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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[511]

No. 32.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.

Daß der alte deutsche Handwerkerstand immer mehr im Schwinden, kann als eine Thatsache gelten, über die unter Gelehrten und Ungelehrten kein Streit obwaltet. Er verliert sich in den allgemeinen Arbeiterstand und büßt den Fabrikanten gegenüber seine Selbstständigkeit ein, die ihrerseits nicht einmal in die Lehre gegangen sein dürfen, sondern „ihr Capital arbeiten lassen“ und „wie Kaufleute“ verdienen wollen. Leute, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was aus der Welt werden solle, sind sehr verschiedener Meinung über diese Umgestaltung der Gesellschaft. Die Einen klagen, sie sei sehr bedauerlich und bedrohe den conservativsten Theil des städtischen Mittelstandes zum großen Schaden der Gemeinden und des Staates mit gänzlicher Auflösung; die Andern finden es durchaus zu loben, daß der allgemeine Fortschritt endlich auch mit diesen, nur noch geschichtlich berechtigten, aber jetzt veralteten Formationen aufräume; die Allerklügsten sagen: ob gut, ob übel, es ist natürlich, daß es so kommt, und man muß den Dingen ihren Lauf lasten.

Zu diesen Allerklügsten, rathe ich wohlmeinend, wollen auch wir gehören – wenigstens so lange wir uns mit dieser sehr einfachen Geschichte beschäftigen, die es mit einem ganz alten Handwerkerhause zu thun hat, und mit einem ganz altmodischen Manne, der da hinein paßt. Dergleichen Bau- und Gesellschaftsreste aus längst entschwundenen Tagen ragen manchmal recht wunderlich fremd und doch gemüthlich anheimelnd aus ihrer Umgebung vor und in die modernste Gegenwart hinein. So ein altes Haus und so ein alter Mensch sind selten bequem, aber einmal ansehen mag man sie doch gern.

Wie ich die Bekanntschaft jener Beiden machte, ist ein so prosaischer Vorgang, daß ich Bedenken tragen müßte, ihn mitzutheilen, wenn ich nicht die Verpflichtung fühlte, durchweg der Wahrheit die Ehre zu geben. Und so sei denn gesagt, daß ich einmal einem befreundeten Arzte in Ermangelung anderer Leiden klagte, wie sehr mich die Stiefel drückten, und daß er mir darauf eine gelehrte Vorlesung über die schädlichen Folgen unpassenden Schuhwerks für den ganzen menschlichen Organismus hielt und mit der Bemerkung schloß, es gäbe nach seinen Erfahrungen nur einen einzigen Schuhmacher in der Stadt, zu dessen Kunst man volles Vertrauen haben könne, und er heiße Lange, wohne in der kleinen Schustergasse Nr. 11 und habe keinen offenen Laden, aber ein sehr respectables Geschäft. „Der Mann wird Sie auch sonst interessiren,“ setzte er schmunzelnd hinzu, „und ich wundere mich eigentlich, daß Sie ihn nicht schon selbst entdeckt haben; er ist in seiner Art ein Original. Was er macht, ist vortrefflich, aber man muß mitunter lange darauf warten, wenn er überhaupt von einem neuen Kunden Bestellungen annimmt. Das Beste wird sein, ich führe Sie bei ihm ein, dann thut er vielleicht ein Uebriges. Kommen Sie gleich mit – Ihre Acten laufen nicht fort.“

Er hatte mich neugierig gemacht, und ich nahm gern neben ihm im Doctorwagen Platz, um mich nach der kleinen Schustergasse fahren zu lassen, die in dem engsten Theil der engen Altstadt liegt und in der Zeit, als in den Städten jede Berufsclasse sich auch örtlich zu sondern und zusammenzusetzen liebte, die Mitglieder der ehrsamen Schusterzunft vereinigt hatte. Wir hielten mitten in der Gasse vor einem jener schmalen und tiefen Bürger- und Handwerkerhäuser, die nur zwei Fenster Fronte, dafür aber vier Stockwerke übereinander haben und mit einem hohen Spitzgiebel schließen, den man mit dem Auge nur ermessen kann, wenn man den Kopf tief in den Nacken zurücklegt. Aus den massiven Holzrinnen zu beiden Seiten des Daches wuchsen Drachen von Blech mit weitaufgesperrten Rachen über die Straße hinaus und auf dem Gesims von Holzschnitzerei über der Hausthür hatten drei Figuren Platz, von denen die mittelste und höchste einen Handwerksmeister in mittelalterlicher Tracht mit Federhut und Schwertgehänge vorstellte. Das hohe und schmale Fenster daneben zeigte noch kleine, in der Mitte schneckenartig ausgebauchte Scheiben in Bleieinfassung. Das entschieden Merkwürdigste an diesem unteren Geschoß war aber unzweifelhaft das runde Schild zwischen Thür und Fenster: in der Mitte war ein Schuh abgebildet, wie man ihn zur Zeit des dreißigjährigen Krieges zu tragen pflegte, und darunter stand, offenbar in sehr alten Schriftzügen, „zünftiger Schuhmachermeister“, während der obere Theil vielfach mit Oelfarbe übermalt zu sein schien und auf der obersten Decke jetzt den Namen „Gotthilf Lange“ trug. Die ganze Geschichte des Hauses war von diesem kleinen Schilde abzulesen; die Bewohner wechselten; jeder löschte den Namen seines Vorgängers aus und setzte den seinigen an die Stelle, aber der „zünftige Schuhmachermeister“ blieb immer derselbe und wohnte auch jetzt noch dort, allen neueren Gewerbegesetzen zum Trotz, die von der Zunft nichts mehr wissen wollten und nicht einmal mehr von der Meisterschaft sonderlich viel hielten.

Der Doctor setzte einen messingenen, spiegelblanken Klöppel in Bewegung – ein Glockenzug fehlte – worauf eine Magd öffnete. Sie trug die kleine weiße Mütze, „Hülle“ genannt, auf dem Kopfe, die wir noch in unserer Kinderzeit als Dienstbotentracht [512] gekannt haben. Wir traten in einen großen, übermäßig hohen, mit Fliesen ausgelegten Flur und über einige Stufen durch eine Glasthüre in das einzige schmale, aber tiefe Zimmer parterre, das sein Licht durch ein großes Fenster mit vier Flügeln vom Hof her erhielt, und aus dem der scharfe, anfangs den Athem beengende Geruch von gegerbtem Leder uns entgegendrang.

An dem Tisch, um den in Stapeln Rinds- und Roßhäute, Kalbs- und Ziegenfelle, Saffianrollen und Sohlenstücke lagen, stand, uns den Rücken zukehrend, ein breitschulteriger Mann in Hemdärmeln und Schurzfell, eifrig damit beschäftigt, ein Leder zu untersuchen. Erst als der Doctor ihm ein munteres „Guten Tag!“ und „wie geht’s, Alter?“ zurief, wandte sich das runzelige und graubärtige Gesicht mit den hellen blauen Augen halb zu uns zurück. Das schwarze Sammetkäppchen wurde über der kahlen Stirn ein wenig gelüftet, und eine sonore Stimme antwortete: „Ihre Stiefel kommen morgen vom Leisten, Herr Doctor; früher war’s beim besten Willen nicht möglich.“

„Sicher wieder ein Kunstwerk,“ schmeichelte mein Führer; „man ist das schon so gewohnt vom Meister Lange. – Ich sage Ihnen, lieber Freund,“ wandte er sich zu mir, „ein Stiefel bequem wie ein Schlafschuh, und dabei doch knapp, ohne Falten, wie ausgegossen.“

„Nun, nun, Herr Doctor,“ lächelte das alte Gesicht halb wohlgefällig, halb abwehrend; „loben Sie nicht über Maß! Leder bleibt Leder, und was für die Dauer passen soll, muß zu Anfang nicht zu commode sein. Es geht überall im Leben nicht anders.“

Der Doctor setzte die Posaune nicht so leicht ab. „Aber der Mann hat auch Material,“ rief er, mit dem Stock auf die Stapel rechts und links schlagend. „Meister Lange kennt die Quellen. – Sie sollen einmal sein Lager sehen. Das zeigt er Ihnen ein ander Mal; aber Ihre Sammlung von Leisten, Meister – hoch interessant! übrigens auch historisch merkwürdig. Denken Sie sich, es sind darunter noch Hölzer aus dem sechszehnten Jahrhundert – und für was für Füße!“

„In so einem alten Handwerkerhause sammelt sich dergleichen auf,“ antwortete der Alte ruhig; „und für einen Schuhmacher hat’s wohl Bedeutung, aber für die Herren –“

„Das ist unsere Sache,“ fiel ihm der Doctor in’s Wort. „Mein Freund hier schwärmt für Antiquitäten, und auch ich habe zu allem echt Menschlichen gern Beziehung. Was kann aber menschlicher sein, als der Wunsch, zu so viel anderem Druck, den wir schon zu tragen haben, nicht auch noch von seinem Stiefel gedrückt zu werden? Uebrigens dient das alte Zeug nur zum Vergleich der eigenen Verbesserungen unseres wackeren Meisters.“

„Machen Sie nicht viel Rühmens davon,“ bat der bescheidene Mann. „Ich denke mir immer, wenn Jemand sein ganzes Leben bei einem so einfachen Handwerk zubringt, so wär’s eine Schande, brächt’ er es nicht darin zu was Rechtem. Meisterschaft will freilich auch im Kleinen erworben sein.“ Damit zog er einen Bund Schlüssel aus dem Riemen seines Schurzfells und öffnete die Thüren der mächtigen Schränke. „Da haben Sie alle Kunden dieses Schusterhauses von Anbeginn – fehlt kein Hühnerauge noch Ueberbein,“ sagte er mit derbem Humor.

Zum Ziel kam ich an jenem Tage noch nicht. Alles, was der Doctor für mich erlangen konnte, war, daß der Alte meinen Namen mit Kreide auf die innere Wand einer Thür einschrieb, die auch sonst schon als Tafel gedient hatte. Er verspreche nichts, was er nicht halten könne, meinte er. Mein Begleiter ging noch hinaus „zur alten Mama“, und ich wurde von der Magd mit einem zeremoniellen Knix ausgelassen.

Bei meinem nächsten Besuch fand ich den Meister in der Werkstube im zweiten Stock, wo seine drei Gesellen mit einigen Lehrburschen munter arbeiteten. Der Altgeselle war ein Mecklenburger; der zweite hatte viel in Holland für Java gearbeitet, „wo noch viele Millionen Menschen barfuß gehen“; den dritten, Franz Diestel, der bei ihm selbst ausgelernt hatte, wollte er nächstens in die Fremde schicken, womit der junge Mensch gar nicht einverstanden war. „So sind die jungen Gesellen nun,“ meinte der Alte kopfschüttelnd, „vom Wandern wollen sie nichts mehr wissen. Auslernen und womöglich gleich heirathen – die Fabriken geben ja Arbeit. Sie bezahlen aber auch danach, und das Elend ist hinterher groß, wenn die Familie wächst. Nichts da! Beim Wandern lernt man ein Stück Welt kennen und auf sich selbst stehen. Und man erweitert sich dabei innerlich und hat später für das ganze Leben einen Schatz, von dem man zehrt, wenn man festsitzt. Was weiß nicht unser Holländer zu erzählen!“ Ich stimmte zu und meinte, der Handwerker müsse auch seine Studentenzeit haben. Das gefiel ihm, und er zeigte mir nun auch unaufgefordert seine stattlichen Ledervorräthe in den verschlossenen Kammern desselben Stockwerks.

„Ueber uns sind die Schlafstuben für die Gesellen und Lehrlinge,“ erklärte er, als wir uns wieder zum Hinabgehen anschickten. „Ich halt’s noch so nach der alten Art und wie’s in diesem Hause allezeit Sitte gewesen ist. Wer bei mir in Arbeit tritt, muß bei mir auch Wohnung und Kost nehmen, wie ein Glied der Familie. Da merke ich denn gleich, wer mein Mann ist. Paßt’s einem nicht unter des Meisters Aufsicht zu stehen und sich nach dessen Weisungen zu richten, wenn er’s doch gut mit seinen Gesellen meint und ihn zu einem ordentlichen Menschen erziehen und vor allerhand Anfechtungen in schlechten Schlafstellen und Kneipen bewahren will – meinetwegen! ich kann’s nicht ändern. Aber ein Verhältniß zu so einem hab’ ich nicht, und mein Haus mag er meiden. Zwischen Meister und Gesellen, denk’ ich, muß etwas mehr sein, als ein Vertrag: so viel Stunden arbeitest du für mich und so viel bekommst du dafür! Dabei fällt das Handwerk auseinander, denn es steht in seinem tiefsten Grunde aus Vertrauen und gegenseitiger Zuthulichkeit. Die Dreitheilung in Meister, Gesell und Lehrling hat kein Mensch gemacht; die ist von selbst geworden, und wird immer bestehen, so lange einer etwas lernen und üben muß, um es zu können. Daß man alte Zwangssatzungen aufhebt, mag seinen guten Grund haben, aber nun sollte Jeder, der das Handwerk liebt, erst recht darauf achten, daß es aus freien Stücken das alte Band festhalte, das es zugleich in die Familie einschließt. Es ist traurig, wenn der Meister ein Herr und der Geselle ein Arbeiter wird, statt daß sie doch Genossen an demselben Werktisch sein sollen.“

Wir waren wieder unten in seiner Stube angelangt, und ich setzte mich zu ihm, um noch mehr von ihm zu hören. „Wenn Sie das nächste Mal ansprechen,“ sagte er beim Abschiede, „will ich Ihnen auch Maß nehmen.“ Ich merkte, daß er zu mir Vertrauen faßte.

Als ich nun erst die Ehre hatte, sein Kunde zu sein, und meinen Leisten in seinem Schrank stehen wußte, fand er sich allmählich auch in meine öfteren Besuche, die keinen geschäftlichen Grund hatten. An Sonntagen litt er aber nicht, daß ich in der Wohnstube blieb, sondern führte mich eine Treppe hinauf in sein „Putzzimmer“, wo ich stets auf dem Sopha Platz nehmen mußte. Die Möbel sahen wie neu aus und mußten doch nach ihrer Rococo-Façon sehr alt sein; wahrscheinlich wurde dieser Raum nur selten betreten. Ueber dem Sopha hing ein großes Oelbild in schwarzem Rahmen, einen Geistlichen im Ornate darstellend, die Bibel mit eingelegtem Zeigefinger in der Hand und, was nicht unbemerkt bleiben konnte, das eiserne Kreuz auf der Brust. Ein kleines Crucifix von Elfenbein und Ebenholz und Leonardo da Vinci’s Abendmahl mochten derselben Erbschaft angehören, die, wer weiß auf welche sonderbare Weise, in das Schustergäßchen gekommen war. Aelter schienen einige andere Reliquien zu sein: zwei Silhouetten in Barockrahmen, ein kleines Pastellbild, eine Korkschnitzerei, das Modell eines zierlichen Damenschuhes unter einer Glasglocke, diverse Taschenuhren mit Ketten, und Behängen, sämmtlich auf kleinen Tuchunterlagen an der Wand aufgehängt. Ich vermied es, neugierig zu fragen, woher alle diese Herrlichkeiten stammten.

