar gebrachten Fackelzug an; freundlich lud er nach der Geburt seines Enkels Karl Alexander (des jetzigen Großherzogs) die Burschenschaft ein, zur Taufhandlung Vertreter zu senden, und als demzufolge am 5. Juli 1818 die ganze jenenser Burschenschaft, fast fünfhundert Mann stark, nach Weimar zog und unter Leitung ihres Generalanführers Heinrich von Gagern „dem verehrten Erhalter der jenaischen Hochschule, dem geliebten Beschützer deutschen Rechts und deutscher Freiheit“ ein solennes Fackelständchen brachte, wurde sie dort im Schloßhofe vom Großherzoge gastfreundlich bewirthet. Auch nach Sand’s verhängnißvoller That, welche von der Reaction zum Vorwande gemißbraucht wurde, suchte Karl August die akademische Freiheit und die Burschenschaft dadurch zu schützen, daß er beim Bundestage durch eine energische Erklärung seines Gesandten die Universitäten überhaupt und insbesondere die jenaische gegen die erhobenen Beschuldigungen rechtfertigte. Vergebens! Er konnte nicht die Schritte der Diplomatie gegen das verhaßte kleine liberale Weimar und dessen Preßfreiheit, nicht die Auflösung der Burschenschaft, nicht die Karlsbader Beschlüsse verhindern, mit denen eine ebenso brutale wie perfide Reaction Knebelung der Presse, Maßregelung der Universitäten und Verfolgung der sogenannten demagogischen Umtriebe beschloß.

Auch in der trübsten Zeit blieb er sich treu, freisinnig, kernig, frei in politischen wie in religiösen Dingen. Noch in seinen letzten Lebenstagen, auf der Reise, welcher er am 1828 aus Liebe zu seinem Urenkel unternommen hatte, äußerte er im Gespräche mit Alexander von Humboldt seine lebendige Theilnahme für alle fernere Entwickelung des Volkslebens und klagte über den einreißenden Pietismus und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Niederschlagen aller freieren Geistesregungen. „Dazu sind es unwahre Bursche,“ rief er, „die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten.“

Kurz darauf, am 14. Juni 1828, schied er in Graditz aus dem Leben. Wie drei Jahre vorher, bei seinem goldenen Jubelfeste am 3. September 1825, das ganze Land, Stadt und Dorf, in Kränzen und Jubel ihn, den wahrhaft geliebten „alten Herrn“, gefeiert hatte, ebenso allgemein und aufrichtig war jetzt die Trauer, der Schmerz und sein Dahinscheiden; hatte doch der Reichste wie der Aermste, der Hochgestellte wie der Geringste den gleichen schweren Verlust erlitten. Im Herzen seines Volkes lebte er fort und lebt dort noch jetzt. Fast in jedem Bürgerhaus, ja in der ärmsten Dorfschenke kann man das Bild des alten Herrn finden, meist den treffliche Kupferstich von Schwerdgeburth, welcher den Herzog am Salon im Parke mit Schirmmütze, in kurzer grüner Pekesche, die Hände auf dem Rücken, die zwei Hunde zur Seite, darstellt. Die Alten, die ihn noch gekannt, erzählen mit Wärme von ihm, von seiner Leutseligkeit, seiner Geradheit und seinem Witze, und die Jungen lauschen andächtig den Erinnerungen der Alten.

Man kann bedauern, daß ihm nicht vergönnte gewesen, an der Spitze der deutschen Nation zu stehen und zu wirken. In der That haben nach dem Wiener Congreß manche unbefriedigte Patrioten ihn als denjenigen Fürsten bezeichnet, der vor allen würdig sei, den deutschen Kaiserthron einzunehmen.

Vielleicht aber hatte auch Goethe Recht, als er zu Eckermann [620] äußerste: „Karl August war eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Thatkraft und Unruhe, sodaß sein eigenes Reich ihm zu klein war und das größte ihm zu klein gewesen wäre.“

Doch gerade bei der engen Umgrenzung seines Wirkungskreises, bei der Kleinheit seiner Mittel, müssen uns seine Verdienste um so höher erscheinen: von dem gewaltigen Antriebe, den er und seine genialen Gefährten gegeben, datirt sich der geistige Aufschwung der deutschen Nation und zugleich vom Erlasse seiner Verfassung, von seinem Schutze der freien Presse der Beginn des politischen Lebens des Volkes. So ehrte ihn das deutsche Vaterland am 3. September 1857; so wird ihn dasselbe am 3. September dieses Jahres, der bevorstehenden Säcularfeier seines Regierungsantritts, als des Beginnens seines Wirkens, ehren; so wird er fortwirkend in Wirklichkeit unsterblich bleiben, und allezeit wird es kein wahreres, kein schöneres Wort geben, als dasjenige Goethe’s über seinen Freund und Fürsten:

„Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine,
Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur was er vermag.
Aber so wende nach innen, so wende nach außen die Kräfte
Jeder; da wär’ es ein Fest Deutscher mit Deutschen zu sein.“

[755]
2. Zum Goethe-Feste 7. November 1875.

Noch werden die Festklänge von Karl August’s hundertjährigem Regierungsjubiläum nachklingen, wenn sich bereits der Jubel eines zweiten großen Weimarischen Festes mit ihnen vermischen wird, – eines Festes, das, mit dem ersten auf das Innigste verbunden, nicht allein für Weimar, sondern für ganz Deutschland ebenso hohe, fast noch höhere Bedeutung hat; die Säcularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar.

