Textdaten
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Autor: Herman Schmid
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Titel: Der Loder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22–31, S. 349–352, 367–370, 383–386, 399–404, 415–419, 431–435, 447–450, 479–484, 495–498
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[349]

Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid
1.

Es war so früh am Tage, daß es über den Wildkaiser hin eben grau zu werden begann; hie und da waren noch Sterne wie verglimmende Punkte sichtbar, und die Mondsichel stand hell in dem erbleichenden Nachthimmel; in den Wipfeln der Bäume, die den Lindhamerhof umgaben, zwitscherte der erste tagverkündende Laut eines Finkenmännchens, und aus den reifen Kornfeldern, die sich den Hügel hinunter zogen, tönte der leise Schlag einer Wachtel, die noch wie verschlafen den Gesang einzuüben schien, mit dem sie den Morgen zu begrüßen dachte. Auch in dem Hause selbst und in dessen Umgebung war es noch still und reglos – nur etwas seitwärts von dem Wohngebäude, am Fuße einer alten, aber in wunderbarer Frische prangenden Linde saß ein junger Bursche, der ein Stück Holz in der Hand hielt. Bald schnitzelte er emsig daran, bald starrte er vor sich hin, als ob er tief über seine Arbeit nachdenke, oder in derselben innehalte, um das Schauspiel des in aller Pracht aufsteigenden Sommermorgens zu betrachten.

Der Lindhamerhof war auch wie dazu auserwählt, eine Warte und ein Luginsland für die Ebene zu sein, die sich tief unter ihm zwischen der vielgewundenen grünen Mangfall und der braunen Glonn bis zum Bereich des Innstroms ausbreitet, fern umrahmt von den Felswällen des Gebirges von der Brecherspitze und dem Jägerkamm an bis zum Wendelstein und Kranzhorn und über die Kampenwand weg bis zu dem in blauem Dufte verschwimmenden Staufen. Der Hof lag auf einem breit vorspringenden, bequem ansteigenden, aber ansehnlichen Hügel, der, unten reich bewaldet, oben in eine schöne grüne Hochebene endete; es war erklärlich, wenn im Volke die Sage ging, auf der Höhe von Lindham habe zur Römerzeit ein Wartthurm, und in noch früheren Zeiten ein heidnischer Götzentempel gestanden, zu welchem die umwohnenden deutschen Urvölker von weit und breit herbeigekommen, um das große Jahresfest der Sonnenwende zu feiern. Dem Volke, das überall das Wunderbare sucht und liebt, war das wohl glaublich; wurde ja doch auch gar viel von der großen Schlacht erzählt, die in unvordenklicher Zeit unten in der Ebene geschlagen ward, welche zur Stunde noch das Mordfeld heißt und auf welcher jedes Jahr Pflug, und Grabscheit fremde Münzen, wunderlich geformte Waffen und Geschirrtrümmer und Menschengebein von ungewöhnlicher Größe zu Tage fördert. Auch dadurch ward die Sage unterstützt, daß unfern des Wohnhauses, kaum eine Schußweite hinter demselben ein Hain von etwa zwanzig Lindenbäumen stand, wie sie in solcher Größe, Anzahl und Schönheit von ähnlichem Alter nirgends in der ganzen Gegend anzutreffen waren. Die Bäume standen, als wären sie von kunstvoller Hand geordnet worden, um als Riesensäulen des natürlichen Domes zu dienen, der wie eine Kuppel sich aus den ineinanderstrebenden Zweigen und Kronen wölbte. In der Mitte des Haines an einer kleinen Erhöhung brach eine mächtige Quelle frisch und klar aus dem Boden und strömte in anmuthigen Windungen unter den Bäumen fort, durch den Rasen der Hochebene und an dem Hause vorüber. Auch diese Quelle spielte in der Sage ihre Rolle, denn an ihrem Ursprunge sollte der Altar des Götzentempels gestanden sein; jetzt war von Tempel und Altar keine Spur mehr zu erblicken, aber die Quelle war noch immer der Segen und das Kleinod des Hofes, von dem dessen Bestehen und Gedeihen abhing.

Der Lindhamerhof war nämlich nicht nur durch die Schönheit und Höhe seiner Lage ausgezeichnet, sondern auch durch die höchst eigenthümliche Beschaffenheit des Bodens, auf dem er erbaut war. Obwohl nämlich der Hügel, wie an seinem Fuße hie und da unter Wald und Gebüsch zu Tage trat, eine Unterlage aus sandsteinartigen Felsen hatte, bestand die ganze Anhöhe und Abdachung nach allen Seiten hin aus reinem Lehm und nur aus Lehm, so daß das Erscheinen oder Auffinden eines Steines zu den größten Seltenheiten gehörte und Alles, was man von solch festen Stoffen bedurfte, mühsam von unten heraufgebracht werden mußte. Auch fehlte in demselben alles Wasser, und die Lindenquelle war es allein, welcher Wiesen, Aecker und Bäume des Hochfeldes ihr Dasein verdankten. Aber auch über ihr waltete ein eigenthümliches Schicksal, denn nachdem sie ihren Lauf am Gehöfte vorüber beendet hatte, verschwand sie plötzlich in einer unansehnlichen Erdspalte, ohne irgendwo wieder zum Vorschein zu kommen. Diese Eigenthümlichkeiten hatten schon manchen kundigen Mann der Umgegend beschäftigt; man wußte sich das Entstehen eines so mächtigen, vereinzelten und von der Bodenbildung der Umgegend so völlig verschiedenen Lehmkegels nur dadurch zu erklären, daß in den ersten Zeiten der Erde zwei Strömungen einander begegneten und im langen wütenden Kampfe diese Scheidewand zwischen sich aufwirbelten und aufthürmten. Das Volk kümmerte sich um solche gelehrte Erörterungen nicht; ihm war es genug sich zu erzählen, daß der letzte Götzenpriester, als er gezwungen gewesen, den Tempel zu verlassen, den Bann über die Quelle ausgesprochen, Jedem solle [350] ein Unheil widerfahren, der sich an ihr versündige und aus ihr anders als mit reinen Händen schöpfe. Die Bewohner des Hofes hüteten sich daher wohl, ohne Geschirr zu schöpfen oder zu trinken, und seit Jahrzehnten war für Fremde, die etwa auf dem Fußpfade vorüberkommen und in der Kühle des Lindenschattens nach einem frischen Trunk verlangen mochten, ein kleiner Holzbecher an einem Kettlein im Boden festgemacht; war es doch einmal geschehen, daß ein Wanderer, der ermüdet und durstig mit der Hand aus der Quelle getrunken, todt am Rande derselben liegen geblieben war. Vermutlich war der Mann erhitzt gewesen und der rasche Genuß des eisig kalten Wassers war ihm tödtlich geworden; der allgemeine Glaube der Umgebung aber war und blieb, der Bann des Götzenpriesters habe ihn getödtet. Auch von dem Lehmgrunde erzählte sich das Volk und witzelte über den Reichthum des Besitzers, der zu den Bauernfürsten der Gegend gehörte: „der Lindhamer von Lindham sei zwar nicht steinreich, aber er habe den Teig, aus dem man Ducaten drehe.“

Der Lindhamerhof selbst war so seltener äußerer Umgebung und innern Eigenthümlichkeiten vollkommen entsprechend: das Wohnhaus zeigte sich als ein behäbig stattliches Gebäude nach Art und Brauch, wie sie in der Gegend von alter Zeit herkömmlich gewesen – alt und fest trug der Bau das Gepräge der Zeit, in der er entstanden war, ganz und unverändert und nur mit kleinen Ausbesserungen an sich, die allmählich im Laufe der Jahre nothwendig geworden waren. Die gegen Aufgang und Mittag gewendete Giebelseite erhob sich auf der breiten gemauerten Gräd, welche sich auch an den beiden Langseiten hinzog und, gedeckt von der rings um den ersten Stock laufenden Laube oder Altane, einen trocknen Umgang um das ganze Haus bildete. Zu beiden Seiten der Stufen, die vom Wiesplatz zu der Gräd hinauf führten, waren Sitzbänke mit Tischen anbracht, die mit Ringeln an der Wand ausgeschlagen und herabgelassen werden konnten, wenn Wind und Wetter einen Sitz im Freien erwünscht erscheinen ließen; zwischen denselben führte die Hausthür in das breite Fletz, die Hausflur, in deren Ecke rechts der große eichene Gesindetisch seine mächtigen vier Beine ausspreizete, während zu beiden Seiten Thüren in die Wohnstube und die Schlafkammer führten. Im Hintergrunde loderte dem Eintretenden das gastliche Feuer vom Küchenherde entgegen; nebenan führte eine Treppe in’s obere Stockwerk und hinter derselben aus halbangelehnter Thür tönte das Rasseln, Blöken und Schnauben, das die Nähe des Kuhstalles verräth. Das ganze Haus, im Erdgeschosse gemauert, in den übrigen Theilen aus schönem wurmfreien Lärchenholz gezimmert, machte einen ungemein wohnlichen, zur Einkehr ladenden Eindruck – von dem weißen Bewurfe des Mauerwerks hoben sich kräftig die braunroth angestrichenen Thürstöcke und Fensterläden ab, deren jeder wieder mit einem weißen Andreaskreuz verziert war; das von Alter und Wetter gebräunte Holzwerk bildete einen freundlichen Abschluß, hie und da an den Eckpfeilern oder am Gitterwerk der Laube mit dem Grün saftiger Hauswurz oder eines Nelkenbusches geschmückt, dessen rothe Blumen wie Feuertropfen daran herniederhingen. Ueber der großen Laube unter der spitzzulaufenden Dachschräge befand sich noch eine kleinere, welche zum Speicher und allerlei Vorrathskammern führte; der Giebel selbst war mit breiten braun und weiß bemalten Balken abgeschlossen, die sich in der Kreuzung in zwei Pferdeköpfe ausluden – ebenfalls ein Ueberbleibsel jener Tage, da noch den Heidengötzen Pferde geopfert und deren Köpfe zu Zier und Andenken auf den First des Hauses befestigt worden waren. Jetzt war zwischen ihnen das Zeichen des Kreuzes aufgerichtet, wie es, am Dreikönigstag mit Kreide angeschrieben, am Thürgerüst und auf dem gedruckten Haussegen prangte, der an der Thür selber angeheftet war, wie ein Schild alles Böse und alles Nidingswerk abzuwehren, das sich der Schwelle nahen möchte. Stall und Scheune, die sich in ansehnlichen Nebengebäuden nach rückwärts anschlossen, waren von einem weiten Grasanger umgeben, auf dem Obstbäume standen, die in dem Lehmboden in weit und breit beneideter Schönheit und Fruchtbarkeit gediehen. Die Linde, unter welcher der junge Bursche saß, stand einzeln seitwärts, wie ein von dem Lindenhaine zu Wacht und Spähe vorgeschobener Posten.

Der Bursche war eine ebenso männlich kräftige als jugendlich frische Erscheinung, schlank und gelenk von Gestalt, mit offenen angenehmen Zügen und einem Paar nußbrauner Augen, aus denen Heiterkeit und Frohsinn leuchteten; daß er raschen Sinns und beweglichen Gemüths war, ließ das gleichfarbige Kraushaar errathen, das in kurzen Ringellocken Nacken und Stirn umgab; auch daß er den kleinen Schnurrbart über dem etwas trotzigen Munde zu beiden Seiten in Spitzen aufgedreht trug, deutete auf die Gewohnheit hin, Alles im Leben, Scherz und Ernst, Arbeit und Vergnügen, scharf und schneidig aufzufassen. Saß auch über und in den Augen etwas von nachdenklichem Ernst, so trat es doch zurück über dem Ausdruck heiterer Leichtlebigkeit, die, nahezu an Leichtsinn streifend, als Grundzug seines Wesens zu erkennen war und wohl Jeden beim ersten Anblick für ihn gewann, wie er Jedem vergnügt, freundlich und leicht gewonnen entgegenblickte.

Er hatte einige Augenblicke an seiner Schnitzerei fortgearbeitet und dann dieselbe prüfend und betrachtend nach allen Seiten gewendet – jetzt blickte er auf, denn der Morgen war mit jedem Athemzuge höher und lichter heraufgekommen; der Wachtelschlag schmetterte jetzt laut und voll und hatte bereits die Lerche geweckt, daß sie, hellauf trillernd, mit kurzen Flügelschlägen in den Aether aufstieg, durch den jetzt ein rosiger Schimmer floß und sich an den Berghäuptern brach; unten aber, über der Ebene und an den noch angeschienenen Seiten der Berge hin zog einen Augenblick ein dunklerer Farbenton, kalt wie ein letzter Schatten der weichenden Nacht. Am Hausfirste wachten die Schwalben auf und begannen zu schwätzen und raschen Flugs durcheinander zu schießen; es war die junge Sommerbrut, der es galt, die Schwingen für die große Herbstwanderung zu üben und zu stärken. Jetzt zuckte es über dem abenteuerlichen Zackenhaupte des Heubergs empor wie Blitzfeuer und lodernde Glut; jetzt tauchte der Sonnenball vollends über die Schrofen herauf, und nun rollte und wallte der Lichtstrom blendend und überwältigend über Thal und Höhen; stärker schlug die Wachtel; jubelnd trillerte die Lerche; aus den fernen Kirchdörfern schwebte, vom Morgenwinde getragen, das halbverwehte erste Gebetläuten herauf. Während zuvor Alles reglos und in atemloser Erwartung gelauscht, hatte mit dem ersten Lichtstrahl sich ein frischer kühler Lufthauch aufgemacht, um als Flügelbote des Tages die Saaten und Grashalme zu beugen und in den Baumkronen zu rauschen.

Der Bursche hatte Holz und Messer auf die Bank gelegt, welche rund um den Lindenstamm lief; die Hände um die Kniee geschlungen, saß er vorgebeugt, wie betend, da und sah mitfeiernd in die Feier des werdenden Tages hinaus; stärker ging über ihm der Luftstrom durch die brausende Linde und vom Hause kam gleich einer Antwort ein tiefer mächtig anschwellender Ton, melodisch und feierlich, wie der Klang einer Orgel.

Zu gleicher Zeit war auch die Thür des Wohnhauses aufgegangen und ein Mädchen herausgetreten, das, wie von dem Anblick und den erhebenden Klängen überrascht, einen Augenblick in die Morgenpracht hinausschaute, dann aber daran ging, die Fensterläden zu öffnen und zu befestigen; es war eine mühlos einförmige Beschäftigung, und doch verrichtete sie dieselbe mit einer ruhigen Anmuth und sicheren Leichtigkeit, welche sogleich erkennen ließen, daß es eine wohl besonnene, mit sich selbst klare Seele sein mußte, die in der feinen geschmeidigen Gestalt hauste und aus den angenehmen Gesichtszügen sprach. Das Mädchen war nicht auffallend schön zu nennen, aber Alles an ihr war regelmäßig und stimmte so wohl zusammen, daß die ganze Erscheinung wohlthuend und harmonisch wirkte. Aus den dunklen Augen sprach Wohlwollen und Herzensgüte; in das schwache Lächeln aber, das um die feinen schmalen Lippen schwebte, war ein Zug zurückgehaltener Wehmuth gemischt und in den Mundwinkeln saß etwas, was sich sogar wie Verbitterung und Trotz ansah. Das Mädchen trug die einfache Bauerntracht der Gegend, dunkles Mieder und dunklen Faltenrock, über diesen war eine weiße Schürze gebunden, über jenes ein leicht geschlungenes blaues Seidentuch geknüpft; über dem Mieder und unter dem Tuche schloß sich das Hemd um den Hals und bauschte sich an den Schultern in kurzen Aermeln auf, die den geschmeidigen wohlgeformten Arm bloß ließen – es war Alles vollkommen schlicht und einfach und doch machte es durch Reinlichkeit und Genauigkeit den Eindruck, als habe die Trägerin eben begonnen, sich zu einem Feste zu schmücken. Das Einzige, worauf sichtlich [351] besondere Sorgfalt verwendet worden, war das in reiche breite Zöpfe um Kopf und Stirn geschlungene Haar – es war wohl verzeihlich, wenn die Trägerin sich etwas darauf zu gute that, denn die Flechten desselben mochten sowohl in ihrem blauschwarzen Glanze, als in der Fülle und Weichheit nicht viele ihres Gleichen haben.

Sie war eben mit ihrer Arbeit fertig geworden und wollte sie an der andern Seite des Hauses fortsetzen, als sie an der Ecke ankam und den gegenüber sitzenden Burschen erblickte – eine leichte Bewegung flog anmuthig über das holde Gesicht und machte den herben Zug um den Mund auf einen Augenblick völlig verschwinden. Sie lehnte sich mit dem Arm an den Pfosten, der die vorspringende Laube trug, und sah mit unverkennbarem Wohlgefallen dem Burschen zu, der eben wieder seine Beschäftigung aufnahm. Sie hatte es auf den halbgeöffneten kirschroten Lippen sitzen, ihm einen neckenden Morgengruß zuzurufen, aber sie hielt ihn zurück, weil aus der Hintertüre des Hauses die Ehhalten des Hofes heraustraten, eine ansehnliche Schaar von Burschen und Dirnen, die nach einander die Sensen von der Tennenwand, wo sie an Pflöcken aufgehangen waren, herunter holten und unter Zuruf, Gelächter und beginnendem Gesange an den Linden hin den Fußpfad zur Hügelbreite einschlugen, wo ein kaum absehbares Roggenfeld mit hohen goldbraunen Aehren schnittreif der Ernte harrte.

Der Bursche schien weder das Kommen noch das Gehen der Schnitter zu beachten; sein Sitz war wohl auch zu weit entfernt, als daß er deren Gespräche hätte vernehmen können; das Mädchen dagegen ging aus der Gräd näher zu ihnen hin, weniger um zu hören, was sie schwatzten und sangen, als weil sie in der beobachtenden Stellung, die sie eingenommen, nicht gesehen sein wollte.

Eine der Mägde brach, als sie, ihre Sense herunterholend, gegen das Hausdach emporsah, in lautes Gelächter aus und deutete nach dem First, auf welchem sich ein eigenthümliches Spielwerk, vom frischen Ostwinde gefaßt schnurrend um sich selber drehte – es war eine stattliche Windfahne, die ihren Dienst trefflich verrichtete, aber um sie her waren kleine, vollkommen kenntliche Figuren angebracht, ein fliehender Hirsch, ein ihn verfolgender Hund und ein berittener Jäger, die wirklich hinter einander her zu treiben schienen und dadurch einen lustigen Eindruck hervorbrachten. „Da schaut hinauf,“ rief die Dirne, „was auf dem Lindhamerhof über Nacht für ein g’spaßiges Windfahne gewachsen ist! Wie muß denn das hinauf ’kommen sein?“

„Das ist eine Frag’, so dumm wie Du selber!“ erwiderte mürrisch ein alter Knecht, indem er kaum einen halben Seitenblick nach der Windfahne machte. „Von selber ist’s nit hinaufgeflogen; es muß es Einer hinaufgesteckt haben, und wer das ist, kann man auch leicht errathen – man weiß ja, wer solche Narreteien treibt auf dem Lindhamerhof …“

„Aha, bist wieder einmal mit’n linken Fuß aus’m Bett gestiegen, Brunnensepp!“ sagte die Magd lachend. „Hätt’st ein Apotheker werden sollen, wenn Du jedes Wort auf die Goldwag’ legen willst, und wenn ich dumm bin, so bist Du auch noch kein Doctor worden und Deine Grantigkeit ist doch nichts Anderes, als der Zorn, daß Dir nichts Solches einfallt … Der Wolferl freilich, der weiß jeden Tag was Anderes – erst vorgestern hat er die neuen geschnitzten Staarenhäuseln aufgestellt, von denen eins wie ein Geschloß, das andere wie eine Almhütten ausschaut, und heut hat er schon wieder was Neu’s und was Lustiges ausg’studirt!“

„Das ist schon eine Kunst auch!“ erwiderte der Knecht grämlich. „Wenn Einer den Herrn spielen und feiern kann, wann er mag, dem kann leicht solche Narretei einfallen – es thät’ ihm schon vergehn, wenn er den ganzen Tag arbeiten müßt’, wie unser Einer. Natürlich auch, warum sollte denn nit so sein – ist ja alleweil so der Brauch gewesen, daß sich Zehne schinden müssen, damit Einer faullenzen kann.“ Er brach in ein erbittertes Gelächter aus und wußte seinem Unmuthe nur durch ein Schnaderhüpfl Luft zu machen, das er mit rauhem höhnenden Tone vor sich hin sang. Es lautete:

„Sagt zum Zeiserl der Stier:
Mein, Du singst leicht dahi’,
Du darfst nix was fludern (als flattern),
Aber zieg’n (ziehen) muß i!“

Die Magd war aber wegen des Trutzgesangs nicht verlegen und sang im Fortschreiten rasch hinwieder.

„Und zum Stier sagt das Zeiserl:
‚Mach’ keine Faxen!
Wenn Dich ’s Ziegen (Ziehen) verdrießt,
Laß Dir Flügel wachsen!“

Die Anderen lachten laut auf, weil dem Griesgram so heimgegeben worden, und noch von fern, als der Zug schon hinter den Linden verschwunden war, schallten die fröhlichen Stimmen herüber.

Das Mädchen war wieder an ihren vorigen Platz zurückgekehrt und verweilte dort wie unschlüssig, ob sie in’s Haus zurückkehren oder dem ganz in seiner Arbeit vertieften Burschen ihre Anwesenheit bemerklich machen sollte. Zu Ersterem trieb sie ein leiser Verdruß, daß er ihrer gar nicht gewahr wurde oder sich so anstellte, denn sie hatte sich zuletzt nicht mehr gescheut, so laut zu werden, daß er sie wohl hören mußte – für das Letztere sprach eine Regung in ihr, über die sie sich selbst nicht klar war, ein Wunsch, ihn zu sehen und zu sprechen, denn es war ihr, als habe sie ihm Vieles und höchst Wichtiges zu sagen. Diese Erwägungen gewannen endlich die Oberhand; sie blieb an dem Geländer der Gräd stehen, lehnte sich mit gebeugten Armen darauf und rief dem Burschen mit lauter und doch nicht ganz unbeklommener Stimme einen Guten Morgen zu.

„Auch so viel!“ erwiderte er flüchtig aufblickend und in gleichgültigem Tone.

„Bist schon so früh aus den Federn, Wolf?“ fragte sie wie zuvor, und in gleicher Weise entgegnete er:

„Wie Du siehst – hältst mich für eine Schlafhauben, Th’res?“

„Mein, wer Dich für eine Schlafhauben kauft, der giebt sein Geld umsonst aus,“ sagte sie lachend; „ich wunder’ mich nur das Meist, daß Du noch da bist!“

„Wo sollt’ ich sonst sein?“

„Wie Du fragst! Ist ja schon Alles draußen im Feld beim Kornschneiden …“

„Aha, blast der Wind daher?“ rief Wolf, indem er sein Messer zuklappte, das Holz, an dem er geschnitzt, in die Tasche steckte und zu dem Mädchen mit einem Blicke emporsah, in dem sich Stolz und Gleichgültigkeit die Wage hielten. „Du meinst, wo die andern Knecht’ sind, da gehöre ich auch hin!“

„Wie Du so daher reden kannst wie ein Mann ohne Kopf!“ entgegnete sie rasch. „Aber Du bist der Sohn vom Haus, der Aelteste, der einmal der Herr wird auf dem Lindhamerhofe, und der sollt’ überall dabei und vorn dran sein …“

„Ho,“ rief er lustig lachend und richtete sich in seiner ganzen Höhe auf, „das Kornschneiden bringen sie auch ohne mich zuweg’.“

„Aber sie sollten nicht,“ eiferte Th’res. „Die Leut’ verdenken Dir’s und reden drüber.“

„Laß sie reden und denken, was sie mögen!“ sagte er kaltblütig und trat vor das Geländer, daß sie übergebeugt zu ihm heruntersah. „Was frag ich nach dem Gered’ von all den Leuten, die sich um ungelegte Eier kümmern und blasen, was sie nicht brennt!“

Th’res errötete bis unter die Zöpfe über der Stirn. Wolf that, als ob er es nicht gewahrte, und fuhr noch anzüglicher fort: „Wenn Jeder vor seiner Thür kehren thät’, wär's bald überall sauber, mein’ ich. Warum soll ich mir einreden lassen? Ich red’ auch Niemandem was ein – ich hab’ was Besseres zu thun.“

Unwillkürlich sah das Mädchen nach dem First empor, wo, von einem raschen Windstoße gefaßt, Hirsch, Hund und Jäger im Kreise um die Windfahne schnurrten – so flüchtig der Blick, war er Wolf’s scharfem Auge doch nicht entgangen, und nun war die Reihe der anzeigenden Zornröte an ihm. „Ho,“ rief er ärgerlich, „schau’ nur hinauf nach der Windfahne und den Staarenhäuseln … was frag’ ich danach! Ich weiß so gut wie Alle, daß das nichts ist als eine bloße Baßlerei, die Niemand nichts nutzt; aber sie schad’t auch keinem Menschen, und wem’s zuwider ist, der soll nicht hinaufschauen oder was Gescheiteres machen.“

Er hätte noch mehr gesagt; aber der Luftzug, der die Windfahne gedreht hatte, machte auch die Saiten der Windharfe [352] schwingen – sie erklang wie ein tiefer, lange ausgehaltener Grundton, auf welchen dann ein vielstimmiger Accord bald zugleich, bald gebrochen in wechselnde Tonleitern majestätisch einsetzte. Th’res horchte hoch auf; ein schönes Licht brach aus ihren Augen, und sie winkte Wolf ab, um ungestört lauschen zu können.