Endlich wurde ich auch gelegentlich einmal in das Hinterzimmer des ersten Stockes eingelassen. Ich fand darin ein altes Mütterchen, das ich öfters beim Vorbeigehen hatte husten hören, am Spinnrocken. Der altmodische Lehnstuhl, das große Himmelbett mit geblümten Gardinen, der schwarzgrüne Kachelofen auf Holzfüßen, der große Tisch mit zwei Klappen, die Messingschale mit weißem Sand paßten trefflich zu einander und zu dem Mütterchen in weißer Tüllhaube am Spinnrocken. „Das ist meine Frau,“ stellte Meister Lange vor, „und das ist der Herr, Mamachen, dem unser Haus so ausnehmend gefällt, daß er schon bis unter’s Dach gestiegen ist. So findet doch jedes [513] Ding seinen Liebhaber, wenn’s nur warten kann.“ Die alte Frau nickte freundlich, bot mir einen Stuhl mit schwarzem Pferdehaarbezug an und sagte immer nickend: „Ja ja, es ist auch ein gutes Haus, und hat noch Jeder darin sein Brod gehabt, mein Vater und mein Großvater und so weiter hinauf. Zeige einmal dem Herrn die Scripturen aus der Lade, Gotthilfchen! Sie sind ganz merkwürdig zu sehen. Da ist noch ein Bürgerbrief von Anno 1527 mit schönen Bildnissen, und das Schreiben vom Rath hundert Jahre später, worin bestätigt ist, daß in diesem Hause die Schuhe für die Prinzessin von Polen gemacht sind, welche sie auf ihrer Hochzeit getragen hat, wovon das Modell noch in der Putzstube sieht. Zeige doch, Gotthilfchen, zeige doch!“

Er suchte die Pergamente und vergilbten Papiere hervor, und sie wußte über jedes Bescheid. „Das soll man mir im Sarge unter den Kopf legen,“ plauderte sie weiter, „so wird’s am besten aufgehoben sein. Hat alles seine Zeit, Gotthilfchen, und dies da ist alt genug geworden in Ehren. Wer weiß, ob nicht der letzte Schuster in diesem Hause wohnt, und einem Andern hat’s keine Bedeutung. Ich hab’ immer gesagt: Gotthilfchen, laß unsern Sohn das Handwerk lernen! Das Haus ist eine gute Nährstelle; aber er hat durchaus studiren müssen, und Gottlob! wir haben’s ja dazu gehabt, und es wird ihm nicht fehlen, er mag anfangen, was er will. Aber das Haus wird er verkaufen und die alten Bürger- und Meisterbriefe nicht achten. Gieb sie mir mit in’s Grab, Gotthilfchen!“

„Wir leben ja noch,“ meinte er und streichelte über die Stuhllehne hinüber ihr Gesicht. „Wenn der Franz Diestel von der Wanderschaft zurückkommen wird, wollen wir ihn uns einmal ansehen. Er ist ja doch wie Kind im Hause, Mamachen, und Dir an’s Herz gewachsen, mehr wie Dein eigener Sohn.“

„Du sprichst nicht gut, Gotthilfchen,“ verwies sie ihn. „Was soll der Herr denken? Meinen Stolz habe ich auch, daß der Johannes ein Studirter geworden ist und zu hohen Aemtern gelangen kann, aber für uns ist er doch eigentlich verloren, seitdem er in die Pension gebracht wurde, und in dieses Haus gehört er nicht mehr hinein. Studirte Herren und Handwerksleute passen in derselben Familie nicht gut zu einander, Du weißt am besten, Gotthilfchen, und darum rathe ich immer: rufe ihn nicht her, damit wir ihn nicht geniren! Wie lieb wir ihn gehabt haben, wird er ja doch merken, wenn wir gestorben sind.“

In diesen Worten schien etwas zu stecken, das den Meister sehr unangenehm berührte. Seine lichtblauen Augen verfinsterten sich plötzlich. Die Brauen darüber zogen sich zusammen. Auf der Stirn zuckte es, und die Nasenspitze wurde ganz weiß. Er zog seinen grauen Bart zwei-, dreimal durch die Hand und ließ dieselbe dann zu einer Faust geballt auf die Lehne niederfallen. „Wenn mir so etwas durch mein eigen Fleisch und Blut geschähe –!“ murmelte er verbissen. Dann schien er ebenso schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen, rückte das Käppchen aus der heißen Stirn und sagte mit etwas gezwungener Freundlichkeit: „man muß die Bäume wachsen lassen; daß wir sie pflanzen, ist unser Werk – das Gedeihen kommt von oben.“

„Amen!“ schloß die alte Frau und faltete die Hände.

Daß Lange einen Sohn hatte, erfuhr ich erst jetzt. Er war damals bereits Gerichtsassessor in B. und arbeitete im Ministerium, eine erwünschte Stellung als Richter abwartend. Lange versicherte, er hätte schon längst irgendwo im Hinterlande unter Dach sein können, aber er selbst habe immer gerathen, sich nicht jung begraben zu lassen. Seine Meinung sei überhaupt, Johannes solle nicht bei der mageren Justiz bleiben; es gäbe für tüchtige Leute bei anderen Behörden schnellere Beförderung, und der Sohn eines Schusters habe mehr Grund, als ein Anderer, zu zeigen, daß aus ihm etwas werden könne. Damit war er denn offenbar wieder auf den Punkt gekommen, dessen Berührung schmerzte, und die alte Frau redete nun sanft darüber weg und meinte, man müsse nicht stacheln und seiner eigenen Einsicht trauen. Es war überhaupt das freundlichste Verhältniß unter den Eheleuten. Durch Alles, was die alte Frau sprach, ging ein Ton von Zärtlichkeit und Zuthulichkeit, und er selbst behandelte sie mit fast kindlicher Rücksichtnahme.

Daß der Meister gelegentlich auch ein ganz anderes Gesicht aufsetzen könne, als das gewöhnliche, sollte ich zu meiner Ueberraschung ein andermal erfahren. – Bald nach mir trat nämlich der Briefträger ein und brachte Briefe. Meister Lange musterte die Adressen und nickte befriedigt. Zuletzt gab ihm der Beamte aber auch ein Blatt in die Hand, das ihn sofort sichtlich stutzig machte. Es war kein eigentlicher Brief, sondern nur ein einfach gefalteter schmaler Bogen Papier, den eine kleine Oblate mit eingepreßten Buchstaben mehr zusammenzuhalten als zu verschließen beabsichtigte, nach Art der Geschäftsanzeigen oder Einladungen. Auffallend war nur die schwarze Farbe der Oblate und der schwarze Rand des Blattes. Der Meister stand mir so nahe, daß ich ohne Mühe die Aufschrift lesen konnte; sie lautete: „An den Schuhwaarenfabrikanten Herrn Gotthilf Lange Wohlgeboren“, und trug den Poststempel B. Ob ihm nun diese Titulatur nicht gefiel, oder was ihm sonst durch den Sinn gehen mochte, so viel ist gewiß, daß sich sein Gesichtsausdruck merklich veränderte. Unschlüssig bewegten sich die Finger mehrmals nach der Stelle hin, wo die Oblate haftete, um immer wieder zurückzuzucken. Endlich stellte er, ohne das Siegel zu erbrechen, durch einen Druck auf die Kanten einen Cylinder her, in den er hineinsehen konnte. Ein flüchtiger Blick genügte, ihn über den Inhalt der Anzeige zu vergewissern. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Mit einer heftigen Wendung reichte er dem Briefträger das Blatt und sagte barsch: „Wird nicht angenommen!“

Ich erschrak und wußte selbst nicht worüber. Offenbar hatte Lange eine Todesanzeige erhalten, die ihn nahe angehen mußte, und die Zurückweisung trug daher den Charakter der gröbsten Rücksichtslosigkeit. Der Briefträger mochte eine ähnliche Empfindung haben. „Das ist doch aber unzweifelhaft an Sie, Herr Lange,“ äußerte er zögernd.

„Ich weiß nicht,“ antwortete der Alte, sich abkehrend. „Ich bin kein Fabrikant, bin’s nie gewesen.“

In jedem andern Falle hätte ich diesen Grund der Abweisung bei einem Manne, der so viel Gewicht darauf legte, nur einfacher Handwerker zu sein, erklärlich gefunden; hier war er jedenfalls nur vorgeschoben. Das gab auch der Beamte zu verstehen. Lange blieb fest. „Gewissen Leuten wird’s schwer,“ knurrte er. „an den Schuster Lange zu schreiben, und von denen will ich mich am wenigsten Fabrikant schimpfen lassen. Sie wissen, was ich bin, und sie nennen mich nicht meinetwegen, sondern ihretwegen mit einem Titel, der ihnen besser klingt. Das sollen sie bleiben lassen!“

„Mich geht’s nichts an,“ meinte der Briefträger achselzuckend. „Aber an Sie ist nun einmal das Poststück, und wenn Sie’s nicht haben wollen, reist es mit der Aufschrift zurück: ‚Adressat verweigert die Annahme.‘ Wollen Sie das?“

Meister Lange nickte mit dem Kopfe, der mir heute viel eckiger vorkam als sonst, und winkte zugleich mit der Hand, daß die Sache abgethan sei. Der Postbeamte entfernte sich.

„Man meldet Ihnen den Tod eines Bekannten?“ fragte ich nach einer Weile, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen.

„Meines Bruders,“ antwortete er noch in derselben verbitterten Stimmung.

„Ihres Bruders?“ rief ich überrascht und sehr unangenehm berührt.

„Freilich! Wir haben Vater und Mutter gemeinsam gehabt – sonst nicht gerade viel mehr auf der Welt. Seit vierzig Jahren kennen wir einander nicht. Nun weiß ich doch wenigstens, daß er gestorben ist und eine Wittwe hinterläßt.“

Er lachte recht eisig, daß mich’s fröstelte. Ich erkannte ihn kaum noch wieder, wie er das große Zuschneidemesser zur Hand nahm und das Stück Leder zerfetzte, das zufällig auf dem Tische lag. Es schien mir nicht angemessen, durch Fragen etwas aus ihm herauszuholen. Augenscheinlich handelte es sich um ein schweres Familienzerwürfniß, das ihm großen Kummer bereitet hatte. Ich stand auf und nahm meinen Hut; er bemerke es nicht einmal.

„Also todt – mein Bruder todt,“ murmelte er vor sich hin, einen Lederfetzen abreißend und in eine Ecke schleudernd. „Sterben müssen wir doch Alle einmal. Als ob das etwas so Besonderes wäre, daß darüber nach so langen Jahren noch ein Brief geschrieben werden mußte! Freilich nicht geschrieben, nur gedruckt: und die Aufschrift von irgendwem. Abgethan!“

Wieder flog ein Lederfetzen quer über die Stube. Ich legte meine Hand auf die seinige und sagte: „Adieu!“

[514] Er sah mich überrascht an, als wäre ich jetzt erst gekommen, nickte mechanisch und ließ mich gehen, ohne mich zu begleiten. –

„Wie leicht man sich in Menschen täuschen kann!“ brummte ich mir vor, als ich langsam durch die kleine Schustergasse schritt. „Die rohe Natur bricht also doch durch. Sieht man Einen zehn und zwanzig Mal und er bleibt sich immer gleich, so meint man ihn ganz sicher zu haben, und es ist doch ein Irrthum. Man hat ihn eben nur zehn und zwanzig Mal von derselben Seite gesehen.“ –

Einige Tage später fand ich in einer auswärtigen Zeitung, die mir zufällig in die Hand kam, den Tod eines Geheimen Regierungsraths Erhard Lange in B. angezeigt. Sollte Der –? Ich mußte unwillkürlich an meinen Meister Lange und die letzte unangenehme Begegnung mit ihm denken. Aber Geheimer Regierungsrath –? Das hätte freilich Vieles erklären können.

Ich sollte nicht lange darüber ungewiß bleiben. Eine Woche später erhielt ich einen gar nicht übel geschriebenen Brief, in dem der Meister etwas wehmütig um Entschuldigung wegen seines ausfallenden Benehmens bat.

„Wenn Sie aber verstehen wollen,“ hieß es dann weiter, „weshalb ich in jenem schweren Augenblicke alle vernünftige Besinnung verlor, so müssen Sie freilich Vieles wissen, was vorhergegangen ist; denn im menschlichen Leben folgt immer Eins aus dem Andern, und wer nicht auf den Anfang zurückgeht, findet lauter Räthsel. Darum möchte ich Sie nun um die gütige Erlaubniß bitten, Ihnen aus meinem Leben erzählen zu dürfen. Es mag an sich kaum des Erzählens werth sein; aber es hängt doch etwas an mir, wovon sonst Leute meines Schlages nichts zu wissen pflegen, und wenn ich’s recht bedenke, so steckt darin allein der Grund von Allem, was Ihnen an mir gefällt und mißfällt.“ Er schloß mit der Bitte, ihm am nächsten Sonntag „nicht wieder vorbeizugehen.“

Natürlich ließ ich ihn nicht vergeblich warten.

„Hier sind wir ganz ungestört,“ sagte er, als er mich auf dem Sopha seines Putzzimmers sitzen hatte, „und auch aus anderen Gründen ist’s hier am besten zu Dem, was ich vorhabe. Dieses Zimmer fand ich schon ungefähr so vor, wie Sie’s jetzt nach sehen – nur die Bilder hab’ ich eingebracht.“

Er zeigte mit der Hand auf das Oelbild über dem Sopha hin. „Der dort war mein Vater,“ erklärte er.

„Ihr Vater?“

Er sah eine geraume Weile auf das Bild hin, als ob er auch mir Zeit lassen wollte, eine bisher nur oberflächliche Bekanntschaft zu vertiefen; sein eckiges Gesicht nahm mehr und mehr einen zärtlichen Ausdruck an. „Mein Vater!“ wiederholte er, eine Thräne aus dem Augenwinkel fortwischend. „O, er war ein Ehrenmann,“ fügte er hinzu, „ein Mann aus einem Stück, wie es deren jetzt nicht mehr viele auf der Welt giebt, und das eiserne Kreuz, das Sie auf seiner Brust sehen, hatte er sich im Befreiungskriege erworben, in den er als Student zog. Kein Würdigerer konnte es tragen. Ueber Alles ging ihm die Pflicht, und er ist zwar arm gestorben, aber gesegnet von Tausenden, denen er ein geistiger Vater geworden war.“

Er nickte dem Bilde freundlich zu, und dann sah er zur Erde und sammelte still seine Gedanken. „Vielleicht Keinem hat er so weh gethan, als mir,“ fuhr er fort, „aber auch das geschah in bester Meinung, und wenn ich’s zu einer Zeit nicht einsehen wollte, so war daran die menschliche Schwäche schuld, die ja so oft im Leiden ungerecht macht. Auch ich segne sein Andenken.“

„Ich stamme also aus guter Familie,“ begann er wieder nach einer Pause in verändertem Ton; „daß aus mir nichts als ein Schuster geworden ist, kann wohl auffallen. Wie die Leute nun einmal über dergleichen denken, werden sie sagen: der Gotthilf Lange hat wahrscheinlich in der Jugend nicht viel Gutes gethan, daß man ihn ausgestoßen hat, er hat ein Handwerk lernen müssen, weil er sonst zu nichts taugte. So war’s aber nicht, sondern es hatte andere Gründe, daß ich so kurz kam. Ich war nämlich das achte Kind, und noch nicht einmal das jüngste.

Mein Vater hatte, als er aus dem Kriege zurückgekommen war, so schnell als möglich seine Studien vollendet und eine Pfarrstelle auf dem Lande angenommen, um seine Braut bald heimführen zu können. Die Stelle war wenig einträglich, aber sie wurde ihm der Menschen wegen lieb, die seiner bedurften. Er traute die Paare, taufte die Kinder, geleitete die Alten zum Grabe, war in jedem Hause Freund und Rathgeber, Schiedsrichter bei allen Streitigkeiten, Fürsprecher in jeder Noth. Man bot ihm wiederholt eine bessere Pfründe an; aber er antwortete immer, ein Geistlicher solle nicht aus selbstsüchtigen Gründen wechseln, als sei das Amt nur seinetwegen da und das Einkommen die Hauptsache. Zuletzt gewöhnte man sich eben daran, ihn für abgefunden zu betrachten. Weltklug hatte mein Vater nicht gehandelt, das ist gewiß. Er hatte nicht daran gedacht, daß seine Bedürfnisse ganz natürlich mit der Zeit wachsen müßten und daß ihm dann alle seine guten Werke nicht helfen würden, die Noth des Lebens zu überwinden. Aber das war ja doch wieder sein Achtungswerthestes, daß er an so etwas nicht dachte, sondern seinen Weg geradeaus ging auf ein Ziel hin, das über dem gemeinen Irdischen stand. Wenn er sagte: Gott wird helfen, so rührte er zugleich doppelt thätig die eigenen Hände. Die Familie vermehrte sich schnell. Vier Söhne und drei Töchter wurden vor mir geboren, und mir folgte noch ein Bruder und ein Schwesterchen. Wir alle wollten genährt und gekleidet, vor Allem aber auch erzogen sein. Er unterrichtete mit Eifer die Knaben selbst, nahm dann zu seiner Unterstützung einen tüchtigen Hauslehrer zu sich, brachte die älteren Söhne nach der Gymnasialstadt in Pension und darbte sich das Brod vom Munde ab, um sie zu fördern. Ich glaube, sie haben sich niemals sonderlich den Kopf darüber zerbrochen, welche Opfer der Gute ihnen brachte.