Auf die Einladung des Herzogs fuhr Goethe im November 1775 von Frankfurt nach Weimar, um als Gast Karl August’s einige Zeit an dessen Hofe zu weilen. Im Auftrage desselben begleitete ihn dahin ein junger Cavalier, welcher während seines Aufenthaltes in Frankfurt bereits

Großen Fluss hab ich verlassen,
Einem kleinen mich zu weihn;
Sollte der doch eine Quelle
Manches Guten, Schönen sein.
Weimar. d. 15. Jun. 1826. Goethe

mit Goethe und dessen Eltern so befreundet geworden war, daß er in einem später zu erwähnenden Briefe Goethe seinen Bruder, Goethe’s Eltern seine Eltern nannte. Es war der Weimarische Kammerjunker von Kalb, nach von Seckendorff’s Schilderung „ein geistreicher Mann von guter Figur, von dessen Charakter man aber nicht das Beste sagte“. Schon damals die volle Gunst des Herzogs genießend, wurde er, als sein Vater, der Kammerpräsident von Kalb nach Kalbsrieth sich zurückzog, von Karl August trotz den Bedenken und Vorstellungen des Ministeriums zum Kammerpräsidenten ernannt und fungirte als solcher bis zum Jahre 1782, wo er wegen übler Amtsführung entlassen werden mußte. Wie hätte er damals, im November 1775, ahnen können, daß der junge Frankfurter Rechtsanwalt, der junge Dichter Goethe, welchen er im Wagen nach Weimar geleitete, schon nach sechs Jahren sein Nachfolger im Vorsitz der Kammer werden sollte! –

Am Morgen des 7. Novembers 1775, mit dem Glockenschlage fünf Uhr, trafen sie in Weimar ein, wo Goethe zunächst im Hause des alten Kammerpräsidenten von Kalb freundlichste Aufnahme und Wohnung fand. Dort saß noch denselben Tag Wieland, der Erzieher des jungen Fürsten, der Gesellschafter und Freund der Herzogin-Mutter, welcher unlängst seiner Alceste wegen von Goethe in der Farce „Götter, Helden und Wieland“ so hart angegriffen war, bei Tafel mit Goethe zusammen und wurde „ganz verliebt in den herrlichen Jüngling“. „Meine Seele“ – schrieb er am 10. November – „ist so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Morgensonne. Der göttliche Mensch wird, denk’ ich, länger bei uns bleiben, als er anfangs selbst dachte, und wenn’s möglich ist, daß aus Weimar etwas Gescheites wird, so wird es seine Gegenwart wirken.“ Größer noch und schöner, als Wieland ahnte, ist seine Prophezeiung in Erfüllung gegangen, und Goethe selbst war sich dessen vollbewußt. Als er einundfünfzig Jahre später, im Jahre 1826, dem Rath Kräuter, seinem ehemaligen Privatsecretär, ein Bild Frankfurts zum Geschenk machte, schrieb er, der Uebersiedlung vom Main zur Ilm gedenkend, unter das Bild seiner Vaterstadt die oben im Facsimile wiedergegebenen ebenso wahren wie schönen Verse. Mit jenem 7. November 1775 begann, bei innigstem Freundschaftsbunde des Fürsten und des Dichters, die Genie-Periode; mit jenem Tage begann die große Zeit, welche Weimar für alle Zukunft zur classischen Stätte weihen sollte; mit jenem Tage begann nicht für Goethe und Weimar allein, nein, für die gesammte deutsche Literatur eine neue Epoche. Mit dem 7. November des jetzigen Jahres aber vollendet sich seitdem ein Jahrhundert, und mit Leonore im Tasso können wir sagen:

Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.

So feiert Weimar diesen hundertjährigen Gedenktag, wie einst vor fünzig Jahren den goldenen Jubeltag des greisen Dichters; so feiert ihn Weimar, ja die ganze deutsche Nation gleich jenem unvergeßlichen 4. September 1857, als von der Goethe-Schiller-Doppelstatue vor dem Weimarischen Theater die Hülle fiel. Begehen auch wir diese bedeutsame Säcularfeier, indem wir uns jene ewig denkwürdige Zeit vor hundert Jahren in treuem Bilde zu veranschaulichen suchen!

In frischer, feuriger Jugend, erst sechsundzwanzig Jahre alt, trat Goethe in Weimar ein, nach Heinse’s Schilderung „ein schöner Junge, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und Stärke, ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer und Adlerflügeln.“ Sein Götz von Berlichingen hatte alle Herzen im Sturme erobert; über seinen Werther waren unzählige, sentimental fühlende Herzen in Thränen zerflossen; sein Name war auf Aller Lippen. Und dieser so rasch berühmt gewordene, allgefeierte junge Frankfurter war zugleich in seinem ganzen Wesen das, was sein Schauspiel, sein Roman sagte, und bezauberte über dies durch das gewinnendste, in jedem Zuge den Stempel des Genies tragende Aeußere. Der schlanke und doch nervige, stolze Gliederbau, die prachtvolle Stirn, die glühenden Augen, die gebieterische Nase und die zauberischen Lippen schienen ihres Gleichen nicht zu haben. So schildert ihn Wieland als einen

– schönen Hexenmeister
Mit einem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen mit Götterblicken:
Gleich mächtig zu tödten und zu entzücken.
So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein ächter Geisterkönig, daher,
Und Niemand fragte: Wer ist denn der?
Wir fühlten beim ersten: ’s war Er.

Voll Genialität, voll Lebensdrang und Lebenslust und dabei doch mit stillem, nachzitterndem Schmerz über den Verlust seiner Frankfurter Braut Lili mußte der junge schöne Mann auch in den Weimarischen Kreisen rasch alle Herzen gewinnen. „Wie ein Stern,“ sagt Knebel, „ging er auf. Jedermann hing an ihm, besonders die Damen. Er hatte noch die Werther’sche Montirung an, und viele kleideten sich darnach. Er hatte noch von dem Geiste und den Sitten des Romans an sich, und dieses zog an, sonderlich den jungen Herzog, der sich dadurch in die Geistesverwandtschaft seines jungen Helden zu setzen glaubte.“ [756] Er war des jungen, achtzehnjährigen Fürsten Gast nicht blos, er war sein Freund, sein Bruder. Sie aßen zusammen, oft schliefen sie in demselben Zimmer, bisweilen Goethe mit im Fürstenhause, später bisweilen der Herzog in Goethe’s Gartenhause, und beide verband das traulich-brüderliche „Du“. Und wie Goethe von ihm herzlich aufgenommen wurde, so vom ganzen Hofe, namentlich auch von der achtzehnjährigen Herzogin Louise und von der erst sechsunddreißig Jahre alten, lebensheitern, kunstliebenden Herzogin-Mutter Amalie. Seine glänzenden Talente, sein frisches, geistsprudelndes Wesen und seine Ausgelassenheit rissen Amalien vom ersten Augenblicke an hin, und einige Monate später trat sie in einem Briefe an den Minister von Fritsch als beredte Vertheidigerin von Goethe’s Talenten, seinem Genie, von seiner Moral, seiner Religion auf, „welche die eines wahren und guten Christen sei, welche ihn lehre, seinen Nächsten zu lieben und es zu versuchen ihn glücklich zu machen.“