„Sei nit harb, Wolf!“ sagte sie dann, als die Harfe in zitterndem Gesäusel ausklang. „Ich mein’s ja gut, was ich sag’, und ich sag’s auch nicht für mich und von mir, sondern einzig und allein für Dich selbst und wegen der andern Leut’. Ich thät’ Dich nit schänden – mir hast Du schon das Herz eingefüllt mit der Windorgel, die so lieblich geht, daß man glaubt, man ist in der Kirchen – aber Du solltest es doch bedenken, schon dem Bauern, Deinem Vater, zu lieb … Du weißt, er kann’s nit leiden, wenn Du Dich von der Bauernarbeit so wegschraubst … Du solltest doch auch zum Kornschneiden hinausgehen. Der Vater wird bald herunterkommen; wenn er Dich noch daheim und bei Deiner Baßlerei findet, nachher wird er wieder zornig; er ist ja eh’ gleich in der Höh’ … nachher giebt’s Verdruß, und den kann ich nit leiden …“

Wolf sah ihr, als sie geendet hatte, einen Augenblick schweigend in’s Gesicht; er begegnete ihrem freundlich bittenden Auge und schien unschlüssig, wie er ihr erwidern sollte; aber er drückte die gemüthliche Wallung nieder, die in ihm aufzusteigen begann, und sagte scharf und spöttisch, wie zuvor: „Ja, ja, es hat halt ein Jedes was, das ihm zuwider ist, der Vater und Du und ich auch. Weil Du gar so gut zureden kannst, muß ich halt gehen, aber nit dahin, wo Ihr’s haben wollt, sondern wohin es mich freut. Verstanden? Und wenn Du wissen willst für ein anderes Mal, was mir zuwider ist, so will ich Dir’s sagen … Wenn mir Eins einred’t und eine Lehr’ geben will, als wenn’s ein Schulmeister wär’ und ich ein kleiner Schulbub’ – das kann ich nit leiden.“

Die Stufen der Gräd hinanschreitend, war er rasch im Hause verschwunden und ließ das Mädchen in sehr gekränkter Stimmung zurück; es that ihr bitter leid, daß sie bei dem besten Willen wieder den Ton nicht getroffen hatte, der zum Herzen des Burschen sprechen sollte. Es war ihr altes Unglück – ohne sich einer wärmeren Neigung zu ihm bewußt zu sein, war sie doch seit Jahren bestrebt, ihm zu Gefallen zu leben und zu thun, was sie ihm nur an den Augen absehen konnte, aber sie erreichte nichts damit; er schien ihre Bemühungen gar nicht zu bemerken oder nahm sie als etwas hin, was sich dem Sohne des Hauses gegenüber, der einst dessen Herr werden sollte, von selbst verstand. Ein unsäglich bitteres Gefühl zuckte ihr durch die Seele; sie fragte und erforschte sich selbst, womit sie denn eigentlich gefehlt habe und ob es denn sein Ernst sein könne, ihre freundliche Besorgniß mit so übermüthigem Hohne zu vergelten, und bebte erschreckend zusammen, als sie nach wenigen Augenblicken Schritte über das Fletz zur Thür kommen hörte. Wenn es ihn reute! Wenn er zurückkäme! Sie that nun ebenfalls, als bemerke sie nichts und sei ganz in die Betrachtung der herrlichen Morgenlandschaft versunken. Der Kommende hielt jetzt offenbar seinen Schritt an; er kam auf den Zehen näher, sie fühlte seine Nähe hinter sich und glaubte seinen Athem zu spüren … war das wirklich Wolf? So vertraulich hatte er sich ihr noch nie genähert, und doch – wer sonst als er durfte daran denken, es zu thun?

Jetzt legte sich ein Arm sachte um ihren Leib – sie wandte sich um und hatte sich, als sie ihn erblickte, mit einem kräftigen Rucke so vollkommen frei gemacht, daß der Angekommene, von dem Empfange überrascht, unwillkürlich zurücktaumelte – es war ein anderer, etwas jüngerer Bursche, der, wenn auch Wolf in Zügen und Gestalt nicht unähnlich, von ihm doch himmelweit verschieden war. Es war dasselbe Gesicht, aber der Ausdruck war ein ganz anderer: was bei Wolf heitere übermüthige Lebenslust war, prägte sich hier als derbe Genußsucht aus, und an die Stelle liebenswürdiger Geradheit und Offenheit war hin ein Scheinbild getreten, eine gezierte, übertriebene Freundlichkeit darauf berechnet, die hinterhältigen Gedanken und Absichten zu verbergen, die in den Augenwinkeln lauerten. Auch die Gestalt war derber und anscheinend sogar kräftiger entwickelt; Nacken und Hals waren die eines Stieres, für Pflug und Joch geschaffen.

„Du bist es, Dickel?“ rief Th’res überrascht, indeß ein Roth des Unwillens über seine Kühnheit und die eigene Täuschung in ihrem Antlitz aufloderte. „Was unterstehst Dich, Du frecher Mensch?“

„Dummes Ding,“ rief er mit boshaft funkelnden Augen entgegen, „was fällt Dir denn ein, mir einen solchen Renner zu geben? Bist etwan von Glas, daß man Dich nit anrühren darf? – Ich hab’ Dir ja nur einen ‚Guten Morgen‘ geben wollen …“

„Ich brauch’ keinen solchen ‚Guten Morgen‘!“ sagte Th’res und wollte der Thür zu, wohin er ihr aber den Weg vertrat. „Wohl bin ich von Glas; d’rum bleib’ mir vom Leibe, damit Du Dich nicht schneid’st!“

„Hoho, ich fürcht’ mich nit so leicht,“ rief Dickel entgegen, „wenn Du auch noch so wild thust, es wird nit gleich Scherben geben. Meinst, ich weiß nit, wie Ihr Madeln seid, alle miteinander – oder willst Du vielleicht eine Ausnahm’ sein? Ja, Du bist eine Ausnahm’,“ setzte er, näher tretend, in einem Tone hinzu, der zärtlich sein sollte, aber nur lüstern war, „denn Du, die Schönste von Allen – mir wenigstens gefallt Keine so wie Du, Du geschrecktes Bachstelzel, und ich möcht’ Dich zum Schatz haben! Schlag’ ein und gieb mir ein Bussel als Drangeld! Nachher sind wir ein Paar …“

„Laß mich meiner Weg’ geh’n,“ sagte Th’res und versuchte neben ihm in’s Haus zu schlüpfen, „wir Zwei haben nichts zu schaffen miteinander!“

„Was nit ist, kann ja noch werden,“ erwiderte Dickel noch zudringlicher, indem er sie ’am Rocke festhielt. „Ich mein’s gewiß aufrichtig mit Dir, und wenn ich auch den Lindhamerhof nit krieg’, weil ich der zweite Sohn bin, so wird doch schon auch für mich so viel herausspringen, daß wir uns ein ordentliches Heimathl kaufen können, und wenn Du Dich vor den Leuten scheust und willst es derweil nit wissen lassen – meinetwegen, mir ist’s auch recht! Mir ist’s noch lieber, da ist noch mehr Gespaß dabei, wenn alle Welt glaubt, man kann nit Fünfe zähl’n, und schön heimlich thut man doch, was Einen gefreut. Sag’ Ja, Th’res, und es wird Dich nit reu’n, und wenn’s auch in dem G’sangel heißt:

Die Liebschaft im Haus,
Die ist selten a G’winn,
Was man an Schuhen erspart,
Geht an Strümpfen dahin…

so laß Dich’s nicht anfechten – morgen ist Markt drunten in Aibling; da kauf’ ich Dir gleich ein paar Dutzend Strümpf’, damit Du nit zu sparen brauchst …“

„Geh’n laß mich, Du ausgeschämter Mensch!“ rief Th’res stampfend und Thränen des Zornes in den Augen. „Ich ruf’ den Vater oder ich kratz’ Dir selber die Augen aus. … Du willst mich zum Schatz? Und wenn die Männer so rar wären wie der Schnee um Johanni, so möcht’ ich von Dir nichts wissen, der sich nicht schämt und einem braven, ordentlichen Madl einen solchen Antrag macht …“

[367] „Oho – nur nit so oben hinaus!“ rief Dickl höhnisch. „Nur nit so groß gethan mit Deiner Bravheit! Du hast auch noch keinen Heiligenschein um den Kopf und wie weit es damit her ist, hast Du selber verrathen. Freilich – daß ich nit der Rechte bin, daß Du mich nit magst, muß ich jetzt wohl glauben und werd’ mir’s in Wachs’l drucken … aber wenn Du gar so eine Klosterfrau bist, warum hast denn nachher geschrieen: ‚Du bist es, Dickl!‘ … Du hast also an einen Andern ’denkt und hast gemeint, es käm’ ein Anderer herangeschlichen hinter Dir, der hätt’ wahrscheinlich keinen solchen Renner ’kriegt, der …“

„Ich sag’ Dir’s zum letztenmal,“ unterbrach ihn Th’res, indem sie sich gewaltsam losmachte und einen Schritt zurücktrat, wie um einen Anlauf zu nehmen, „wenn Du mir nicht aus der Bahn gehst, keinnützer Bub, so kannst noch Numero Zwei kriegen und von einer Sorten, die noch gröber gesponnen ist …“

Er ließ sie ohne Widerstand gehn, denn das Gespräch hatte einen Zeugen bekommen, der die letzten Reden mit angehört hatte und unverkennbar begierig war, noch mehr zu vernehmen. Es war der alte Knecht, der kurz vorher beim Abzug in’s Kornfeld sich über Wolf lustig gemacht hatte.

Dickl sah einen Augenblick etwas verlegen in das verwitterte Gesicht des Alten, in welchem Verschmitztheit und Schadenfreude lauerten. „Was willst Du da, Brunnensepp?“ sagte er unsicher. „Warum bist nicht auf der Kornbreiten?“

„Weil mir der Stiel an meiner Sens’ abgebrochen ist,“ erwiderte der Knecht, anscheinend ganz unbefangen; „ich hab’ mir eine andere holen müssen – da hab’ ich Dich stehn sehn und hab’ Dir sagen wollen, daß draußen Niemand recht gewußt hat, wo man mit dem Schneiden anfangen soll. Der Bauer ist nicht da, wird wohl wieder Augenweh haben und sich nicht heraus’ trauen in die kühle Luft …“

„Und mein Bruder? Und Wolf?“ fragte Dickl hastig. „Wo ist der?“

„Wie kann ich das wissen?“ fragte höhnisch der Brunnensepp entgegen „Ich hab’ gemeint, ich hätt’ ihn vorhin dort unter der Linden sitzen und basseln gesehn – wird wohl ein neues Staarenhäusel schnitzeln oder sonst was Schön’s! … Da hab’ ich mir gedacht, ich wollt’s Dir sagen, damit doch Jemand von der Herrschaft bei der Arbeit ist und der Bauer, wenn er herunterkommt und fragt, hören muß, daß Du draußen bist …“

„Ich dank’ Dir, Brunnensepp,“ rief Dickl, indem er mit dem Alten einen Blick raschen Einverständnisses wechselte, „ich geh’ gleich mit Dir hinaus …“ ich hätt’s gleich gethan, aber ich weiß selber nicht, wie’s mir geschehen ist –, ich hab’s halt verschlafen heut früh …“

„Ja, ja,“ sagte der Knecht, und ging mit Dickl dem Lindenhaine zu, „so was geschieht einem schon diemalen, wenn man zu wenig geschlafen hat bei der Nacht … brauchst Dich vor mir nit zu scheuen, Dickl,“ setzte er dann leiser hinzu, „ich verrathe Dich nit – ich hab’ heut Nacht wieder das Herzgespann gehabt, das laßt mich nit schlafen, da muß ich allemal an’s Fenster gehn und Luft schöpfen, da hab’ ich Einen um Mitternacht über die Anhöh’ heraufkommen und in’s Haus schlupfen sehn – der hat Dir gleich gesehn wie ein Ei dem andern …“

„Du hast den Teufel im Leib, Brunnensepp,“ erwiderte Dickl, „aber ich merk’ Dir’s schon, wenn Du mich nit verrath’st, es wird schon einmal eine zahlende Zeit kommen … weißt ja, wie der Vater ist, er kann’s nit leiden, wenn man in’s Wirthshaus geht: wenn’s nach ihm ging, dürft’ man seiner Lebtag kein’ Karten anrühren; drum geh’ ich in der Geheim’ und bei der Nacht – drunten beim Straßwirth giebt’s alleweil eine lustige Gesellschaft, die gern pascht oder kartelt …“

„Ja – und eine schöne Tochter auch, die einschenkt …“ warf Brunnensepp mit einem listig schielenden Seitenblick dazwischen und fuhr, als er Dickl’s unverhehlbare Betroffenheit bemerke, mit rohem Lachen fort: „Wunderst Dich, daß ich Deine Heimlichkeiten alle so weiß? Fürchtest Dich wohl, ich könnt’ was ausplauschen und der Wirths-Kathrin’ von dem erzählen, was ich vorhin mit angehört und gesehen hab’? … Brauchst keine Sorg’ zu haben; ich steh’ zu Dir, Dickl, und ich weiß, warum ich’s thu. Ich verschwätz’ Dich nit bei der Kathrin’ – es hat ja auch keine Gefahr, daß sie ausgestochen wird … so viel ich gesehen hab’, ist die Th’res nit stark verschossen in Dich …“

Dickl biß die Zähne übereinander. „Das hoffärtige Weibsbild!“ knirschte er. „Aber ich tränk’s ihr ein, oder ich will meiner Lebtag keine gesunde Stund’ mehr haben.“

„Recht hast – nur nichts auf sich sitzen lassen!“ rief der Knecht hämisch, „so hab’ ich’s meiner Lebtag’ auch gemacht. Wer mir einen Streich giebt, der kriegt zwei wieder; wenn’s nicht gleich und von vorn sein kann, dann geschieht’s später und von hinterrücks – man muß nur die Zeit abpassen und die Gelegenheit. Ich hab’ sie auch auf dem Strich, die Duckmäuserin, [368] die sich anstellt, als wenn sie besser wär’ als unser Eins … aber mir wird sie nicht zu schlau, die Feinspinnerin; ich weiß doch, auf was sie spitzt … Der Lindhamerhof sticht ihr in die Augen, so gut wie der Kathrin’ drunten im Straßwirthshaus, und wenn Du sagen könntest, ich krieg’ einmal den Lindhamerhof, beißt die eine an so gut wie die andere …“

„Ja, das ist halt einmal so,“ sagte Dickl halblaut, „den Hof kriegt der Wolf, weil er der Aeltere ist … da laßt sich nichts machen …“

„Wer weiß – noch hat der Letzte lang nit geschoben!“ erwiderte Brunnensepp. „Der Bauer ist bis auf seine Augen nach ganz wohl auf; der denkt vor ein paar Jahrl’n noch nit an’s Uebergeben und wer weiß, was in der Zeit noch Alles geschehen kann! Die gar hitzigen Renner, die stolpern zumeist und schon gar Mancher ist über einen großen Berg gefahren und hat umgeworfen über einem kleinwinzigen Steinl’, das ihm zur rechten Zeit unter’s Rad geschoben worden ist …“

Er brach ab, denn sie waren in der Nähe des Kornfeldes angekommen, eben zur rechten Zeit, daß Dickl über die Eintheilung der Arbeit Anordnung treffen und dem Ausbruche von Zwistigkeiten vorbeugen konnte. Die Arbeiter gewahrten es mit Vergnügen, nickten einander zu und es fehlte nicht an geflüsterten Bemerkungen, daß der Dickl ein ganzer und richtiger Bauer und wie sehr es schade sei, daß ein so großes und schönes Gut nicht in die Hände eines so trefflichen Landmannes und Wirthschafters kommen solle.

Vor dem Hofe war es indessen völlig still und einsam geworden – nur vom Hausdach herunter schrieen und schwirrten einige Staare, die vor der Wanderung noch einmal die Stätte, an der sie gebrütet hatten, heimsuchten und sich über die mit ihren Häusern indeß vorgegangene Verschönerung höchlich verwunderten. Der große Haushund war aus seiner Hütte gekommen und hatte sich auf die Gräd gelagert: er schien zu wissen, daß das Haus verlassen war und nun doppelt seiner Wachsamkeit bedurfte.

Es währte auch nicht sehr lange, so bekam er Gelegenheit, dieselbe zu bewähren. Auf dem Fußwege, der über die vordere Anhöhe heraufführte, kam ein Mann in städtischer Tracht nicht ohne sichtbare Anstrengung herauf gestiegen: seine Beleibtheit machte ihm den Weg ebenso beschwerlich, als die mit der Sonne steigende Hitze; er hatte den Rock ausgezogen und über die Schulter geworfen; aber dessen ungeachtet blieb er bei jedem kleinen Absatze stehn, um aufzuathmen und sich den Schweiß vom kahlen Haupte zu wischen. Endlich erreichte er die Hochfläche und schien sich mit Behagen das gefällige Bild des stattlichen Bauernhauses betrachten zu wollen, als ihn das Auffahren des Hundes, der ihn mit wüthendem Gebell kunstgerecht stellte und keinen Schritt weiter thun ließ, unangenehm unterbrach. Zum Glück währte die Angst nicht lange, denn in der Hausthür erschien Th’res, eine Pfanne in der Hand, in der sie emsig umrührte. „Kusch, Donau, hinein!“ rief sie dem Hunde zu, der auch beim ersten Laut ihrer Stimme gehorsam umkehrte, mit ein paar Sätzen auf die Gräd sprang und sich zu ihren Füßen auf die Schwelle legte. „Komm’ der Herr nur herauf, wenn er zu uns will!“ fuhr sie dann lachend fort, „der Hund thut ihm nichts; er ist so fromm wie ein Lampel!“

„Na, na, die Gattung von Lampeln kann mir gestohlen werden!“ erwiderte der Ankömmling, indem er sich dem Hause bedächtig näherte und sich dann mit sichtbarem Behagen auf einer der Bänke niedersetzte. Th’res ließ das Wandtischchen daneben herab, auf daß er sich tiefaufschnaubend stützte. „Nur gut, daß die Jungfer gleich in der Nähe war, sonst hätte mir das Lampel seine Zähn’ zu kosten gegeben. Herrgott, ist das eine Hitze schon in aller Früh’ und dazu der Weg! Wenn ich gewußt hätte, daß es so hoch und steil herauf geht auf Lindham, hätt’ ich mich um einen Wagen umgesehn!“

„Warum nit gar!“ rief Th’res lustig. „Es ist ja gar nit hoch und nit steil – der Herr,“ setzte sie mit einem Blick auf seinen Körperumfang hinzu, „der Herr hätt’ nur nit so schwer auflegen sollen.“

„So ist es recht,“ rief der Dicke lachend, „da heißt es wieder: wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Herrgott, mir klebt die Zunge am Gaumen – was gäb’ ich darum, wenn ich jetzt einen Krug frisches Bier haben könnte!“

„Damit kann ich dem Herrn freilich nit aufwarten,“ entgegnete das Mädchen, „aber eine Schalen Kaffee, die kann er haben.“

„Kaffee?“ sagte der Fremde und wendete sich verwundert nach ihr um. „Auf dem Lindhamerhof? Der Kaffee wächst wohl da hinterm Zaun im Wurzgarten und schreibt sich mit seinem rechten Namen ‚gelbe Rüben‘?“

„Warum nit gar!“ rief Th’res wieder. „Die gelben Rüben kommen nit auf uns, die kaufen uns all die Stadtleut’ ab. Der Bauer ist alleweil übelauf; da hat ihm der Doctor den Kaffee verschrieben zum Frühstück – wenn er dem Lindhamer von Lindham gut genug ist, wird ihn der Herr wohl auch trinken können!“

„Na, nehm’ es die Jungfer nur nicht übel!“ antwortete der Fremde, „ich will ja kein Wörtel mehr sagen. Aber, wie ist mir denn eigentlich?“ fuhr er fort und kehrte sich vollends herum, um sie noch genauer betrachten zu können, „hab’ ich doch nie etwas davon gehört, daß der Lindhamer eine so saubere und gescheidte Tochter hat.“

„Die hat er auch nit; ich bin seine Tochter nit …“

„Nicht? Also wahrscheinlich ein Bäschen oder sonst eine Verwandte, die den Haushalt führt?“

„Den Haushalt führ’ ich wohl, aber ein Basel oder verwandt bin ich auch nit –“

„Also ist die Jungfer eine Magd?“ fragte der neugierige Mann in immer steigender Verwunderung.

„Nein, ich bin keine Magd,“ sagte sie und sah ihn auch ihrerseits mit Verwunderung an, daß er das Verhältniß nicht zu begreifen schien. „Ich bin die Th’res,“ setzte sie hinzu und erröthete über und über, denn sie fühlte sogleich, daß sie damit nichts aufgeklärt und das Staunen des Fremden erst gerechtfertigt habe. „Ich gehör’ halt ins Haus,“ fuhr sie mit niedergeschlagenen Blicken und flammenrothen Wangen fort, „weil ich darin aufgewachsen bin. … Die Bäurin selig hat mich aufgenommen, wie ich noch ein ganz keins Dirnl’ gewesen bin – aber als was sie mich aufgenommen hat, das hat sie niemals gesagt und es hat mich auch noch kein Mensch darum gefragt …“

Der dicke Fremde sah sie noch immer an, aber die Spottlust, die ihn zuvor angewandelt hatte, war ihm vergangen: die Befangenheit und Verwirrung, in welche seine Fragen sie versetzten, hatten einen eigenen Reiz, etwas so unsäglich Rührendes an sich, daß er nicht gleich wußte, welchen von den Gedanken und Empfindungen, die sich ihm aufdrängten, er Raum geben solle.

Er hatte indessen nicht lange Zeit, sich zu besinnen, denn aus dem Hausfletz über die Stiege herunter wurde ein starker, etwas schleifender Schritt und eine rufende Männerstimme hörbar.