Als ich heranwuchs, waren die Mittel des Haushaltes schon so geschwächt, daß der Lehrer entlassen werden mußte. Den drei Mädchen wurde eine Gouvernante gehalten. Sie unterrichtete auch mich, so lange es ging. Dann nahm sich mein Vater freilich auch meiner an, aber er war schon müde von seinem langjährigen Präceptoramt und die täglichen Sorgen schwächten noch mehr seine Kraft. Ich lernte fleißig, aber unregelmäßig, trieb mich viel im Wald und Feld umher, trug die abgelegten Kleider meiner Brüder gänzlich auf und ging wohl auch im Sommer barfuß, wie die andern Dorfkinder. Dabei blieb ich aber doch des Herrn Pfarrers Sohn in meinen eigenen Gedanken und nach der Schätzung aller Uebrigen. Nur wenn meine Brüder zu Ferien heim kamen, schämte ich mich, daß sie so viel mehr wußten und so viel besser gekleidet waren, als ich, und ich wagte nicht, meinen ältesten Bruder beim Vater zu verklagen, wenn er mich einen Bauerlümmel nannte, wozu er sehr geneigt war. Schon in meinem vierzehnten Jahre ging ich zum Confirmandenunterricht. Nach der Einsegnung nahm mich mein Vater auf sein Zimmer und eröffnete mir, daß er ein ernstes Wort mit mir zu sprechen habe. Ich vergesse diese Stunde nicht.

Er stellte mich vor sich hin und legte seine Hand auf meine Schulter.“



(Fortsetzung folgt.)



Ein Tempel der Zukunftsmusik.


Ueber und aus Bayreuth hat die Gartenlaube bereits früher so Vieles und so Eingehendes mitgetheilt, daß ein nochmaliges Zurückkommen auf das ehemalige und gegenwärtige politische und sociale Leben dieser Stadt hier nicht geboten erscheinen dürfte. Auch die künstlerische Bedeutung Bayreuths in vergangenen Tagen wurde bereits früher in diesem Blatte berührt.

Heute beschäftigen wir uns ausschließlich mit dem Wagner-Theater daselbst, welches in jüngster Zeit, mag man über dasselbe denken, wie man will, so viel von sich reden gemacht hat, daß es schon deswegen die Bedeutung eines Tagesereignisses in Anspruch nehmen darf.

Wenige Minuten vom Staatsbahnhofe, in nördlicher

[515]

Das Wagner-Theater in Bayreuth nach seiner Vollendung.
Nach dem Gemälde von Louis Santer auf Holz übertragen.

[516] Richtung von der Stadt, erhebt sich ein freundlicher, von Buschwerk und Eichen umrahmter Hügel. Wagner selbst nennt ihn ein unvergleichlich schönes und ausgiebiges Grundstück. Auf diesem Hügel, hart am Wege nach der Bürgerreuth, erhebt sich in gewaltigen Dimensionen das Wagner-Theater. Werfen wir einen Blick in die Runde, so entrollt sich dem Auge ein Bild, so ungemein ansprechend und fesselnd, daß wir einen Augenblick dabei verweilen müssen. Wir lassen den Blick gegen Osten schweifen – da zeigt sich uns in blauer duftiger Ferne die lange Kette des Fichtelgebirges, an deren Grenze fern am Horizonte der rauhe Culm emporsteigt. Aus dunkeln Tannen- und Fichtenwäldern erhebt sich gegen Süden ein alter Bergriese, der Sophienberg. An seinem Fuße, im Mittelgrunde des Bildes, lacht uns die freundliche Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung entgegen, bis wir, weit im Westen, die ersten Ausläufer der fränkischen Schweiz erblicken. Von ihnen ab, über Berge und Thäler, Wälder und Wiesen, durch das herrliche Mainthal schweift das Auge weit hinein in’s Culmbacher Land, um endlich im Norden auf einer prächtigen Hochwaldpartie, der Hohen Warte, einen angenehmen Ruhepunk zu finden. Die liebliche Bürgerreuth mit ihrer wundervollen Aussicht bildet den Abschluß des Ganzen. Dabei prangt die ganze Landschaft in den herrlichsten, sattesten Tönen. Schwer trennt sich das Auge von dem farbenprächtigen Bilde.

War es sowohl für den Fachmann wie für den Laien höchst interessant, die wahrhaft kolossalen Grundbauten des Theaterbaues in Augenschein zu nehmen, so ist dies in noch weit höherem Maße der Fall, wenn man den jetzigen Hauptbau betrachtet. Schon das Eigenartige, von aller für derartige Bauten bisher gebräuchlichen Form Abweichende wird dem Beschauer auffallen. So erhebt sich weit über dem Dach des Zuschauerraumes ein mächtiger Mittelbau, der dazu bestimmt ist, unmittelbar über der Bühne alle zu verwendende Decorationsstücke aufzunehmen. Erst in einer Höhe von achtundneunzig Fuß beginnt das Dach, welches noch um sechsundzwanzig Fuß aufsteigt, während – um das nächstliegende Beispiel herbeizuziehen – im königlichen Opernhaus in Bayreuth das Dach in einer Höhe von fünfundfünfzig Fuß beginnt, und es ist dieses Haus doch als eines der größten Schauspielhäuser Deutschlands bekannt. Man kann sich überhaupt einen besseren Begriff von den Riesenverhältnissen des Wagner-Baues machen, wenn man erwägt, daß fast die ganze Holzrüstung aus dem fränkischen Wald herbeigeschafft werden mußte, weil man nicht im Stande war, in der Umgegend von Bayreuth Holz in der erforderlichen Länge und Stärke aufzutreiben, obgleich der Waldreichthum der Gegend von jeher zur Ausführung selbst der größten Bauten genügte. Im innigsten Zusammenhang mit obengenanntem Ueberbau der Bühne soll und muß der siebenunddreißig Fuß tiefe Versenkungsraum stehen.

In Folge der scenischen Anordnungen und Bedürfnisse Wagner’s müssen alle Decorationsstücke ebensowohl versenkt, wie auch in die Höhe gezogen werden können. Auch hier ist ein Vergleich des Versenkungsraumes des königlichen Opernhauses interessant; er verschwindet fast gegen den des Wagnerbaues. Für die Aufstellung der Maschinen sind eigene Galerien errichtet. Daß an den Maschinisten dieses Opernhauses die in der Theaterwelt unerhörtesten Anforderungen gestellt werden müssen, wird einem sofort klar, wenn man den Text des Festspieles liest. Die ganze Bühne selbst hat bei einer Tiefe von achtundsiebzig Fuß eine Breite von vierundsiebzig Fuß; der dem Publicum sichtbare Theil, also die Vorhangbreite, mißt fünfundvierzig Fuß. Nach genauester Messung hat die Bühne des königlichen Opernhauses bei einer Tiefe von dreiundfünfzig Fuß eine Breite von fünfundachtzig und einem halben Fuß mit einer Vorhangbreite von zweiunddreißig und einem halben Fuß. Die hintere Bühne des Wagnertheaters ist neunundvierzig Fuß tief und vierzig Fuß breit, während die des Opernhauses vierzig Fuß tief ist und die gleiche Breite der vorderen Bühne hat. Das Orchester im Wagnerbau, welches bekanntlich die Musiker den Blicken des Zuschauers vollständig entziehen soll, wird siebzehn Fuß tief und achtzehn Fuß (?) breit sein. Der sehr große Zuschauerraum soll nur aus einem Parterre bestehen; alles Andere, Logen und Seiten-Galerien, fällt als störend weg. Nur eine Fürstenloge (mit dem Fürstensalon) wird erbaut, und wie man hört, sollen auch einige Räumlichkeiten für junge Musiker und sonst Begünstigte hergestellt werden.

Die innere Ausschmückung des Raumes wird die allereinfachste sein. Man beschränkt sich dabei auf das Nothwendigste, da Wagner die Aufmerksamkeit des Beschauers durch keinerlei Aeußerlichkeit von der Hauptsache, der Darstellung seines Dramas, abgelenkt wissen will, worüber er sich in seiner Schrift „Das Bühnenfestspielhaus zu[WS 1] Bayreuth“ weiter verbreitet. Die decorative Ausstattung der Opernaufführungen selbst soll dagegen mit aller Pracht und allen neueren Hülfsmitteln der Kunst ausgeführt werden. Der äußere Bau soll ebenfalls wie der Zuschauerraum in keiner Weise überladen werden und wird deshalb den Stempel größter architektonischer Einfachheit an sich tragen. Das beigegebene Bild giebt das ganze Theater in gelungenster Weise wieder. Die vier Thürme, welche den Mittelbau flankiren, haben die Bestimmung, als Wasserbehälter zu scenischen Zwecken, bei Feuersgefahr und zur Speisung der um das Gebäude herum angebrachten Springbrunnen zu dienen. Das etwas entfernt im Rücken des Hauptgebäudes stehende Haus ist ausschließlich zur Herstellung von Decorationsgegenständen bestimmt und enthält die dazu nöthigen Räume, wie einen großen Malersaal etc. Es ist achtzig Fuß tief und sechszig Fuß lang. Der Bauplatz selbst bietet einen äußerst lebendigen Anblick. Die Masse der Zimmerleute, die ihre Thätigkeit auf jedem freien Platz entfalten, die Menge der Steine tragenden Tagelöhner und Handlanger, die Maurer und Steinhauer, welche zwischen dem Riesengerüst herumklettern, welches nöthig war, um das Bühnenhaus unter Dach zu bringen, ab und zu gehende Architekten und Bauführer etc., das alles hämmert, sägt, meißelt und schwirrt, daß man sich in einer großen Fabrikwerkstatt zu befinden glaubt. Dazu kommt noch eine hübsche Anzahl kleinerer Gebäulichkeiten, Bauhütten, in denen Erfrischungen verabreicht werden, Wohnungslocale für verschiedenes Baupersonal, Räumlichkeiten für die Architekten, Schreinerwerkstellen, Schmiede- und Wächterhütten etc., so daß der ganze Platz auf zwei Seiten davon fast eingeschlossen ist. Einen prächtigen, freien Ueberblick aber hat man auf die der Stadt zugewendete Haupt- und Vorderseite des Gebäudes, welches noch in diesem Jahre seiner äußeren Vollendung entgegengehen wird.

Auch vom finanziellen Standpunkt aus soll das Unternehmen als gesichert zu betrachten sein. Wie lange es dauern wird, bis die Zeit der Aufführung selbst herannaht, ist natürlich nicht einmal annähernd zu bestimmen; die Anforderungen, die das Ganze macht, sind so großartig, daß es gewagt wäre, jetzt schon weitere Schlüsse ziehen zu wollen. Wagner ist Bürger von Bayreuth geworden, hat sich in nächster Nähe des königlichen Schloßgartens ein schönes Haus erbaut und gedenkt seinen Wohnsitz für immer in der Stadt zu nehmen. Ob er durch sein Riesenwerk je erreichen wird, was ihm vorschwebt, ob er sich je einen festen Platz im Herzen des deutschen Volkes erringen wird und ob der dazu eingeschlagene Weg der rechte sei – die Zukunft wird es lehren. Immerhin stehen wir vor einem großartigen Werke der Neuzeit, dessen Fortschreiten die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt stets in hohem Grade auf sich ziehen wird.

Werfen wir noch einen letzten Blick auf die Umgebung des Wagnertheaters. Ein kurzer Gang nach Norden – und wir sehen auf waldiger Felskuppe, da wo einst vor alten Zeiten ein Luginsland stand, einen schlanken Thurm in die Wolken ragen, ein schönes Zeichen echten deutschen Brudersinnes. Aus eigenen, freiwilligen Beiträgen errichteten ihn die Bewohner der Stadt Bayreuth zum Andenken an die ruhmreichen Heldenthaten unserer Söhne im letzten blutigen Krieg gegen den Erbfeind. Wundervoll ist die Aussicht von seiner Höhe. Möge er den kommenden Geschlechtern stets die Errungenschaften unserer großen Zeit in’s Gedächtniß rufen! Stolz grüßt das deutsche Banner hinaus in’s schöne Frankenland; stolz leuchtet der Siegesthurm weithin durch die ganze Gegend, ein redender Zeuge unserer Zusammengehörigkeit, ein herrlicher Denkstein unserer schwer errungenen nationalen Einheit.
Peter Kästner.



[517]
Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
X.


Die Liebebedürftigkeit des „Göttersohns“ der Frau Aja angesehen, war er jetzt, da das Jahr zu Ende ging, eine gute Weile ohne Flamme gewesen. Flämmchen zählen nicht … Auf dem großen Kornmarkt in Frankfurt zeichnete sich damals vor den übrigen Gebäuden das schöne große Eckhaus neben der reformirten Kirche aus. Im Erdgeschosse dieses Hauses wurde ein großes Bankgeschäft betrieben, welchem die Söhne der verwittweten Besitzerin, Frau Susanne Elisabeth Schönemann, vorstanden. In den glänzend eingerichteten Zimmern, welche neben und über den Kontorräumen lagen, empfing Frau Schönemann allabendlich Gesellschaft, zu deren Unterhaltung die Musik das meiste thun mußte. In dieses Haus wurde unser Dichter an einem der letzten Abende des Jahres 1774 eingeführt und war nur eben in den Musiksaal eingetreten, als sich die Tochter des Hauses, die sechszehnjährige Anna Elisabeth, vertraulich und zärtlich Lili geheißen, an den Flügel setzte und mit Fertigkeit, Verständniß und Anmuth eine Sonate spielte. Nachher stellte sich Goethe dem jungen Mädchen vor und die Bekanntschaft war gemacht. „Wir blickten einander an“ – erzählt er in seiner Selbstbiographie – „und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft der sanftesten Art zu empfinden glaubte.“ Als er wegging, hieß die Mutter ihn wiederkommen, in welche Aufforderung die Tochter „mit einiger Freundlichkeit einstimmte.“ Er kam wieder und kam immer wieder und hatte bald zwingende Veranlassung, sein Lied „Neue Liebe, neues Leben“ zu dichten, welches mit der Frage:

„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?“

anhob. Nun, ihn bedrängte eben wieder einmal das liebe Drangsal, welches nie ausgesagt und nie ausgesungen sein wird, so lange Mann und Weib auf Erden. Aber war die Lili-Liebe wirklich eine so große Leidenschaft, wie uns der Dichter glauben machen will? Doch kaum! Die Darstellung des Verhältnisses in „Dichtung und Wahrheit“ trägt entschieden die Signatur der ersteren: es ist augenscheinlich idealisirt und mittels der Zeitferne in verschönernde Beleuchtung gerückt. Kein Zweifel allerdings, der Wolfgang brannte und Lili glimmte und Beide hatten es, nachdem sie einmal durch die Dazwischenkunft einer resoluten Freundin (Fräulein Delf) soweit gekommen, sich mit einander zu verloben, zeitweilig auf eine Heirat abgesehen. Aber man halte doch einmal die goethe’sche Lili-Lyrik mit seiner Friederike-Lyrik zu unbefangener Prüfung zusammen, und man wird leicht herausfühlen, in welcher das echte Himmelsfeuer lodert. Außerdem scheint mir zur Werthung der angeblichen Leidenschaft Goethe’s für Fräulein Schönemann ein nicht unwichtiges Kriterium der Umstand darzubieten, daß zu gleicher Zeit unser Dichter mittelst Briefwechsels zu der jungen Augusta von Stolberg, einer Schwester der beiden hainbündlerischen Grafen, in ein so leidenschaftliches Freundschaftsverhältniß gerieth, daß zu dessen Bezeichnung, wie er im Januar von 1775 an die neue Freundin schrieb, „die Namen Freundin, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin“ nicht ausreichten – ein starkes Stück von Wertherei übrigens, besonders wenn man bedenkt, daß Goethe das also angehimmelte „Gustchen“ nie mit leiblichen Augen gesehen. Was Lili angeht, so hatte sie schon bei einer der ersten Zusammenkünfte mit dem Dichter diesem das bedenkliche Geständniß gemacht, sie habe an sich „eine gewisse Gabe, anzuziehen, bemerken müssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft, die Angezogenen fahren zu lassen, verbunden sei.“ Wohl, sie zog ihn an und ließ ihn fahren, und wir haben das schöne, in der Fülle des Reichthums und Behagens erzogene, verzogene, launische Kind, welches nicht wußte, weder woher das Brot komme, noch was Leid sei, stark im Verdacht, daß ihm die Laune gekommen, es müßte doch hübsch sein, von einem berühmten und noch dazu schönen Manne geliebt zu werden – eine ganz begreifliche und verzeihliche Eitelkeit bei einem jungen Mädchen, aber doch eben nur eine Eitelkeit. Eitelkeiten pflegen gegen Widerwärtigkeiten nicht standzuhalten und an Widerwärtigkeiten fehlte es nicht; die beiden Familien Goethe und Schönemann waren ja von Anfang an der Verbindung des jungen Paares entgegen und blieben es, auch nachdem sie die improvisirte Verlobung widerwillig anerkannt hatten. Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth hatten das ganz richtige Gefühl, eine solche „Putz- und Staatsdame“ von Schwiegertochter würde in den solid-bürgerlichen Rahmen ihres Haushalts nicht passen. Auch waren sie vollauf berechtigt, das Herabsehen der schönemann’schen Geldprozerei auf diesen ihren solid-bürgerlichen Haushalt unverschämt zu finden und darum jedes Entgegenkommen zu vermeiden. Frau Schönemann und ihre Söhne hinwiederum waren der Geldreligion zu sehr ergeben, um nicht merken zu lassen, daß die Bewerbung des Advokaten und Versemachers um ihre Tochter und Schwester eben nur eine geduldete sei und daß Lili eigentlich von Religions-, Rechts- und Anstandswegen einen Prozen heiraten müßte. Denn Geld und Geld gesellt sich gern, steht geschrieben im Evangelio Mammonis, Kap. 13, V. 25.