Bald war er, wie er selbst in einem Briefe vom 22. November bemerkte, im Treiben und Weben des Hofes, und da ihm zur Uebertäubung des geheimen Schmerzes um Lili Zerstreuung Bedürfniß war und das Hofleben ihm zugleich Gelegenheit zu Studium von Leben und Menschen gab, stürzte er sich, seinem Genius vertrauend, in den Strudel der buntesten Vergnügungen. Er that es nach seiner Art, im Style der Sturm- und Drangperiode, rücksichtslos und unbekümmert um das „Geträtsch“ und Nasenrümpfen des sittsamen Weimarischen Publicums. Wohl mag die Bemerkung des guten Wieland in einem Briefe an Merck vom Jahre 1776 nur Wahrheit sein: „Goethe hat freilich in den ersten Monaten die Meisten (mich niemals) oft durch seine damalige Art zu sein skandalisiert und dem diabolus prise über sich gegeben.“

Im Zimmer des ihm befreundet gewordenen Friedrich Justin Bertuch (des Uebersetzers von „Don Quixote“, nachmals Begründer des Landes-Industrie-Comptoirs) konnte der fast immer „wüthige“ Goethe sich das schöne lange Haupthaar lösen und mit bacchantischem Uebermuthe sich auf dem Boden wälzen, und als wenige Wochen nach Goethe’s Ankunft sich die beiden Grafen Stolberg, die Freunde des Frankfurter Dichters, auf ihrer Rückreise aus der Schweiz in Weimar einfanden, wo sie bis 3. Dezember verweilten, steigerte sich der Uebermuth bis zu genialer Tollheit. Auf Bertuch’s Stube hielt man das Gelag, warf die Trinkgläser zum Fenster hinaus, nahm Aschenkrüge, die in einem altdeutschen Grabhügel aufgefunden worden, zu Pokalen und trank daraus Thuiskons’s Gesundheit. An seine Schwester Auguste schrieb Graf Christian Stolberg von Weimar aus: „Hier wird’s uns recht wohl. Wir leben mit lauter guten Leuten, mit unserm Wolf (Goethe) und den hiesigen Fürstlichkeiten, die sehr gut sind, gehen auf die Jagd, reiten und fahren aus und gehen auf die Maskerade.“ Jagden und Ausflüge, Makenbälle, Schlittenpartieen, Schlittschuhlaufen auf dem Schwansee, Concerte, Bälle, Trinken und Spielen, durchgeistigt vom sprudelnden Witz und Humor und verbunden mit derben Neckereien des witzigen Hoffräuleins von Göchhausen, füllten die Monate November und December 1775 wie die ersten Monate des Jahres 1776 aus. „Ich treib’s hier toll genug; wir machen des Teufels Zeug,“ schrieb damals Goethe an Freund Merck nach Darmstadt und der ganze junge Hofkreis, welchen Karl August um sich versammelte, und vor allem der Herzog selbst mit, betheiligte sich in Herzenslust daran.

Es war die Zeit der genialen Schrankenlosigkeit; die jugendliche Gesellschaft der Schöngeister, fortgerissen von Goethe’s und Karl August’s ungestümen Drang, die Fessel althergebrachten widerwärtigen Zwanges zu brechen, gab sich der tobendsten Ausgelassenheit hin, und Niemand nahm freudiger daran Theil, als der Herzog selbst und sein Bruder Constantin. Die schönen Geister Weimars liebten es aber auch, in launisch-satirischen Gedichten, „Matinées“ genannt, einander ihre Eigenschaften, Gewohnheiten, Arten und Unarten in oft derbem Scherze vorzurücken, und gerade in einer solchen Matinée von Einsiedel hat ein glücklicher Zufall uns das frischeste Bild des damaligen genialen Kreises und seiner einzelnen Mitglieder erhalten.

Friedrich Hildebrandt von Einsiedel, geboren 1750, der Spielgenosse und Jugendfreund Karl August’s, durch poetische und musikalische Begabung ausgezeichnet und wegen seiner harmlosen, muthwilligen Scherze, seiner gemüthlichen, gutmüthigen Heiterkeit nur l’ami genannt, hat im Januar 1776 unter dem Titel „Schreiben eines Politikers an die Gesellschaft am 6. Januar 1776“, mit der Unterschrift „Mephistopheles“, jene Matinée geschrieben, welche die Hauptpersönlichkeiten des weimarischen Kreises in scherzhaften Knittelversen anschaulich und lebhaft schildert. Das Original kam in Goethes’s Hand, welcher die Namen der einzelnen darin behandelten Personen mit Bleistift darunter verzeichnete. Nur der ihn selbst behandelnde Theil des Gedichts ist durch Aufnahme in Riemer’s „Mittheilungen über Goethe“ bisher davon bekannt geworden. Die äußerst charakteristische Stelle lautet:

Dem Ausbund aller, dort von Weiten,
Möcht’ ich auch ein Süpplein zubereiten,
Fürcht’ nur sein ungeschliff’nes Reiten;
Denn sein verfluchter Galgenwitz
Fährt aus ihm wie Geschoß und Blitz.
’s ist ein Genie, von Geist und Kraft:
(Wie eb’n unser Herrgott Kurzweil schafft)
Meynt, er könn’ uns all’ übersehn,
Thäten für ihn ’rum auf Vieren gehn,
Wenn der Fratz so mit Einem spricht,
Schaut er Einem stier in’s Angesicht,
Glaubt, er könnt’s fein riechen an,
Was wäre hinter Jedermann.
Mit seinen Schriften unsinnsvoll
Macht er die halbe Welt itzt toll,
Schreib ’n Buch von ein’m albern Tropf,
Der heiler Haut sich schießt vor’n Kopf:
Meynt Wunder was er ausgedacht,
Wenn ihr einem Mädel Herzweh macht.
Paradirt sich drauf als Doctor Faust,
Daß ’m Teufel selber vor ihm graußt.
Mir könnt’ er all gut seyn im Ganzen,
(Thät mich hinter meinen Damm verschanzen)
Aber wär’ ich der Herr im Land’,
Würd er und all sein Zeugs verbannt.