„Der Bauer kommt; der Herr wird doch zu ihm wollen?“ rief Th’res aufathmend und wandte sich, froh der unangenehmen Lage enthoben zu sein, dem Hausfletz zu, den Bauer zu begrüßen. Der Lindhamer, eine hohe und kräftige Gestalt, kam mit der unbefangenen Sicherheit heran, welche aus dem Bewußtsein eines reichen Besitzes und voller uneingeschränkter Herrschaft entspringt und bei minder verständigen Naturen leicht in Geldstolz und Bauerntrutz ausartet. Das war bei dem Alten nicht der Fall, aber sein Selbstgefühl war doch so entwickelt, daß er seinen Willen als das unbedingte Gesetz seines Hauses ansah und Widerspruch und gar Ungehorsam durchaus nicht ertrug, das war auch in den starken, aber nicht unangenehmen Zügen des Gesichts und der ganzen Haltung ausgeprägt; nur die Schwäche seiner Augen that der letztern Eintrag und nöthigte ihn, so sehr er es zu verbergen suchte, etwas behutsamer aufzutreten, als es sonst wohl in seiner Art gewesen wäre. Er erwiderte den Gruß des Mädchens nur mit einem Kopfnicken und schien auch die Meldung, daß schon ein fremder Herr gekommen sei, der ihn zu sprechen wünsche, keiner Beachtung werth zu finden; er nickte dem Gaste ebenfalls zu, lüftete aber zu besonderer Höflichkeit ein klein wenig die schwarze Zipfelmütze, die seinen fast kahlen Scheitel deckte, und setzte sich, wie er gewohnt war, an das Tischchen, dem Fremden gegenüber.

„Wie steht’s?“ sagte er dann, um zuerst dasjenige abzuthun, [369] was ihm das Wichtigste war. „Wie schaut’s aus in Haus und Hof? Sind die Leut’ alle draußen im Korn?“

„Fehlt sich nichts,“ erwiderte Th’res, „es ist Alles wohlauf im Haus und im Stall, und auf’s Feld hab’ ich den Kornschneidern gerade das Frühstück hinausgeschickt …“

Der Bauer nickte zufrieden. „Wo sind die Buben?“ fragte er dann. „Sind sie auch im Feld?“

Th’res zögerte einen Augenblick. Die Antwort, die sie geben mußte, war ihr unerwünscht; dennoch kam ihr kein Gedanke, dieselbe anders einzurichten, als es der vollen Wahrheit entsprach. „Ich glaube wohl, der Dickel ist draußen …“

„Ja, ja,“ sagte der Bauer vor sich hin und nickte wieder, wie Einer; der es ganz selbstverständlich findet, daß Alles gerade so kommt und eintrifft, wie er es vorher gedacht und gesagt … „der ist draußen – aber der Wolf nit?“

„Ich weiß nit gewiß,“ erwiderte Th’res stockend, „er wird wohl noch droben in seiner Kammer sein …“

„Hab’ mir’s im Voraus nit anders eingebild’t,“ sagte er wieder, „aber es ist gut derweil; wir reden schon weiter davon … jetzt bring’ mir das Frühstück, und für den Herrn auch, wenn er mit dem vorlieb nehmen will, was man ihm in einem Bauernhaus vorsetzen kann! … Was verschafft mir denn schon in aller Früh’ einen solchen Besuch?“ fuhr er dann fort. „Meine Augen lassen wohl ein Bissel aus, aber ich mein’, ich hab’ nit die Ehr’, den Herrn zu kennen …“

„Nicht?“ rief der Gast, indem er sich über den Kaffee hermachte, den die Th’res in einer Weise bereitet und geordnet brachte, die jeder städtischen Hausfrau Ehre gemacht hätte. „Mich kennt doch die ganze Welt. Wißt Ihr’s denn nicht mehr, Lindhamer, wir haben uns ja erst im vorigen Jahre getroffen, drüben in Au, wie der große Bauernhof versteigert worden ist. Ich bin ja der Herr Unterberger, der Agent …“

„So so, Agent!“ sagte der Bauer, um ein Merkliches abgekühlt. „Das heißt wohl so viel wie Unterhändler … Und Unterberger heißt der Herr? Dann ist der Herr wohl gar der Selbige, der damals in Au den großen Wald gekauft und niedergeschlagen hat bei Butzen und Stingel …“

„Freilich, freilich!“ rief der Agent vergnügt, „sagte ich’s nicht, daß Ihr mich kennen müßt? Ja, das war ich; ich habe den Wald abgetrieben, habe ein gutes Geschäft damit gemacht, habe das Vierfache von dem herausgeschlagen, was es mich gekostet hat.“

„Ja, wenn’s so ist, kenn’ ich den Herrn recht wohl,“ sagte der Bauer, indem er die Mütze von einem Ohr zum andern schob, „aber dann muß ich erst recht fragen, was der Herr bei mir will; bei mir ist doch kein Wald zu verhandeln …“

„Wer weiß, wer weiß!“ lachte Unterberger. „Wenn auch vielleicht kein Wald, doch ein ganzes Gut … Wie ist’s, Lindhamer – ich halt’ nicht lang’ hinter’m Berg – – ich weiß Jemand, der ein solches Besitzthum sucht … Was kostet der Lindhamerhof?“

Der alte Bauer gerieth bei diesen Worten in heftige Bewegung; er wollte aufspringen und mit zornigen Worten erwidern, aber er überwand die Aufwallung und begnügte sich, die Schale, die er eben geleert hatte, etwas unsanft auf den Tisch zu stoßen und die abgenommene Mütze in den Händen zu ballen. „Der Herr hat schon so früh den weiten Weg da herauf gemacht,“ sagte er dann mit unwilligem Lachen, „also muß ich wohl glauben, daß es ihm Ernst ist, sonst hätt’ ich glauben müssen, der Herr hat zu tief in Krug geschaut. Also kurz und gut: ich will auch nit lang hinter’m Berg hatten – gehe der Herr wieder hin, wo er her ’kommen ist. Der Lindhamerhof ist nit feil.“

„Na na, nur nicht gar so kurz angebunden, nur nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten!“ rief der Händler und stand auf, um sich dem Bauer zu nähern, „eine Frag’ und ein Gebot ist überall erlaubt, und das Gebot anhören, bringt Euch keinen Schaden … also das erste und letzte Wort – der Hof ist, wenn man ihn auf’s Höchste anschlagt, seine Fünfzigtausend werth … gehen wir hinunter zum Landgericht, und wenn’s heute noch richtig gemacht wird, leg’ ich die Sechzig baar auf den Tisch …“

„Kreuzteufel!“ platzte der Lindhamer, der sich nicht mehr mäßigen konnte, los und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr tanzte und klirrte, „jetzt kommt’s mir aber zu grob. Und wenn mir der Herr Hunderttausend giebt, ich hab’s ihm schon gesagt: der Lindhamerhof ist nicht feil. Wenn er aber feil wär’, so würd’ ich ihn dem Herrn nit geben. Möchte wohl wieder so ein gutes Geschäft machen, wie selbiges Mal in Au? Hat wohl davon gehört, daß beim Lindhamerhof ein Waldbestand ist, aus dem sich wieder das Vierfache herausschlagen ließ? Da hat sich der Herr verrechnet und muß schon den Hinweg für den Herweg annehmen … ich weiß nit, warum das Gericht und die Regierung solche Geschäft’ leid’t, aber das weiß ich gewiß, den Lindhamerhof soll kein solcher Waldmörder beschändeln.“

„Was ereifert Ihr Euch?“ unterbrach ihn der Händler, nun ebenfalls gereizt. „Wenn Ihr nicht wollt, braucht Ihr’s ja nur zu sagen. Ihr werdet nicht ewig auf dem Hof bleiben, und die nach Euch kommen, sind vielleicht gescheidter oder haben das Geld nothwendiger als Ihr; unsereins kann warten …“

„Laß sich der Herr nur nit die Zeit lang werden mit dem Warten!“ lachte der Bauer höhnisch. „Eine Weil’ halt’ der alte Lindhamer schon noch aus, und meine Buben sind gescheidt genug und haben’s nit nöthig, Gott sei Dank, daß sie sich dadurch helfen müßten, daß sie den Hof ruiniren …“

Der Händler hatte Hut und Stock ergriffen und schritt die Stufen der Gräd hinunter. „Ich will’s wünschen – Adios, Lindhamer …“ sagte er achselzuckend und mit spöttischer Miene.

„Halt, Herr …“ rief der Bauer und vertrat ihm den Weg. „Was soll das heißen? Warum lacht der Herr so eigen und zuckt mit den Achseln, wenn er von meinen Buben red’t? Was meint er damit? Weiß der Herr was Unrechtes von ihnen?“

„Was das heißen soll?“ erwiderte der Fremde, indem er innehaltend sich dem Bauer mit noch höhnischerer Miene zuwendete. „Glaubt Ihr etwa, daß ich mich vor Euch fürchte und für Das, was ich sage, nicht einstehe? Als ob es ein Geheimniß wäre! Als ob es nicht bekannt wäre auf sieben Stunden im Umkreis, daß Euer ältester Sohn, der einmal den Hof bekommt, die Bauernarbeit nicht mag und sich nicht viel darum kümmert, daß er lauter anderes Zeug treibt, das nicht Geld einbringt, sondern Geld kostet, und daß er lustig in den Tag hinein lebt! Der wird Euch den Geldsack schon leichter machen – er ist ja auf jedem Scheibenstand und jeder Kugelstatt bekannt, und wo unser Herrgott den Arm heraushängt, da schreien sie ihn an, wenn er vorbeigeht, und sagen: jetzt wird’s erst lustig – jetzt kommt der Loder von Lindham …“

„Was … sagt der Herr?“ stammelte der Bauer, in den das Wort wie ein Blitzstrahl einschlug, daß er, um nicht umzusinken, sich auf das Wandtischchen stützen mußte, das unter ihm zitterte. „Wie – heißt – man – meinen Buben?“

„Na, Ihr werdet das Wort doch verstehen!“ erwiderte Unterberger. „So viel ich weiß, ist ein Loder ein Mensch, der zu nichts Richtigem zu gebrauchen ist – so, was man in der Stadt einen Taugenichts nennt, und wenn Ihr mir nicht glaubt, so fragt einmal herum in der Gegend – Ihr werdet genug zu hören kriegen von dem Loder von Lindham. …“

Damit stülpte er den Hut auf den Kopf und eilte den Abhang hinab, im sichern Bewußtsein, dem Gegner vergolten und ihn so recht in’s Herz getroffen zu haben.

Das war ihm auch vollständig gelungen; der Alte knickte, ihm nachstarrend, auf die Bank zusammen und vermochte nichts hervorzubringen als einzelne halblaute Worte. „Die Schand’!“ murmelte er, „mein Bub’ – der Loder von …“ Es war wie eine Lähmung über ihn gekommen, die Willen, Denken und Können des sonst so rüstigen wie entschlossenen Mannes gefesselt hielt. …

Es war ein schlimmes Zusammentreffen, daß gerade in diesem Augenblicke Wolf um die Hausecke hervorkam, nichts ahnend, fröhlich wie immer, im Sonntagsstaat, zur Wanderung gerüstet und zum Ueberflusse die Mundharmonica an den Lippen, auf der er eine frische muthwillige Weise blies – betroffen hielt er an und brach mitten in dem Liedchen ab, als er den Vater gewahr wurde. Dieser war beim ersten Tone, beim ersten Blicke wie verwandelt – die krampfhafte Erstarrung wich von ihm so plötzlich, wie sie gekommen war, gleich einer Eiskruste, die der Bach im Frühling sprengt und mit aufquellenden Fluthen über seine Ufer schleudert. In alter Kraft und Sicherheit richtete er sich auf und stand im nächsten Augenblicke dem Sohne gegenüber – der Zorn ließ ihn nicht fühlen, daß sein Gesicht schwächer geworden war. „Halt! Wo willst Du hin?“ rief er ihm mit einer Miene zu, die gewohnt ist, Befehle zu geben und ihnen unbedingt gehorcht zu sehen.

[370] Wolf sah ihm etwas betroffen, aber doch fest in’s Auge. „Nach Aibling hinunter,“ sagte er dann; „es ist Jahrmarkt dort – will mich ein wenig umsehen und zum Spängler gehen, daß er mir das Triebrädel da beschlagen soll, das ich geschnitzelt habe. …“

„Was?“ rief der Vater auflodernd. „Und Du schämst Dich nit, das zu sagen? An einem bloßen Werktag feiern? An einem Tag, wo es so viel zu thun giebt, daß sich Jeder noch ein Paar Händ’ wünschen möcht’? Du schämst Dich nit, vor den Leuten herumzuschlenzen und Dich mit solchen Kindereien, mit solchem Spielzeug abzugeben wie ein Schulbub’?“ Dabei hatte er ihm das zierlich geschnitzte Rad aus der Hand gerissen, warf es zu Boden und trat es in Stücke.

In Wolf regte sich das Blut des Vaters; aber er bezwang sich, obwohl es ihm einen Stich in’s Herz gab, als er das mühevoll ersonnene Werk zerstören sah. „Vater,“ sagte er, und die Stimme zitterte ihm vor Erregung; „das ist kein Spielzeug, Vater. … Du weißt, daß unsere Quellen manchmal in der heißen Zeit schwächer rinnt und daß es auf ein paar Augenblick’ ist, als wenn sie ganz ausbleiben wollt’. … Du weißt, was das zu bedeuten hätt’ für den Lindhamerhof – d’rum sinnir’ ich schon lang’ darüber, wie man sie vielleicht fassen oder machen könnt’, daß sie nit verschwind’t oder nit in das Loch fallt, da vorn … da hab’ ich mir ein Triebwerk ausgedenkt … das muß ich doch erst im Kleinen machen wie ein Muster, daß ich seh’, ob es geht. …“

„Das sind Dummheiten, mit denen Du nur Zeit und Geld vertragst,“ rief der Alte wider Willen in etwas milderem Tone. „An dem Brünnl’ darf nichts geändert werden – das muß bleiben, wie es ist … es bleibt nit aus, so lang’ man’s nit anrührt. …“

„Vater, so was wirst doch nit glauben. …“

„Warum nit? Willst Du gescheidter sein als Dein Vater und Dein Ahnl und Urahnl, die alle d’ran geglaubt haben, und es ist ihnen gut gegangen dabei? … Ich will davon nichts wissen. So ist’s alleweil’ gewesen und so soll’s bleiben und das Brünnl’ wird nit angerührt, so lang’ ich ein offenes Aug’ hab’. Und wenn’s wär’ und es wär’ wirklich was von einem Sinn und Verstand in Deinen Narretheien – hat das etwan nit Zeit bis nach der Ernt’? Jetzt hat man alle Händ’ voll zu thun … warum bist nit bei der Arbeit?“

„Weil ich gemeint hab’, ich hab’s nit so nöthig,“ sagte Wolf trotzig, „ich hab’ gedenkt, dreschen und Korn schneiden kann jeder Knecht!“

„Und was bist denn Du?“ rief der Vater in wieder steigendem Zorne entgegen. „Du bild’st Dir wohl ein, Du bist besser? Meinst, Du bist schon der Bauer auf dem Lindhamerhof? … Gieb Acht, gieb Acht, daß Du Dich nicht verechnest – Du hast noch weit bis dahin! Dreschen und Korn schneiden kann jeder Knecht, hast Du gesagt? Recht hast … jeder ordentliche richtige Knecht kann das – faullenzen, mitten in der Ernt’ fortlaufen und faullenzen, das kann und thut nur ein Loder!“

„Vater!“ schrie Wolf auf und stand mit funkelnden Augen, als gelte es, einen Gegner im Zweikampfe zu packen.

„Was willst mit Deinem Geschrei?“ entgegnete dieser fest. „Was machst mir für Augen an? Willst Dich aufbäumen gegen mich, wenn ich Dich bei Deinem richtigen Namen nenn’? Weißt Du es vielleicht noch nit, daß sie Dich wegen dem Leben, das Du führst, in der ganzen Gegend herum nit anders heißen als, den Loder von Lindham …“

„Wer …“ stieß Wolf mit knirschenden Zähnen heraus; er war blaß geworden bis in die Lippen hinein und diese zitterten wie seine Hände, die er vor sich hinstreckte, als suche er einen Feind zu fassen. „Wer untersteht sich das? … Wer, Vater, wer …“

„Das brauchst Du nit zu wissen – es ist genug, wenn ich Dir sag’, wie man von Dir red’t. Möchtest leicht Händel anfangen? Damit stopfest Du den Leuten das Maul nit. Und haben sie etwa Unrecht? Kannst hintreten und Einen Lügen strafen, der Dir’s in’s Gesicht sagt, was er sich denkt! Ist es nicht schon genug an der Schand’, daß ich da heroben in meiner Einöd’, in meiner Krankenstub’ so von Dir muß reden hören? Muß ich mich nit in die Gruben hineinwünschen vor Grämen, wenn ich Dich so herumschlenzen seh’ – einen gesunden starken Burschen, einen Bauernsohn, der einmal auf den Hof kommen und hausen soll und der an nichts denkt als an’s Basseln und an’s Cithernschlagen, und in dem seiner Kammer die Geigen herumhängen und die Schwegelpfeifen und die Ziehharmonica, daß man glaubt, man kommt zu einem Musikanten. … Aber ich will mich nit weiter ereifern,“ fuhr er, sich gewaltsam mäßigend, fort, „für die Hack’ wird auch noch ein Stiel zu finden sein. Vor der Hand bleibst Du zu Haus’, ziehst das Feiertaggewand aus und gehst nach zu den Andern in’s Korn …“

„Nein, Vater, das thu’ ich nit!“ sagte Wolf fest, aber nicht trotzig.

„Ja, Du wirst es thun, sag’ ich!“ fuhr der Bauer auf. Die Beiden standen einander gegenüber, wie wenn im Winter das strömende Wasser ein paar Eisblöcke gegen einander treibt, die sich zermalmen müssen, wenn nicht noch im entscheidenden Augenblicke ein günstiger Zwischenfall sie von einander ablenkt, zwei tüchtige, aber in ihrer Gleichartigkeit sich abstoßende Naturen.

„Nein, Vater, und noch ’mal nein,“ sagte Wolf wieder, „ich thu’s nit und Du mußt das nit verlangen von mir! Ich kann’s nit einsehen, daß das, was ich thu’, so schrecklich ist, wie Du’s machst – aber ich will Dir den Willen thun, wenn ich’s zuweg’ bring’ … doch auf den Acker geh’ ich jetzt nit hinaus; die Ehhalten müßten’s merken, daß ich wie zur Straf’ hinausgeschickt wär’ … das darfst mir nit anthun, Vater …“

„Ich darf nit?“ schrie der Alte in schrankenlosem Zorne, verstummte aber, denn unter der Thür erschien Th’res; die Blässe ihres Gesichts verrieth, daß sie, obwohl sie sich den Anschein davon gab, nicht zufällig kam – noch einmal sollte der Zusammenstoß der widerstreitenden Kräfte vermieden werden. So entrüstet der Alte war, stand ihm doch das, was er die Ehre des Hauses nannte, höher als die Aufrechterhaltung seines väterlichen Willens; so lange als möglich sollte Niemand wissen, wie weit der Zwiespalt zwischen Vater und Sohn gediehen war.

„Ihr sollt hinauf gehen,“ sagte Th’res mit bebender Stimme; „es ist die Zeit, wo Ihr Eure Tropfen nehmen müßt.“ …

Schweigend wandte sich der Bauer und schritt an ihr vorüber in’s Haus – mit hastigen Schritten eilte Wolf den Höhenabhang hinunter.

[383]
2.

Der Abend dämmerte bereits stark über die stillen Straßen und friedlichen Dächer von Aibling herein; die Werkstätten und die Fensterläden der Erdgeschosse begannen sich zu schließen; das Tagewerk war gethan, und die Glocken der Pfarrkirche läuteten die Zeit der Ruhe ein. Von der stattlichen Anhöhe schwebten die tiefen feierlichen Klänge über den friedlichen Marktflecken, der sich um den Hügel wie um eine Schutzwehr schmiegt, hinweg und in die sonnenrothe Landschaft hinaus. Aus der Tiefe der dunkelnden Häuser aber erscholl mit hellerem Tone das Glöcklein der kleinen Pestcapelle darein, als wäre es eine Antwort, daß die von oben tönende Botschaft des Friedens unten vernommen und verstanden worden sei.

Dennoch war es vor den Häusern noch lebhafter als sonst; wenn auch das Schreien und Spielen der Kinder verstummt war, stand doch hie und da ein Häuflein Nachbarn beisammen, denen der Stoff zum Gespräche nicht ausging, denn es war ja morgen Feiertag und obendrein Jahrmarkt, von welchem beinahe Jeder besondere Erwartungen hegte, und deshalb hatte auch Jeder vollauf von den Vorbereitungen zu erzählen, die er getroffen, um seine Pläne verwirklicht zu sehen. Auch in der Höhe war es noch keineswegs ruhig geworden; das bewiesen die verschiedenen Laute und Töne, die der abendliche Ostwind vom Hügel mitnahm und dann einzeln von den Flügeln schüttelte, wie zerstreute verflatternde Blüthen und Blumenblätter. Bald klang es wie Gesang heller fröhlicher Menschenstimmen, bald als ob Pfeife und Waldhorn zum luftigen Tanze bliesen. Dazwischen schollen in munterem Wechsel dumpfes Rollen und lautes Gelächter.

„Juhe, da geht’s noch lustig zu!“ rief ein Bursche, der mit mehreren andern aus der Thorhalle eines stattlichen Brauhauses am Marktplatze trat. „Droben auf dem Keller ist noch Alles lebendig – da gehn wir auch noch hinauf, da ist’s noch nichts mit dem Heimgehn.“ Es war eine abenteuerliche, beinahe etwas wüste Gesellschaft, der diese Worte galten: kecke, roh aussehende Bursche mit gebräunten und verwegenen Gesichtern, denen man es ansah, daß es ihnen nicht schwer fiel, bei harter Arbeit dem Wind und Wetter zu trotzen, daß sie es aber für ein unantastbares Vorrecht hielten, den durch eine schwere Woche mühevoll und langsam erworbenen Preis ihrer Anstrengung nach Gefallen in ein paar kurzen Stunden leicht und sorglos zu verjubeln. Es waren Arbeiter an der Eisenbahn, die eben damals zuerst ihre weltverknüpfenden Schienen gegen den Innstrom vorzuschieben begonnen hatte, aus mancherlei Gegend zusammengewürfelt, in mancherlei Gewand gekleidet, das ihnen aus der Zeit übrig geblieben, da sie noch einem andern minder unsteten Leben und Berufe angehört. Den Einen ließ die hellblaue Hose mit der vertragenen Spur des abgetrennten rothen Besatzstreifens als einen vormaligen Soldaten erkennen; ein Anderer hatte von den Tagen, wo er als Schlosser gearbeitet, Stücke eines Schurzfelles übrig behalten, die nun die Vorderärmel der Jacke als Ueberzug decken mußten; der Dritte ließ durch die verschossenen Ueberreste seiner Tracht, die Art, wie er das Halstuch geschlungen trug, und den gesteiften Hemdkragen errathen, daß er ein Stadtkind war, vielleicht ein Thunichtgut, dem, weil er nichts gelernt, nichts übrig geblieben war, als zu Spaten und Schaufel zu greifen. Die Uebrigen, mehr oder minder ländlich gekleidet, waren Bauernknechte, denen das freie ungebundene Herumschweifen lieber zu sein schien als der stets gleiche einförmige Dienst in irgend einem Dörflein oder gar auf einem waldverlorenen Einödhofe.

Auch Wolf war unter den Burschen – abstechend von ihnen durch die Frische und jugendliche Kraftfülle seiner Gestalt und Miene, wie durch wohlhabende Sauberkeit seines Anzugs, und doch unverkennbar ihnen verwandt in der lustigen Leichtfertigkeit, die über dem Vergnügen des Augenblicks weder der vergangenen noch der künftigen Stunde gedenkt und, der Eintagsmücke gleich, mit fröhlichem Summen über dem Pfuhle tanzt, der sie geboren – er war wie der Falke unter einer Rabenschaar, an Gestalt und Art von ihnen unterschieden und doch mit ihnen manchmal sich am Aase erfreuend. Er war aufgeregt. Sein glühendes Gesicht verrieth, daß er dem Gerstensafte weidlich zugesprochen haben mußte; der Hut mit Federstoß und Spielhahnfeder saß schräg gegen das Ohr zu, und die Enden der locker gewordenen Halsbinde hingen flatternd auf den grünen Hosenträger und den breiten Ledergurt herab, in welchen der Namenszug des Besitzers mit weißen Pfaufederstiften gezeichnet war.