Das Verhältniß schleppte sich den Winter über und in den Sommer hinein der Art fort, daß der arme Bräuterich zwischen Wonne und Weh und Weh und Wonne „in schwebender Pein“ schwankte. Das Weh schlug namentlich dann vor, wann Lili’s Gefallsucht es nicht lassen konnte, auch anderen Männern gefallen zu wollen und mit ihren Talenten und Talentchen vor der Gesellschaft zu glänzen. Derartige Püppchen haben das so. Doch muß gesagt werden, daß Lili’s Koketterie eine harmlose gewesen, zum größeren Theile wohl auch verschuldet durch die Unstätheit ihres Verlobten, der heute Glut und morgen Frost war. Die ganze Geschichte nahm so von beiden Seiten mehr und mehr eine mißliche Färbung an, sie wurde zu einem Wechselfieber, so zu sagen, und die beiden Verlobten mochten sich, des ewigen gegenseitigen Anziehens und Abstoßens müde, heimlich gleichsehr nach Genesung und Befreiung sehnen. Als es einmal soweit, nahm der Dichter den Riß und Bruch auf sich, wozu sich im Mai von 1775 eine gute Gelegenheit bot.

Da waren nämlich die Hainbündler Fritz und Christian Stolberg bei Goethe eingekehrt, auf einer Schweizerreise begriffen und begleitet von ihrem Freunde Kurt von Haugwitz, welcher nachmals zum Verderben Deutschlands das unselige preußische Unstaatsmännerkleeblatt Haugwitz, Lombard und Lucchesini mitgebildet hat. Auch Maximilian Klinger war gerade in seiner Vaterstadt anwesend und viel im goethe’schen Hause. Die Stolberge standen damals im Vollsaft ihrer Kraftgeniewuth, die sich in unbändigem, mitunter geradezu verrücktem Freiheitsgeschrei austobte, welches dann später bekanntlich bei dem einen in papistisches Gegrunze, bei dem andern in pietistisches Gegreine umgeschlagen ist. Bei einem Gelage der jungen Männer setzte die Frau Rath in ihrer humoristisch-gescheiden Weise die beiden gräflichen Tyrannenfresser tüchtig zurecht und bei dieser Gelegenheit erhielt sie den Namen Aja. Ihr Sohn scheint es darauf angelegt zu haben, die Entfremdung zwischen ihm und Lili durch häufige Entfernungen von der Stadt wachsen zu machen. Er schwärmte mit seinen Besuchern in der Umgegend herum und derweil gaben sich daheim beiderseitige Freunde die mehr oder weniger redliche Mühe, das unersprießliche Verhältniß zwischen dem Doctor Goethe und dem Fräulein Schönemann zu lockern und zu lösen. Daß sich der Doctor plötzlich entschloß – von seinem Vater übrigens lebhaft dazu aufgemuntert – die Geniereise der Stolberge nach der Schweiz mitzumachen, schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Verzeihung für ein so küfermäßiges Bild, das auch wirklich verzeihlich sein dürfte, insofern man ja etwa das in Rede stehende Verhältniß mit dem Danaidenfaß vergleichen könnte.

Ohne förmlichen Abschied von Lili genommen zu haben, brach unser Dichter mit seinen Reisegefährten auf, zunächst nach Darmstadt, allwo Freund Merck, wie Goethe berichtet, über die [518] Reisegenossenschaft heftig den Kopf geschüttelt habe („daß du mit diesen Burschen ziehst, ist ein dummer Streich!“). Sagte Merck so, hatte er recht, wie sich bald herausstellte. In Emmendingen sah der Wolfgang am 4. Juni seine Schwester Cornelie, welche ebenfalls entschieden gegen seine Heirat mit Lili aufgetreten war, zum letztenmal. Acht Tage später finden wir ihn in der jetzt noch wohlerhaltenen Lavaterstube im zweiten Stock der Helferei zum Sanct Peter in Zürich, nachdem er von Emmendingen aus eine Abschrift seines in letzter Zeit fertiggewordenen Singspiels „Claudine von Villa Bella“ (in der ursprünglichen Gestalt) an Knebel zur Mittheilung an den Erbprinzen Karl August gesandt hatte. In Zürich ließ er die Stolberge laufen; er war der Kraftgeniestreiche, welche sie machen zu müssen glaubten, um sich als Genies im Allgemeinen und als Poeten im Besonderen auszuweisen, herzlich müde geworden. Mit einem zufällig getroffenen Landsmann, Passavant, fuhr er den See hinaus, welchen vordem Klopstock so schön gefunden und so schön gefeiert hatte. Goethe seinerseits dichtete „Auf dem See“:

„Und frische Nahrung, neues Blut
Saug’ ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertact hinauf
Und Berge, wolkig, himmelan,
Begegnen unserm Lauf –“

und hat dabei gewiß an dem alten prächtigen Kerl, dem Glärnisch, welcher dort linkshin hinter den Voralpen majestätisch aufsprang, eine rechte Freude gehabt. In seine Naturschwelgerei drängte sich aber doch während der ganzen Schweizerreise, welche zu einigen der später dem Werther angehängten „Briefe aus der Schweiz“ Veranlassung gab, der Gedanke an Lili, „freudvoll und leidvoll“. Auf dem Wege von Richtersweil nach Mariä-Einsiedeln schrieb er, von der Schindeleggi auf den Zürichsee niederblickend, in sein Taschenbuch:

„Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,
Welche Wonne gäb’ mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,
Was, was wär’ mein Glück?“

Ueber den rauhen Haken nach Schwyz und von dort über das noch nicht unter dem Roßbergsturze von 1806 begrabene Goldau zum Rigi gewandert, erstieg der Dichter den Gipfel des berühmten Berges, welchen ich das Ausrufungszeichen in der Riesenschrift der schweizerischen Alpen nennen möchte. Dann ging es an den Vierwaldstättersee hinunter, zu Schiffe nach Flüelen, das Reußthal entlang und zur Wasserscheide des Gotthardpasses empor. Wollt ihr erfahren, was für unverwischbare Eindrücke Goethe von dieser Gotthardwanderung mit heimgenommen, so les’t im Schiller die Stelle, wo der Tell dem Parricida den Gotthardweg weis’t. Daß Schiller diesen Weg, ohne ihn jemals mit leiblichen Augen gesehen zu haben, also schildern konnte, verdankte er der Beschreibung, welche sein großer Freund ihm davon entworfen hatte. Vom Gotthardhospiz aus wurde die Rückwanderung nach Zürich angetreten, wo unser Wanderer mit Lavater und dem alten Bodmer noch gute Tage verlebte. Die Heimreise ging zunächst über Konstanz nach Ulm, von wo der arme Schubart etwas später an seinen Bruder schrieb: „Goethe war auch hier – ein Genie, groß und schrecklich, wie’s Riesengebirg!“ Von Ulm wandte sich der Dichter nach Stuttgart und von dort nach Straßburg, aber nicht nach Sesenheim. Während der kurzen Rast zu Straßburg machte er die Bekanntschaft des mit mehr oder weniger Recht berühmten Arztes Zimmermann, der in seine schweizerische Heimat zu reisen im Begriffe war, und dieser zeigte ihm eine Sammlung von Schattenrissen, worunter auch der von Charlotte Stein, einer Weimarer Hofdame. Der Anblick des Bildchens und Zimmermann’s lebhafter Commentar dazu erregten Goethe’s Theilnahme in nicht geringem Grade: „Zukünftiges wirft seinen Schatten voran.“ Am 25. Juli war er wieder in Frankfurt.

In die nächste Zeit fiel seine Beschäftigung mit der Geschichte der niederländischen Insurrection gegen Spanien und so wandte er denn seinen Blick in ein Jahrhundert zurück, das ihm zur Stofffundgrube für sein erstes epochemachendes Werk gedient hatte. Auch jetzt bot es ihm wieder den Stoff zu einer Dichtung, welche unter den so recht charakteristisch-goethe’schen mit in erster Linie steht: – die ersten Scenen vom „Egmont“ wurden geschrieben. Aber dieses Drama, womit, wie einer der feinsinnigsten Beurtheiler Goethe’s, Rosenkranz, treffend bemerkt hat, unser Dichter ebenso in die Sphäre zurückgriff, in welcher der Götz, wie in die Sphäre vorausgriff, in welcher die Iphigenie entstand, sollte erst viele Jahre später unter der Sonne Italiens ausreifen. Der Hochsommer und Spätherbst von 1775 waren für den Wolfgang keine ausgiebige Schaffenszeit. Gleich nach seiner Heimkehr aus der Schweiz hatte ja die Lili-Qual wieder begonnen. Von der Herbigkeit derselben geben dazumal entstandene Lieder wie „Lili’s Park“ und „Herbstgefühl“ Andeutungen, welche deutlich genug sind. Das ganze Verhältniß war verhetzt und vertrübt, unsühnbar und unhellbar. Mitte Septembers schrieb der Dichter an Auguste von Stolberg: „Lili heut nach Tisch geseh’n – in der Komödie geseh’n. Hab’ kein Wort mit ihr zu reden gehabt – auch nichts gered’t. Wär’ ich das los! Und doch zitter’ ich vor dem Augenblick, da sie mir gleichgiltig, ich hoffnungslos werden könnte.“ Nun, gleichgiltig wurde ihm das „leidig liebe“ Mädchen, welches schlechterdings nicht zu ihm paßte, und zwar bald ward es ihm gleichgiltig, aber er ist darum nicht hoffnungslos geworden. Das Menschenherz ist bekanntlich zwar ein eitel und verzagt Ding, wie die Schrift besagt, aber auch ein sehr zähes und trotziges. Die Werther und Günderoden der Wirklichkeit lassen sich zählen, nur die gebrochenen Mutterherzen sind unzählbar.

Der Bruch zwischen den Verlobten war eine Thatsache, ohne daß das Wort ausgesprochen worden wäre. Unser Dichter fühlte, daß er fort mußte aus Frankfurt, und als der Herzog Karl August mit seiner jungen Neuvermählten am 12. October anlangte und die Einladung Goethe’s nach Weimar mit voller Bestimmtheit und Herzlichkeit wiederholte, sagte der Eingeladene zu. Wie jedermann weiß, hätte aber ein dummer Zufall die ganze Angelegenheit um’s Haar vereitelt und konnte der Dichter peinliche Tage lang wähnen, man habe ihn eigentlich zum Narren gehabt, worüber Herr Johann Kaspar („Nah’ bei Hof, nah’ bei Höll’!“) seine geheime, nein, seine offene Freude hatte. „Hör’ mal, Wolfgang,“ ließ er sich vernehmen, „wenn du gescheid bist, so gehst du, maßen es mit dem Weimar doch nur Firlefanz zu sein scheint und du doch einmal fort willst und fort mußt, stante pede nach Italien. Das wird dir gutthun und das Geld dazu sollst du haben.“ Der Wolfgang packte ein, das heißt, Liebmütterlein packte ihm die Koffer, und er fuhr am 30. October ab: – Italiam! Italiam! Am Abend des ersten Reisetages setzte er sich zu Ebersbach an der Bergstraße hin und schrieb unter anderem in sein Tagebuch: „Lili, Adieu! Lili, zum zweitenmal! Das erstemal schied ich noch hoffnungsvoll, unser Schicksal zu verbinden. Es hat sich entschieden, wir müssen unsere Rollen einzeln ausspielen. Mir ist weder bang für dich noch für mich, so verworren es aussieht. Adieu!“ Das war der Strich unter das Lili-Capitel in Goethe’s Leben. Das Mädchen ist keineswegs daran gestorben, bewahre! Lili war dazu weder gemacht noch aufgelegt; wohl aber dazu, unlange darauf ganz munter einen straßburger Bankherrn zu heiraten, was ihr recht gut bekam … Unser Flüchtling war derweil bis nach Heidelberg gelangt. Hier ereilte ihn der Bote, welcher den „dummen Zufall“ aufklärte. Nach kurzem Bedenken faßte der Dichter den Entschluß, umzukehren, und warf sich in die Postkalesche mit den Worten seines Egmont: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze dort, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es?“

Vorderhand ging es Weimar zu.


[519]
Menschenhandel in Afrika.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.

Es ist schon viel über die Gräuel des Sclavenwesens, und in neuester Zeit auch über die nicht geringeren Ungeheuerlichkeiten, die beim Fange von Chinesen und Südsee-Insulanern, den sogenannten Kulis, stattfinden, geschrieben worden; aber entsetzlichere Schilderungen, als mir vor Kurzem in einem Briefe des Afrika-Reisenden Dr. Nachtigal von der Art und Weise, wie dieser Handel in der Ostgegend des Tsadsees auftritt, gemacht wurden, habe ich noch nirgend angetroffen. Es ist freilich wenig erquicklich, über solche Nachtseiten der Menschheit zu berichten, indeß es könnte doch vielleicht seinen guten Zweck haben, sei es auch nur, um einzelne Zweifler zu bekehren, welche immer noch geneigt sind, die Schilderungen der Gräuel des Sclavenwesens für übertrieben zu halten und die menschenfreundlichen Bestrebungen zur völligen Ausrottung desselben als „sentimental“ zu belächeln.

Um das Sclavenwesen seiner vollen Abscheulichkeit nach zu beurtheilen, muß man es an der Quelle beobachten. Da, wo den Sclaven schon große Länderstrecken von seinem Fangorte trennen, wo er als bereits wohlabgerichteter Arbeiter seinem Herrn einträgliche Dienste leistet, wo er folglich einen verhältnißmäßig hohen Werth besitzt, verbietet schon der Eigennutz dem Besitzer, ihn schlecht zu behandeln. Anders ist es an der Quelle, das heißt bei den eben erst eingefangenen Sclaven, die dem Naturzustande nahe stehen und noch nicht gelernt haben, sich ihren Gebietern durch Arbeit nützlich zu machen, also auch nur einen geringen Geldeswerth darstellen. Menschenliebe ist bei den meisten Sclavenbesitzern des Theiles von Inner-Afrika, von dem wir hier berichten, ein unbekannter Begriff; und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Sclavenjäger und ersten Ankäufer, welche hier alle Mohamedaner sind, die eingefangenen Neger, die gewöhnlich dem Heidenthume angehören, durchaus nicht als Ihresgleichen, so zu sagen gar nicht als Menschen betrachten. Nicht, als ob die mohamedanische Religion an und für sich so unmenschlich wäre. Aber die hiesigen Mohamedaner haben von dieser Religion fast nur das Schlechte angenommen, den Fanatismus gegen Andersgläubige, die sie als tief unter ihnen stehend und schon ihres Glaubens wegen als hassenswerth, verdammlich und der grausamsten Behandlung würdig ansehen, und den geistlichen Hochmuth, der sie selbst ihrer Meinung nach den Heiden gegenüber fast wie Götter erscheinen läßt.

Im Süden des Landes Baghirmi, in Inner-Afrika, waren, als unser oben genannter Landsmann dasselbe im Sommer 1872 besuchte, eben die großartigsten Sclavenjagden veranstaltet worden, und zwar vom Sultan des erwähnten Landes selbst, welcher, um sich die Mittel zur Ausrüstung eines Kriegsheeres zu verschaffen, einen Raubzug in die an seine Staaten grenzenden Heidenländer unternommen hatte. Der Zweck dieses Raubzuges war ausschließlich der Sclavenfang; denn in diesem Theile von Inner-Afrika sind Sclaven der gangbarste Tauschartikel; sie bilden hier gleichsam die große Münze, gerade wie in Abessinien die Maria-Theresien-Thaler und wie anderwärts die englischen Baumwollstoffe. Man berechnet nämlich daselbst alle Waaren nach ihrem Werthe in Sclaven, das heißt in sogenannten mittelguten Sclaven; denn es giebt auch geschätztere, welche so viel werth sind, als zwei mittelgute, und geringer geachtete, die man nur einem „halben“ gleichschätzt. Der übliche Ausdruck lautet „Köpfe“. Alles wird nach „Köpfen“ berechnet. Natürlich ist dabei nur von Menschenköpfen die Rede; denn die Thierköpfe sind, wie wir gleich sehen werden, oft viel mehr werth.