Mehr war von jenem merkwürdigen Gedichte bis jetzt nicht bekannt.

In den Mittheilungen über Weimar, Goethe und Corona Schröter, aus den Tagen der Genieperiode, welche ich soeben unter dem Titel „Vor hundert Jahren, Festgabe zur Säcularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar“ erscheinen lasse, wird aber jenes Knittelversgedicht zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. In demselben Tone wie Goethen behandelt darin Mephistopheles auf das Ergötzlichste auch die Genossen von Wedel, den Autor von Einsiedel selbst, von Knebel, Wieland, Hofrath Albrecht und endlich auch den Herzog Karl August, Letzteren mit den Worten:

Nun denk’ man sich ’en Fürstensohn,
Der so vergißt Geburt und Thron,
Und lebt mit solchen lockern Gesellen,
Die dem lieben Gott die Zeit abprellen;
Die thun als wärn sie seines Gleichen,
Ihm nicht einmal den Fuchsschwanz streichen,
Die des Bruders Respect so ganz verkennen.
Tout court ihn Bruder Herz thun nennen,
Glaub’n es wohne da Menschenverstand
Wo man all Etiquette verbannt.

Neben diesem charakteristischen Scherzgedichte, welches uns den genial-lustigen Kreis wie im Spiegel zeigt, sind uns aber noch zwei andere Documente erhalten, die in ihrer Zusammengehörigkeit ein treues Bild des Herzogs, Goethe’s und des ganzen damaligen Lebens und Treibens bieten.

Unweit der weimarischen Stadt Bürgel liegt romantisch in Felsen, Fichten- und Buchenwaldung das Dörfchen Waldeck. Eine Försterei, einen geräumigen Hof einschließend, mit Hirschgeweihen über der Thür und Wetterfahnen auf dem Dache steht noch unverändert dort, wie einst vor hundert Jahren. Damals bewohnte sie der wackere Förster Slevoigt mit seinen zwei hübschen, anmuthigen Töchtern. Bertuch, der talentvolle junge Weimaraner, welcher, bereits durch seine Dichtungen bekannt, im Jahre 1773 nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt war, hatte das Herz der ältern Tochter gewonnen, und der gute Melchior Kraus, der Frankfurter Maler, welcher ebenfalls dem Weimarischen Kreise angehörte, warb um die Gunst der jüngern Schwester. Mehr seinen Töchtern als sich selbst zu Liebe, hatte der Förster rauhgestaltete Felspartieen, Gebüsch und Waldstrecken durch Brücken, Geländer und sanfte Pfade gesellig wandelbar gemacht. Bertuch hatte mit seinem Mägdelein Rasen- und Moosbänke [757] und Hüttchen und romantische Plätzchen angelegt, und Kraus hatte von der Wald- und Berggegend Zeichnungen gefertigt, auf denen man die beiden Mädchen in weißen Kleidern auf jenen anmuthigen Wegen in Begleitung der beiden jungen Männer erblickte. Als vor einigen Monaten Melchior Kraus Frankfurt und Goethen besucht hatte, hatte dieser die Zeichnungen gesehen und war auf die wildromantische Gegend von Waldeck aufmerksam geworden. Jetzt nahte das Weihnachtsfest heran. Bertuch und Kraus gedachten es in der lieben Försterfamilie zu verleben. Der Herzog folgte einer Einladung an den Hof Herzogs Ernst des Zweiten von Gotha, Goethen aber, der „in verbreiteter Wirthschaft und Zerstreuung von Morgens zur Nacht umgetrieben worden“, drängte es, einige Tage fern vom Hofleben einfache schöne Natur zu genießen; er zog Waldeck vor. „Ich bin hier“ – schrieb er von Weimar aus an Lavater – „wie unter den Meinigen, und der Herzog wird mir täglich werther und wir einander täglich verbundener. Morgen gehe ich über Jena nach Waldeck, wilde Gegenden und einfache Menschen zu sehen.“

Mit von Kalb, von Einsiedel und Bertuch ritt Goethe am 23. December 1775 über Jena nach Waldeck, wo er mit ihnen im traulichen Försterhause wohnte, und schon am Abende des ersten Tages begann er einen Brief an Karl August, der mit den sich daran schließenden, ebenfalls für den Herzog bestimmten Tagebuchsnotizen nicht nur das damalige Sein und Wesen des Dichters und das burschikose Leben in der einsamen Försterei, sondern vor Allem auch die Innigkeit lebhaft veranschaulichte, welche das Verhältniß zwischen Goethe und Karl August schon nach so kurzem Zusammenleben gewonnen hatte.

[768]
2. Zum Goethe-Feste 7. November 1875.
(Schluß.)


Drunten in der Försterstube saßen die Gefährten noch nach aufgehobenem Tische und schmauchten und schwatzten, daß Goethe, welcher zum Briefschreiben hinaufgegangen, es durch den Boden hörte; nur Einsiedel war zu Bett, „sein Magen lag schief; Kaffee und Branntwein wollten’s nicht bessern“. Goethe aber begann seinen Brief mit dem Zigeunerliede:

„Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee etc.“

Dann fuhr er fort: „Daß mir in diesem Winkel der Welt, Nachts in dieser Jahreszeit, mein alt’ Zigeunerlied wieder einfällt, ist ebenso natürlich, lieber gnädiger Herr, als daß ich mich gleich hinsetze, es Ihnen aufzuschreiben und hinterdrein einen Brief zu sudeln; denn ich vermisse Sie wahrlich schon, ob wir

[769]

Lieber Göthe, ich habe deinen Brief erhalten, er freut mich unendlich, wie sehr wünschte ich mit freirer Brust, u. Herzen die liebe Sonne in den Jenaischen Felsen auf, u. untergehen zu sehen, u. daß zwar mit dir. Ich sehe sie hier alle tage, aber das Schloß ist so hoch, u. in so einer unangenehmen Ebne, von so vielen dienstbaren Geistern erfült, welche ihr leichtes, lustiges Wesen in Samt u. Seiden gehüllt haben, daß mirs ganz schwindlich, u. übel wird, u. alle Abend mich den teufel übergeben möchte. Es sind hier der Leute comme il faut so viel, u. wissen so genau ihre Fischpflicht daß ich stets die S. N. möchte kriegen. Ich komme erst den Freytag wieder, mache doch daß du hier her kömst, die Leute sind gar zu neugierig auf dich. Miselchen ist recht brav. Ich habe um mich consistent zu erhalten meinen grosen Hund von Eisenach kommen laßen, welcher mir durch seine treue viel Freuden macht. Grüße unser Miselchen wenn du sie siehst. Gott befohlen.