Der Bursche in der blauen Soldatenhofe hatte seinen Arm in den Wolf’s gelegt und versuchte, den sich leicht Sträubenden gegen die Kirchgasse hinzuziehen, welche gemächlich ansteigend zum Keller hinaufführt. „Nichts da,“ rief er, „Du darfst noch nicht fort, Wolferl! Für das, daß wir heute nach so langer Zeit wieder so schön zusammengekommen sind, müssen wir noch beisammen bleiben! Wir gehen noch auf den Märzenkeller hinauf und trinken ein paar Stehmaß’ … weißt ja, wie’s im Schnaderhüpfel heißt …“ fuhr er fort, indem er mit hohen, widrig gellenden Fisteltönen zu singen anhub: [384]

„und ’s Jungholz is grea (grün),
Aber dürr der alt’ Stamm,
Und so jung als wie heut
Kemma (kommen wir) do’ nimmer z’samm’!“

Wolf hatte keine Lust mehr, an dem wilden Vergnügen Theil zu nehmen – er war noch immer besonnen genug, um durch die Aufregung und das lärmende Treiben hindurch ein Gefühl der Ernüchterung und der Leere zu empfinden, das, wenn es auch in dem steten Jubel nicht die Oberhand erringen konnte, sich dennoch als eine Last spürbar machte, gleich einem in’s Wasser gerollten Felsstück, das unverrückbar auf dem Grunde liegt, wenn es auch in der getrübten Fluth nicht sichtbar ist. Unwillig war er Morgens von Hause fortgestürmt und, ohne weiter des Morgens und seiner Schönheit zu achten, weit im Thale dahin geeilt; die Reden und Vorwürfe seines Vaters hatten ihn so recht in’s Herz getroffen und er empfand es mit heißem Grimme als ein ihm angethanes schweres Unrecht, daß man seine Lebensweise schalt und seine Neigungen verhöhnte. Mochte er sich selbst wie immer befragen, mochte er all’ seine Erinnerungen herbei rufen, er fand nichts darunter, als daß er gern eine Lustbarkeit mitmachte, wie andere Bursche auch, und daß er nicht widerstehen konnte, wo eine Geige lockte oder sonst Musik erklang. Das konnte doch kein so großes Verbrechen sein, daß es die Leute berechtigte, ihn mit einem Spitznamen zu brandmarken, oder seinen Vater, ihn wie einen faulen nichtsnutzigen Knecht zu behandeln. Zehnerlei widersprechende Gedanken und Entwürfe kreuzten sich in seinem Innern, und nur das Eine stand ihm fest: für diesen Schimpf mußte er Vergeltung, für diese Ungerechtigkeit Sühne haben. Welchen Weg sollte er dazu einschlagen? Welche Bahn führte ihn am gewissesten, welcher Pfad am kürzesten zu diesem Ziele? Manchmal war er entschlossen, sobald er wieder nach Hause käme, Schwegelpfeife und Schnitzmesser, Maultrommel und Stemmeisen zu zerbrechen und wegzuwerfen, die Musik wie die Baßlerei ganz aufzugeben und nur der Bauernarbeit zu leben – sein Vater sollte sehen, wozu er im Stande sei, weil er ja doch nichts Anderes aus ihm machen wolle, als einen tüchtigen Bauernknecht – rasch aber schlugen Stimmung und Vorsatz um, und er nahm sich vor, allen seinen Tadlern zum Trotz erst recht nach seinem Sinne zu leben, nur das zu treiben, wozu er Lust und Liebe hatte, und die Arbeit ganz fahren zu lassen, mochte auch daraus werden, was immer möglich war. Dazwischen kamen wohl Augenblicke, wo es ihn wie eine Ahnung beschleichen wollte, daß der Spottname, den man ihm angehängt, ihn vielleicht gerade deshalb so entrüste, weil er sich heimlich doch selbst gestehen müsse, daß er nicht ganz unverdient sei; aber es waren nur Augenblicke, in denen solche Regungen in seinem Gemüthe aufstiegen, wie die Luftblasen aus einer verborgenen Grundquelle – die Wellen des Schmerzes und der Kränkung gingen noch zu hoch und schlugen immer wieder und wieder darüber zusammen.

So war er in die Nähe des Marktfleckens gekommen, heiß von innen und zweifach mehr erhitzt durch die Hast, mit der er in seinen unwilligen Gedanken achtlos dahingewandert war, und durch die Gluth der Mittagssonne. Erfrischend und doch wie betäubend schlug ihm der feuchtkühle Lufthauch aus der Thorhalle des Brauhauses entgegen, als er dasselbe betrat, zugleich damit der Gruß und das Gejohle der lustigen Gesellen, die den Feiertag, den sie sich gemacht, schon seit geraumer Zeit mit Trinken, Singen und Kartenspielen begonnen hatten. Der ehemalige Soldat kannte Wolf, er war mit ihm ungefähr in gleichem Alter und hatte als ein wackerer, anstelliger Knecht auf dem Lindhamerhofe gedient, bis ihn das Loos als Recruten in die Stadt gerufen hatte, während Wolf, der reiche Bauerssohn, sich einen Ersatzmann kaufte und zurückblieb. Das Stadtleben war ihm aber übel bekommen; er hatte viel müßige Zeit gehabt, die ihn in lustige Cameradschaft brachte und ihm, als er vor der Zeit entlassen worden, den Geschmack an regelmäßiger Arbeit verdorben hatte. Der Bahnbau gab ihm Gelegenheit, ein regelloses, lungerndes Wanderleben weiter zu führen, und brachte ihn mit Anderen zusammen, die er von der Stadt her kannte: mit dem verdorbenen Bürgerssöhnchen, dem er früher bei seinen Streichen geholfen, und mit dem vagirenden Schlosser, der einmal ein trefflicher Geselle gewesen war, aber von keinem Menschen mehr in Arbeit genommen wurde, weil es munkelte, er habe seine Geschicklichkeit, mit Schlüsseln und Schlössern umzugehen, in anderm Sinne als in dem seines Handwerks benutzt.

Die Begegnung überraschte Wolf; sie war ihm sogar angenehm, denn es that ihm wohl, sich mit so lauter und offener Herzlichkeit begrüßt zu sehen, so daß er augenblicklich nicht daran dachte, wer die Grüßenden eigentlich waren; er schlug in die dargebotenen Hände freudig ein, that gern aus dem gereichten Kruge Bescheid und saß rasch an dem schnell geräumten obern Platze des Tisches, der unschwer erkennen ließ, daß das Gelage schon einige Zeit gedauert haben mochte. Rasch war die alte Bekanntschaft erneuert und die neue gemacht; Wolf’s gefüllter und leicht zu öffnender Beutel machte den Quell von Speise und Trank, der schon zu versiechen gedroht hatte, in neuer Fülle strömen, und bald saßen die Gesellen in der Zeche beisammen, als wären sie vertraute Freunde oder doch jahrelange Bekannte, und verbrachten die Stunden mit Gesprächen, die, nach dem häufigen und lauten Lachen zu urtheilen, mindestens ihnen selbst höchst unterhaltend vorkamen, mit dem Glück der Spielkarten oder lärmendem Gesang, je nachdem Einem oder dem Andern ein Lied durch den Sinn ging, das ihm aus der Erinnerung früherer Zeiten auftauchte und das sie alle miteinander sangen, auch wenn es ihnen nicht bekannt und meist nur ein unkennbar gewordenes Bruchstück war. So ging der Nachmittag vorüber, und wenn auch Wolf mehrmals des Aufbruchs und der Heimkehr gedachte, nie fehlte es den Andern an einem lustigen Vorwande, dieselben zu verschieben. Als es in der weiten gewölbten Stube zu dunkeln anfing, war er nicht mehr zu halten; eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, eine Nichtbefriedigung überkam ihn, als habe er etwas vergessen, zu dessen Besorgung er eigens gekommen und das er nun doch versäumt habe, und wenn er sich auch gleich besann, daß ihm der Vater das Modell seines künstlich ersonnenen Triebrades zertrümmert und dadurch den Gang zum Blechschmied überflüssig gemacht hatte, blieb doch ein starkes Unbehagen zurück, das ihn weiter trieb. Dazu kam, daß die Kellnerin, welche sie den Tag über bedient hatte, als sie wieder einen vollen Krug auf den Tisch stellte, ziemlich unverblümt zu verstehen gab, daß es nun doch bald an der Zeit wäre, daß sie gingen und ruhigeren Gästen Platz machten. Wolf rissen ihre Worte vom Sitz empor; die Anderen nahmen sie als einen trefflichen Spaß mit lautem Gelächter auf.

„Stell’ Dich an, wie Du willst, Du grandige Dingin,“ rief der Soldat, „solche Gäst’ wie wir sind den Wirthen doch die liebsten, und wenn Du Dir Einen von uns aussuchen müßtest, thät’ Dir doch die Wahl weh.“

„Das glaub’ ich kaum,“ sagte die Kellnerin, indem sie hastig den Tisch abwischte. „Ihr seid Alle von den gut tüchenen; die legt man übereinander und nimmt den obersten her.“

Lachend eilte der Soldat Wolf nach, der schon die Thorhalle erreicht hatte, hing sich ihm in den Arm und trat mit ihm vor das Haus. Wolf versuchte entschieden, sich loszumachen; es war ihm Ernst, sich auf den Heimweg nach Lindham zu machen. „Gute Nacht, Schützenpeter!“ sagte er. „Gute Nacht, Alle miteinander! Ich mag nimmer mitthun; ich hab’ einen weiten Weg vor mir und bin lang’ genug aus – ich bin schon in aller Früh’ fort von daheim.“

„Eben deswegen sollst Du auch nit eher heimgehn als in der Früh’,“ rief der Schlosser. „Eine Ordnung muß in der Sache sein – sonst bringt man nichts vor sich.“

„Freilich, freilich,“ lachte das Stadtkind, „sonst stellt Dir der Wirth ein schlechtes Schulzeugnis aus – in dem meinigen hat’s immer geheißen: Fleiß – unerschöpflich, Fortgang – niemals vor Mitternacht.“

„Nein, nein,“ sagte Wolf, „es langt schon für heut’ – wir kommen schon ein anderes Mal wieder zusamm’ …“

„Ei was, wer weiß, wann uns die Tauben wieder so zusammentragen!“ rief der Schützenpeter. „Komm’ nur noch mit auf ein halbes Stündel! Droben ist Musik; wir haben heut’ noch keine Musik gehabt … Hörst, wie sie blasen? Es ist gerad’, als wenn sie uns rufen thäten.“

In der That klang es durch die Dämmerstille wie ein weicher, langgezogener Hornruf herab. Wolf horchte zögernd auf; wenn irgend etwas seinen Entschluß ändern konnte, waren es solche Töne; sie besaßen eine bannende Macht über ihn; wenn er Musik hörte, bebten und klangen die Fibern seines [385] Wesens mit, wie an der Harfe, die er daheim gebaut, die Saiten erklangen, wenn der Wind über sie hinstrich. Er schwanke noch nicht; aber er blieb stehen, um zu lauschen.

„Nun, wenn er durchaus nicht mehr bleiben will,“ rief der Schlosser dazwischen, „so laßt ihn geh’n, den Bauernprinzen! Wird ihm wohl jetzt einfallen, daß wir ihm nicht gut genug sind zur Gesellschaft! Jetzt, weil wir mit ihm unser Geldel verzecht haben, und ausgesäckelt sind, jetzt fürchtet er wohl, daß er uns frei halten muß, und macht sich davon.“

„Nein, das ist nicht wahr,“ unterbrach ihn das Stadtkind, „das lass’ ich dem Lindhamer von Lindham nicht nachsagen. Ich kenn’ ihn zwar erst seit heute, aber er hat den reichen Bauernsohn gezeigt und hat’s nobel gegeben, und wenn er heim geh’n will, wird er schon wissen warum. Es wird halt strenge Polizeistunde sein auf dem Lindhamerhof – er wird keinen Hausschlüssel haben und wenn das Buberl nach Gebetläuten kommt, läßt es der Alte nicht mehr hinein oder steht schon mit der Ruthe hinter der Thür.“

Unbekannt mit den Verhältnissen, hatte der Geselle den wunden Fleck in Wolf’s Gemüth berührt; von aufloderndem Zorn und Schmerzgefühl erfaßt, sprang er auf ihn zu und hielt ihn würgend an der Kehle gepackt. „Wer untersteht sich, so was von mir zu sagen?“ rief er. „Ich drück’ Dir die Seel’ aus dem Leib, Kerl, wenn Du’s nicht zurücknimmst – Niemand hat mir was einzureden; ich bin mein eigner Herr.“

„So zeig’s!“ rief der Schlosser, indem er den Angegriffenen befreite, „zeig’s und geh mit – das ist eine bessere Widerlegung, als wenn wir uns zu guter Letzt’ noch selber in die Haare kommen.“

„Geh mit!“ rief der Soldat und umfaßte ihn neuerdings, „droben auf dem Keller haben sie gewiß eine Cither … Du kannst ja so gut Cither schlagen; ich weiß es noch von dazumal, wie ich auch noch auf dem Lindhamerhof mich geplagt und geschunden hab’ für nichts und wider nichts … Du mußt uns noch Eins aufspielen heut – wir bleiben bei einander heut, bis uns die Sonn’ in den Krug schaut …“

Freiwillig schritt Wolf die Kirchzeile hinan. Die Cameraden umgaben ihn jauchzend und johlend und sangen:

„Heim soll ich gehn, da soll ich bleiben,
D’ Kugel sollt’ ich nehmen, Kegel sollt’ ich scheiben –
Heim geh’ ich nit, da bleib’ ich gern,
Wissen muß ich, wer der Letzt’ wird wer’n.“

Auf dem Keller herrschte in der That noch fröhliches, vielfach bewegtes Leben. Die meisten Bürger des Marktfleckens waren mit ihren Frauen oder Töchtern auf den Hügel heraufgekommen, um unter den Bogengängen des Kellergebäudes, das weithin gleich einer Herrenburg die Gegend überschaut, ihren Abendtrunk einzunehmen – neben ihnen, in geselliger Verträglichkeit saßen die Beamten des Orts mit ihren Familien und den zahlreichen Fremden, die der Ruf von der Heilkraft der Aiblinger Moorbäder aus aller Herren Ländern im Sommer zusammenführt, und von denen Keiner an einem schönen Abend es versäumt, die herrliche Landschaft und das erhabene Bergbild zu bewundern, das sich in seltener Schönheit gerade hier ausbreitet, immer neu, immer wechselnd und doch so gerundet, so in sich abgeschlossen, als ob des größten Meisters Hand es kunstvoll zum Gemälde geschaffen. Eine kleine Gesellschaft wandernder Musikanten hatten sich ebenfalls einen Platz ausgesucht, um den Kreis zu unterhalten, der an den Liederstücken und Ländlern Gefallen fand, die sie mit Clarinette, Waldhorn und Geige roh genug aufspielten, so daß die etwas besser gespielte Harfe, die sie begleitete, nicht im Stande war, dagegen aufzukommen und das Ganze genießbar zu machen. Die Gesellschaft bestand aus drei Männern von abenteuerlichem Aussehen und einem Mädchen: es war eine herumziehende Bande von Seiltänzern und Springern, welche auf dem Jahrmarkte ihre kecken Künste zeigen und, da sie zugleich ihr eigenes Orchester bildete, den Vorabend durch musikalische Vorträge ausnützen wollte. Die Männer sahen ziemlich abgerissen und verwildert aus; nur der Eine, welcher die Geige spielte und eine Art Oberhaupt zu sein schien, trug in Kleidung und Wesen Spuren an sich, als habe er einmal andere Tage gesehen. Das Mädchen, obwohl armselig gekleidet und sonnenverbrannt, war eine unter solcher Umgebung ungewöhnliche und überraschende Erscheinung; reiches Haar von prachtvoller Schwärze hing in zwei mächtigen mit Band durchflochtenen Zöpfen weit über ihren Rücken hinab; unter dunklen Brauen funkelten ein Paar tiefe Augen von gleicher Farbe, und aus den feinen Lippen vom Roth einer reifen Erdbeere schimmerten Zähne von perlengleicher Weiße; sie hätte unbedingt schön genannt werden müssen, hätte nicht Blick und Geberde verrathen, daß ihr der Duft der Reinheit und Unentweihtheit längst verloren gegangen war, der auf einem Mädchenangesicht, damit es schön heißen dürfe, liegen muß, wie der blaue Reif auf der ungepflückten Frucht. Eben kam Wolf mit seinen Gefährten die breite Hügelstraße herauf; ihr Gesang verkündete voraus ihre Ankunft.

„Was kommt da für wüste Gesellschaft?“ sagte, zu seinem Nachbar gewendet, ein Badegast, den Aussehen und Haltung als Officier bezeichnet hätten, wenn er auch nicht das Bändchen im Knopfloch getragen hätte. „Gehören die Bursche auch zur Einwohnerschaft, Herr Landrichter?“

Der Angeredete, ein noch rüstiger Mann von offenem, wohlwollendem Wesen, nahm eine Lunette vor die Augen, um in der dämmergrauen Ferne besser unterscheiden zu können. „Gott sei Dank, nein, Herr Major,“ erwiderte er dann, „das sind auswärtige Arbeiter, die der Eisenbahnbau vorübergehend in die Gegend geführt hat – und doch,“ fuhr er kopfschüttelnd fort, „soeben bemerke ich, daß auch ein einheimischer Bursche sich unter ihnen befindet … Ich irre mich nicht – er ist es wahrhaftig – das hätte ich doch nicht gedacht.“

Der Major und die fremde Gesellschaft waren aufmerksam geworden und wollten wissen, welche Bewandtniß es mit den Ausrufungen des Landrichters habe, welche auf besondere Verhältnisse und anziehende Ereignisse schließen ließen – er konnte nicht umhin, von dem älteren Sohne des Lindhamer von Lindham zu erzählen, der, begabt mit allen Anlagen und Fähigkeiten, das Beste in seinen Lebenskreisen zu leisten, im Begriffe stehe, auszuarten und alle seine vorzüglichen Eigenschaften nur als Untergrund für Unkraut und als fetten Fruchtboden zu verwerthen, in dem es mit doppelt wuchernder Ueppigkeit gedeihen könne. „Das hätte ich nicht gedacht,“ wiederholte er am Schlusse seines Berichts. „Mir thut der alte Lindhamer leid, der ein so braver Mann ist, und der junge auch – bisher habe ich noch immer gehofft, aber wenn er anfängt, sich in solcher Gesellschaft zu gefallen, dann bleibt wohl nichts übrig, als ihn verloren zu geben.“

„Pah, dazu ist es immer noch Zeit genug,“ entgegnete der Major und drehte seinen grauen Schnurrbart empor. „Man muß Keinen zu früh aufgeben; der Dienst hat schon manchen verbohrten Querkopf wieder zurecht gebracht … warum steckt man das Bürschchen nicht in die Uniform?“

„Er ist reich,“ sagte der Beamte, „er hat sich einen Einstandsmann gezahlt – kann also zum Dienste nicht herangezogen werden.“

„Da haben wir’s!“ rief der Major unwillig, indem er aufstand und nach dem Hackenstocke griff, der ihm seines lahmen Fußes wegen zur Krücke dienen mußte. „Ich sage es ja immer, daß all’ das Wesen nichts taugt. Bei uns in Preußen ist Jeder Soldat, und wenn ich den Burschen zwei Monate in meiner Compagnie hätte, Gott soll mich strafen, wenn ich ihn nicht zurecht gestutzt hätte, daß es nur so klappen müßte … Aber Sie haben mich neugierig gemacht, Herr Landrichter; ich will hin und mir das Menschenkind einmal ganz in der Nähe besehen … Man soll Niemand zu früh aufgeben!“ wiederholte er lachend, und hob den Hackenstock lustig in die Höhe.

Er schritt der Kegelbahn – der Bräuer hatte ein großes Kegelschieben veranstaltet – zu, begleitet von einem Theile der Gesellschaft, worunter auch Damen nicht fehlten; sie bemerkten wohl, wie hübsch der Bursche war, der, ohne es zu ahnen, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war – wäre er ein gewöhnlicher Mensch gewesen, von dem es nichts zu erzählen gab, er wäre unbeachtet geblieben – daß er ein leichtsinniger Bursche war, der den gewöhnlichen breit und flach getretenen Lebensweg langweilig fand, machte ihn zu einer anziehenden Erscheinung, denn das geheime Wohlgefallen an dem Ungewöhnlichen konnte sich nun Theilnahme und Mitleid nennen und in der Klage Luft machen, wie schade es sei, daß ein so hübscher junger Mensch dem Verderben verfallen sein solle.

Das Kegelspiel war eben zu Ende, als sie an der Bahn ankamen, bei der auch die Bursche kurz vorher sich aufgestellt hatten; man war eben daran, die Preise zu vertheilen, und der Kupferschmied des Orts machte sich daran, als Kegelkönig [386] das erste Bestfähnchen in Empfang zu nehmen. Das Vergnügen leuchtete ihm aus den Augen und im Gefühl seines Triumphes rief er Wolf, den er wohl kannte, einen Gruß zu. „Ho, diesmal hast Du Dich verspätet, Lindhamer. Diesmal bin ich Dir zuvorgekommen und habe die Besten abgeräumt – nun hast Du das Nachsehen.“

„Das ist just noch nit gewiß,“ entgegnete Wolf lachend, indem er in die Tasche griff und das Geld klappern ließ. „Ist das Fahnl mein mit Allem, was d’ran hängt, wenn ich noch eine Kugel hinausscheib’ und triff alle Neune? Ich setz’ Dir zwei Kronthaler entgegen – gilt’s eine Wett’?“

Der Preisträger sah ihm etwas verblüfft in’s Gesicht und schien unschlüssig, während die Umstehenden ihm lachend zuriefen, sich den Gewinn nicht entgehen zu lassen und zu dem Preise auch noch die zwei Kronthaler einzustecken. „Auf das könnt Ihr’s ankommen lassen, Meister Kupferschmied; es ist ja schon so dämmrig, daß man die Kegel kaum noch draußen stehen sieht!“ – „Und zumal,“ setzte ein Anderer hinzu, „wenn er, wie’s den Anschein hat, nicht mehr ganz nüchtern ist.“

Der Kupferschmied war seines Sieges gewiß geworden: „Es gilt, Lindhamer!“ sagte er einschlagend; „wenn Du übrige Kronthaler aufzuwenden hast – ich kann sie mitnehmen und lasse sie mir dann anöhreln als Uhrgehäng’.“

Der Ruf der überraschenden Wette hatte sich schnell unter allen Anwesenden verbreitet; dichtgedrängt umstanden sie die Bahn und sahen Wolf zu, der, während der Junge draußen die Kegel aufsetzte, rasch die Kugel gefaßt hatte und nun, mit vorgebeugtem Körper in die Dämmerung hinausspähend, Entfernung und Abstand zu bemessen schien. Ein kräftiger, sicherer Wurf ließ die Kugel mitten auf dem Langbrett aufschlagen; wie aus einer Büchse geschossen, rollte sie dahin und in der nächsten Secunde schlug sie die neun Kegel nieder, als ob sie an einer Schnur hingen und an ihr niedergerissen würden.