Um ein so ansehnliches Heer auszurüsten, wie es dieser Sultan zur Bekämpfung seines schon etwas civilisirteren nördlichen Nachbars, des Fürsten von Wadai (dem Lande, in welchem Vogel umkam), der das halbe Baghirmi erobert hatte und über Schießwaffen und Reiterei verfügte, bedurfte, dazu mußte auch er Flinten und Pferde haben, und diese konnte er nur gegen das im Lande übliche baare Geld, das heißt gegen Sclaven, eintauschen. Zur Sclavenjagd in den Heidenländern dagegen brauchte er die civilisirten Mordwerkzeuge nicht. Diese armen heidnischen Neger sind noch sehr in der Bewaffnung zurück, auch staatlich nicht geeinigt genug, um kräftigen Widerstand zu leisten. Ihrer konnte er leicht Herr werden. Als der Reisende sein Lager besuchte, hatte er denn auch bereits einige Tausend eingefangen und täglich brachten die nie erlahmenden Beutezüge neue Opfer in das Lager.

Die Folge dieses massenhaften Einbringens von Sclaven, verbunden mit den Schwierigkeiten und Kosten ihrer Beförderung nach Bornu, dem nächsten, aber immer noch zwanzig Tagereisen entfernten größeren Sclavenmarkt, bewirkte an Ort und Stelle ein ganz außerordentliches Sinken im Preise der menschlichen Waare. Dagegen stiegen andere Verkaufsgegenstände bedeutend im Werthe, namentlich Pferde, Waffen, selbst eiserne Ketten und Halsringe, mit denen man die Sclaven fesselte; denn ihre Heimath war zu nahe und ein Entspringen immer noch möglich. Wir möchten unsern Augen kaum trauen, wenn wir, die wir gewohnt sind, den Menschen als das weitaus werthvollste Glied der Schöpfung und über jeden Geldeswerth erhaben anzusehen, eine solche afrikanische Liste von Warenpreisen überblicken, in welcher der „Herr der Schöpfung“ etwa einer alten Ziege oder einem alten abgetragenen Kleidungsstück gleich angeschlagen ist, so daß selbst ein Jagdhund noch höher abgeschätzt wird, ein Pferd aber eine ganze Summe von Menschen aufwiegt. So konnte man zum Beispiel zur Zeit in Baghirmi für ein gutes Pferd von acht bis zu zehn, für ein mittleres fünf, selbst für das schlechteste immer noch drei „Köpfe“ erhalten. Ein Diener unsres Landsmannes vertauschte seinen Dolch gegen eine schöne junge Negerin; eine solche war gesucht und wurde zwei „Köpfen“ gleich gerechnet. Ein anderer erhielt für ein altes Hemd ein Kind. Was ihm freilich der Besitz eines solchen für Vortheil bieten konnte, ist schwer zu sagen; denn die armen Sclavenkinder sterben wie die Fliegen.

Der Sultan besaß der menschlichen Waare so viel, daß er die im Orient üblichen Geschenke, die bei den geringsten Anlässen gemacht und „Bakschisch“ genannt werden (Trinkgelder würden wir sagen) nur noch in Sclaven gab. So erhielt die Gesammtheit einer aus Bornu eingetroffenen Karawane (mit deren Ankunft der Fürst sehr zufrieden war, da sie Waffen und Pferde brachte) ein Empfangsgeschenk von fünfzig „Köpfen“. Dr. Nachtigal selbst, als er von der ersten Audienz beim Sultan nach Hause kam, fand in seiner Wohnung, zu seiner nicht geringen, aber keineswegs angenehmen Ueberraschung, ein Gnadengeschenk desselben vor, das aus dreizehn „Köpfen“ bestand. Natürlich schickte unser Landsmann das unwillkommene Geschenk zurück. Zu seinem Leidwesen war er jedoch nicht im Stande, zu verhindern, daß seine Diener sich eine Anzahl von Sclaven vom Sultan schenken ließen und behielten. Diese letzteren Neger konnten übrigens noch von Glück sagen, denn sie fielen nun der Fürsorge eines geschickten europäischen Arztes anheim, welcher in den von solchen Massenanhäufungen untrennbaren Krankheiten, die sich bald einstellten, ihrer wartete und manchem das Leben rettete. Viele dieser Unglücklichen waren in ihrer Heimath wohlhabende Leute und Familienväter gewesen, welche Häuser, Felder und Vieh besessen hatten. Ein einziger Tag trennte sie für immer von Frauen und Kindern, von Hab und Gut, und machte sie selbst zu Sclaven, denn daß ein Sclavenjäger so viel Menschlichkeit besäße, wenigstens die Glieder einer und derselben Familie ungetrennt zu lassen, kommt leider nicht vor. Die Gefangenen wurden vielmehr ohne alle Rücksicht auf die Zusammengehörigkeit der Familien einzeln vertheilt, verkauft oder auch verschenkt. Ein Vater von elf Kindern vermochte nach langem Suchen nur drei derselben zu entdecken, von diesen eines bereits als Leiche; und doch wußte er, daß alle zu Sclaven gemacht worden waren. Dieser, sowie die große Mehrzahl der Unglücklichen, waren nicht etwa im Kampfe erbeutet, sondern bei ihrer Feldarbeit überrascht worden. Man hatte ganze Dörfer überfallen, ausgeplündert und alle Bewohner, vom Ortsvorstand bis zum geringsten Manne, als Gefangene abgeführt.

Die älteren Leute, welche das Loos ja am allerhärtesten traf (denn zu Hause genossen sie als Familienväter und bejahrte Männer eine bevorzugte Stellung, und jetzt nahmen sie unter den Sclaven den allertiefsten Rang ein, da man nur die jungen [520] schätzt, die betagteren aber fast für unbrauchbar hält), waren störrig und wußten sich durchaus nicht in ihre neue, traurige Lage zu schicken. Da half kein Prügeln. Sie thaten doch nicht, was ihre Herren von ihnen verlangten. Auch waren sie nur schwer dazu zu bewegen, die elende Nahrung, welche man ihnen verabreichte, zu sich zu nehmen. Selbst diese Nahrung war ja ihrem geringeren Werthe nach zugemessen. Ein junger Sclave, an dessen Erhaltung seinem Herrn mehr lag, erhielt bessere Speise. Ein alter, der eine solche gerade nöthig gehabt hätte, bekam nur Abfälle. So wollte es das Geschäft. Der junge war vielleicht zwei „Köpfe“ werth, der alte kaum einen. Auf Erhaltung einer Waare von geringerem Werthe wendet der Geschäftsmann nicht viel. Gefesselt und zwar immer zu zweien aneinandergeknebelt, lagen diese Unglücklichen in den erbärmlichen Hütten auf dem bei der herrschenden Regenzeit zu einem Sumpfe erweichten Boden da.

Etwas besser war es mit den jungen, kräftigen Männern bestellt. Diese wurden vom Sultan ausgesondert und waren bestimmt, ihm später Kriegsdienste zu leisten. Mit ihnen ging der Fürst übrigens sehr sparsam um und verschenke sie nicht. Einstweilen waren zwar auch sie noch gefesselt, da die Nähe ihrer Heimath zu leicht zu Fluchtversuchen verlocken konnte. Aber, wie gesagt, ihre Verpflegung war eine bessere. Für einzelne derselben mochte auch ihr neuer Stand allmählich seine Schrecken zu verlieren anfangen; besonders für die von Haus aus armen; der Kriegerstand, dem sie entgegengingen, ist immerhin ein bevorzugter.

Aber diese jungen, werthvolleren Sclaven bildeten vielleicht nur den vierten Theil der Gesammtmasse. Für die große Menge war die Behandlung eine unmenschliche. Der einzige Gedanke der Unglücklichen war deshalb der an eine mögliche Flucht. Fluchtversuche kamen in der That auch oft vor. Die Fälle, in welchen sie gelangen, waren freilich sehr selten. Aber der Umstand, daß dergleichen Fälle sich überhaupt ereigneten, wirkte als ein mächtiger Hebel auf die Masse der unglücklichen Sclaven, ebenfalls Selbstbefreiungsversuche anzustellen. Je öfter solche Unternehmungen vorkamen, desto gereizter wurden auch die Sclavenbesitzer. Schreckliche Strafen trafen diejenigen, welche auf mißlungenen Fluchtversuchen ertappt und wieder eingefangen wurden. Man band sie an die Pfähle, prügelte und geißelte sie unmenschlich, ja nicht selten brachte man ihnen auch noch Wunden bei, keine tödtlichen, das verbot der Eigennutz des Besitzers der menschlichen Waare, aber solche, welche doch immer schmerzhafte Leiden im Gefolge hatten. Dies geschah zum warnenden Beispiel für die Anderen. Zuletzt besaß man nicht mehr Ketten genug, um alle Gefangenen in Eisen zu legen. Nun mußten Stricke herhalten. Da diese natürlich nicht so fest hielten wie die eisernen Bande, so wurden durch sie die Fluchtversuche wieder erleichtert. Aber die Sclavenbesitzer zeigten sich bald erfinderisch gegen diese neue Möglichkeit eines Waarenverlustes. Sie entdeckten eine neue, besonders verwickelte und schwer lösbare Art des Bindens mit Stricken, sodaß die Gefangenen sich derselben nur in den allerseltensten Fällen entledigen konnten.

Das Loos der Unglücklichen sollte sich indeß noch schlimmer gestalten. Die Raubzüge waren viel ergiebiger an menschlicher Waare, als an Getreide und Vieh gewesen. Die Vorräthe an Lebensmitteln fingen an, äußerst knapp zu werden, und die armen Sclaven wurden auf Hungerdiät gesetzt. Eine kraftlose, in Wasser gekochte Mehlsuppe, einmal täglich, war Alles, was sie an Nahrung erhielten. Diese schlechte Kost bei Leuten, welche, aus einem sehr fruchtbaren Lande stammend, an reichliche Nahrung, ja selbst an Fleischgenuß gewöhnt waren, der ungenügende Schutz gegen die Nässe der Regenzeit in den elenden offenen Schuppen, so verschieden von ihren wohl verschließbaren heimathlichen Hütten, der Mangel des gewohnten Feuers, das diese Stämme zur Regenzeit nie ausgehen lassen (um deren gesundheitsschädliche übergroße Feuchtigkeit zu bekämpfen), endlich die massenhafte Anhäufung von Schmutz und Unrath in dem dichtbewohnten Lager, die nach kurzer Zeit eine Verpestung der Luft erzeugte, Alles dies begünstigte das Entstehen einer gefährlichen Seuche, welche bald ausbrach und der Hunderte von Sclaven zum Opfer fielen.

Der Tod wäre eine Erlösung für diese Unglücklichen gewesen. Aber die Liebe zum Leben, welche die meisten Menschen selbst im Elend nicht verläßt und die bei den Negervölkern in vorzüglichem Grade entwickelt ist, machte auch hier ihr Recht geltend. Die Aermsten, denen das Leben nur Schrecken bot, sahen trotzdem dem Tode mit Grauen entgegen. Mit Schaudern fühlten sie das schleichende, ungreifbare Gespenst in ihre Hütten dringen, sahen zuerst die Kinder und Schwachen ihm zum Opfer fallen, dann selbst die Kräftigen und Starken sich unter seinen Griffen winden. Die allgemeine Niedergeschlagenheit, die schon unter den Unglücklichen herrschte, verwandelte sich beim Fortschreiten der Seuche in dumpfe Verzweiflung. Wehklagen und Wimmern tönten aus jeder Hütte hervor, bald Trauergeheul über die eben Verschiedenen, bald Schmerzensgeschrei der Kranken. Ein grausiges Bild! Bei diesen sonst so lebensvollen und von der Natur mit fast unverwüstlicher Heiterkeit begabten Stämmen macht sich auch der Schmerz, wenn er einmal zum Ausbruch kommt, auf energischere Weise geltend und bringt Scenen von einer Macht der Verzweiflung hervor, wie sie bei uns ruhigeren Europäern fast unbekannt sind.

Nun zeigten sich so recht die Folgen der unmenschlichen Denkungsart, welche dem Sclavenwesen zu Grunde liegt. Die Eigenthümer, welche ihre Sclaven nur als Waare betrachteten, suchten lediglich die werthvolleren zu retten. Da diese zugleich die kräftigeren waren, so gelang es nicht selten, ihr Leben zu erhalten. Die Kinder und Schwachen dagegen wurden der Pflege und der besseren Nahrung, bei der sie allenfalls hätten geheilt werden können, nicht für würdig erachtet. War doch ihr Geldeswerth ein zu geringer.

„Sie fressen ihren Kopf ab,“ pflegte ein Sclavenbesitzer zu sagen, „und schließlich, wenn man so viel auf ihre Heilung verwendet hat, sterben sie an einem Rückfall, oder rettet man auch Einige, so kommt man beim Verkauf doch nicht wieder auf seine Kosten.“

Als die Seuche immer noch überhand nahm und die Sclaven massenhaft wegstarben, wollte zuletzt Niemand im Lager des Königs von Baghirmi mehr neue erwerben. Wozu auch? Man kaufte ja nur Todescandidaten. Kauf und Verkauf der menschlichen Waare gerieten in’s Stocken. Selbst der erste Minister des Sultans, welcher täglich drei „Köpfe“ für die Mahlzeiten auszugeben pflegte, womit er die Gäste seines Herrn bewirthete, fand am Ende keinen Herdenbesitzer mehr, der ihm für einen Sclaven ein Schaf oder eine Ziege, den zur Zeit in Baghirmi üblichen Preis, verkaufen wollte. Unter solchen Umständen dachte ein großer Theil der Sclavenbesitzer an die schleunige Abreise nach Bornu, wo man voraussichtlich der Seuche entrinnen und zugleich Absatz für die menschliche Waare finden konnte. Eine Karawane kam zu Stande, welcher auch unser Reisender, der es müde war, die Gräuel im Lager mit anzusehen, sich anschloß. Indeß, wenn er hoffte, diese Gräuel nun nicht mehr zu sehen, so erfuhr er bald die schmerzlichste Enttäuschung; denn wie schrecklich auch das Loos der gefangenen Neger im Lager gewesen sein mochte, auf der Reise gestaltete es sich noch um Vieles schlimmer. Ja, hier sollte er Zeuge jener im Eingange angedeuteten Grausamkeiten werden, welche Alles überboten, was er und Andere bisher in dieser Art gesehen hatten.

Bei Beschreibung dieser Sclavenkarawane fällt mir immer der Bürger’sche Vers „Die Todten reiten schnell“ ein. In der That eine Reise in’s Lager des Todes! Eine schnelle Reise! Denn die Knappheit der Lebensmittel, die Nothwendigkeit, dem Schauplatze der verheerenden Seuche so eilig wie möglich zu entfliehen, beschleunigte ausnahmsweise diesmal die sonst so langsamen Schritte der von Natur trägen Menschen in kaum glaublicher Weise. Unaufhaltsam drang der schwarze Zug vorwärts, und dies auf einem Erdreiche, das die Regenzeit buchstäblich in einen Sumpf verwandelt hatte. Die armen Sclaven, schlecht genährt und in Folge davon entkräftet, viele auch krank und den Keim der Seuche in sich tragend, waren einem solchen rasenden Vorwärtseilen nicht gewachsen. Aber wehe ihnen, wenn sie ihrer Müdigkeit nachgaben! Mochte die Schwäche ihre Schritte auch hemmen, mochten sie vor Erschöpfung am Wege niedersinken, unerbitterlich wurden sie aufgepeitscht. Weiter, immer weiter! Jeder Schritt vorwärts brachte sie ja dem Markte näher und erhöhte ihren Geldeswerth. Sanken viele auch vor Ermattung entseelt darnieder, der Preis der übrigen stieg nur um so mehr.