C. A.


Der erste Brief des Herzogs Karl August von Weimar an Goethe.

Nach dem im Besitze des Herrn Dr. Robert Keil befindlichen Original.

[770] gleich nicht zwölf Stunden aus einander sind etc. – Hier liegen wir recht in den Fichten drin bei natürlich guten Menschen. Unterwegs haben wir in den Schenken den gedruckten Karl August gegrüßt und haben gefühlt, wie lieb wir Sie haben, daß uns Ihr Name auch neben dem (L. S.) Freude machte etc. – Gute, herzliche Nacht! – Noch ein Wort, ehe ich schlafen gehe. Wie ich so in der Nacht gegen das Fichtengebirge ritt, kam das Gefühl der Vergangenheit, meines Schicksals und meiner Liebe über mich, und sang so bei mir selber:

Holde Lili, warst so lang’
All’ meine Lust und all’ mein Sang,
Bist, ach! nun all’ mein Schmerz, und doch
All’ mein Sang bist Du noch.

Nun aber und abermal gute Nacht!

Gehab Dich wohl bei den hundert Lichtern,
Die Dich umglänzen,
Und all’ den Gesichtern,
Die Dich umschwänzen
Und umcredenzen;
Find’st doch nur wahre Freud’ und Ruh’
Bei Seelen, grad’ und treu wie Du.“

Bei Tagesanbruch setzte er den Brief fort: „Fatales Thauwetter, und so der ganze Ton des Tages verstimmt; wollen sehen, wie wir ihn wieder aufbringen. Der herrliche Morgenstern, den ich mir von nun an zum Wappen nehme, steht hoch am Himmel etc. – Die Kirche geht an, in die wir nicht gehen werden, aber den Pfarrer laß ich fragen, ob er die Odyssee nicht hat; und hat er sie nicht, so schicke ich nach Jena, denn unmöglich ist die zu entbehren in dieser Homerisch einfachen Welt etc. – Nun muß ich meinen Boten fortschicken, der Das nach Weimar trägt. Lassen Sie, lieber gnädiger Herr, den Brief Niemand sehen, als Wedeln[2]. Alles, was mich umgiebt, Einsiedel, Kalb, Bertuch, das ganze Haus legt sich zu Füßen.

Der Pflicht vergessen
Wir Fische nie.“

So schließt der Brief. Um elf war der Bote noch nicht da, der Schlittschuhe mitbringen sollte; es wurden ihm „tausend Flüche entgegengeschickt“, inzwischen wurde „in der Gegend herumgekrochen und geschlichen.“ Das Tagebuchblatt Goethe’s fährt fort: „Der Bote ist da, und nun auf’s Eis. Segen zum Morgen und Mahlzeit, lieber gnädiger Herr – die Schrittschuhe sind vergessen! Ich habe gestampft und geflucht und eine Viertelstunde am Fenster gestanden und gemault; nun laben sie mich mit der Hoffnung, es käm’ noch ein Bote nach. Muß also ohne geschritten zu Tische. – Abends vier. Sind gekommen, habe gefahren und mir ist’s wohl.“ – Der Abend wurde von den fröhlichen Gesellen „mit Würfeln und Karten vervagabundet“, am ersten Feiertag nach Bürgel zum Amthaus und zurück nach Waldeck geritten. Endlich war auch die Odyssee aufgetrieben und Kraus eingetroffen, und das Tagebuchsblatt schließt mit der ergötzlichen Schilderung: „Nach Tische rammelten sich Rugantino und Basko, nachdem wir vorher unsere Imagination spazieren geritten, wie’s sein möchte, wenn wir Spitzbuben und Vagabunden wären, und, um das natürlich vorzustellen, die Kleider gewechselt hatten. Kraus war auch gekommen und sah in Bertuch’s weißem Tressenrock und einer alten Perrücke des Wildmeisters wie ein verdorbener Landschreiber, Einsiedel in meinem Frack mit blauem Krägelchen wie ein verspielt Bübchen, und ich in Kalb’s blauem Rock mit gelben Knöpfen, rothem Kragen und vertrotteltem Kreuz und Schnurrbart wie ein Capitalspitzbube aus.“

Die Antwort des Herzogs sollte nicht lang’ auf sich warten lassen. Von Gotha aus schrieb am 25. December 1775 (wie eine Bleistiftnotiz darauf dieses Datum angiebt) Karl August seinen ersten Brief an Goethe. Nur ein Fragment davon war bisher bekannt, und selbst Vogel’s Ausgabe vom Briefwechsel Karl August’s mit Goethe hat nur dieses Fragment. In der obenerwähnten Schrift „Vor hundert Jahren“ theile ich die herzlich-brüderliche Antwort des achtzehnjährigen Herzogs zum ersten Male vollständig mit. Aber nicht nur der Inhalt derselben ist charakteristisch, auch die Form ist es, und wir glauben unseren Lesern durch den Abdruck des Briefes in treuem Facsimile, wie er auf vorstehender Seite wiedergegeben wird, eine besondere Freude zu bereiten.

Fürwahr, es giebt keine charakteristische Urkunde für die damalige Denkungsweise Karl August’s, keinen schlagenderen Beweis für den tiefen Eindruck, welchen Goethe auf ihn gemacht, kein besseres Denkmal für den damals geschlossenen innigen Bruderbund des Fürsten und des Dichters.