Kaltblütig drehte sich Wolf auf dem Absatz um, nahm dem halb versteinerten Kupferschmied das Preisfähnlein aus der Hand und schritt dem Keller zu, umgeben von dem Beifall und dem lauten Gelächter der fröhlich erregten Menge. Verdrießlich trollte sich der unglückliche Preisträger den dunkeln Weg zum Markte hinab; Wolf aber mit seinen Genossen nahm an einem der Tische Platz, hing an einer Säule das Fähnlein wie eine Trophäe auf und ließ in ausgelassenster Laune herbeibringen, was Küche und Keller vermochten. „Her da, wer mittrinken will!“ rief er lachend, „Alles ist eingeladen – der Kupferschmied von Aibling und sein Preisfahnl’ halt’ heute Alles frei.“

Es gab Manche, die sich die Einladung nicht wiederholen ließen; ein Kreis lustiger Zecher bildete sich um den Tisch, und auch die Musikanten, deren Anwesenheit über dem Zwischenfall fast vergessen worden war, zogen sich in die Nähe heran, gelockt von der Hoffnung, daß der lustige und freigebige Bursche nicht gegen sie allein den Kargen spielen werde. Sie spielten ein paar Stücke, die auch ihre Wirkung nicht verfehlten und die Bursche veranlaßten, mitzusingen oder mit Juchzen, Schnalzen oder Händeklatschen nach dem Ländlertacte einzusetzen. Während einer Pause stieß Schützenpeter, der die ganze Zeit über kein Auge von der Harfenspielerin verwendet hatte, Wolf mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm zu: „Schau’ Dir einmal das Mädel an, das mit der Harfen, und sag’ mir einmal, ob Du nicht auch findest, daß sie der Th’res wie heruntergerissen gleich sieht!“

„Th’res?“ fragte Wolf verwundert. „Was für eine Th’res?“

„Frag’ noch eine Weil’!“ war die Antwort; „was für eine könnt’ ich denn meinen, als die bei Dir daheim, die Th’res auf dem Lindhamerhof?“

„Du hast Recht,“ entgegnete Wolf, indem er die Harfenspielerin etwas näher in’s Auge faßte, die, ihre Harfe im Arme, den Kopf, wie um auszuruhen, an dieselbe angelehnt hatte und unverwandt, als wäre sie in Gedanken in ganz andere Gegenden entrückt, in das unterdessen vollständig hereingebrochene Nachtdunkel hinausstarrte. Die Aehnlichkeit war unverkennbar, nur daß Th’res jugendlicher und frischer war, einer eben aufknospenden Rose gleich, auf der noch der Thautropfen des Morgens glänzt, während das Harfenmädchen einer bereits voll aufgeblühten ähnlich sah, die, in der Mittagsgluth verschmachtend, den Kelch senkt und ein erstes fallendes Blatt niedergleiten läßt. „Du hast ganz Recht,“ sagte er noch einmal, indeß eine bittere Regung in ihm aufstieg, die ihm früher noch nie in den Sinn gekommen – „aber woher kennst denn Du die Th’res?“

Der Soldat lachte laut auf. „Woher ich sie kenn’?“ flüsterte er ihm dann in’s Ohr. „Dir muß es schon arg in den Kopf gestiegen sein, wenn Du das nicht mehr weißt! Bin ich denn nicht lang’ genug auf dem Lindhamerhof gewesen und hab’ meinen Löffel in eine Suppenschüssel mit ihr getaucht? Meinst Du, ein so bildsauberes Madel vergißt man so leicht und so ganz und gar? Vielleicht hast Du sie noch gar nicht darum angeschaut, aber ich hab’s schon dazumal gethan und hab’ sie nicht vergessen … sie kommt mir gar oft in Sinn, daß ich selber nicht weiß, wie – und wenn ich vielleicht,“ setzte er etwas stockend und fast verschämt hinzu, „wenn ich vielleicht doch noch einmal wieder an’s Arbeiten und an ein ordentliches Leben komm’, oder wenn ich wo einen vergrabenen Schatz find’, dann geh’ ich auf den Lindhamerhof und hol’ mir die Th’res.“ …

Wolf wußte nicht, wie ihm geschah; er hörte zu wie ein Träumender, indem es ihm wechselnd heiß und kalt über den Rücken lief – er hatte von Jugend auf mit Th’res zusammengelebt; sie war, seit sie in’s Haus gekommen, neben ihm aufgewachsen. Er hatte als Knabe mit ihr gespielt und war als Bursche neben ihr hergegangen, ohne etwas Anderes in ihr zu sehen, als eine Hausgenossin, die eben zu Haus und Hof gehörte. Er hatte viel mit ihr zu verkehren, aber sie war ihm vollkommen gleichgültig, und darauf, ob sie schön war, hatte er sie noch niemals angesehen; denn er war zu sehr mit allerlei anderen Dingen beschäftigt. Dennoch war ihre Nähe ihm ein Bedürfniß, aber er hatte es nicht gewußt, oder es doch so hingenommen, wie etwas, das sich von selbst versteht und gar nicht anders sein kann. Die Worte des Soldaten machten, daß ihm mit einem Male die Augen aufgingen – jetzt, da er die Harfenistin darauf ansah und sich Th’res vor die Seele rief, jetzt erkannte er erst, daß sie schön war, noch um Vieles schöner als diese; jetzt, da die Möglichkeit ihm nahe trat, daß dieses Verhältniß einmal geändert und Th’res ihm entführt werden könne, jetzt zuckte es ihm mit einem Male schmerzlich durch’s Herz, als solle ihm ein Theil desselben losgerissen werden, und ein eifersüchtiges, unsagbar feindseliges Gefühl wallte in ihm auf – er ballte unwillkürlich die Fäuste, und es war ihm, als müsse er den frechen Schützenpeter an der Kehle fassen, daß er es wage, an die Th’res solche Gedanken, Wünsche und vollends Hoffnungen zu knüpfen. Er schwieg, weil er nicht gleich zu antworten wußte. Der Soldat fuhr fort:

„Vielleicht wär’ sie froh um mich,“ sagte er, „sie wird nicht viele Hochzeiter finden; denn sie ist ja doch nur ein Bettelkind und hat nichts vor ihr, als eine Magd zu bleiben ihr Leben lang … und weil sie doch so lang’ auf Lindham gewesen ist, läßt sie Dein Vater auch nicht mit ganz leeren Händen gehen und giebt ihr ein Heirathgut – was meinst?“

„Was ich mein’?“ sagte Wolf, der sich allmählich besonnen. „Ich mein’, daß, wer auf dem Lindhamerhof eine Heimath gefunden hat, kein Bettelkind ist, und daß der Lindhamer die Th’res, wenn sie einmal fortgehen und heirathen wollt’, nicht fortgehen läßt, wie eine Magd, die aus dem Dienste geht, und daß bei einem solchen Madel ein Kerl wie Du sich das Maul wischen muß, oder …“

[399] Ehe Wolf vollenden und der verdutzte Peter etwas erwidern konnte, wurden sie durch den Schlossergesellen unterbrochen, der im Hause herumgestreunt hatte und nun unsicheren Schrittes mit einer Cither zurückkehrte, die er aufgefunden und vor Wolf auf den Tisch legte. „Was redet Ihr Zwei so ineinander hinein?“ rief er mit schwerer Zunge. „Was habt Ihr für Heimlichkeiten? Spiel’ Eins auf, Lindhamer, ein lustiges, daß mir meiner Lebtag das Geld nicht mehr ausgeht!“

Mehrere, die von Wolf’s kunstfertigem Spiele schon gehört, stimmten in die Aufforderung ein, und Wolf war nicht schwer zu bewegen, der Anforderung Folge zu leisten – im Kopfe klang ihm noch der Beifall wegen der gewonnenen Kegelwette nach; es schmeichelte ihm, vor einer so großen und zum Theil feinen Gesellschaft sich zeigen und neuen Beifall ernten zu können. Auch war es ihm ein willkommener Ableiter, den vielerlei widerstreitenden Empfindungen, die ihn bestürmten, Ausdruck zu geben. Er begann, und bald hatte sich ein immer dichterer Kreis von Zuhörern lautlos um ihn versammelt; auch der Landrichter, so wie der preußische Major und seine Damen fehlten nicht darunter. Sie waren eben im Begriffe gewesen , den Heimweg anzutreten, denn die trinkende Gesellschaft war allmählich immer lauter und unangenehmer geworden, auch ließ die sich erhellende Nacht auf der Wanderung noch den Genuß einer Mondlandschaft erwarten. Gleichwohl hielten sie im Vorübergehen an, um eine Minute zuzuhören, aber der Minuten des Zuhörens folgten immer mehrere, und sie gewahrten es nicht, daß nach mehr als einer Viertelstunde bereits über der ganzen Gegend der Duftschleier des Mondenscheins wehte.

Wolf spielte die Cither in nicht gewöhnlicher Weise; die viele Uebung hatte ihm Griff und Anschlag so geläufig gemacht, daß keine Schwierigkeiten mehr für ihn bestanden; noch mehr aber war das, was er spielte, voll Bedeutung, denn wenn er in guter Stunde die Saiten berührte, kam es ihm unbewußter Weise fast wundersam in die Finger, und die Weisen strömten ihm nur so zu, bald schwermüthig klagend, bald ausgelassen schwirrend, wie Beides in dem unscheinbaren Instrumente verschlossen liegt, bald Tanz, bald Lied, bald in bekannten, bald in eigenen Klängen, die wie eine Fülle glänzender und sinnvoller Blumen, Blüten und Blätter sich zu einen ununterbrochenen, reizenden Gewinde verschlangen. Der atemlosesten Stille folgte der lauteste Zuruf des Beifalls, als der erhitzte Spieler abermals die Saiten erklingen ließ – aber, wie es sich häufig im Leben fügt, der erste Eindruck war der mächtigste gewesen und die Wiederholung diente nur dazu, denselben in Farbe und Linie abzuschwächen und zu verwischen. Man hörte zwar nach zu, aber man wies doch andere Gedanken nicht mehr zurück, und wenn die Feineren sich bemühten, einander Bemerkungen über das Spiel und den Spieler zuzuflüstern, scheuten sich Andere nicht, etwas ferner auf dem knirschenden Kies des Weges hin und wieder zu gehen, und die Roheren fingen schon an, sich zu langweilen und mit halblautem Zurufe die Krüge aneinander zu stoßen, oder wohl gar mit klappendem Deckel die Kellnerin zu rufen.

Wolf entging das nicht. Seine Erregtheit schärfte ihm die Sinne, und er rächte sich dadurch, daß sein Spiel immer wilder und heftiger wurde, die Melodien, die er spielte, sich immer ausgelassener erhoben, – unwillig suchend ließ er seine Blicke durch den Kreis der Anwesenden laufen und blieb mit denselben zuletzt an der Harfenistin haften, die ihm nicht sehr ferne gegenüber saß; er fühlte, wie ihre schwarzen lodernden Augen fest und starr an ihm hingen; sie schien mit gespannter Aufmerksamkeit zuzuhören, während ihre Gefährten, ärgerlich darüber, daß sie so ganz verdrängt und um die Ausbeute des Abends gebracht waren, gleichgültig oder verdrossen auf ihre Krüge niedersahen. Es mahnte ihn wirklich, als ob ihn Th’res anschaue; wenn auch ihr Auge sanfter blickte, war doch um den Mund derselbe schmerzliche Zug zu sehen, der ihrem Angesicht oft einen Ausdruck gab, als halte sie mühsam die Thränen zurück über ein Leid, das nur ihr bewußt war. Ein unsägliches Mitleid wandelte ihn an; von einem raschen Gedanken erfaßt, brach er sein Spiel mit ein paar verwegenen Gängen ab und sprang laut lachend auf. „So, jetzt hab’ ich das Meinige gethan,“ rief er der erstaunten Umgebung zu, „meint Ihr ich soll Euch allein den Narren machen und für nichts und wider nichts? Ich will auch was davon haben – jetzt ist’s an Euch, zugelust habt Ihr genug, jetzt spielt Ihr mir Einen auf – ’raus mit dem Geldbeutel, und laßt die Guldenstückeln klingen!“

Damit nahm er einen Teller vom Tisch und ging mit demselben nach Art sammelnder Musikanten unter den Gästen umher; seine Cameraden lachten unmäßig über den prächtigen Spaß, der die ganze Lustbarkeit erst voll mache bis zum Rand – die Andern wußten nicht, wie sie die Laune des aufgeregten Burschen verstehen sollten; der reichste Bauerssohn der Umgegend [400] konnte doch nicht für sich sammeln wie ein Bettelmusikant, und doch wollten sie es nicht darauf ankommen lassen, ihm eine Gabe abzuschlagen. Sie sahen einander mit bedeutsamen Blicken an, aber sie thaten ihm den Willen, und auch die Fremden weigerten sich nicht, den Teller zu bereichern. „Gott straf mich!“ sagte der Major, indem er sich mit seiner Gesellschaft entfernte, „ich fange an zu fürchten, daß Sie Recht behalten, Herr Landrichter – das resolute Wesen an der Kegelbahn und sein treffliches Citherspiel bestärkten mich anfangs in meiner guten Meinung, aber daß er nun mit dem Teller sammeln geht – daß er das über sich gewinnt, das wirft Alles mit einem Male über den Haufen … Der Bursche hat keine Ehre im Leibe!“

„Ich bedaure, daß ich Ihnen nicht widersprechen kann,“ erwiderte der Landrichter; „es ist ein prächtiger Bursche, dem Alles gelingt, was er nur anfaßt, aber wenn er es nicht schon geworden, ist er offenbar auf dem nächsten Wege, ein Taugenichts, oder wie man sich hier zu Lande ausdrückt, ein Loder zu werden.“

Wolf war indessen mit seinem Rundgange zu Ende gekommen und schüttelte die Münzen auf dem Teller, mit dessen Ertrag er nicht eben sehr zufrieden schien. „Hol’ mich der Teufel,“ rief er dazu, „Ihr seid mir einmal eine knickerige Sippschaft! Ist das Alles, was ich mir verdient hab’? Da muß ich Euch schon zeigen, daß ich wenigstens selber etwas halte auf mich …“ Er griff in die Tasche, warf eine Handvoll Geld zu dem Gesammelten und schüttete Alles der Harfenistin, neben die er sich wie unabsichtlich hingestellt hatte, in den Schooß. „Da Mädel, nimm,“ rief er, „für Dich hab’ ich’s gesammelt, damit Du nicht zu kurz kommst wegen einer solchen Spielerei, wie die meinige ist – nimm und thu’ Dir auch einmal einen guten Tag auf mit Deinen traurigen Augen!“

Rasch machte er sich los von dem Danke des überraschten Mädchens und ihrer Gefährten, die nun, plötzlich umgestimmt, sich in Lobeserhebungen über Wolf’s meisterliches Citherspiel ergingen – wenn er diese Kunst benützen wollte, so könnte er darauf reisen, sagten sie, und so viel Geld verdienen, um mit Vieren zu fahren. Sie spielten noch eins ihrer besten Stücke zum Abschied und eilten dann ihrer Herberge zu, denn die Reihen der Gäste hatten sich immer mehr gelichtet und auch die Letzten folgten ihnen bald; hatte doch das Kellervergnügen diesen Abend über alle Gebühr und Gewohnheit lange gedauert und sich genug ereignet, was sich auf dem Heimweg in der warmen hellen Mondnacht erst recht gründlich besprechen ließ.

Unmuthig und wortkarg war Wolf an seinen Platz zurückgekehrt; so sehr die Gesellen schürten und durch tolles Lärmen und Spaßen neuen Brennstoff herbeizutragen suchten, vermochten sie doch nicht, aus der niedergebrannten Gluth eine neu auflodernde Flamme hervorzulocken. Er war abgespannt und müde und ein in der letzten Aufregung noch genommener Trunk vollendete, was der Tag noch übrig gelassen – er breitete die Arme über den Tisch, legte den Kopf darauf und war wenige Augenblicke später in tiefen Schlaf versunken.

… Als er wieder erwachte, wehte ihm der Morgenwind kalt auf den Leib, und über den Bergen kam das Morgengrauen herauf, schön und gewaltig, wie es gestern gekommen war, und doch wie so ganz anders!

Er war allein; seine Cameraden hatten ihn verlassen und das seidene Preistuch mit den daran hängenden Guldenstücken mitgenommen; die leere Stange hatten sie als Andenken zurückgelassen – in der Ecke nebenan auf einer Bank lag das verdorbene Stadtkind in wüstem, todtenhaftem Schlaf … Wolf versuchte nicht, den jungen Mann zu wecken: er trug kein Verlangen, zu erfahren, warum und wie man ihn so allein zurückgelassen. Die eigene Erinnerung sagte ihm mehr als genug von den Ereignissen des gestrigen Tages.

Frostschauernd strich er zwischen den Saatfeldern und Stoppeläckern der unfern sich erhebenden Waldspitze zu – er wollte Niemand begegnen und von Niemand gesehen sein; unter den bergenden Bäumen angekommen, warf er sich krampfhaft schluchzend in’s Gras und wehrte den Thränen nicht, die ihm heiß und wie unerschöpflich über die Wangen stürzten. Scham, Reue, Zorn über sich selbst rangen um den Besitz seiner Seele. War es denn möglich, daß Alles das sich hatte ereignen können? Wie froh, wie frei hatte er gestern dem beginnenden Tage entgegengeblickt, und wie war er heute aus allen seinen Himmeln geschleudert! Was man ihm mit Unrecht schuld gegeben, hatte er nun wirklich gethan – den Namen, gegen den sein Stolz sich aufbäumte wie ein junges Füllen gegen den ersten Zügel, hatte er sich selbst auf die Stirn geschrieben, hatte einen Tag mit Gesindel zugebracht und sich selber zum Schauspiel müßiger Menschen gemacht! Und warum war das Alles geschehen? Nicht er hatte es so gewollt, der ungerechte Wille seines Vaters hatte ihn hinaus gestoßen, und der erste Schritt hatte ihn mit fortgerissen, wie das erste Steinchen, das sich lockert, die Schneelahn losmacht und in rasendem Wachsthum stürzen läßt. Eine Weile tobte er, nachdem die Thränen versiecht waren, seinen dafür aufsteigenden Grimm in Verwünschungen aus – dann, nach der Erschöpfung beider Ausbrüche, kam eine weichere ruhigere Stimmung über ihn und aus dem von den Stürmen gelockerten und befruchteten Erdreich sproßten die Keime klarer Besonnenheit und ruhigen Wollens.

Das Geläute der Kirchenglocken, die zum Frühgottesdienst riefen, suchte ihn im Walde auf und mahnte, daß es Zeit sei, mit sich in’s Reine zu kommen. Beruhigt erhob er sich, denn er hatte einen Entschluß gefaßt: er wollte zu seinem Vater gehen, ein offenes Wort reden und seinen Frieden machen mit ihm; er hätte sich sogleich auf den Weg gemacht, aber er wußte, daß er ihn, weil es Feiertag war, nicht zu Hause treffen würde; der alte Lindhamer unterließ es an solchen Tagen nie, in die Kirche des Nachbardorfes zum Gottesdienste hinüber zu wandern, wenn es auch ein ziemlich weiter Weg war. Von dort kam er erst zum Mittagessen zurück, nach diesem wollte Wolf mit ihm reden; das war so ganz die rechte Stunde dazu, wenn alle Bewohner des Hofes ausgeflogen waren und über dem Hofe und seiner Umgebung die feierliche Ruhe und Stille des Sonntags lag, wie über einer großen Kirche. Er wollte es daher so einrichten, daß er gerade um diese Zeit auf Lindham eintreffen mußte – erleichterten Gemüths, von seinen Vorsätzen wie von Flügeln getragen, schritt er nun in den Tag und das Menschengewühl hinein, das bereits von allen Seiten zum Jahrmarkt herbeikam, der unmittelbar nach den Kirchenfeierlichkeiten beginnen sollte.

In der nämlichen Stunde, in der er seinen Plan aufbaute, rollte ein hübsches Schweizerwägelchen gegen Aibling heran, von ein paar kräftigen Braunen gezogen, welche mit dem leichten Gefährt so tüchtig ausgriffen, als ob es darauf ankäme, eine Wette zu gewinnen oder einem Flüchtling nachzujagen, der um jeden Preis eingeholt werden mußte – dennoch schien es dem Bauern, der in dem Fuhrwerk saß, noch immer nicht schnell genug zu gehen, denn von Zeit zu Zeit rief er dem neben ihm sitzenden Mädchen, das die Zügel führte, unwillig zu, sie solle doch die feisten Thiere besser auftreten lassen; die faulen Mähren hätten über der Feldarbeit das Laufen ganz verlernt und trabten daher wie mit einer Holzfuhre.

Es war der alte Lindhamer, Th’res neben ihm.

Zum ersten Male in seinem Leben war der Alte seiner Gewohnheit untreu geworden und hatte am Morgen seine Angehörigen mit dem Auftrage überrascht, man solle Alles vorbereiten, er wolle anstatt zur Kirche in’s Pfarrdorf nach Aibling auf den Jahrmarkt fahren. Er sagte nicht, warum er das that, aber es war nicht schwer, die Ursache zu errathen: – daß Wolf den ganzen Tag über nicht mehr heim kam, hatte ihn mit neuem Unmuth erfüllt, dessen Gewicht jede verrinnende Stunde um die Last ihrer Sandkörner vermehrte; noch als es bereits zu dunkeln begann, saß er ganz gegen seinen sonstigen Brauch vor der Hausthür auf der Gräd, ließ sich von Dickl noch einmal erzählen, was den Tag über Alles geschafft worden war, und wenn Th’res ihn erinnerte, daß es seiner Augen wegen wohl gerathen sein dürfte, sich nicht der Nachtluft auszusetzen, so erwiderte er, sie solle ihn in Ruhe lassen; er begreife gar nicht, was sie wolle, die Luft sei ja so mild wie Balsam und habe ihm lange nicht so wohlgethan wie heute. Als er gleichwohl nicht mehr anders konnte und sich zur Ruhe begeben mußte, blieb er noch lange wach, und Th’res, die in einer Kammer nebenan lag, hörte, wie er ein paar Mal in der Nacht aufstand und das Fenster öffnete; auch in ihre Augen kam kein Schlaf, und wenn er auch den ganzen Abend Wolf’s nicht mit einer Silbe erwähnt hatte und seine Abwesenheit gar nicht zu bewerten schien, so erzählte ihr doch das eigene Herz deutlich genug, was den Alten [401] antrieb, mit den halbblinden Augen in das Nachtdunkel hinaus zu spähen.

Auch als er am Morgen wie gewöhnlich herunter kam, fragte er nicht; ein Blick auf Th’res, als sie das Frühstück brachte, sagte ihm, was er zu wissen begehrte. Es war also wahr, was man ihm hinterbracht hatte, sein Sohn war wirklich ein verlorener Mensch, denn nach seinen strengen mit ihm alt und starr gewordenen Anschauungen konnte es keinen größern Beweis eines nichtsnutzigen, völlig verlotterten Lebens geben, als die Nacht ohne Noth außer dem Hause zuzubringen. Und das hatte sein Sohn gethan, der ältere, auf dem alle seine Hoffnung geruht, der nach ihm den Lindhamerhof bewirthschaften und in Ehren halten sollte – das hatte er gethan unmittelbar nach dem ernsten Gespräche mit ihm, das hatte er zu thun vermocht unter dem ersten Eindruck seines Willens – das war die ganze Wirkung des über seine Lebensweise ausgesprochenen Tadels, daß er dieselbe wie zum Trotz noch überbot und zu den vielen geringen Vergehen noch das nicht zu entschuldigende größte fügte. War die Nacht über seine Stimmung eine mehr gekränke, fast wehmüthige gewesen, so schlug sie mit dem Morgen wieder in zornigen Unmuth um; obwohl es ihm aber heiß zu Kopf stieg, gewann er es doch über sich, sich nicht zu verrathen, und gab den Befehl wegen der Aiblingfahrt mit völlig gleichgültigem Tone.

Dickl, der mit Th’res zugegen war, erwiderte nichts, auch er scheute sich, durch ein voreiliges Wort vielleicht den Funken in’s Pulver zu werfen, und ging ruhig, um Pferde und Wagen in Bereitschaft zu setzen. Während er das that, kam der Brunnensepp wie zufällig aus dem Stalle herbei und indem er ihm dabei behülflich war, flüsterten beide eifrig und angelegentlich miteinander.