Man denke nicht, daß alle Sclavenkarawanen dieser gleichen. [521] Dieselbe unterscheidet sich vielmehr wesentlich von den gewöhnlichen, denjenigen zum Beispiel, welche von Bornu und anderen Märkten Innerafrikas sich der mittelmeerischen Küste zu bewegen. Schon der Umstand, daß bei diesen die Heimath der Sclaven schon fern liegt, daß ihr Entfliehen nicht mehr zu befürchten ist, stimmt die Besitzer milder. Die Reise geht in gemäßigterem Schritte vorwärts, mit welchem die Sclaven meist Stand zu halten vermögen. Auch ist die Sclaven-Waare, welche sich bereits in zweiter oder dritter Hand befindet, schon um ein Beträchtliches im Preise gestiegen (der Mensch kann wieder mit dem Pferde im Werthe wetteifern); ja, das Gelingen der Reise stellt eine Verdoppelung oder Verdreifachung des Preises in Aussicht. Was Wunder also, daß man einen Handelsgegenstand, der so viel Vortheil verspricht, mit größerer Schonung behandelt! Freilich bietet sich auf diesen Reisen ein anderes Hinderniß und für die Sclaven eine neue Gefahr; denn hier hat man ganze Strecken wasserloser Wüsten zu durchwandern. Man führt zwar Wasser in Menge mit sich; aber oft trocknet es der heiße Wüstenwind mitten in den Schläuchen aus. Nicht selten tritt Wassermangel ein, noch ehe man die Hälfte der trockenen Strecke zurückgelegt hat, so daß nach einer drei- oder viertägigen Wüstenfahrt das kostbare Naß nur noch höchst spärlich vertheilt wird, nach einer achttägigen aber kaum ein Tropfen den durstigen Kehlen mehr zugewandt werden kann. Und von welchem Durst sind diese gepeinigt! Vom Wüstendurst, dem selbst das in der Fähigkeit, das Wasser lange zu entbehren, Ungewöhnliches leistende Wüstenschiff, das Kamel, nicht selten erliegt, an dem der Mensch aber schon nach kürzester Zeit verschmachtet. Da sinkt denn nicht selten ein Sclave am Wege nieder. Nichts vermag ihn mehr zu beleben als Wasser. Aber es ist nicht mehr genug da, um es an einen Sclaven zu verschwenden; denn den allenfalls noch vorhandenen Rest brauchen die Herren selber. Er bleibt liegen. Niemand kümmert sich um ihn. Der Herr schreibt seinen Tod (dem er doch in den meisten Fällen bald erliegt) in’s Verlustbuch. Ein schlechtes Geschäft! Damit ist er vergessen. Seine Gebeine bleicht die Wüstensonne, und nach Jahren bezeichnen sie noch den Weg in dem Wirrwarr des Sandmeeres. Die Knochen der Karawanenopfer sind die sichersten Wegweiser der Wüste. Verschüttet sie auch in einem Jahre der Wüstenwind, ein Sturm deckt sie im andern wieder auf, und ihre Masse ist so groß und auf so weite Strecken vertheilt, daß ihrer hier und dort immer genug zu Tage liegen, um als schreckliche Denkzeichen uns die Gefahren der Wüstenreise und die Gräuel des Sclavenwesens zu verkünden.

„Unmenschlich!“ wird der Leser ausrufen. Leider habe ich aber noch viel Unmenschlicheres zu berichten; denn die Gräuel einer Wüstenkarawane sind ein Kinderspiel gegen Das, was unser Gewährsmann in Baghirmi sah. Hier leidet der Sclave zwar nicht vom Durst, eher vom Gegentheil, der Nässe. Das Land, so erschöpft es auch immer sein mag, bietet doch für einen einzelnen Menschen immerhin noch hinreichende Nahrung. Sinkt er am Wege nieder, so braucht er weder zu verdursten, noch zu verhungern. Doch ein viel schlimmerer Feind bedroht ihn, der Mensch. Sein unerbittlicher Herr gestattet nicht, daß die günstigen Bedingungen des Landes dem erschöpften Sclaven zu Gute kommen. Bringt ihn Entkräftung oder Krankheit zu Fall und hilft kein Aufpeitschen mehr, so werden zuerst grausame Drohungen versucht, um ihn zum Aufraffen seiner letzten Kräfte zu zwingen. Man hält ihm ein Schlachtmesser vor die Kehle, ihn mit Tödtung bedrohend. Man stachelt ihn auch wohl mit diesem gräulichen Sporne. Manchmal, das heißt, wo noch ein Rest von Kräften vorhanden ist, erreicht man durch dieses grausame Mittel auch wirklich seinen Zweck; denn, wie gesagt, die Neger hängen am Leben, und die Todesdrohung ist selbst den Unglücklichsten unter ihnen noch fürchterlich. Indeß oft vermag gar nichts, selbst die grausamste Züchtigung nicht mehr, den bis zum Sterben Erschöpften emporzurütteln. Dann liegt er da, schon halb eine Leiche. Aber in dem von der Ohnmacht umnebelten Hirne mag doch in einem lichten Augenblicke der Blitzstrahl der Freiheitshoffnung aufleuchten. Wie wenn man ihn am Wege liegen ließe, wie es ihm in Bezug auf die Marschunfähigen der Wüstenkarawanen erzählt worden ist? Könnte er in diesem Falle nicht durch Ruhe und Nahrung gesunden und wieder zu Kräften gelangen? Und dann – süßester aller Hoffnungsstrahlen! – die geliebte Heimath ist ja nicht so fern. Welche bittere Enttäuschung wartet des Unglücklichen! Sein Herr weiß sehr gut, welche glückliche Möglichkeit zur Flucht sich dem Erschöpften eröffnet, wenn er ihn am Wege liegen läßt. Indeß sein Eigennutz, verbunden mit unmenschlicher Grausamkeit, bestimmt ihn, diese Möglichkeit zu nichte zu machen. Wohl läßt er ihn am Wege liegen, aber nicht lebend. Kaltblütig zieht er sein Messer aus der Scheide und schlachtet ihn ab, zum grausigwarnenden Beispiele für seine anderen Sclaven, die möglicher Weise ähnliche Hoffnungen fassen und, ohne wirklich bis zum Tode erschöpft zu sein, Marschunfähigkeit heucheln könnten.

Es ist dies vielleicht die schwärzeste Nachtseite, welche jemals an dem dunkeln Bild des afrikanischen Sclavenhandels enthüllt worden ist. Nur in Brasilien und Westindien sollen in früheren Zeiten, wenn man den Berichten einzelner Reisenden Glauben schenken darf, ähnliche Grausamkeiten vorgekommen sein, und zwar wären diese, wie es heißt, von Europäern ausgeübt worden, wie denn der Europäer, wenn er ausartet, oft schlimmer ist, als der barbarischste Wilde. Diesen Europäern (denn sehr viele sogenannte amerikanische Sclavenhändler waren nicht Amerikaner, sondern Europäer) können sich also die Leute von Baghirmi würdig an die Seite stellen. Aber in Afrika selbst ist ein solch unmenschliches Verfahren sonst etwas Unerhörtes. Dr. Nachtigal, der viele Sclavenhändler in Bornu kannte, die gewohnt waren, von dort aus mit den oben beschriebenen Wüstenkarawanen nach Tripolis zu reisen, fand, daß die Erzählung seiner schrecklichen in Baghirmi gemachten Erfahrungen selbst bei diesen keineswegs sich durch Menschenliebe auszeichnenden Leuten Staunen und Entrüstung erweckte. Auch sie wollten anfangs nicht an die geschilderten Unmenschlichkeiten glauben. Als aber die Berichte vieler Augenzeugen keinen Zweifel mehr gestatteten, brachen sie in Verwünschungen über die Uebelthäter aus. Einer meinte: diese Leute entehrten das Handwerk; man müßte sich ja schämen, Sclavenhändler zu sein, wenn man solche Berufsgenossen sähe.

Sollte, so wird wohl der Leser fragen, denn diesem schändlichen Treiben, wie überhaupt dem ganzen Sclavenwesen nicht ein Ende zu machen sein? England hat ja in neuester Zeit wieder (durch Sir Bartle Frêre’s Mission) Bestrebungen zur Unterdrückung dieses Handels gemacht und sogar vom Sultan zu Zanzibar einen Vertrag erzwungen, wonach der Verkauf von Sclaven an der ostafrikanischen Küste eingestellt werden muß. Sollten die Folgen hiervon sich nicht auch in Inner-Afrika fühlbar machen? Leider können wir auf diese Fragen keine unbedingt tröstliche Antwort geben. Das Sclavenwesen ist eben eine inner-afrikanische Institution geworden. Aber die Unterdrückung des überseeischen Sclavenhandels (denn dieser ist es fast ausschließlich, auf dessen Aufhebung die Bestrebungen Englands bis heute gerichtet waren) hat ohne Zweifel einen großen Fortschritt gemacht, obgleich auch hier noch lange nicht so viel erreicht worden ist, wie uns einige rosig gefärbte Zeitungsberichte glauben machen wollen. (Ich brauche nur daran zu erinnern, daß trotz der schon sehr alten Verträge mit der Türkei, welche allen Sclavenhandel in den Staaten des Sultans verbieten, immer noch Neger in Constantinopel, Tripolis und andern Städten verkauft, ja sogar, o Ironie! auf englischen Dampfschiffen von Tripolis nach Constantinopel verschickt werden.) Indeß wäre es ungerecht, alle Folgen der Aufhebung des überseeischen Sclavenhandels auf die Verminderung des inner-afrikanischen zu leugnen. In der Nähe der Küsten werden sich diese Folgen recht bald geltend machen. Im Innern langsamer, ja wahrscheinlich anfangs in kaum merklicher Weise, aber doch vielleicht stetig, ausdauernd, wenn nur die Europäer nicht in ihrem Eifer erschlaffen. Einen Strahl der Hoffnung, daß gleichfalls jener Binnenhandel mit Sclaven einmal energisch unterdrückt werden könne, dürfen wir auch in der Aussicht erblicken, daß sich das Innere Afrika’s dem Europäer immer mehr erschließen wird. Sind aber diese Regionen einmal der Wissenschaft und dem Handel erschlossen, dann werden sich auch dort dem die Menschenrechte zur Geltung bringenden Einfluß europäischer Gesittung die Thore öffnen. Es wird freilich ein langsames Werk, ein Werk der Geduld und Aufopferung sein, aber wir brauchen nicht an seinem endlichen Gelingen zu verzweifeln. Unter diesem Werk verstehen wir die Ausrottung des inner-afrikanischen Sclavenhandels und die Abschaffung solcher Gräuel, wie wir sie in obigen Zeilen geschildert haben.


[522]

Der Wilddieb auf der Flucht.
Scene aus der Herman Schmid’schen Erzählung „Almenrausch und Edelweiß“, von L. Bechstein.

[523]

Leipzigs Industrien.
Nr. 1. Aetherische Oele und Essenzen.


Durch seine günstige Lage, fast im Mittelpunkt Deutschlands, durch den Unternehmungsgeist seiner Bewohner und deren altbewährte strenge Solidität ist Leipzig seit Jahrhunderten der Sitz eines blühenden Handels gewesen. Hat auch die Concentrirung des geschäftlichen Lebens in den weltberühmten Messen gegenwärtig unter den völlig veränderten Verhältnissen nicht mehr die Bedeutung wie zu der Zeit, wo noch nicht Tausende von Geschäftsreisenden die Consumenten besuchten, wo Eisenbahnen noch nicht den directen Verkehr von Producenten und Käufern so leicht machten, wie heutzutage, so hat doch der Handel unserer Stadt dadurch keine Einbuße erlitten, er ist von den Söhnen der Väter in gleichem Sinne gepflegt und hat, in immer größeren Bahnen sich entwickelnd, von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewonnen.

Wir wollen es versuchen, einige der interessantesten Industriezweige in ihren Werkstätten zu belauschen und zu schildern, und beginnen heute mit der Fabrikation der ätherischen Oele und Essenzen.

Unter dem gemeinsamen Namen der ätherischen Oele faßt man eine große Gruppe von verschiedenen Körpern zusammen, welche im Pflanzenreiche ungemein verbreitet vorkommen. Reich daran sind namentlich manche Blüthen, Früchte, Samen, Hölzer. Ihnen verdanken diese ihren eigenthümlichen Geruch, ihren Geschmack, zum Theil ihre Heilwirkung. So verschiedenartig der uns von den einzelnen Blumen und Früchten entgegenströmende Duft ist, eben so viele verschiedene ätherische Oele werden von den Pflanzen producirt. Und wie der Geruch der einen Pflanze durchdringend sein kann, während man den der andern kaum wahrnimmt, so liefert die eine Pflanze das ätherische Oel in großer Menge, während die andere kaum Spuren davon enthält. Sehen wir, wie die eine Pflanze ihren Wohlgeruch nur bei der Entfaltung ihrer Blüthe verbreitet, im Verwelken aber nichts mehr davon wahrnehmen läßt, während die andere selbst im getrockneten Zustande noch nach langer Zeit ihren Geruch unverändert erhält, so sind auch die den Geruch bedingenden ätherischen Oele zum Theil fast unveränderlich, zum Theil so leicht zersetzbar, daß ihre Abscheidung und Gewinnung außerordentlich schwierig oder ganz unmöglich ist. Den zarten Wohlgeruch der Rose können wir auf Flaschen ziehen, während den der stärker riechenden Hyacinthe noch Niemand in reiner Form gesehen hat.


In der Fabrik ätherischer Oele und Essenzen von Schimmel und Comp. in Leipzig.


Andere Pflanzentheile sind an sich geruchlos, und doch lassen sich aus ihnen ätherische Oele von intensiverem Geruch abscheiden. Sie enthalten gewisse geruch- und geschmacklose Substanzen, die erst einem Zersetzungsproceß unterliegen müssen, um in ätherisches Oel und andere Körper zerlegt zu werden. Wir erinnern an den fast geruchlosen Senfsamen, der das Senföl liefert, dessen scharfer Geruch die Augen bei bloßer Annäherung zu heftigstem Thränenerguß reizt.

So verschieden die Eigenschaften der ätherischen Oele sind, so ist doch ihre Gewinnung verhältnismäßig einfach und gleichartig. Es handelt sich dabei im Wesentlichen darum, bei den Oelen, welche fertig gebildet in den Pflanzen vorkommen, sie durch einen Destillationsproceß abzuscheiden, bei den anderen, welche erst der Zersetzung anderer Verbindungen ihre Entstehung verdanken, diese Bildung des Oeles auf richtige Weise zu leiten und dann ebenfalls das Oel durch Destillation zu gewinnen.

Nur der kleinere Theil der ätherischen Oele kann mit Vortheil an ein und demselben Fabrikationsorte hergestellt werden, theils weil die diese Oele liefernden Rohmaterialien im frischesten Zustande verarbeitet werden müssen, theils weil nur so geringe Mengen von Oelen in ihnen enthalten sind, daß die Kosten des weiten Transportes des Rohmaterials nicht dadurch aufgewogen werden würden. So verbleibt dem Orient, Kleinasien, der Türkei die Bereitung des köstlichsten aller Oele, des Rosenöls. Italien liefert uns das Oel der Orangenblüthe, der Citrone, der Pommeranze, der Bergamotte; Nordamerika und England das Pfefferminzöl; Ostindien und China das Gingergraß-, Cassia- und Lemongraßöl; Australien das Eukalyptusöl; die Insel Luzon das Ylang-Ylangöl aus den Blüthen der Unona odoratissima, welches in neuerer Zeit in der Kunst der Wohlgerüche so hoch geschätzt wird, daß sein Preis noch den des Rosenöls übertrifft. In den Weinlanden wird das echte Cognacöl producirt.

Es betheiligen sich daher fast alle Länder der Erde an diesem Industriezweige. Jedes liefert das Oel, für welches es durch seine klimatische Lage, durch die ihm eigenthümliche Vegetation der Pflanzen besonders qualificirt ist.

Man vermuthe aber nicht, daß diese Oele in der von uns besuchten Fabrik nicht zu finden seien. In den Vorrathsräumen der Fabrik von Schimmel und Comp., die wir hier als die größte der Leipziger besonders in’s Auge fassen, stehen in großen kupfernen Flaschen nebeneinander die Erzeugnisse Italiens, daneben in zinnernen viereckigen Gefäßen die Parfüms aus China, in Glasgefäßen von allen Formen und Farben die Producte aller Länder der Erde. Fast betäubt von vielem Geruche verläßt man diesen Raum, staunend über die Reichhaltigkeit eines Lagers, dessen Umfang und Größe wohl Jedem imponiren muß. Wir glauben keine Indiscretion zu begehen, wenn wir verrathen, daß der durchschnittliche Werth der nur in einem der Locale aufgespeicherten Schätze ein Capital von etwa 120,000 Thalern repräsentirt.