Auch der Wunsch des Herzogs, mit Goethe zusammen Waldeck zu sehen, ging in Erfüllung. Am 25. October 1776 waren sie Beide zusammen dort auf der Jagd. Karl August ging am Abende fort, Goethe aber blieb bis zum nächsten Tage, an welchem er über Jena nach Weimar zurückkehrte. Auf diesem Wege „erfand“ er sein Drama „Die Geschwister“; im Juli 1780 ging Karl August von Dornburg aus nach Waldeck auf die Rehjagd, „um Bertuch’s Monplaisir zu sehen“.

Von dem Briefe des Herzogs aber können wir nicht scheiden, ohne noch eine Bemerkung über den „großen Hund“ und eine Erläuterung hinsichtlich der „Miselchen“ beizufügen. Den Hund finden wir als den treuen Begleiter Karl August’s am 31. Mai 1776 auf dem Kyffhäuser wieder; dort war es, wo des großen Hundes wegen der ergötzliche Conflict mit dem Jägerburschen stattfand, worüber Schöll’s Karl-August-Büchlein berichtet. Der Bursche bedrohte den Hund mit Erschießen, seinen Herrn mit Arretur, bis sich der Letztere zum Schrecken des Jägerburschen als der Herzog von Weimar zu erkennen gab. Jedenfalls war es auch derselbe Hund, welcher der Herzogin Louise, die sich in ihres Gemahls Charakter und Ungebundenheit noch nicht finden konnte, nicht geringen Verdruß erregte und zu der Aueßerung Goethe’s in einem Briefe an Frau von Stein aus dem Januar 1776 Veranlassung gab: „Ihr Verdruß über’s Herzogs Hund war auch so sichtlich. Sie haben eben immer Beide Unrecht. Er hätt’ ihn draus lassen sollen, und da er hier war, hätt’ sie ihn eben auch leiden können.“

„Misel“ oder „Miselchen“ war in der damaligen Kunstsprache des Weimarischen Kreises der übliche Ausdruck für die Mädchen, mit denen man liebelte, und das Liebeln war damals für den jugendlich-feurigen Dichter Herzensbedürfniß wie es zu den Liebhabereien des jungen Fürsten gehörte. Wie Goethe selbst gestanden, „log und trog er sich bei allen hübschen Gesichtern herum“. Mit Schönen aus dem Bürger- und Bauernstande in Weimar, Ilmenau, Stützerbach etc., wie mit adligen Schönen wurde in frischer Lebenslust geliebelt, und so erklärt es sich, wie, heiter genug, der Herzog unter Anpreisung der „Bravheit“ der dortigen Miselchen seinen Freund nach Gotha einlud. Doch auch ernstere Herzensverhältnisse begannen schon damals sich zu gestalten. Zwar gehörte die große Künstlerin Weimars, die reizend-schöne Corona Schröter, zu welcher Goethe bald darauf in ein so inniges Liebesverhältniß trat, noch nicht Weimar an, aber die Beziehungen Goethe’s zu der geistvoll-coquetten, ebenso eifersüchtigen als anmuthig-pikanten Frau Oberstallmeister von Stein hatten bereits begonnen. Bei ihr suchte er Trost und Ersatz für Lili’s Verlust, suchte für seine Dichtungen ein empfängliches Gemüth, für sein Herz Freundschaft und Liebe, und sie, die kluge Frau, wußte – obwohl sieben Jahre älter, als er, und obwohl Gattin und bereits Mutter von sieben Kindern (von denen noch drei am Leben) – den flatterhaften, durch seinen Geist und seine Schönheit Alles bezaubernden Dichterjüngling zu fesseln und in jenem vieljährigen ungesunden, zuletzt förmlich krankhaften Verhältnisse zu ihr festzuhalten, welches für ihn so verhängnißvoll wurde, ihn an der Begründung häuslichen Eheglückes verhinderte, ihn endlich zur Flucht nach Italien, seiner Rettung, nöthigte. Immerhin bleiben der Frau von Stein für alle Zeit zwei Verdienste: sie war es, welche, „dem heißen Blute Mäßigung tropfend“, dazu beigetragen, daß das brausende Dichtergemüth sich soweit beruhigte und klärte, daß Meisterwerke classischer Vollendung wie eine Iphigenie, ein Tasso entstehen konnten; sie war es auch, die im Vereine mit Karl August’s Freundschaft den Dichter zum Bleiben in Weimar bewog.