Th’res war auf der Bank nebenan sitzen geblieben; sie errieth vollkommen, was der Alte beabsichtigte; er wollte nicht länger im Zweifel sein, wollte Wolf aufsuchen und sich selbst überzeugen, wo er die Nacht über gewesen und was er getrieben. Sie sah ein, daß dagegen nichts gethan werden konnte, vielleicht konnte der Schritt sogar zum Guten und zur Aussöhnung führen, denn sie konnte unmöglich glauben, daß Wolf etwas wirklich Schlechtes gethan und aus bloßem Hang zur Lustbarkeit Nacht und Tag durchschwärmt haben sollte; er konnte ja durch irgend etwas aufgehalten oder verspätet worden sein, gab es doch Gasthäuser genug, in denen er unbedenklich ein Unterkommen fand. Das Eine, was sie bei dem Vorhaben des Alten beunruhigte, war, daß Dickl dabei sein sollte; dies zu verhindern, seinem gewiß nicht förderlichen Einflusse vorzubeugen, war das Nächste, worauf sie sann.

„Das ist gescheidt, daß Ihr Euch auch einmal hinaus macht,“ sagte sie dann, indem sie das Geschirr wegnahm. „Ihr kommt ja gar nirgends mehr hin – habt Euch schon oft vorgenommen, den Aiblinger Doctor zu fragen wegen Eurer Augen, das könnt Ihr dann auch thun; der Doctor wird’s doch wohl besser verstehen als der Bader drüben im Dorf …“

„Ja, ja, hast schon Recht, Th’res,“ entgegnete der Alte in einem ergebenen und doch verbissenen Tone; „aber wegen meinen Augen brauch’ ich nit vor die Hausthür hinauszugehn – ich seh’ mit den kranken Augen so viel, daß ich gar nit weiß, ob ich mir gesunde wünschen soll …“

„Frevelt nit und verzagt nit!“ sagte Th’res mit Beziehung. „Es kann Alles noch recht werden, so lang’ man die Augen offen hat. Der Tag ist auch gar so schön, daß mich eine ordentliche Lust ankommt, auch dabei zu sein; hätt’ mir ohnehin schon lang’ gern Zeug zu einem neuen Mieder gekauft – auf dem Mark hab’ ich die Auswahl … Wie wär’s, wenn Ihr mich mitnähmt?“

„Warum nit?“ erwiderte der Alte. „Aber es wird nit gehn; das Wägerl ist nur zweisitzig, und der Dickl muß mit, weil ich das Kutschiren nit mehr recht zuwege bring’ …“

„Wenn’s weiter nichts ist!“ rief Th’res. „Da ist leicht geholfen: das Kutschiren bring’ ich schon zuwege für Euch; da soll’s nit fehlen …“

„Dann kann’s mir auch recht sein,“ sagte der Alte, „aber wenn Du Dich anziehn und schön machen willst, hast nit viel Zeit; ich will hinauf, mein Gewand holen, und dann geht’s gleich fort, sobald angespannt ist.“

„Ich werd’s kurz machen,“ erwiderte sie lachend, „bin ja schon halb und halb zum Kirchgang hergericht’t gewesen, und wenn ich die Schönheit nit in der Geschwindigkeit fertig bring’, wird die Herumtrengerei auch nit viel helfen …“

Sie ging und kehrte bald zurück, als gerade auch der Bauer im langen Sonntagsrock und den Hut auf dem Kopfe aus seiner Stube herunterkam. Gleichzeitig fuhr Dickl mit dem Wägelchen am Hause vor, in voller Feiertracht und geputzt, daß er fast stattlich ausgesehen hätte, wäre nicht auf seinem Gesichte ein häßlicher Zug von Bosheit aufgeblitzt, als er Th’res ebenfalls vollkommen angekleidet und reisefertig neben dem Vater stehen sah. Das Mädchen hatte die wenigen Augenblicke, die ihr zum Anziehen gegönnt gewesen waren, glänzend benutzt, und wenn es gegolten, ein Muster und Vorbild eines hübschen Bauernmädchens zu zeigen, so wäre ein besseres wohl nicht aufzufinden gewesen. Sie war doppelt schön, denn Das, was sie vorhatte, spiegelte sich mit freudigem Lichtscheine in ihren dunklen Augen, und ihre Wangen waren von einem sonst seltenen warmen Anhauche innerer Erregung überflogen.

„Das hab’ ich mir eh’ ’denk, daß es so gehn wird,“ sagte Dickl, als der Alte ihn absteigen und die Zügel an Th’res übergeben hieß. „Fahrt nur zu! Ich komm’ schon auf Schustersrappen nach.“

Er that, als wäre ihm der Wechsel vollkommen gleichgültig; aber der Seitenblick, den er auf Th’res warf, zeigte dieser klar, daß er sie errathen habe, und wie sie ihn hinwieder ansah, war auch er jeden Zweifels überhoben, daß auch sie ihn durchschaue.

Stolz und freudig, als wüßten sie, wer sie leite, trabten die Pferde dahin, erst langsam die Anhöhe hinunter, dann auf der Ebene, als wären ihnen Flügel gewachsen. Dickl und der Brunngrabersepp kehrten eifrig plaudernd nach dem Stalle zurück.

Der Alte und Th’res fuhren indessen schweigend dahin. Das Mädchen hielt es nicht für gerathen, das Anliegen, das Beiden auf dem Gemüthe lastete, zuerst zu berühren; sie kannte den Bauer und wußte, daß er Alles erst lange in sich herumtrug und vorarbeitete, ehe er es von sich gab; sie wollte es an ihn kommen lassen, das einleitende und vielleicht eben darum entscheidende Wort auszusprechen. Es wurde ihr Das um so leichter, als der Bauer, nichts um sich her beachtend, über seinen Gedanken brütete und so sehr darein vertieft war, daß er manchmal abgerissene Worte halblaut vor sich hin redete und mit den Händen dazu focht, als wollte er ihnen dadurch größern Nachdruck geben. Es war klar, daß er einen harten Strauß in sich durchkämpfte und eine folgenschwere Entschließung sich in ihm vorbereitete.

Auch Th’res war es nicht um ein Gespräch zu thun, sie war nicht minder mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Denn der gestrige Tag hatte solche Veränderungen in ihr hervorgebracht, daß sie Mühe hatte, sich selbst wiederzufinden. Zunächst hatte die lange Abwesenheit Wolf’s, die dadurch hervorgerufene Nothwendigkeit, sich stets mit ihm zu beschäftigen, und die mancherlei Besorgniß um ihn und die Dinge, die noch kommen mußten, sie aufgeklärt, daß ihr Denken und Fühlen enger und stärker mit ihm zusammenhänge, als sie selber geahnt und sich eingestanden hatte; beinahe noch bedeutender aber war die Wirkung, welche das kurze Gespräch mit dem Unterhändler auf sie gemacht hatte. Die von ihm so leicht hingeworfene Frage, wer und was sie denn eigentlich auf dem Lindhamerhofe sei, war ihr schwer auf’s Herz gefallen, wie ein überhängendes Felsenstück, das, lange gekannt und nicht beachtet, plötzlich herniederrollt und das kleine friedliche Gärtchen zerstört, das sich vertrauensvoll unter ihm angesiedelt. Wohl war es immer wie ein dunkler Hintergrund in ihr gelegen, daß sie nicht immer auf dem Lindhamerhofe gewesen, daß hinter ihren Kindererinnerungen, die alle mit diesem Grund und Boden zusammenhingen, noch eine andere Zeit liege, eine Zeit voll unheimlicher und drohender Gestalten und Ereignisse, auf die sie sich nicht mehr besann, die aber manchmal in unguten Stunden sie mit unerklärlicher Bangigkeit überfielen oder im Traume ängstigten. Sie wußte, daß sie als unmündiges Kind auf den Hof gekommen war, daß die Milde der Bäuerin, die schon lange heimgegangen, sie dahin gebracht; aber wie sich das zugetragen und warum, das hatte sie nie erfahren. Sie hatte weder Ursache noch Verlangen gehabt, danach zu fragen, und [402] von selbst hatte man ihr nichts erzählt, weil man es wohl für überflüssig erachtete und sie als Angehörige des Hauses betrachtete, wie sie selbst sich mit ihm gleich einem als winziges Stämmchen dahin verpflanzten Baume verwachsen fühlte. Dieser Zustand harmloser Unbefangenheit, dieses friedliche Dahinleben war mit einem Male zerstört und konnte nicht wieder kommen, so wenig als einem gesprungenen Glase, auch wenn es noch lange zusammenhält, der entstellende Spalt wieder verschwindet.

Sie war mit sich einig, daß sie das nicht länger ertragen wolle; sie mußte Gewißheit haben über sich selbst und nahm sich vor, die nächste Gelegenheit vom Zaune zu brechen, um sie vom Lindhamer zu erhalten; wären die unerwarteten Vorfälle nicht dazwischen gekommen, sie hätte wohl schon den Sonntag Abend benutzt, um die Entdeckung herbeizuführen.

Als sie Aibling erreichten, war das Gewühl des Jahrmarktes im raschesten Flusse. Besonders die Kirchgasse entlang standen die Buden der Verkäufer gereiht, der Krämer, welche Joppen, Lederhosen und Stiefel feil boten, wie sie der Bedarf des Landmannes sind, der Juden, welche mit bunten Seidentüchern und schimmerndem Bänderkrame die Mädchen lockten, und der Kleinhändler, die das Allerlei ihres Groschenkrames unermüdlich anpriesen, bis herunter zu Denen, die auf einem bescheidenen Stangengerüst Zündhölzer und Feuerschwamm oder Käse oder Mandelplätzchen, Zuckerbrod und Lebzelten aufgestapelt hatten. Am lebhaftesten war das Gedränge um den kleinen Platz, den ein paar große Gasthäuser wie einen Winkel einschlossen, denn hier hatten sich die Schaubuden zusammengefunden, die bei einem solchen Anlaß auf dem Lande niemals fehlen. In der Mitte des Platzes hatte eine Bande von Springern und Seiltänzern eine Art von Leinengezelt aufgeschlagen, in welchem sie ihre Künste producirten. Die außen angebrachten Malereien und der nimmer ermüdende Ausrufer verkündeten, daß hier ein wilder Buschmensch zu sehen sei, der ein lebendes Huhn mitsammt den Federn verzehre, daß ein weltberühmter Künstler auf dem gespannten Seile ein Hufeisen schmieden und eine nicht minder gefeierte Künstlerin als Non plus ultra den hier zu Lande noch nie gesehenen Eiertanz aufführen werde.

Es war dieselbe Gesellschaft, die Abends vorher mit ihrer Musik herumzog; der Eine davon hatte bereits ein Ungeheuer von Bart und Perrücke aufgesetzt, um vor dem unkundigen Publicum als wilder Mann zu gelten; der Geigenspieler zeigte sich vor der Thür als Athlet und Tänzer, im geflickten rosenrothen Tricot, um die Hüften ein kurzes Beinkleid von einstmals roth gewesenem Taffet und ein messingenes Diadem um die Stirn. Auch die Harfenspielerin war in ähnlicher Weise gekleidet; der hochgeschürzte schwarze Rock, das tief ausgeschnittene rothe Mieder, auf dem Kopfe eine Art Turban, und die vertretenen Stiefelchen von gelbem Saffian ließen sofort errathen, daß sie es war, welche der dicht geschaarten gaffenden Menge das kunstvolle Schauspiel des Eiertanzes gewähren sollte.

Auch Wolf war unter den Zuschauern; er hatte noch Zeit genug vor sich und fand kein Arg darin, sich die Komödie ebenfalls mit anzusehen. Er legte das Eintrittsgeld vor den Athleten hin, der ihn sogleich erkannte und auf’s Freundlichste grüßte; der Mann schlug den bunten Kattunvorhang, der den Eingang verhüllte, mit tiefem Bückling zurück und nöthigte den großmüthigen Gönner, in der vordersten Reihe Platz zu nehmen, der eigentlich nur für die etwaigen Honoratioren bestimmt war. An dem Leinwandumhange, durch das Gedränge verdeckt und darum auch von Wolf unbemerkt, stand Dickl mit dem Brunngrabersepp auf der Lauer; sie waren unmittelbar nach der Abfahrt des Alten von Lindham weg und nach dem Straßwirthshause geeilt, von dort aber mit dem Fuhrwerke des Wirthes nachgefahren. Im Markte angekommen, war es ihnen nicht schwer geworden, Wolf’s Anwesenheit und Alles, was Tags vorher geschehen, zu erfahren.

„Siehst Du, daß ich eine gute Nase habe!“ sagte Sepp halblaut. „Wir haben ihn richtig aufgespürt – hast Du gesehen, wie bekannt der Komödiant mit ihm gethan hat? Heiß’ mich einen Dummkopf, wenn sich da nichts anspinnt, was man brauchen kann!“ …

Im nächsten Augenblicke waren sie ebenfalls in der Bude, aber ganz hinten auf dem geringsten Platze, wo sie, selber ungesehen, doch den ganzen Hüttenraum überblicken konnten.

Das Spiel begann nach einiger Zeit; ein Luftspringer machte auf einem Teppiche die unglaublichsten Körperverrenkungen; ein anderer fing Teller und Kugel auf und balancirte einen spitzen Degen auf der Nase; die Künste auf dem Seile gingen vor sich; der Buschmann fraß sein Huhn, und Alles war im höchsten Grade auf den Schluß, den vielverheißenden Eiertanz, gespannt. Um die Erwartungen noch mehr zu erhöhen, wurde sogar eine Bettdecke wie eine Art Vorhang vor das bis dahin offene Fußgestell gezogen, das die Bühne bildete; aber Minute um Minute verging, ohne daß der Vorhang sich wieder öffnete. Dagegen wurden hinter demselben streitende Stimmen immer lauter vernehmbar, offenbar waren die Künstler uneins geworden und bereiteten sich unter einander selbst Hindernisse. Der Geiger kam zuletzt mit zornrothem Kopfe heraus; er hatte einen gewöhnlichen Ueberrock über das Athletengewand gezogen und eilte durch die Zuschauer davon, unbekümmert um die Tänzerin, die ihn zurückzuhalten versuchte und, als dies nicht gelang, ebenfalls mit hochgerötheten Wangen und verwirrt vor den Zuschauern stand.

Da fiel ihr Blick auf Wolf, und mit lebhaft aufblitzender Freude eilte sie auf ihn zu.

„Ihr seid da, guter Freund?“ rief sie. „O, nun ist mir geholfen! Der Tollkopf hat gemeint, mich um den Eiertanz zu bringen, wenn er nicht die Geige dazu spielt, weil ich Musik haben muß, um nicht daneben zu treten … aber Ihr könnt statt seiner spielen. … Eine Cither ist da; den Tanz kennt Ihr … Ihr habt ihn gestern auch gespielt … o, kommt geschwind herein und helft mir aus der Noth … nicht wahr, Ihr schlagt mir’s nicht ab?“

Wolf wußte nicht, wie ihm geschah; es regte sich etwas in ihm, was ihn abmahnte, aber als ihm das Mädchen so herzlich bittend in’s Gesicht sah, war es ihm, als ob Th’res vor ihm stände und die lieben Augen zu ihm aufschlage, und halb wollend, halb gezogen, folgte er ihr hinter den Vorhang; wenige Augenblicke später lutschte Dickel aus der Bude.

Der alte Lindhamer hatte unterdessen den ganzen Jahrmarkt durchwandert und überall seine Augen gehabt, als wären sie mit einmal wieder ganz frisch und schmerzlos geworden. Er gab sich den Anschein, als ob er sich Alles recht genau besehen wolle, aber den er suchte, fand er nicht, und eine Frage nach ihm zu thun, war ihm unmöglich. Er wollte sich nicht den Schein geben, als kümmere er sich um den leichtfertigen Burschen. Th’res, die ihn vollkommen errieth, hatte unter allerlei Vorwänden versucht, sich von ihm auf kurze Zeit loszumachen: sie wollte Wolf allein aufsuchen und warnen, denn sie fürchtete das Schlimmste, wenn die beiden Starrköpfe unvorbereitet aufeinander träfen, aber der Alte, der sie nicht minder durchschaute, ließ sie keinen Augenblick von seiner Seite und machte lieber an jeder Bude, wo sie feilschte und kaufte, den geduldigen Zuschauer und und Rathgeber. Als sie zu der Hütte der Springer kamen, blieb er stehen, besah die Malereien und hörte die Anpreisungen des Ausrufers, während drinnen bereits die Vorstellung begonnen hatte und Gelächter und Händeklatschen verrieth, wie sehr die Leute daran Gefallen fanden.

„Wie ist’s? Wollen wir auch hinein?“ sagte er. „Weil ich Dich doch einmal mitgenommen habe auf den Markt, muß ich doch auch sorgen, daß Du was zu sehen kriegst.“

„Ich mag nit,“ sagte Th’res abwehrend, „ich mag so ’was nit sehn – ich mein’, ich müßt’ für die Leut’ roth werden, die sich nit schämen und sich anschauen lassen und selber ausstellen, wie wenn sie wilde Thier’ wären …“

Sie wollten weiter gehen, aber das wachsende Gedräng der Neugierigen bannte sie einige Secunden fest. Einer von den Ortsbürgern, der am Abend vorher mit auf dem Keller gewesen und einigen Begegnenden davon erzählte, kam zufällig hinter ihnen zu stehn. Sie mußten einen Theil des Gesprächs mit anhören, und als der Alte einige Worte davon vernommen hatte, blieb er hartnäckig stehen, so sehr Th’res, der beinahe das Herz still stand vor Schrecken, ihn fortzuzerren bemüht war. Lachend erzählte der Mann, wie lustig es gewesen, was sich Alles begeben und wie ein Bursche, den er nicht gekannt, die ganze Gesellschaft unterhalten habe. Er solle der Sohn eines reichen Bauern sein und nicht viel taugen, aber Citherspielen und Kegelschieben verstehe er aus dem Grunde, und jetzt sei er gar da drinnen in der Schaubude …

[404] Ein erneuter Andrang trennte die Gruppe; das Weitere ging dem Alten verloren, der wie versteinert dagestanden, um ja kein Wörtchen zu verlieren. Als die Redenden hinweg waren und er die Unmöglichkeit erkannte, sie wieder zu erreichen, nahm er den Hut ab und fuhr sich über Stirn und Schläfen, in deren Adern der Zorn hämmerte, als ob er sie sprengen wolle. Zum ersten Male kam, was er dachte, in Worten über die Lippen. –

„Mir scheint, Alles laßt aus bei mir,“ sagte er halb zu Th’res halb vor sich hin, „die Augen sind schon lang nichts mehr nutz und jetzt ist es, als wenn mich auch das Gehör verlassen wollt’ … Es saust mir so in den Ohren, daß ich nit weiß, ob mir träumt oder ob das wirklich ist, was ich hör’ … Muß doch einmal in die Hütten hinein und mich überzeugen, was wahr ist …“

Th’res wollte ihn zurück halten; sie ward der Mühe überhoben, denn so eben trat Dickl wie zufällig heran, grüßte den Vater und erzählte, daß er trotz des Vorsprungs, den sie gehabt, ihnen doch bald nachgekommen sei.

„Wo geht Ihr denn hin, Vater?“ sagte er. „Ihr werdet doch nicht in die Hütten da hinein wollen, zu den armseligen Seiltänzern?“

„Warum nicht?“ fragte der Alte scharf. „Warum soll ich nit hinein? Was so viele Andere anschaun, wird wohl für den Lindhamer von Lindham nit verboten sein … Geh mir aus dem Weg! Ich will sehen, was es drinn’ giebt …“

„Nein, Vater, folgt mir und geht nit hinein,“ sagte Dickl mit heuchlerischer Besorgtheit, „wer weiß, ob es Euch nit zu sehr angreifen thät …“

„Kreuzteufel,“ schrie jetzt der Alte ungeduldig und schob den Warner ziemlich derb bei Seite, „ich will einmal doch wissen, ob ich noch mein eigener Herr bin, und was es denn so gar Schreckliches zu sehn giebt in der Räuberhütten da …“

Er ging, von Dickl mit verstellter Sorge, von Th’res mit herzbeklemmender Angst gefolgt, und trat eben recht in den Zuschauerraum, um den Vorhang von der Bühne verschwinden und die Tänzerin zwischen den reihenweise auf den Boden gelegten Eiern in anmuthiger Stellung tanzbereit stehen zu sehen, den einen Arm leicht in die Hüfte gestützt, mit dem hochgehobenen, schön gebogenen andern Arm das Tamburin schwingend.

Unweit von ihr, auf der Bühne, saß Wolf, die Cither vor sich auf dem Schooß. Dem Alten schwamm und flirrte es vor den Augen: er sah nichts davon, mit welcher Sicherheit das schöne Mädchen den Tanz vollführte; wie sie mit einer für solche Umgebung nicht zu erwartenden Anmuth sich zwischen den Eiern bald stehend, bald knieend hindurchdrückte und wand und mitunter in schnellem Sprunge so haarscharf daneben niedertrat, daß es schien, als müsse sie dieselben zertreten oder doch vom Platze stoßen – er sah nur ein bekanntes Gesicht, sah seinen Wolf auf der öffentlichen Schaubühne, spielend, als erklärten Genossen landfahrender Komödianten, und das Herz krampfte sich ihm zusammen, daß ihm der Athem stockte und er tastend und wie taumelnd um sich griff. Th’res erging es nicht viel besser – schon von Kindheit auf, so lang sie sich nur zu erinnern vermochte, hatte sie gegen alle solche Schaustellungen und Künste eine so lebhafte Abneigung empfunden, daß sie gegen sonstige Kinderart dieselben nicht sehen wollte und sogar von einer Art Grauen dabei erfaßt wurde – und nun mußte sie es erleben, den Mann, der ihr so viel, ja das Höchste galt, selbst thätig in solcher Umgebung zu sehen, die ihr als das Furchtbarste und Unwürdigste erschien, was in dem engen Kreise ihrer Gedanken und Erfahrungen umfangen lag. Sie bedurfte ihrer ganzen Kraft und Fassung, daß sie nicht laut aufschrie und Wolf ermahnte, den gefährlichen Kreisen zu entfliehen, auch nahm der Zustand des Alten ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie faßte ihn am Arm und geleitete ihn in’s Freie – man machte ihr willig Platz, als sie so recht hastig und eindringlich bat: „Laßt uns hinaus, Ihr Leuteln – dem alten Mann ist ungut worden in dem Gedräng da herinnen …“ Ueber der allgemeinen Spannung, über dem Beifall, den die Tänzerin hervorrief, ward ihre Entfernung nur von der nächsten Umgebung beachtet.

[415] Draußen angekommen, hatte der alte Lindhamer bereits sich selber wieder gefunden: er athmete ein paar Male hoch auf, als ob er eine Last von seiner Brust wegbringen wolle, und machte sich von Th’res frei.

„Es ist wieder vorbei,“ sagte er dann vollkommen gelassen, „über dem dummen Zeug da drinnen wär’ mir fast ein Bischen schwindelig geworden;, aber ich spür’s, wenn auch die Augen auslassen, mein Kopf ist doch noch der alte, Gott sei Dank! Aber jetzt wollen wir uns bald auf den Heimweg machen – Du hast ja alleweil’ gesagt, Th’res, Du willst allerhand einkaufen. Thu’s! Mir ist just ein Gang eingefallen, den ich noch machen muß. … In einer Stund’ triffst Du mich im Bräuhaus, wo wir eingestellt haben … der Dickel geht mit mir – und so b’hüt’ Dich Gott, Th’res, und kauf’ gut ein!“

Aufrecht und hastig, wie lange nicht, schritt er hinweg. Th’res wollte ihm überrascht folgen, mußte aber bald erkennen, daß es unmöglich sei, Den einzuholen, der nicht eingeholt sein wollte. Unruhig, von ängstlichen Sorgen und Befürchtungen erfüllt, kehrte sie bald zurück; das Einzige, was sich ihr als jetzt noch möglich zeigte, war, bei dem Sohne zu versuchen, was beim Vater nicht gelungen war, und zu verhindern, daß sich Beide begegneten, ehe die erste Aufregung des Vaters dem Verlaufe einiger Stunden gewichen war. Es galt vor Allem, Wolf zu finden und aufzuhalten, und dazu bot sich die Gelegenheit von selbst, denn eben war die Vorstellung in der Gauklerbude zu Ende gegangen; unter den herausdrängenden Zuschauern mußte sich auch der Erwartete befinden; aber Secunde um Secunde verging; bald hatte die Hütte sich vollständig entleert, und Wolf war nicht sichtbar geworden.