[524] Wenn dieses Lager gewissermaßen das auswärtige Amt des Geschäfts bildet, so verbleiben der eigenen Production doch eine Masse verschiedener Oele, aller solcher nämlich, deren Rohstoffe entweder bei uns heimisch sind, oder die doch so reich an Oel und so haltbar sind, daß sie weiten Transport vertragen. Die Speicher der Fabrik beherbergen in tausenden von Säcken und Ballen die Erzeugnisse des Bodens von Frankreich, Italien, England, Rußland, China, Ceylon, Ost-, und Westindien, Südamerika, aus denen unter anderen das Kümmel-, Fenchel-, Coriander-, Anis-, Calmus-, Angelica-, Baldrian-, Cardamom-, Camillen-, Ingber-, Linaloe-, Majoran-, Iris-, Macis-, Patchouli-, Petersilien-, Pfeffer-, Piment-, Rainfarrn-, Sadebaum-, Sandelholz-, Schafgarbe-, Sellerie-, Senf- und Wachholderbeer-Oel gewonnen wird.

Wir treten nun in die eigentlichen Fabrikationsräume ein und beschreiben, um nur ein Beispiel von vielen zu geben, die Herstellung des Sandelholzöles. Das Oel findet sich in dieser aus Westindien kommenden Holzart, ähnlich wie das Terpentinöl in unseren Tannen, fertig gebildet in eigenen Behältern in dem Gewebe des Holzes aufgespeichert. Diese Behälter sind, um ihnen das Oel entziehen zu können, zunächst zu öffnen. Es geschieht, indem die langen Holzscheite einer äußerst sinnreich construirten Hobelvorrichtung ausgesetzt werden, in welcher, durch Dampfkraft getrieben, eine Anzahl von geriffelten Messern mit einer Geschwindigkeit von 300 Touren pro Minute sich um ein gemeinsames Centrum bewegen. Das Holz, welches ein Arbeiter leise an diese Hobel drückt, wird davon ergriffen, und in kürzester Frist in feine, krause Spähne verwandelt.

So vorbereitet, kommt das Holz zur Destillation. Die dazu dienenden Apparate sind an der linken Seite unseres Bildes dargestellt. Eine geräumige kupferne Blase, rings von Mauerwerk umgeben, um die ihr zu ertheilende Wärme besser zusammenzuhalten, nimmt die Holzspähne auf; nachdem alle Verschlüsse hergestellt sind, wird Dampf in den Apparat gelassen. Dieser durchdringt alle Theile des Holzes, erwärmt es und führt dabei das flüchtig-ätherische Oel mit sich fort. Das Gemisch von Oel- und Wasserdampf gelangt in eine lange, vielfach gebogene Röhre, die ihrerseits wieder mit einer weiteren Röhre umgeben ist, in welche sich unten während der Destillation ununterbrochen ein Strom von kaltem Wasser ergießt, um das innere Rohr abzukühlen. Die in dieses eintretenden Dämpfe werden dadurch verdichtet und wir sehen kurz nach dem Zulassen des Dampfes in die Destillationsblase einen Strahl milchig getrübter Flüssigkeit aus dem Kühlrohre abfließen. Nach kürzerer oder längerer Zeit wird diese Flüssigkeit klar, ein Beweis, daß alles Oel aus dem Holze im Destillirapparat durch den Dampf verjagt und mit dem Wasser in die Vorlage geflossen ist.

Nun wird der Zutritt des Dampfes abgesperrt, ein Verschluß am untern Theile des Apparats geöffnet und das von Oel befreite Holz herausgenommen; es dient dann, wie andere Hobelspähne auch, zum Feueranmachen. Gleich darauf wird die Blase mit frischem Holz gefüllt, und die Destillation beginnt von Neuem, um ohne Unterbrechung vom Morgen bis zum Abend fortgesetzt zu werden. Zehn mächtige Retorten verarbeiteten bei einem unserer Besuche täglich ganze Berge von Sandelholzspähnen, während noch achtzehn andere ähnliche Apparate Samen und Kräuter der verschiedensten Art destillirten. Den nöthigen Dampf liefern zwei große Kessel in einer Menge von durchschnittlich vierzigtausend Cubikmeter pro Tag; an Kühlwasser werden zweihundert Cubikmeter verbraucht.

Sehen wir nun, was weiter aus der milchigen Flüssigkeit wird, welche aus dem Kühlapparate abfließt. Sie gelangt in eine Reihe von Apparaten, die die Chemiker als Florentiner Vorlagen bezeichnen, in welchen das leichtere Oel sich an der Oberfläche sammelt, während das Wasser abfließt. In die letzte dieser Vorlagen kommt nur noch ganz wenig Oel; das Wasser fließt fast klar ab. Aber es riecht noch, und wo noch Geruch ist, da ist auch noch Oel. Viele Fabriken nehmen auf dieses im Wasser gelöste und suspendirte Oel keine Rücksicht und lassen damit einen Theil ihres Profites in den nächsten Rinnstein laufen. In unserer Fabrik geht jedoch nichts verloren. Das Wasser kommt in einen besondern Destillirapparat, im Mittelgewölbe unserer Zeichnung, in welchen aber nicht, wie bei der Destillation des Holzes, der Dampf frei einströmt, sondern die große Retorte mit einem Dampfmantel umgiebt und ihren Inhalt von außen erwärmt. Der Heizdampf tritt mit einer Temperatur von hundertdreißig Grad Celsius in den Dampfmantel und bringt dadurch das Wasser rasch zum Sieden. Mit dem sich bildenden Wasserdampfe verflüchtigt sich das Oel. Das Dampfgemisch tritt in ein oberhalb der Destillirblase liegendes Kühlrohr und wird hier verdichtet. Am Ende des Kühlrohrs befindet sich wieder eine Florentiner Vorlage, in welcher das Oel sich vom Wasser trennt; das Wasser fließt aus derselben beständig in den Destillationsapparat zurück, das Oel in der Vorlage zurücklassend. Nach genügend langer Erhitzung kann dann endlich das nun fast geruchlose Wasser aus der Vorlage beseitigt werden. Acht solcher Apparate, deren Construction den Herren Schimmel u. Comp. patentirt ist, sind beständig zu gleichem Zwecke thätig.

Das so aus dem Holze und dem Wasser gewonnene Oel genügt aber in seiner Qualität unseren Fabrikanten noch nicht. Es enthält noch gewisse harzige und schleimige Bestandtheile. Um diese zu beseitigen, kommt es mit Wasser in einen Destillationsapparat von ganz gleicher Construction wie der, welcher zur Gewinnung der letzten Oeltheile aus dem Wasser dient, und fließt dann, von Neuem durch Dampfwärme destillirt, als fertiges Product in die Vorlage ab.

Auf ganz gleiche Weise, wie wir es hier für das Sandelholz beschrieben, werden Kümmel-, Anis-, Coriander- und alle die verschiedenen Samen behandelt, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie nicht wie das Holz gehobelt, sondern in eigens zu diesem Zwecke construirten und durch Dampfkraft getriebenen Maschinen zerquetscht werden.

Nicht ganz so einfach gestalten sich die Verhältnisse bei der Gewinnung der Oele, welche in den betreffenden Pflanzentheilen nicht fertig gebildet vorkommen. Zu diesen gehört das ätherische Oel der bitteren Mandeln und das Senföl. Wir wollen, um auch für diesen Zweig der Fabrication ein Beispiel zu geben, die Bereitung des Letzteren beschreiben. Der Samen des schwarzen Senfs enthält eine ganze Reihe von höchst interessanten Stoffen, von denen wir nur zwei für unsere Betrachtung wichtige hier namhaft machen wollen. Es ist die Myronsäure und das Myrosin. Letzteres ist einer von den im Pflanzen- wie im Thierkörper vielfach verbreiteten Stoffen, die sämmtlich durch eine gemeinschaftliche Eigenschaft charakterisirt sind. Sie besitzen die Fähigkeit, andere Stoffe bei Gegenwart von Wasser zu zersetzen, und verlieren diese Fähigkeit, sobald eine gewisse Temperaturgrenze überschritten wird.

Kommt dieses Myrosin in feuchtem Zustande, namentlich bei Erwärmung bis zur Blutwärme, mit Myronsäure zusammen, so wird letztere dadurch in Senföl verwandelt. Das Myrosin und die Myronsäure, jedes für sich, ist geruchlos, ohne ausgeprägten Geschmack; der beide Stoffe enthaltende schwarze Senf ist, nachdem er vollständig getrocknet, ganz geruchlos und würde, wenn wir trocken schmecken könnten, auch geschmacklos sein. Die geringste Menge von Feuchtigkeit genügt aber schon, um die eigenthümliche Wirkung des Myrosins auf die Myronsäure hervortreten zu lassen. Angefeuchtetes Senfmehl zeigt sofort den scharfen, stechenden Geruch des Senföls; die Feuchtigkeit der Zunge ist hinreichend, um das Myrosin zur Wirksamkeit gelangen und uns den Geschmack des Senföls wahrnehmen zu lassen. Andererseits läßt sich durch chemische Behandlung dem Senfsamen das Myrosin entziehen. Er liefert dann kein Senföl mehr; auf Zusatz des Myrosins entsteht sofort wieder Senföl. Dagegen verliert es seine Wirksamkeit, sobald man seine Lösung auch nur einen Augenblick gekocht hat. Ebenso liefert der Senfsamen kein riechendes Oel, wenn man ihn in kochend heißes Wasser wirft, oder wenn man heißen Wasserdampf auf den trockenen Samen wirken läßt, weil das Myrosin dadurch zerstört wird.

Außer diesen das Senföl liefernden Bestandtheilen kommt im Senfsamen noch eine reichliche Menge, etwa ein Fünftel seines Gewichts ausmachend, eines milden fetten Oeles vor. Dieses hat zwar auf die Bereitung des ätherischen Senföles keinen Einfluß, da aber in der Fabrik nichts Nutzenbringendes verloren geht, so ist auch dieses fette Oel Gegenstand der Production und deckt durch seine Gewinnung einen nicht unbeträchtlichen Theil der Unkosten.

In den Maschinensaal, in welchem die Kraft einer fünfundzwanzigpferdigen [525] Dampfmaschine zur Verwerthung kommt, eintretend, bemerken wir eine hölzerne, vom Speicher herabkommende Rinne, durch die der Senfsamen in ununterbrochenem Strome zwischen die Walzen des Quetschwerkes fließt, um von ihnen zu einer pulverigen Masse zerdrückt zu werden. Das Senfmehl wird in einen starken eisernen Cylinder in dünnen Lagen geschichtet, jede Schicht von der andern durch ein starkes Gewebe von Pferdehaar getrennt. Ist der Cylinder so gänzlich gefüllt, so bringt die Drehung eines Ventils die beiden Pumpen einer hydraulischen Presse in Thätigkeit. Der Boden des Cylinders hebt sich allmählich, preßt die Füllung gegen ein starkes Widerlager; das fette Oel fließt aus, dringt durch zahlreiche feine Oeffnungen der Cylinderwand und wird durch eine Rinne in einen Sammelbehälter geleitet. Allmählich zeigt das mit der Presse verbundene Manometer einen Druck von fünfhunderttausend Kilogrammen an. Der Abfluß des Oeles wird spärlicher; der Inhalt der Presse verbleibt noch während einiger Minuten unter diesem gewaltigen Drucke, bis alles Oel entfernt ist. Gleichzeitig dient die benachbarte hydraulische Presse dazu, um aus mit Spiritus extrahirten Kräutern die letzten Mengen von Tinctur herauszuquetschen, aus der der Liqueurfabrikant seinen Malakoff und ähnliche bittere und süße Stärkungsmittel bereitet.

Unsere Senfpresse ist mittlerweile durch einen besonderen Mechanismus entleert. Statt des Senfmehls, mit welchem sie gefüllt war, liefert sie dichte, feste, scheibenförmige Kuchen. Diese wandern in Mörser, deren Stößel schwere, durch die Dampfmaschine gehobene Stampfen sind, von denen nicht viele Schläge erforderlich sind, um die Kuchen wieder in Mehl zu verwandeln. Während dies geschieht, beobachten wir zwei Maschinen, deren Aufgabe es ist, Kräuter und Wurzeln, aus denen jene Tincturen gewonnen werden sollen, fein zu zerschneiden.

Das entölte Senfmehl kommt in den Destillationsraum. Hier wird es zunächst mit lauwarmem Wasser übergossen und sorgfältig mit demselben durchmischt. Sofort tritt das Myrosin in Wirkung. Der scharfe Geruch des Senfteiges giebt sich zu erkennen. Wenngleich sich momentan Senföl bildet, so ist doch zur Zersetzung der Gesammtmenge der Myronsäure eine gewisse Zeit erforderlich, die abgewartet werden muß, um die höchste Ausbeute an Oel zu gewinnen. Der scharfe Brei wird in eine eigens für seine Verarbeitung bestimmte Blase geschüttet und in derselben durch von außen wirkenden Dampf rasch zum Sieden erhitzt. Wie bei den anderen Oelen, so geht auch hier ein Gemisch von Wasser und ätherischem Oele über. Beide werden in röhrenförmigen Kühlapparaten verdichtet und in großen gläsernen Flaschen gesammelt. Nach beendigter Destillation bleibt die Sammelflasche ruhig stehen. Das Oel und das Wasser trennen sich in zwei gesonderten Schichten, von denen das Oel abgezogen wird. Eine zweite Destillation wird mit dem Senföle nicht vorgenommen. Es wird durch chemische Mittel getrocknet und ist dann für den Versand fertig. Berücksichtigt man, in wie kleinen Mengen ein so drastisch wirkendes Mittel, wie das Senföl, gebraucht wird – der Senfspiritus der Apotheken enthält nur ⅟₆₀ seines Gewichtes davon – so begreift man kaum den Consum für eine Fabrikation, die Jahr aus Jahr ein in drei eigens für diesen Zweck construirten Apparaten ununterbrochen betrieben wird, die zu Zeiten von Epidemien aber die Nachfrage kaum befriedigen kann. An Großartigkeit der Production kommt überhaupt wohl keine andere ähnliche Fabrik derjenigen der Herren Schimmel und Comp. gleich. Nach uns gemachten Mittheilungen beträgt die jährliche Erzeugung nur einiger von den zweiundsiebzig in dieser Fabrik dargestellten Oelen folgende Größen:

15000    Kilogramme    Kümmelöl,
2000 Fenchelöl,
750 Calmusöl,
500 Corianderöl,
500 Angelicaöl,
150 Baldrianöl,
1500 Sandelholzöl,
1000 Cedernholzöl,
300 Senföl,
120 Ingberöl,
1200 Wachholderbeeröl,
400 Copaiva-Balsamöl,
200 Linaloeöl.

Die Bedeutung dieser Zahlen wird verständlicher, wenn wir die Verwendung und Werthe einzelner der Oele anführen. Das Kümmelöl wird fast ausschließlich in der Liqueurfabrikation gebraucht. Die obige Menge genügt, um 60,000,000 Liter „Kümmel“ zu bereiten. Das billigste der Oele, das Cedernholzöl, hat einen Preis von zwei und einem halben Thaler pro Kilogramm, während das theuerste, das Irisöl, welches außer dieser von keiner anderen Fabrik in Deutschland hergestellt wird, mit achthundert Thalern pro Kilogramm bezahlt wird.

Außer mit der Herstellung dieser natürlichen ätherischen Oele beschäftigt sich die Fabrik auch mit der Bereitung einer Anzahl chemischer Verbindungen, die in neuerer Zeit im umfänglichsten Maßstabe zur Nachahmung von wohlriechenden oder wohlschmeckenden Stoffen hergestellt werden und in der Parfümerie, Liqueurfabrikation und Conditorei Verwendung finden. Es sind dies die sogenannten Essenzen, von denen wir nur die Mirbanessenz oder das künstliche Bittermandelöl, mit einer jährlichen Production von 30,000 Kilogramm, vorzugsweise zur Parfümirung der Mandelseife dienend, die Rum- und Cognacessenz, mit deren Hülfe Spiritus in „Jamaica-Rum“ oder „echten Cognac“ verwandelt wird, die verschiedenen Fruchtessenzen, zur Darstellung der Fruchtbonbons und anderen Confituren, erwähnen wollen. Wir würden uns zu weit in chemische Studien vertiefen müssen, wenn wir die Bereitung dieser Stoffe auch nur annähernd schildern wollten. Es sei demnach nur erwähnt, daß das Rohmaterial für das Bittermandelöl der Steinkohlentheer ist; die geistige Flüssigkeit, welche unter dem Namen Rum jetzt meist im Handel vorkommt, verdankt ihre Eigenschaft, als Grog genossen Kopfschmerzen zu erregen, einem Zusatz eines aus Stärkemehl, Braunstein, Schwefelsäure und Spiritus gezogenen Destillates. Die Essenz zu nicht weniger als 4,000,000 Liter Rum geht im Lauf des Jahres aus den Destillirapparaten der Fabrik hervor. Der Cognac ist nicht besseren Ursprungs; Kartoffelfuselöl und Cocosnußfett liefern sein Aroma. Der Wohlgeruch des Apfels, der Birne, der Ananas, der Erdbeere, der Kirsche und anderer Früchte wird ebenfalls durch verschiedene aus dem Kartoffelfuselöl abgeleitete Substanzen so täuschend nachgeahmt, daß Niemand mit Sicherheit zu sagen vermag, ob das Erdbeer- und Ananas-Eis, mit dem wir uns im Sommer erfrischen, auch nur eine Spur der Früchte enthält, oder ob sein Geruch und sein Geschmack aus der Fabrik von Schimmel u. Comp. stammen.