Schon am 5. Januar 1776 schrieb Goethe an Merck: „Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auch auf dem Theatro mundi was zu tragiren weiß und mich in allen tragikomischen Farcen leidlich betrage,“ und weiter am 22. Januar: „Ich bin nun in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein [771] Schauplatz, um zu versuchen, wie Einem die Weltrolle zu Gesicht stände. Ich übereile mich darum nicht, und Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein.“ Wieland aber schrieb am 26. Januar an Merck: „Goethe kommt nicht wieder von hier los, Karl August kann nicht mehr ohne ihn schwimmen noch waten.“ Der Herzog bot Alles auf, seinen Busenfreund in Weimar festzuhalten. Wohl entschloß Goethe, seiner Natur und seiner Dichterneigung eingedenk, sich nur schwer, diesen Wünschen zu willfahren. An Frau von Stein schrieb er am 29. Januar, es gehe ihm verflucht durch Kopf und Herz, ob er bleibe oder gehe, und noch bis zum März äußerte er wiederholt sorgliche Bedenken. Doch am 8. März schrieb er: „Den Hof hab’ ich nun probirt, nun will ich auch das Regiment probiren.“ Sein Entschluß war gefaßt: er blieb, er blieb aus Liebe zu Frau von Stein und aus Freundschaft zu Karl August, der ihn überdies auch durch Befriedigung seines Herzenswunsches nach eigener Häuslichkeit an Weimar fesselte. Aus dem Kalb’schen Hause war Goethe in das sogenannte kleine Jägerhaus (das jetzt zum Justizamtsgebäude verwandelt ist) gezogen, damals einer kleinen Burg gleichend, in welcher er, wie er scherzend äußerte, sich im Nothfalle mit seinem Bedienten Seidel einige Tage gegen ein ganzes Corps wehren zu können meinte. Durch Karl August erhielt er im Frühjahre 1776 den (vorher Bertuch gehörigen) Garten nebst Gartenhaus jenseits der Ilm, nahm ihn am 21. April in Besitz und fing im Mai die untere Anlage des Gartens an. An Gräfin Auguste von Stolberg schrieb er damals: „Hab’ ein liebes Gärtchen vorm Thore an der Ilm, schöne Wiesen, in einem Thale; ist ein altes Häuschen drin, das ich mir repariren lasse,“ und seine Mutter, die wackere Frau Rath, am 26. Mai an Klinger: „Der Doctor ist vergnügt und wohl in seinem Weimar, hat gleich vor der Stadt einen herrlichen Garten, welcher dem Herzoge gehört, bezogen. Weimar muß vors Wiedergehen ein gefährlicher Ort seyn, Alles bleibt dort. Nun, wenn’s dem Völklein wohl ist, so gesegne’s ihnen Gott.“ Und wie die Mutter, so konnte auch der Vater den Wünschen des Sohnes und seines Freundes, des Herzogs, nicht widerstehen, als Letzterer durch von Kalb an sie nach Frankfurt schreiben ließ: „Die wechselseitige Neigung des Herzogs gegen Ihren vortrefflichen Sohn, das ohnumschränkte Vertrauen, so er in ihn setzt, macht es beyden ohnmöglich, sich von einander zu trennen. Nie würde er darauf verfallen seyn, meinem Goethe eine andere Stelle, einen andern Charakter als den von seinem Freunde anzutragen, der Herzog weiß zu gut, daß alle andern unter seinem Werthe sind, wenn nicht die hergebrachten Formen solches nöthig machten. Mit Beibehaltung seiner gänzlichen Freiheit, der Freiheit Urlaub zu nehmen, die Dienste ganz zu verlassen, wann er will, wird unser junger edler Fürst in der Voraussetzung, daß Sie unfähig sind, Ihre Einwilligung dazu zu versagen, Ihren Sohn unter dem Titel eines Geheimen Legationsrathes und mit einem Gehalte von tausendzweihundert Thalern in sein Ministerium ziehen. – Gern unternähm’ ich, Ihnen die Verhältnisse meines Bruders (Goethe) zu bezeichnen, wenn ich mich dazu vermögend fühlte. Denken Sie Sich ihn als den vertrautesten Freund unseres lieben Herzogs, ohne welchen er keinen Tag existiren kann, von allen braven Jungen bis zur Schwärmerei geliebt, alles was wider uns war vernichtet, und Sie werden Sich noch immer zu wenig denken.“

Trotz allen aristokratischen Anfeindungen Goethe’s und trotz den Bedenken und Vorstellungen des Ministers von Fritsch erfolgte am 11. Juni 1776 die Ernennung zum Geheimen Legationsrath (am 3. September 1779 Geheimer Rath), und ebenso freudig als fromm schrieb Frau Rath im Juli 1776 an Salzmann, den Straßburger Freund ihres Sohnes: „Wir hörten gestern sehr viel Schönes und Gutes von unserem Sohne. Ich bin überzeugt, Sie freuen sich unserer Freuden, Sie, ein so alter Freund und Bekannter vom Doctor, nehmen allen Antheil an seinem Glücke, können als Menschenfreund fühlen, wenn der Psalmist sagt: ,Wohl Dem, der Freude an seinen Kindern erlebt!’ wie wohl das den Eltern thun muß. Gott regiere ihn ferner und lasse ihn in den Weimarischen Landen viel Gutes stiften! Ich bin überzeugt, Sie sagen mit uns Amen.“

Der fromme Wunsch der wackeren Mutter ist für Weimar, für Goethe, für die gesammte deutsche Nation in segensreiche Erfüllung gegangen. Zwar hat man oft gezweifelt, ob es für Goethe und die Entwickelung seines Dichtergenies nicht besser gewesen wäre, wenn er, statt in Weimar zu bleiben, nach Frankfurt zurückgekehrt wäre, und es haben diese Zweifel zum Theil Grund. Die vielfachen Geschäfte, namentlich auch die ihm übertragende Militärcommission, Wegebaucommission, Kammergeschäfte etc. nahmen ihn, seine Zeit und Kräfte dermaßen in Anspruch, daß die dichterische Production ganz wesentlich beeinträchtigt wurde. Das Durcheinander wurde ihm selbst bisweilen zu viel; er fand „den Kopf durch das tausendfache Zeug verwüstet“; er fand, „daß er doch fast zu viel sich auflade“, und manche angefangene Dichtung blieb liegen, da „die Unruhe, in der er lebte, ihn nicht über dergleichen vergnüglichen Arbeiten bleiben ließ“. Das Bedürfniß, sich zu poetischer Productivität wiederherzustellen, war das zweite Motiv seiner Flucht nach Italien. – Aber andererseits entsprach sein Leben, seine vielseitige amtliche Thätigkeit in Weimar gerade einem Bedürfnisse seiner innersten Natur. Während der ersten Jahre würden seine mächtigen Leidenschaften ihn aufgerieben haben, wenn nicht solche Vielthätigkeit sein Wesen in schönem Gleichgewichte erhalten hätte. Und gerade hierdurch wurde seine Kenntniß des Lebens, der Menschen und der Natur, seine Erfahrung bereichert, und indem er (um mit seinen eigenen Worten zu reden) durch seine Stellung zum Hofe und verschiedenartige Zweige des Staatsdienstes die Realität in sich aufzunehmen genöthigt war, wurde hierdurch und durch die mannigfachen Anregungen, welche das geistig bewegte Leben des Weimarischen Kreises ihm gab, die vielseitige und harmonische Ausbildung und Entwickelung seines ganzen Wesen ungemein gefördert.