Unter gemischten, sehr eigenthümlichen Empfindungen war ihm die Aufführung des Tanzes vorübergegangen; so entschieden und rasch er sonst in allen Dingen war, so befangen fühlte er sich, als der Vorhang fiel und er sich auf der kleinen Bühne den Blicken Aller ausgesetzt sah. Am liebsten wäre er wieder aufgesprungen und hätte Cither und Tanz im Stiche gelassen, aber sofort war ihm auch klar, daß das nur noch größeres Aufsehen hervorgebracht haben würde; so nahm er sich zusammen, sah starr auf seine Cither nieder und spielte seinen Part ab, ohne einen Blick in den Zuschauerraum zu werfen. Er gewahrte daher wohl, daß dort etwas vorging und Einige die Bude verließen, aber er war nicht im Stande, die Personen zu erkennen. Wie von einer Kette befreit, hatte er dann sogleich seinen Platz verlassen und wollte sich durch die Hinterthür entfernen, denn es war ihm unerträglich, sich jetzt unter die Leute zu mischen; dort hoffte er unbeachtet entschlüpfen zu können, aber noch am Thürvorhange fühlte er sich von einer weichen Hand gefaßt und zurückgehalten.

Die Tänzerin, erregt von Tanz und Beifall, das Tamburin noch in der Hand, stand vor ihm.

„Wollt Ihr schon fort, guter Freund?“ sagte sie mit schmeichelndem Tone. „Und noch dazu heimlich, daß ich Euch nicht einmal danken kann? Das ist nicht recht von Euch.“ Dabei legte sie ihre Hand auf die seinige, eine Hand, so fein, wie er noch keine berührt hatte.

„Da ist nichts zu danken,“ sagte er kurz und störrisch und wollte seine Hand losreißen; er unterließ es aber, als er dem Mädchen in Gesicht und Auge sah, deren Aehnlichkeit ihn schon einmal milder gestimmt hatte. Da war diesmal jener eigenthümlich schmerzliche Zug um den Mund zu sehen, der ihr einen Ausdruck gab, als ob ihr das Weinen näher stünde als das Lachen. „Es ist gern geschehen – schon der Leut’ wegen, die sonst die Tänzerin nicht zu sehen gekriegt hätten.“

„Ich glaube das wohl,“ entgegnete sie mit leichtem Anfluge von Kränkung, „meinetwegen habt Ihr’s nicht gethan, hättet auch keine Ursache dazu gehabt, aber mir kommt’s demungeachtet zu, Euch zu danken. … Ihr habt sehr gut gespielt. Der Tanz ist mir noch selten so gelungen; ich wollte, ich könnte immer nach Eurem Spiele tanzen.“

Wolf lachte; es war eine halb verlegene Antwort, da er eine solche in Worten nicht fand.

„Ich weiß, warum Ihr lacht,“ fuhr sie fort, „ich kann mir’s denken, wenn Ihr’s auch nicht sagt. Ihr lacht, weil ich eine herumziehende Komödiantin bin und Ihr ein Bauer; aber es kommt mir so vor, als wenn Ihr einen Rock anhättet, für den Ihr nicht geboren seid. Ihr könnt mehr und Gescheidteres, als hinterm Pfluge dreingehen; das können Andere auch, bei Euch aber wär’ es schade, wenn eine solche Anlage zum Künstler vergraben würde. Wenn Ihr mit uns ziehen könntet, Ihr würdet bald ein berühmter Mann sein und gewiß Gefallen finden an dem lustigen Komödianten-Wanderleben.“

Wolf lachte wieder, aber diesmal laut und von Herzen, es kam ihm lustig vor, daß man ihm einen solchen Vorschlag machte. [416] „Ich dank’ schön,“ sagte er, „Du meinst es schon ein Bissel gar zu gut mit mir. Mein Vater ist der reichste Mann und der Bauernhof, den ich einmal kriege, der schönste in der ganzen Gegend. Mir ist das Haus auf den Buckel gewachsen wie einem Schnecken; ich kann nit heraus.“

Die Tänzerin sah ihn mit den mächtigen Augen wehmüthig an; sie waren von einer Thräne verschleiert. Durch den Sinn der Landfahrerin ging, vielleicht zum ersten Male, das verlockende Bild einer festen, trotz ihrer Beschränkung geliebten Heimath, das Bild eines Glückes, das in ihren wenn auch noch so eng umschriebenen Grenzen liegt. Sie faßte abermals nach Wolf’s Hand, die er ihr auch ließ; aber mit der andern schlug er schon den Vorhang zurück, der den Ausgang verhüllte.

„So lebt wohl!“ sagte die Tänzerin, „mög’ es Euch recht gut gehen und Ihr Alles erreichen, was Ihr wünscht! Laßt es Euch nicht gereuen, der wandernden Komödiantin eine Freude gemacht zu haben!“

Das Tuch fiel zwischen ihm und ihr nieder. Er wandte sich um und – stand vor Th’res. Nach langem vergeblichen Warten war es ihr wie ein Blitz durch den Sinn geschossen, er könne wohl gar noch bei den Gauklern sein; sie ging an die Rückseite der Bude und stand wenige Schritte vor dem Abschied nehmenden Paare, das ihr Näherkommen nicht gewahrte.

Ueberrascht, wortlos blickten Wolf und Th’res einander an, aber die Ursache, die sie verstummen machte, war bei Jedem eine verschiedene, ja geradezu entgegengesetzte, bei ihm ein Erschrecken der Freude, bei ihr ein Aufzucken des Entsetzens. In dem Burschen wallte bei Th’resens unvermuthetem Anblicke eine so warme innige Empfindung auf, wie er sie noch nie gekannt hatte, aber Th’res war ihm auch nie so schön vorgekommen, sei es, daß ihm das Lob des Schützenpeters die Augen geöffnet hatte, sei es, daß die Anmuth und liebliche Eigenart ihres Wesens ihm gerade jetzt durch den Gegensatz der trotz aller Aehnlichkeit so sehr von ihr verschiedenen Tänzerin aufgegangen war. Th’res dagegen, die mit einem Herzen voll Sorge, Rührung und Schmerz gekommen, war es bei dem Anblicke, der ihr geworden, als ginge ein Eishauch über sie dahin, der, wie im Frühling der Reif, alle die zarten Knospen und Keime versengte und welken machte, die sich eben angeschickt, zu Blüthen aufzugehen. War es ihr auch unsäglich schwer gefallen, den Burschen, den sie vor Allen hoch hielt, in der Bude unter den Gauklern wie Einen von ihnen zu erblicken, so hätte sie das vielleicht doch zu erklären vermocht, sie hätte es vielleicht sogar über’s Herz gebracht, es zu entschuldigen, aber daß sie ihn jetzt wieder antraf, Hand in Hand und in vertrautem Gespräch mit der Landstreicherdirne, erfüllte sie mit unsäglicher Bitterkeit. Einen Augenblick war sie gesonnen, ihr Vorhaben ganz aufzugeben und Wolf dem Schicksale zu überlassen, das er sich selber bereitete. Der herb trutzige Zug ihres Wesens gewann die Oberhand in ihr und machte den Blick kalt und den Mund so streng, als hätten Beide dem Lächeln für immer Valet gesagt.

„Ja, seh’ ich denn recht,“ rief Wolf, der sich zuerst sammelte und mit dem Ausdrucke strahlender Freude auf sie zueilte. „Du bist da, Th’res? Bist Du’s denn wirklich? Das ist schön, das ist lieb von Dir, das … das … ich kann’s Dir gar nicht sagen, wie mich das freut, daß Du auch auf den Markt hereingekommen bist und wir uns da so schön treffen.“

Er streckte ihr die Hand zum Gruße hin, aber mit einer Hast, die an Abscheu grenzte, zog sie die ihrige zurück; sie wollte die Hand nicht berühren, die er noch eben vor ihren Augen der Komödiantin gereicht hatte.

„Ja, wir haben uns recht schön ’troffen,“ sagte sie, „ich bin aber nit allein da; der Vater ist auch mit herein; ich glaub’, er hat Dich gesucht.“

„Weil ich nit heim’kommen bin,“ rief Wolf erbleichend, „ich hätt’ mir’s denken können. Ich weiß selber nit recht, warum ich’s gethan hab’; es ist halt so gekommen, Eines aus dem Andern. Ist er recht zornig gewesen? Aber um das brauch’ ich nit erst zu fragen. Wenn er aber Alles weiß, und ich hab’ mir’s vorgenommen, daß ich ihm Alles sag’, gerad’ heraus und ohne Umschneiderei, dann wird er schon wieder gut werden – und Du auch …“ setzte er zögernd und in etwas unsicherem Tone hinzu.

„Was hab’ ich damit zu schaffen?“ entgegnete Th’res so hart, als sie es nur zuwege brachte. „Der Vater hat nichts geredt, aber das hat man ihm wohl anmerken können, daß es ihn justament nit viel gefreut hat. Und damit Du nur gleich Alles weißt: er war vorhin da in der Komödiantenhütten drinn und hat Dich gesehen, wie Du der Springerin zum Tanze aufgespielt hast – ich hab’ Dich aufsuchen und Dir’s sagen wollen, damit Du doch weißt, wie Du daran bist, und Dich darnach richten kannst.“

Wolf hatte es fast die Rede verschlagen. „Der Vater in der Hütten?“ rief er beinahe stammelnd. „Das ist das Letzt’! ich fürcht’, das stoßt dem Faß den Boden aus. Was soll ich jetzt thun? Wo ist der Vater?“

„Das weiß ich nit. Ich soll ihn im Bräuhaus wieder treffen, wo die Bräuneln eingestellt sind; er hat gesagt, er hätt’ noch einen Gang zu machen, wohin aber und wegen was, das weiß ich nit.“

„Ich könnt’ mich gleich selber zerreißen vor lauter Gift,“ rief Wolf. „Ich hab’ mir Alles so schön aus’denkt gehabt und vorgenommen, wie’s werden sollt’ in der künftigen Zeit – und jetzt, was soll ich jetzt thun?“

„Das mußt mich nit fragen,“ entgegnete Th’res, sich kalt abwendend. „Du hast mir’s ja erst gestern in der Früh’ ausgedeutscht, daß Eins dem Andern nichts einreden soll und wie’s bald überall so sauber werden thät, wenn Jeder vor seiner Thür kehrt; das hab’ ich mir wohl gemerkt und denk’, Du brauchst auch Unsereins gar nit … wenn Du einen guten Rath willst, darfst ja nur die Tänzerin, die Komödiantendirn’ fragen, mit der Du so gut freund bist.“

Mit einem flüchtigen halblauten „Behüt’ Gott!“ war sie verschwunden und ließ ihn niedergeschmettert zurück, unfähig sofort den Entschluß zu fassen, der bei der nun eingetretenen Wendung der Dinge nicht zu verschieben war. Er stand da mit der Miene eines Mannes, der eben angefangen, die Fehler und Gebrechen seines Hauses durch einen Umbau zu ändern und dem dabei das Gebäude durch eine plötzliche Erschütterung überm Haupte zusammenstürzt. – Vergangenheit und Gegenwart, Mängel und Entwürfe des Bessern lagen in Trümmern durcheinander und hatten den Platz verschüttet, auf welchem die Zukunft vielleicht etwas entstehen lassen konnte. Er war sich im Herzen bewußt, daß er redlich das Rechte gewollt hatte, und nun war ein neues, wie es schien, unübersteigliches Hinderniß in die beabsichtigte neue Bahn gewälzt – sein Leid, seine gramvolle Reue war also vergeblich gewesen; er hatte nichts damit erreicht, als eine innere Demüthigung vor sich selbst; nun begann es ihm wieder dessen leid zu werden, der alte Groll der Verkennung und das grimmige Gefühl erlittenen Unrechts stieg in hohen Wogen wieder in ihm auf, aus denen die früheren Vorsätze nur noch wie Baumspitzen oder Hügel aus einem überschwemmten Lande hervorragten.

In diesen gedankenschnellen Betrachtungen wurde er durch den Gerichtsdiener unterbrochen, der ihn von rückwärts auf die Schulter klopfte und mit rauher Stimme anrief. „He da, Du Loder!“ sagte er, „bist Du nicht der Lindhamersohn von Lindham, der …“

Er konnte nicht vollenden, denn Wolf war mit einem wilden Fluche auf ihn losgefahren, wie ein auf’s Höchste gereizter Hund, der seine Kette zerreißt. „Wer untersteht sich, so mit mir zu reden?“ rief er. „Sag das Wort noch einmal, Du Schergenknecht, und Du hast Deinen letzten Schnaufer gemacht …“

Der Gerichtsdiener, welchen der graue mit blauen Schnüren eingefaßte Rock und die Schirmmütze mit dem Löwen deutlich machte, war zurück getreten und hatte die Hand an den Säbel gelegt, den er an einem Gurt um die Mitte geschnallt trug. „Oho,“ sagte er, „Du wirst schon der Rechte sein, weil Du so aufbegehrst. Probir’s aber einmal und rühr’ mich an, nur mit dem kleinen Finger, dann kehr’ ich den Stiel um und mache Dir den Garaus … Ich bin von Gnaden Herrn Landrichter geschickt, Dich zu suchen. Du sollst gleich zu ihm kommen, der wird Dir dann schon sagen, ob ich Dir einen unrechten Namen gegeben hab’.“

„Zum Herrn Landrichter – ich?“ fragte Wolf betroffen. „Was soll ich denn bei dem?“

„Das wird er Dir wohl selber sagen,“ entgegnete der Gerichtsdiener, „also spute Dich, daß Du hinaufkommst, und [417] wenn Du’s thust, daß ich nicht noch einmal den Markt nach Dir ablaufen muß, dann will ich Dich allein geh’n lassen und thun, als wenn ich den ‚Schergenknecht‘ nicht gehört hätte, der Dir sonst theuer genug zu stehen kommen sollte.“

Wolf erwiderte nichts; er schlug den Weg durch die Kirchgasse ein, festen Schritts und mit aufgerichtetem Kopfe, auf dem er den Hut zurecht gerückt hatte, daß die Spielhahnfeder nach vorne sah, als ob er einem Kampfe entgegengehe. Er wußte kaum, wie er den steilen Schloßhügel hinan gekommen war, aber er war um vieles ruhiger geworden und klopfte an der Thür des Gerichtszimmers so vernehmlich an, als es wohl selten geschehen mochte; ein ebenso vernehmliches Herein erscholl und der Eintretende stand – nicht, wie er erwartet hatte, dem Landrichter, sondern seinem Vater gegenüber.

Der Alte saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der Leuten von Ansehn, die vor Gericht zu thun hatten, geboten zu werden pflegte; er sah erschöpft und angegriffen aus und starrte nachdenklich vor sich hin, als wären ihm die leidenden Augen noch dunkler geworden, als vorher. Hinter ihm, mit ehrbar demüthiger Miene, stand Dickl. Der Beamte war seitwärts an seinem Pulte beschäftigt; er legte, als er Wolf gewahrte, die Papiere, in denen er gelesen, zusammen und trat ihm mit finsterer Miene entgegen. „Na, Du hast mir ein schönes Sonntagsvergnügen gemacht,“ sagte er, „Du bist wirklich unverbesserlich.“

„Ich?“ entgegnete Wolf kurz. „Was hab’ ich denn schon wieder angestellt?“

„Nur immer trotzig!“ rief der Beamte mit einem Unwillen, der gegen die wohlwollende Art abstach, in der er sonst mit den Parteien zu verkehren pflegte. „Ich will mich aber in keine Erörterung einlassen und sage Dir mit ein paar Worten, um was es sich handelt. Dein Vater ist zu mir gekommen, und weil er mir leid thut und ich sehr viel auf ihn halte, habe ich die Sache gleich vorgenommen, obwohl Feiertag ist … er glaubt, daß er es nicht mehr lang treiben wird; er will daher seine Angelegenheiten ordnen und den Lindhamerhof übergeben.“

Wolf war auf’s Höchste überrascht; mit einer herzlichen Aufwallung trat er einen Schritt gegen den Alten vor und rief: „Nein, Vater, das müßt Ihr nit thun! Ihr könnt wohl wieder besser werden, und könnt den Hof noch lang regieren – ich wünsch’ mir gar nichts Anderes!“

„Du!“ unterbrach ihn der Landrichter. „Auf Das, was Du wünschest, kommt es nicht an – der Hof wird nicht Dir übergeben, sondern Deinem jüngeren Bruder.“

Wolf stand, als ob ihn ein unerwartet schwerer Schlag vor die Stirn getroffen, der ihm die Besinnung raubte und die Gedanken wirbeln machte. Seine Brust hob sich krampfhaft; sein ganzer Körper erbebte, und seine Muskeln spannten sich, wie die eines Menschen, den man im Schlafe in Bande geschlagen und der sich erwachend vergeblich anstrengt, dieselben zu zerreißen. „Wie wär’ Das?“ stieß er mühsam hervor. „Nicht ich soll den Lindhamerhof kriegen, sondern der Bruder, der Dickl? … Vater, ist das wahr?“

Ein dumpfes kurzes Ja war die Antwort des Alten.

„Und warum, Vater, warum?“ rief Wolf bewegt, keuchend und beinahe lallend vor Zorn.

Die Gemüthsbewegung des Alten war nicht geringer, als die des Sohnes; er richtete sich an der Stuhllehne auf und mußte erst Athem holen, ehe er zu sprechen vermochte. „Warum?“ erwiderte er erst matt, dann aber mit immer steigender Kraft; es war klar, die widerstreitenden Mächte standen sich gegenüber, um den unterbrochenen Kampf um Sein und Nichtsein ihrer Eigenart zur vollen Entscheidung zu bringen. „Warum? Ich mein’, das brauch’ ich Dir nit erst zu sagen, wenn Du an Das denkst, was ich Dir erst gestern gesagt hab’ … Warum? Weil ich haben will, daß der Lindhamerhof nach meinem Hinend’ nit verludert und verthan wird, sondern bei Ehren bleiben soll, wie er alleweil gewesen ist. – Weil ich das nit erwarten kann von einem Burschen, der in der Erntezeit bei der dringendsten Arbeit faullenzt und davon geht, der den ganzen Tag mit lüderlichen Gesindel herumtrinkt und Eisenbahner und solches Gelichter zu seiner Gesellschaft hat. Von einem Burschen, der über Nacht aus dem Haus bleibt und im Bierkeller mit dem Krügelteller sammeln geht, wie ein Bettelmusikant, der Springern und Komödianten auf öffentlichem Jahrmarkt zu ihren Kunststücken aufspielt –, von einem Tagedieb, einem …“

„Vater,“ schrie Wolf ihn unterbrechend, „sag’ Das nit, was Dir auf der Zung’ sitzt – sprich das Wort nit aus! … ich vertrag’s nit’; ich kenn’ mich selber nimmer, wenn ich’s hör’ … ich weiß nit, was ich thu …“

„Dann will ich Dir’s sagen,“ fiel der Landrichter ein, „nichts wirst Du thun, Du kecker Bursche, als zuhören und auf Das, was man Dich fragt, Red’ und Antwort geben – Du stehst vor Gericht.“

„Red’ und Antwort geben?“ rief Wolf mit funkelnden Blicken. „Wer will mich zwingen, wenn ich’s nit thu? Wollen Sie mir den Proceß machen und mich ausfratscheln? Meinen Sie vielleicht, ich werd’s leugnen, was ich gethan hab’? Fallt mir nit ein! Meinen Sie, ich soll fein demüthig zum Kreuz kriechen und um schönes Wetter bitten? Ich denk’ nit dran. Ich mein’, es hätt’ wohl einen andern Ort gegeben, wo der Vater mit mir hätt’ reden können und mir das Alles vorhalten – und dort, dort hätt’ ich auch Red’ und Antwort gegeben; hier aber, vor Gericht, hab’ ich keine.“

„Es wird Mittel geben, die Dich reden machen,“ entgegnete der Landrichter. „Zuerst hast Du mir eine Frage zu beantworten. Du kennst nun die Absicht Deines Vaters; er ist Herr von Haus und Hof und kann damit schalten, wie er will, und sein Vorhaben auch unbeanstandet durchführen, aber es ist Brauch in der Gegend, ein rechtliches Herkommen aus uralter Zeit, daß immer der ältere Sohn Nachfolger auf dem Gute wird. Dieses Gewohnheitsrecht ist zu Deinen Gunsten. Du kannst Dich darauf berufen und Deinem Vater und mir gegenüber vor Gericht darauf bestehen, daß der Hof Dir als dem Aeltesten gehört. Erkläre Dich nun, wie Du gesonnen bist! Willst Du streiten – oder giebst Du Dich drein?“

In Wolf ging Unbeschreibliches vor.

Schmerz und Wuth rangen in ihm wie zwei sich begegnende Strömungen, aber wie ein Felsstück ragte aus ihnen der Trotz empor, der ihn seinem Vater so ähnlich machte und an dem jedes weichere Gefühl sich brach, daß er nichts so deutlich erkannte und so brennend empfand, als die Schmach, die der eigene Vater ihm angethan. Er sah ein, daß es nur einiger begütigenden Worte, eines warmen Entgegenkommens bedurfte, eines Zeichens der Nachgiebigkeit, um den Vater umzustimmen und seinen verhängnißvollen Entschluß zu hintertreiben; er war sich bewußt, daß er nur die innere Geschichte der gestrigen Ereignisse zu erzählen brauchte, um Alles in anderem Lichte erscheinen zu lassen, aber es war ihm unmöglich, das Eine oder das Andere zu thun. Hatte sein Vater es über sich gewonnen, ihm das Erbe, das ihm von Gottes und Rechts wegen gebührte, aus reiner Willkür zu entreißen, ihn gewissermaßen selber anzuklagen und vor Gott und Welt als einen verlornen Sohn, einen hoffnungslos aufgegebenen Menschen zu brandmarken, so war er viel zu stolz, um sich dagegen zu wehren und gegen ein solches schon vorher gefälltes Urtheil zu vertheidigen. Einer solchen Schwäche, einer so tiefen Herabwürdigung seiner selbst war er nicht fähig, und wenn es gegolten hätte, sich damit noch einen größeren Reichthum zu gewinnen, als den Lindhamerhof; es war ihm aber auch klar, daß das Opfer, selbst wenn er es seinem Stolze abzuringen vermocht hätte, dennoch ein vergebliches sein würde. Für ihn war kein Bleiben und Gedeihen mehr. Es war zweifellos, daß das Vorgefallene allgemein bekannt werden würde, und er hätte es nicht ertragen, sich vielleicht über die Achsel angesehen oder darum betrachtet zu wissen, daß er verstoßen und nur gegen Aufgebung seines eigenen Selbst wieder zu Gnaden aufgenommen worden sei. Er konnte keinem Menschen mehr gerade in’s Gesicht sehen; er mußte darauf gefaßt sein, daß die Leute hinter seinem Rücken einander anstießen und sich flüsternd seine Geschichte erzählten, oder mußte fürchten, daß der nächste beste Knecht, den er wegen einer Ungehörigkeit tadeln wollte, sich gegen ihn auflehnte und ihm sagte, daß er einmal in denselben Schuhen gestanden sei und ihm nichts vorzuwerfen habe. Der Riß, der durch alle seine Verhältnisse gethan war, kannte keine Heilung; zwischen ihm, den Seinen und der Heimath hatte sich ein Abgrund aufgethan, für den es weder Ausfüllung noch Brücke gab und der ihn für immer von seiner ganzen Vergangenheit schied.

Wie Blitze zuckten all diese Gedanken wirr und dennoch [418] tödtlich hell durch seine Seele; ihn denselben zu entreißen, bedurfte es einer wiederholten Frage des Landrichters, was er zu thun und welchen Bescheid er zu geben gedenke.