F. St.



Blätter und Blüthen.

Illustrationen zu Herman Schmid’s Werken. (Mit Abbildung, S. 522.) Ohne Zweifel werden sich unsere Leser noch der ihrer Zeit mit so vielem Beifall aufgenommenen Erzählung aus dem baierischen Hochgebirge „Almenrausch und Edelweiß“ von Herman Schmid erinnern. Das heute von uns gebrachte Bild von L. Bechstein, dem die Gartenlaube schon so manches treffliche Blatt verdankt, entnimmt seinen Stoff der genannten Erzählung, und wir theilen aus derselben die betreffende Stelle als erklärenden Text zu dem Bilde hier mit; es ist die bekannte Scene, wo die Schwärzer im Thale der Wimbach von den Jägern überrascht werden. Herman Schmid erzählt daselbst:

Eben wollte man sich, lautlos wie man gekommen war, trennen, als eine wilde Stimme gebieterisch von einer nahen Höhe herunter rief: „Halt, Ihr Kerls! Diesmal haben wir Euch – Keiner rührt sich von der Stelle, oder er wird niedergeschossen!“

Ein einziger Schrei antwortete dem Ruf. „Die Grünen!“ hieß es, und „Lichter aus!“ und im Augenblick war von den Schwärzern nichts mehr zu sehen; nichts war zu hören, als das Knacken der aufgezogenen Hähne an den Gewehren.

„Gebt Euch gutwillig!“ rief es wieder. „Legt die Stutzen nieder – Ihr seid umringt!“

Kein Wort wurde erwidert; als einzige Antwort knallte ein Stutzen nach der Richtung hin, von welcher das Rufen kam. Verdoppelt, verdreifacht kam der Knall von allen Seiten zurück, und eine überlegene Schaar von Jägern, Grenzwächtern und Gensd’armen stürzte rings auf die Ueberfallenen ein. Viele davon hatten sich im ersten Augenblick zerstreut und kletterten im Schutze der Nacht die Felsen hinan oder unter den Latschen dahin; die Zurückgebliebenen setzten sich mit dem Muthe der Verzweiflung und Todesverachtung zur Wehre. Jedem winkte noch die Möglichkeit des Entrinnens. Jedem schien ein rascher Tod wünschenswerther, als eine lange, schwer entehrende Strafe. Ein wildes, blutiges [526] Handgemenge entstand; der hing würgend an der Kehle des Andern; der hatte seinen Feind zu Boden gerungen und trachtete, ihm den Schädel an den schroffen Felskanten zu zerstoßen. Der Eine hob die losgeschossene, in der Nähe nicht mehr brauchbare Büchse, um mit dem Kolben niederzuschmettern. Ein Anderer hielt den Gegner um die Mitte und suchte ihn in das Flußbett der Wimbach hinabzuschleudern – dazwischen knallten die Stutzen den Fliehenden nach und von ihnen zurück; Geschrei der Kämpfenden mischte sich in den Wehruf der Verwundeten und Stürzenden, und der Wiederhall des Getöses rollte an den nächtlichen Felswänden des Gebirges dahin.

Die Schwärzer unterlagen zuletzt; sie waren in der Minderzahl und die Grenzwächter, denen der Anschlag verrathen gewesen, hatten ihre Vorkehrungen zu bestimmt und zu sicher getroffen. Alle Zugänge waren bewacht; es waren die Wenigsten, denen zu entrinnen gelungen war; die Meisten stöhnten verwundet, gebunden und geknebelt am Boden; die Angreifer hatten weniger gelitten; sie waren im Eifer über das Gelingen bemüht, zuerst den glücklichen Fang zu ordnen und zusammenzupacken; dann luden sie ihn den Gefangenen auf und begannen den Rückzug.

Auch Mentel war unter den Entronnenen. Als gewandter Jäger und wohlbekannt mit der Oertlichkeit, hatte er im raschen Laufe einen Felszacken erreicht, jenseits dessen ein kleines schmales Thälchen anging und sich eine Strecke weit an der östlichen Seite des Steinberges hinzog. Dort durfte er für den Augenblick einen sichern Versteck und bei Tagesgrauen einen nur Wenigen bekannten Ausweg hoffen, der in die Ramsau hinunterführte. Ein kühner Sprung mit eingesetztem Bergstock trug ihn in die Tiefe – – – – –

Und nun schildert der Verfasser weiter, wie der Wilderer den Abhang hinunterrutscht, erst langsam, dann unwillkürlich immer rascher, wie sich das Steingeröll loslöst und mit wildem Gepolter hinabkollert, den Fliehenden mit sich fortreißend, bis dieser endlich kopfüber, an Haupt und Händen blutend, in die Tiefe stürzt. Die Scene ist allerdings eine der grausigsten und effectvollsten des Romans. –

Uebrigens sind, wie wir bei dieser Gelegenheit erwähnen wollen, Herman Schmid bereits drei Anträge zur Dramatisirung seiner soeben in der Gartenlaube vollendeten Novelle: „Der Loder“ gemacht worden, gewiß ein neues Zeichen der wachsenden Beliebtheit dieses Autors.


Friedrich Hecker in Leipzig. Roth angestrichen im Erinnerungsbuche des Hauses „Zur Gartenlaube“ werden die drei Julitage des Jahres 1873 bleiben, wo Friedrich Hecker in Leipzig gewesen und als ein willkommener und herzlich begrüßter Gast unter dem Dache dieses Hauses geweilt hat. Außer den Bewohnern hatte sich hier um den alten Freiheitskämpfer, seinem Wunsche gemäß, nur ein kleiner Kreis von Befreundeten zu engerem Beisammensein geschaart. Der Kreis bestand aus Männern, die jetzt den verschiedensten Parteirichtungen des deutschen Liberalismus angehören. Sämmtlich aber empfanden sie in der Nähe des Gastes die volle Macht des fesselnden Zaubers, den nur ein ganzer Mann, ein harmonisch in sich gefesteter Charakter auf seine Umgebung zu üben vermag. Hecker’s Bedeutung liegt wohl zum großen Theile in diesem besonderen Eindrucke seiner Persönlichkeit, in dem überreichen Gemüths- und Geistesglanze, der aus der anspruchslosen Schlichtheit seiner Manier und seines Wesens strahlt. Man weiß, wie fortreißend einst schon seine äußere Erscheinung auf große Massen gewirkt hat. Begegnet man ihm freilich jetzt auf der Straße, ohne ihn zu kennen, so wird man ihn mit seinem ergrauten Schnurr- und Knebelbart bei flüchtigem Vorübergehen für einen hübschen alten Landwirth halten, der ehemals Officier gewesen ist.

Ganz anders jedoch bei längerem Gegenüber in traulichem Gespräch. Hier erst zeigt sich in der schönen Mischung von edler Ruhe und freier Beweglichkeit, in dem warmen Blicke des Auges, in den kraftvollen und doch feinen und geistdurchschimmerten Zügen dieses classisch geformten, noch immer von zartem Roth überhauchten Antlitzes, daß man es mit einem weit über das gewöhnliche Mittelmaß hinausragenden Menschenbilde zu thun hat. Wo Hecker sich wohl fühlt, da kann er unaufhörlich sprechen, ohne daß die Andern müde werden, ihn anzuhören. Niemals lehrhaft, sondern in meistens drastisch biderber, von anmuthigstem Scherz belebter Wendung verbreitet sich seine Rede mit überraschender Beschlagenheit und erstaunlicher Schärfe und Gedächtnißkraft über die verschiedensten Gebiete menschlichen Wissens und Forschens, unübertrefflich, wo er Erlebtes und Erfahrenes schildert, blitzartig in die Tiefe der Materie hineinleuchtend, wo er demonstrirt und erklärt. Man glaubt es ihm, wenn er erzählt, daß er niemals im Leben seine gelehrten und classischen Studien unterbrochen, daß er sie selbst noch fortgesetzt hat, als er ermüdet auf den Baumstämmen gesessen, die er zur Gründung seines Heim mit eigenen Händen im Walde ausgerodet, ja als er bei den Sauheerden gerastet, die er zur Erhaltung seines Hauses Hunderte von Meilen weit selber auf die Weideplätze treiben mußte. Diese Stürme und Strapazen des amerikanischen Waldlebens, sowie des späteren Bürgerkrieges, in dem er als tapferer Officier sich Wunden geholt, sind nicht spurlos an der Gestalt des Mannes vorübergegangen, aber es ist erquickend, zu sehen, daß sie die frisch quellende Ursprünglichkeit seines innersten Kerns nicht trüben, die unverwüstlich auf das Hohe gerichtete Idealität seines Wesens nicht brechen konnten.

Ob Hecker auch als ein ganzer Deutscher zu uns zurückgekehrt ist? Diese Frage wurde in der letzten Zeit sehr häufig aufgeworfen, und es ist das sehr erklärlich. Eine Nation fühlt in dieser Hinsicht nicht anders als eine Familie. Sie wünscht, daß ein theures, lange von ihr getrennt lebendes Glied ihr auch in der Ferne jenes unbedingte Zusammenhangsgefühl und mitempfindende Verständniß bewahrt haben möge, aus dem der Familiengeist seine Nahrung schöpft. Wir glauben aber, daß dieser berechtigte Wunsch nur in den selteneren Fällen und nur unter ganz besonderen Umständen sich erfüllen wird. Hecker hat beim Hereinbruche schwerer vaterländischer Verhängnisse als ein Verstimmter uns verlassen müssen. Was wir in den fünfundzwanzig Jahren seiner Abwesenheit durchlebt und erlitten und was wir seitdem in heißem Arbeiten und in schwerem Ringen erstritten haben, davon hat er in weiter Ferne wohl mit herzlicher Theilnahme gehört und gelesen, aber er hat es in allen Einzelheiten nicht selber mit uns erduldet, nicht selber mit uns durchlebt und erstrebt. Darin liegt ein großer Unterschied, den bei ohnedies starker Lockerung der äußeren Bande selbst die aufmerksamste Notiznahme nicht auszugleichen vermag. In jeder Faser seines Wesens, ja fast in jeder Wendung seiner Rede ist Hecker ein Deutscher geblieben, unverwischt trägt er in seiner Erscheinung das Gepräge unseres nationalen Geistesadels, er kann und will die Milch nicht verleugnen, mit der er genährt ist, nicht Fremdheit gegen das Blut affectiren, das in seinen eigenen Adern fließt. Aber eine so ganze Natur, wie er, läßt sich von außen her nicht einflößen, was sie nicht in ihrem Innersten erfahren, woran sie nicht mit ihrem Herzblut sich betheiligt, was sie nicht selber ergriffen und durchschüttelt hat. In seinem politischen Familiengefühle ist der einstmalige deutsche Volksmann ein Amerikaner geworden, nicht blos weil er vom Hause aus begeisterter Republikaner ist, sondern auch, weil seinem eigensten Erfahren und Erleben ein so gewaltig Stück deutscher Geschichte fehlt, wie es gerade das letzte Vierteljahrhundert mit seinen nichtswürdigen Zertretungen und glorreichen Wiedererhebungen unseres Volksgeistes gewesen ist. Darum kann er doch nicht so ganz die Größe des Umschwungs ermessen, der sich bei uns vollzogen hat, und darum kann er auch wohl nicht mit der vollen Wärme des Herzens die Größe des Weges bewundern, auf dem bisher dieser Umschwung durch Thaten des Geistes wie des Schwertes errungen wurde. Es mag uns das immerhin schmerzen, aber wir werden die Letzten sein, Hecker einen Vorwurf daraus zu machen, daß er nicht so lebendig mit uns empfindet, was er nicht gemeinsam mit uns erlebt und erarbeitet hat.

Was Hecker’s beredte, aus so reinem, so überzeugungstreuem und thatkräftigem Herzen strömende Mahnungen in Bezug auf die noch vorhandenen Mängel unserer politischen und bürgerlichen Freiheit betrifft, so kommen sie gerade im rechten Augenblicke und werden in Deutschland nicht spurlos verhallen. Nicht in jedem speciellen Punkte braucht man die auf anderem Boden erwachsenen Anschauungen des alten Volkstribunen zu theilen. Fest aber steht bei Allen, die ihn hier gesehen, daß Jeder von diesem Menschen Erfrischung und anregendste Erhebung empfangen, Jeder ihn bewundern und lieben muß, der einmal ein paar Stunden in seiner Nähe gewesen ist.


Eine grausige That. – Vor einigen Tagen ging in New-York ein elegant gekleideter Herr, ein hübsch angezogenes Kind im Arme tragend, nach dem bekannten French-Hotel. Das Kind, welches anscheinend krank war, wurde von ihm in ziemlich roher Weise auf die Treppe gesetzt und mit folgenden hartherzigen Ausdrücken ausgescholten:

„Geh’ die Treppe selbst hinauf. Ich trage Dich wenigstens nicht,“ worauf das Kind mit zarter, flehender Stimme zu bitten anfing:

„O, lieber Papa, thu’ es doch! Du weißt ja, daß, seitdem ich vom Wagen überfahren worden bin und meine Füße verloren habe, ich nicht mehr gehen kann.“

Bei diesen Worten sammelten sich viele Herren um die Gruppe und ein Murmeln des Mißfallens ging durch die Menge. Doch der hartherzige Vater schien nicht darauf zu achten:

„Unsinn!“ schrie er. „Gehst Du nicht sofort die Treppe hinauf, so schlage ich Dich braun und blau.“ Und gleichsam diesen Ausspruch bestätigend, schlug er das unglückliche Kind so stark auf den Kopf, daß es umfiel. Dies Benehmen reizte die Menge auf’s Aeußerste.

„Ist das Ihr Kind?“ fragte ein Herr.

„Was geht Sie das an?“ war die schnelle Antwort.

„Er ist mein Vater, er ist mein Vater,“ schrie nun das Kind; „er hat meine Mutter getödtet und wird auch mich noch tödten.“

Der Vater ballte in voller Wuth seine Faust und wollte dem armen Kinde wieder einen Schlag versetzen; doch wurde er glücklicher Weise von einem starken Herrn daran gehindert.

„Wenn Sie nicht sofort Ihr brutales und verdammungswürdiges Benehmen aufgeben,“ sagte er, „so werde ich Sie durch einen Polizeibeamten verhaften lassen.“

Durch diese Worte noch wüthender gemacht, riß sich der Vater mit gewaltiger Kraftanstrengung los und suchte nach einer Waffe.

„Er nimmt sein Messer; nimm Dich in Acht!“ schrie das Kind; „er sticht Euch.“

Bei diesen Worten stob die Menge auseinander; nur zwei Muthige behaupteten den Platz.

„Holt einen Polizeibeamten, verhaftet ihn!“ riefen sie.

„Wenn ich verhaftet werden soll, brüllte darauf der Vater, „so will ich doch wissen, weshalb.“

Und ehe auch nur einer der Herren es verhindern konnte, vergrub er mit voller Kraft das Messer in des Kindes Körper.

Ein unarticulirter Ruf „Ich bin ermordet, er hat mich ermordet“ war das letzte Lebenszeichen des unglücklichen Wesens.

Alle stürzten sich auf den Vater. Doch dieser nahm ganz gelassen sein Kind auf den Arm, und seinen Hut abziehend, sagte er: „Meine Herren, dies ist ein hölzernes Kind; ich bin Bauchredner, und sollten Sie mir eine kleine Gabe verabreichen, so würden Sie mich dadurch sehr erfreuen.“ Lächelnd und mit reicher Ernte zog er sich zurück.

„Das war ein ausgezeichneter Spaß,“ meinten die Umstehenden. „Etwas mager!“ erklärte ein Weiser. „Die Welt will betrogen werden.“
v. H.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in Bayreuth