In seinem Geheimtagebuche läßt es sich von Tag zu Tag verfolgen. Dies Alles bot ihm Weimar; nimmermehr würde es ihm der enge Frankfurter Kreis und die anwaltliche Proceßführung geboten haben. Das wußte Niemand besser, als Goethe selbst. Laut eines seiner Briefe an Lavater, aus dem Februar 1777, „lebte er ganz glücklich in anhaltendem Reiben und Treiben des Lebens“ und bemerkte sich am 13. Januar 1779 in das Tagebuch: „der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens.“ An seinen Freund Knebel schrieb er 1782: „ich danke Gott, daß er mich, bei meiner Natur, in so eine engweite Situation gesetzt hat, wo die mannigfaltigen Fasern meiner Existenz alle durchgebeizt werden können und müssen,“ und der Vertrautesten seines Herzens, seiner Mutter, legte er in zwei Briefen, vom 9. August 1779 und 11. August 1781 über seine ganze Situation so klar und unumwundene Geständnisse ab, daß hiernach jedes weitere Wort über jene Streitfrage überflüssig geworden ist. In dem ersteren Briefe, in welchem er seinen und des Herzogs Besuch im Frankfurter Vaterhause ankündigte, bemerkt er: „ich habe Alles, was ein Mensch verlangen kann, ein Leben, in dem ich mich täglich übe und täglich wachse, und komme diesmal gesund, ohne Leidenschaft, ohne Verworrenheit, ohne dumpfes Treiben, sondern wie ein von Gott Geliebter, der die Hälfte seines Lebens hingebracht hat und aus vergangenen Leiden manches Gute für die Zukunft hofft, und auch für künftiges Leiden die Brust bewährt hat; wenn ich Euch vergnügt finde, werd’ ich mit Lust zurückkehren an die Arbeit und die Mühe des Tags, die mich erwartet.“ Der andere Brief, von 1781, enthält die Beichte: „Was meine Lage betrifft, so hat sie, ohnerachtet großer Beschwernisse, auch sehr viel Erwünschtes für mich, wovon der beste Beweis ist, daß ich mir keine andere mögliche denken kann, in die ich gegenwärtig hinüber gehen möchte. Merck und mehrere beurtheilen meinen Zustand ganz falsch; sie sehen das nur, was ich aufopfere, und nicht was ich gewinne, und sie können nicht begreifen, daß ich täglich reicher werde, indem ich täglich so viel hingebe. Sie erinnern sich der letzten Zeiten, die ich bei Ihnen, eh’ ich hinüber ging, zubrachte; unter solchen fortwährenden Umständen würde ich gewiß zu Grunde gegangen sein. Das Unverhältniß des engen und langsam bewegten bürgerlichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit meines Wesens hätte mich rasend gemacht. Bei der lebhaften Einbildung und Ahndung menschlicher Dinge wäre ich doch immer unbekannt in der Welt und in einer ewigen Kindheit geblieben, welche meist durch Eigendünkel und alle verwandten Fehler sich und Anderen unerträglich wird. Wieviel glücklicher war es, mich in ein Verhältniß gesetzt zu sehen, dem [772] ich von keiner Seite gewachsen war, wo ich durch manche Fehler des Unbegriffs und der Uebereilung mich und Andere kennen zu lernen Gelegenheit genug hatte, wo ich, mir selbst, und dem Schicksale überlassen, durch so viele Prüfungen ging, die vielen hundert Menschen nicht nöthig sein mögen, deren ich aber zu meiner Ausbildung äußerst bedürftig war. Und noch jetzt, wie könnte ich mir, nach meiner Art zu sein, einen glücklicheren Zustand wünschen, als einen der für mich etwas unendliches hat!“

So ward es ihm möglich, Dramen wie Iphigenie, Tasso, Egmont, seine lyrischen Gedichte, seinen Wilhelm Meister, wie ferner, unter harmonischer Entwickelung durch die italienische Reise und später unter freundschaftlichem Zusammenwirken mit dem genialen Schiller sein Gedicht Hermann und Dorothea, seine Balladen, seinen Faust zu schaffen. Sein Eintritt in Weimar schuf für ihn selbst und für die deutsche Literatur, für die Geschichte deutschen Denkens und Dichtens eine neue, große Epoche. Die deutsche Nation hat es an seinem goldenen Jubeltage (7. November 1825) anerkannt; sie spricht diese Anerkennung am bevorstehenden Säcularfeste von Neuem aus; sie wird es anerkennen, solange es überhaupt ein deutsches Volk, eine deutsche Literatur giebt.

Goethe selbst war sich dessen dankbar bewußt, dankbar vor Allem gegen seinen fürstlichen Freund, von welchem er empfangen,

          was Große selten gewähren,
Neigung, Muße, Vertrau’n, Felder und Garten und Haus.

Ihm blieb er der treuste Freund bis zur letzten Stunde. Beim Regierungsjubiläum Karl August’s, 3. September 1825, war er der erste Gratulant. Schon vor sechs Uhr Morgens eilte er zu ihm in das römische Haus im Parke. Als er dem Jugendfreunde gegenüberstand, versagte ihm in Rührung anfangs die Sprache, nur die Worte brachte er hervor: „bis zum letzten Hauche beisammen!“ Karl August, beide Hände des Freundes ergreifend, faßte sich zuerst und gedachte der frohen Jugendzeit. „O, achtzehn Jahr und Ilmenau!“ rief er aus und schloß mit den Worten: „denken wir aber dankbar besonders daran, daß uns auch heut noch erfüllt ist, was uns einst in Tiefurt vorgesungen wurde:

Nur Luft und Licht und Freundeslieb’!
Ermüde nicht, wenn dies noch blieb!“

Als dann wenige Wochen später, am 7. November 1825, Goethe selbst sein Jubelfest beging und von seinem fürstlichen Freunde, seinen Verehrern[WS 1] in Nah und Fern, ja von der ganzen gebildeten Welt mit Glückwünschen und Ehrenbezeigungen überhäuft wurde, gedachte er mit Rührung seiner Uebersiedlung zur Ilm, die „eine Quelle manches Guten, Schönen geworden“; er ließ durch seinen Sohn beim Festmahle auf dem Stadthause dem Freunde Knebel, als „dem Manne, dessen Bekanntschaft und Vermittelung er seine erste freundliche Aufnahme und den Eintritt in dieses Land verdanke“, aus vollem dankerfülltem Herzen ein Hoch bringen.

  1. Für die zweite Aufführung von Goethe’s Iphigenie.
  2. Oberforstmeister von Wedel, ein Jugendgespiele des Herzogs, bekannt durch seinen trockenen Witz und seine tollen Einfälle.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Verehreren