„Was kann ich wollen?“ entgegnete er dann mit höhnischer Gelassenheit. „Ich kann ja gar nichts wollen. Sie sagen ja selber, der Vater ist Herr im Haus und kann es machen, wie er will. Wenn der Vater in seinem Sinn findet, daß es so recht ist, werd’ ich gewiß nicht dawider streiten – dann ist es mir auch recht …“

Der Vater hatte der Antwort des Sohnes mit größter Spannung entgegengesehen; er hatte im Stillen wohl noch immer gehofft, daß die Nähe und Wucht des Schlages, der ihn treffen sollte, als ein starkes Heilmittel wirken und den Irrenden zur Besinnung und Umkehr bringen werde – statt dessen zeigte er eine fast an Unempfindlichkeit grenzende Stumpfheit, einen so grenzenlosen Leichtsinn, daß er sogar das reiche väterliche Besitzthum wie eine Kleinigkeit hingab, nur um sich nicht fügen und seiner lockern Lebensweise nicht entsagen zu müssen. Mit einem nicht völlig unterdrückten Seufzer sank er in den Stuhl, aus dem er sich wie wartend erhoben hatte, zurück. Ueber Dickl’s Angesicht, so sehr er sich Mühe gab, betrübt auszusehen, ging ein Flugfeuer tückischer Freude. Der Landrichter war auf’s Tiefste entrüstet; auch er hatte noch immer gehofft, Wolf werde im letzten Augenblick noch einlenken und die ganze Angelegenheit in das gewohnte und von Gesetz, Herkommen und Sitte ausgefahrene Geleise zurück gleiten; um so mehr empörte ihn ein solcher Grad leichtsinniger Verblendung, wie er in seiner ganzen Praxis ihm noch nicht vorgekommen. „Nun, das ist ja recht schön von dem jungen Herrn,“ rief er aus, „er macht uns ja die Verhandlung recht leicht. Da brauchen wir nur ein kleines Protokoll aufzunehmen, worin der Wolf seine Zustimmung zu dem Vorhaben seines Vaters erklärt und vielleicht Jemand zu seiner Vertretung bevollmächtigt – der Vertrag selber, der kann dann später aufgenommen werden.“

„Ja, das ist mir auch am liebsten, wenn wir’s so in der Geschwindigkeit und mit einem Male abmachen,“ entgegnete Wolf. „Der Rosenheimer Advocat soll Vollmacht von mir haben; der kann dann meine Sachen in Empfang nehmen und das, was mir gehört – heißt das,“ setzte er mit bitter höhnischem Auflachen hinzu, „wenn mir überhaupt etwas gehört.“

„Unverbesserlich,“ murmelte kopfschüttelnd der Landrichter, indem er die Klingel zog, den Schreiber herbeizurufen. „Ich glaube, er will noch obendrein seinen Spaß mit uns treiben … Dein Vater will Dir geben,“ fuhr er dann im Amtstone fort, „was er nach dem Gesetz Dir geben muß. Du erhältst Deinen Pflichttheil, aber erst nach seinem Tode; jetzt bekommst Du nur, was Du von Deiner Mutter hast. Du wirst wohl wissen, daß sie als Magd auf den Lindhamerhof gekommen ist und ihr Vermögen in einem Bündel mitgebracht hat.“

„Ja wohl weiß ich das,“ rief Wolf mit noch spotthafterem Gelächter; „da ist es ja ganz in der Ordnung, wenn der Sohn wieder mit einem Bündel hinaus wandert. Ich denk’, ich werd’ keinen starken Stecken dazu brauchen.“

„Unterbrich mich nicht!“ sagte der Landrichter barsch. „Dein Vater hat, als Deine Mutter starb, einem Jeden von Euch tausend Gulden Muttergeld ausgewiesen – die kannst Du jeden Augenblick erheben.“

„Das ist mir noch das Allerliebste,“ höhnte Wolf; „das langt gerade zu einem ordentlichen Reisgeld. Der Advocat soll’s erheben für mich; ich kann mich nicht aufhalten; ich muß heute noch fort.“

„Wie, Du willst fort?“ fragte der Landrichter mit einem Staunen, das an Entsetzen grenzte. „Willst Deine Heimath verlassen und gar nicht mehr auf den Lindhamerhof zurück?“

„Was hätt’ ich etwan noch dort zu thun?“ entgegnete Wolf. „Sollte ich mich wie ein Wunderthier anschauen und von den Ehhalten auslachen lassen oder den Knecht machen, wo ich der Herr sein sollt’? Ich hab’ keine Heimath mehr; ich geh’ in die weite Welt.“

„Bruder!“ rief hier Dickl dazwischen, dem es gerathen schien, sich nicht gänzlich stumm zu verhalten. „Bruder, das solltest Du nit thun. Bleib’ bei uns. Wir könnten uns ganz gut vertragen und leben wie die Engel im Himmel. Du glaubst gar nit, wie leid mir das ist, daß es so gegangen ist!“

„Du hast Recht, das glaub’ ich Dir wirklich nit,“ rief Wolf und griff lachend nach der Feder, die ihm der Schreiber, der inzwischen das Protokoll gefertigt, zur Unterzeichnung darbot. „Drum gieb Dir keine Müh’, Dickl – ich wünsch’ Dir alles Glück zum Lindhamerhof. So!“ setzte er dann hinzu, während er mit fester Hand unterschrieb, „b’hüt Dich Gott, Heimathl! Jetzt sind wir Zwei mit einander fertig. Und jetzt bin ich wohl zu End’ und kann gehen?“

„Ich halte Dich nicht,“ entgegnete geringschätzig der Landrichter; „wenn Du sonst nichts mehr da zu thun hast, bist Du frei wie der Vogel in der Luft.“

„Ja wohl, vogelfrei!“ lachte Wolf auf und wandte sich der Thür zu, blieb aber gleich nach den ersten Schritten stehen, um auf den Vater zurück zu blicken, der die ganze Verhandlung wortlos mit angehört und so viel wie möglich mit angesehen; er hatte die Regung voll Weichheit und Ergriffenheit, die ihn einen Augenblick angewandelt, mit trotziger Strenge niedergerungen, den Lehnstuhl zurück geschoben und stand nun wieder fest und hoch aufgerichtet da, ganz wieder der Herr und Gebieter, wie er Tags zuvor dem ungerathenen Haussohn gegenüber gestanden.

„Ob ich sonst noch ’was zu thun hab’?“ fragte Wolf zögernd und in weicherem Tone – „das kann ich nit sagen – es müßt’ nur sein, daß mir Jemand noch was mitzugeben hätt’ auf den Weg …“ Er schien einen Laut, eine Geberde des Abschiedes zu erwarten; der Alte aber that, als ob er es nicht gewahre, und wendete sich kalten Bluts gegen den Landrichter hin. „Jetzt wird das Unterschreiben wohl an mir sein,“ sagte er. Wolf wandte sich kurz ab und verließ das Zimmer, während der Alte unsichern Blicks und mit bebender Hand unterschrieb; der Landrichter, der ihm die rechte Stelle dazu bezeichnete, betrachtete dabei Wolf’s Unterschrift und rief: „Es ist trotz Allem und Allem ein merkwürdiger Bursche – eine Schrift hat er, die manchen Schulmeister zu Schanden machen würde.“ –

Wolf verließ des Schloßgebäude und eilte an der Kirche dahin, wo der Weg an einigen geringen Häusern vorüber unmittelbar in’s Freie führte. Zwischen den Fruchtäckern, auf denen der Wind schon über die Stoppeln ging, hatte er flüchtigen Schrittes bald die Waldspitze erreicht, nach der er sich schon am Morgen geflüchtet hatte, und warf sich an derselben Stelle nieder, die Zeuge seiner Kämpfe und Entschließungen gewesen. Wie reich, wie gehoben und kraftvoll war er von ihr weggeeilt, wie matt, gebeugt und arm kehrte er wieder – für die Ruhe und Zuversicht, die er mit hinweggenommen, brachte er neue Stürme zurück und neue Ungewißheit. Was sollte er nun beginnen? Er stand wie am Ursprung eines Quells, der, sich in mehrere Arme theilend, verschiedenen Landen und Geschicken entgegen zieht – der eine floß ruhig und gleichmäßig dahin zwischen bebautem Ackergelände und Mühlwerken, die er treiben mußte, und lud ihn ein, sich irgendwo als Oberknecht oder Baumeister zu verdingen und dort, wo man ihn nicht kannte, als Landmann ein stilles arbeitsames Leben zu führen – ein anderer murmelte und sprudelte mit fröhlichem Rauschen über Felsen hinunter durch abwechselndes Gartenland, mit Lusthäusern und einladenden Schenken an seinem Gestade, ein Bild des Lebens, das ihn erwarten mochte, wenn er, den Lockungen der schönen Tänzerin folgend, ein zielloses Wanderleben beginnen wollte – wieder ein anderer schlich sich in langsamen Windungen durch flachen, allmählich immer tiefer sinkenden feuchten Grund dahin, um zuletzt in den faulen stehenden Tümpeln eines Sumpfes zu verschwinden, auf dem nur nutzloses dürres Geröhricht raschelte – so konnte es kommen, wenn er die Genossen des vorigen Tages aufsuchte, mit ihnen in alltäglich gleichmäßiger Schlemmerei fort zu wirthschaften. Ueber den Vorgängen auf dem Jahrmarkte und bei Gericht war der Mittag lang vorübergegangen; die Sonne hing schon tief über den Hügeln und warf die Baumschatten immer länger auf den Rasen, aber Wolf war noch immer zu keinem andern Schlusse gekommen, als daß er zunächst nach Rosenheim hinein müsse, um dem Advocaten seine Angelegenheit zu übergeben; dahin kam er noch immer früh genug; auch war es schwer, sich von dem Orte loszureißen, denn zwischen den alten Tannenstämmen hindurch, über den tiefer liegenden Wipfeln und Sträuchern that sich eine weite Fernsicht auf und zeigte eine schöne Anhöhe mit einer Baumgruppe darauf,

[419] die nicht zu verkennen war. Es war, als ob der Lindenhain des Vaterhauses sich höher hebe und strecke, um dem scheidenden Sohne nachzusehen und ihn zu mahnen, auf daß er seiner nicht ganz vergessen solle. Und mitten aus den grünen Wipfeln schien eine Gestalt aufzutauchen, eine Gestalt mit Augen, die ihn wie bannend festhielten, wenn er sie auch zuletzt nicht anders als zürnend angesehen hatte.

Mit vergehenden Blicken starrte er nach der Anhöhe und auf die unten am Abhange hinziehende Landstraße hinaus; dann raffte er sich auf, um schärfer hinzusehen; wie aus dem Schlafe erwachend rieb er sich die Augen und glaubte zu träumen, denn die Gestalt, die er von ferne wie ein Wahnbild geschaut, war wirklich geworden und kam immer näher heran.

Es war kein Zweifel – die Straße her kam Th’res gegangen, langsamen Schrittes, oft innehaltend und zurückblickend, als suche sie Jemand.

[431] Wolf sprang auf und eilte den Hügelabhang unter den Eichen trotz seiner Steilheit wie im Fluge hinunter; dort, wo die Mangfall, durch die Glonn verstärkt, unter der Brücke hinweg saust, neben einer schönen Baumgruppe erreichte er den Weg gerade recht, um Th’res gegenüberzutreten, die eben wieder spähend um sich blickte. Das Geräusch in den Büschen machte sie aufmerksam; sie wandte sich, daß er ihr voll in’s Gesicht sehen konnte – sie war es wirklich, aber völlig umgewandelt. Aus ihren Mienen war alle Herbheit, aller Trotz verschwunden, und ihre sonst so strengen Augen schwammen in Thränen. Diesmal besann sie sich nicht lange, was sie ihm zu sagen habe; während er noch immer wie zweifelnd sie anblickte, trat sie rasch und dicht vor ihn hin und bot ihm grüßend die Hand.

Auch er zögerte nicht einzuschlagen.

„Grüß’ Dich Gott auch!“ erwiderte er; „das ist aber seltsam, daß wir uns da begegnen. Wie kommst denn Du da her?“

„Das kannst leicht errathen,“ erwiderte sie, „nach dem Allem, was geschehen ist …“

„Ja, das ist freilich merkwürdig genug,“ rief Wolf. „In Zeit von einer halben Stund’ bin ich aus einem reichen Bauernsohn ein armer Teufel geworden, und da hast Dir halt eingebildet, Du müßtest es auch probiren, ob Du mir’s nit einreden kannst, daß ich mir ein Halsband umthun und die Ketten anlegen lassen sollt’ wie der Tiras daheim.“

„Nein“, sagte sie, indem sie ihr Tuch an die Augen drückte, „das will ich nit! Wie ich gehört hab’, was geschehen ist, droben auf dem Landgericht, da hab’ ich freilich gemeint, der Erdboden müßt’ einbrechen unter mir, aber nit deswegen, daß es so traurig hat kommen müssen, und daß ich nirgends eine Hülfe sah, wie’s wieder gut werden könnt’ … Es ist wohl hart und schwer, daß Du arm worden bist und Deine Heimath mit dem Rücken anschauen mußt – aber das Härteste ist doch, daß Du in die weite Welt ziehen und nimmer wiederkommen willst, nit einmal auf so lang, als man zum ‚B’hüt’ Gott!‘ sagen braucht.“

„Ist das wahr?“ fragte Wolf freudig bewegt. „Ist Dir das schwer gefallen?“

„Wie kannst fragen?“ entgegnete sie innig. „Zwiefach schwer ist mir’s auf’s Herz gefallen, weil ich daran ’denkt hab’, wie wir auseinander gegangen sind, daß du vielleicht im Unwillen fort gingest und mir’s nachtragst wegen meiner letzten Reden.“

In Wolf’s Herzen ward es hell wie in einem Regengewölk, durch das die Sonne bricht. „Da hast Dir Recht und Unrecht auf einmal ’denkt,“ sagte er. „Ich wäre nit im Unwillen fort’gangen, aber nachtragen werd’ ich Dir doch was – daß Du, mit der ich oft so ungut gewesen bin, mich aufgesucht hast; daß Du die Einzige gewesen bist, die es der Mühe werth gefunden hat, mir ‚B'hüt’ Gott!‘ zu sagen, das trag’ ich Dir nach, so lange ich ein offenes Auge habe – ich wundere mich nur,“ setzte er freundlich hinzu, „wie Du mich gefunden hast …“

Th’res schlug die Augen nieder; eine leichte Röthe der Verwirrung überflog ihre Wangen. „Sie haben mir gesagt, Du würdest nach Rosenheim gehen zu Deinem Advocaten,“ sagte sie beklommen und stockend, wie Jemand, der etwas verschweigen will – was dieses Verschweigen war, verrieth aber der Zug, der eben etwas weiter unten auf der Landstraße vorüberkam. Es war die Gauklerbande, die früh aufgebrochen war, um in einem der nächsten Dörfer noch eine Nachernte und ein wohlfeiles Nachtquartier zu finden. Von einem Paar schlechter Gäule gezogen, polterte der Wagen daher, der sich wie ein großer auf Räder gestellter Kasten ansah und zum zeitweisen Aufenthalt so wie zur Aufbewahrung des Künstlergeräthes diente; der Geiger schritt als Fuhrmann neben dem Gespann einher, die andern Gesellen schlenderten nach Belieben hinterdrein, von der Tänzerin war nichts zu gewahren; sie hatte wohl den Ehren- oder Vorzugsplatz im Innern des Wagens erhalten.

Ein Blick auf die Wandernden und dann auf Th’res sagte Wolf Alles, was sie verbergen wollte. Offenbar hatte sie ihn überall gesucht und, als sie ihn nicht gefunden, ihn in der Nähe der Truppe vermuthet, die sich eben zum Aufbruch gerüstet haben mochte. Er gedachte der eifersüchtigen Regung, die aus ihren Worten bei der letzten Begegnung gesprochen; er überlegte, daß sie diesem Grolle doch nicht nachgegeben und es nicht über’s Herz gebracht hatte, ihn, wenn er auch verarmt war, ohne einen letzten Gruß ziehen zu lassen, und diese Gedanken brachten immer mehr Lichtglanz und Sonnenwärme in sein Gemüth. Wie er seit dem Gespräch mit dem Schützenpeter Th’resens äußere Erscheinung mit ganz andern Augen ansah, so erschien ihm jetzt auch ihr Inneres in völlig verändertem Lichte; mit Einem Schlage ward ihm auf Jahre zurück ihr ganzes Betragen klar, und er erkannte, daß, was er oft für Feindseligkeit und mürrisches Wesen gehalten, nichts anderes gewesen, als die Stachelhülle einer kostbaren Frucht, die herbe Schale um den süßen Kern einer geheimen, tief [432] verborgenen Neigung. Wo hatte er seine Augen und wo sein Herz gehabt, daß er einen solchen Schatz erst jetzt erkannte, wo er für ihn verloren war? Wäre er in diesem Augenblicke noch der Erbe des Lindhamerhofs gewesen, er hätte ihr denselben angeboten und sie zu sich auf den Herrensitz gehoben – jetzt als heimathloser, mit einem schlechten Zehrpfennig abgefundener Knecht hatte er ihr nichts mehr zu bieten, jetzt mußte er auf die Liebe verzichten, die sich ihm so rein und ungesucht aufthat, wie ein unvermuteter Brunnquell, und jetzt zum ersten Male zuckte wie ein plötzlicher Dolchstoß der Schmerz über den hingeworfenen Reichthum durch sein Herz.

Schweigend stand er ihr einen Augenblick gegenüber, während die Gaukler, das Paar nicht beachtend, unten vorüberzogen; er hielt noch immer Th’resens Hand in der seinen. Unwillkürlich umschloß er sie fester, und auf seine Lippen drängte sich ein Wort, das ihr sagen sollte, was in ihm vorging; dennoch blieb es unausgesprochen; ein einziger Gedanke kühlte die Erregung ab, daß ihm das warme Blut und mit ihm die warme Rede zurückglitt, wie der vollgeschöpfte Eimer eines Radbrunnens, der bis an den Rand emporgewunden wird, dann aber, plötzlich losgelassen, wieder in die Tiefe stürzt und sich ausgießt – es war der Gedanke, daß er sich nicht schwach zeigen dürfe. Er war dem Vater gegenüber[WS 1] standhaft geblieben, hatte dem Landrichter höhnische Gleichgültigkeit gezeigt und es über sich selbst gewonnen, daß er seinen Verlust nicht höher anschlug, als ein mißlungenes Spielzeug, an dem er lange mit Eifer herumgebasselt und es dann als unausführbar gleichgültig bei Seite geworfen – und einem Mädchen sollte es gelingen, ihn sich selber untreu zu machen? Diesem Mädchen, das ihm bisher nicht mehr gewesen, als eine dienende Hausgenossin? Sie sollte sich rühmen können, daß sie ihn dazu gebracht, seinen in der Erregung des Augenblicks gefaßten Entschluß zu bereuen und zu wünschen, daß seine That ungethan sein möge?

„Es ist wohl Ein Ding, wie Du mich gefunden hast,“ sagte er, sich aufraffend, während Th’res, den stärkern Druck seiner Hand spürend und von schöner Ahnung ergriffen, noch tiefer erröthet war und die Augen noch fester am Boden haften ließ; „ich weiß doch, was ich davon zu denken hab’ und dank’ Dir’s von Herzen, daß Du gesucht hast nach mir. Und so wird halt nichts weiter übrig bleiben, als daß wir das thun, wegen was Du gekommen bist, und ‚B’hüt’ Gott!‘ sagen … B’hüt’ Gott! Th’res – wer weiß auf wie lang!“

„Ja wohl – wer weiß auf wie lang!“ erwiderte das Mädchen mit überströmenden Augen; „es weiß ja kein Mensch nit einmal, wohin Du gehst und was Du thust.“

„Ja ja, das Spiel geht jetzt umgekehrt,“ sagte Wolf ruhig, „erst hab’ ich Dich gefragt, was ich thun sollt’; jetzt fragst Du mich darum, und ich danke Dir dafür, daß Du’s thust. Was ich thun will?“ fuhr er mit Nachdruck fort. „Es ist noch nit lang her, so hätt’ ich Dir nit zu antworten gewußt; ich hab’ alleweil noch hin und her überlegt bei mir selber, aber wie Du mich gefragt hast, ist es mir auf einmal durch den Sinn gefahren, wie wenn Einem ein Stern niederschießt, und jetzt weiß ich ganz genau, was ich zu thun hab’. B’hüt’ Dich Gott, Th’res,“ rief er, ihr noch einmal die Hand schüttelnd, und sprang auf die Straße hinab; dort stand er still und blickte zurück … „Meine Cither gehört Dein, Th’res,“ rief er wärmeren Tones; „wenn Du drauf spielst und wenn Du’s der Müh’ werth findest, so denk’ dabei an den Loder, der sie Dir ’geben hat!“




3.

Es war Herbst und überall zu erkennen, daß die Tage des Welkens gekommen.

Obwohl die Sonne schon ziemlich hoch stand, schien sie doch wie durch einen leichten Duftschleier nur kühl und bleich herab und vermochte nicht, die Nebelstreifen zu bannen, die über den feuchten Niederungen und Moorstrecken der Thalebene lagen oder die Wolkenballen zu zerstreuen, in denen die Berge ihre höchsten Spitzen und Grate verbargen. Die Wiesen sahen sich fahl und bräunlich an; in den Wäldern waren die Tannen schwärzer, die Buchen roth und die Birken gelb geworden; nicht selten auch streckten einzelne früher gealterte Stämme ihr ganzes Gezweige dürr und blattlos dem kühlen Westwind entgegen, während die Büsche und Sträucher an den Gehegen und Straßen entlang als Ersatz für das verlorene Laub mit ihren Wildfrüchten prunkten und die rothe Hagebutte, die saftschwarze Hundsbeere oder die duftblaue Schlehe hin und wider schwenkten. Darüber hin schoß noch hie und da ein verspätetes Schwalbenpaar; wanderbereit schwirrte ein aufgeschrecktes Staarenvolk empor oder das Dreieck schreiender Wildgänse zog unerreichbar hoch nach Süden hin.

An dem Lindhamerhof waren nicht minder die Zeichen erkennbar, daß eine Zeit des Welkens und Verfallens auch in ihm eingekehrt war – Zeichen, wie nicht der Wechsel der Jahreszeit, sondern nur die langsame Zerstörung mehrerer Herbste sie einzuprägen vermochte. Der Gesammteindruck war nicht mehr so behäbig, freundlich, wie einst; die Einheit, die ihm das eigenthümliche Wesen echter Ländlichkeit verliehen hatte, war vernichtet durch eine Menge kleiner Einzelheiten, die, an sich unbedeutend, doch im Ganzen die Absicht verriethen, aus dem Hause etwas Anderes zu machen, als es nach seiner Bestimmung sein sollte, ein Bauernhaus. So war an den Fensterläden der rothe Anstrich mit den weißen Querkreuzen verschwunden und hatte einem matten Grau, wie es in Stadthäusern üblich ist, Platz gemacht, und auf der Gräd waren die Bänke und Klapptische einem steifen modischen Canapee gewichen; an dessen rothgeblümtem Persüberzug hingen indessen die Fetzen herunter. Von dem lustigen Windfähnlein waren Hirsch und Jäger heruntergefallen und der leere Ring sauste zwecklos um die Fahne; die Stangen, an welchen die zierlichen Staarenhäuser gehangen, starrten kahl empor; es war Niemand der Mühe werth gewesen, den munteren Wandergästen die Sommerwohnung zu rüsten; von Zeit zu Zeit schwebte ein leiser getragener Ton über die Höhe hin, wie eine verhallende Stimme der Trauer: es war die von Wolf eingerichtete Windharfe, die verdorben war, weil kein Mensch sie zu erhalten vermochte, und von der nichts übrig geblieben, als eine einzige zufällig ungerissene Saite.

Auf der Rundbank unter der Linde saß der alte Lindhamer und horchte auf das Rauschen der Blätter, deren Fallen und Treiben er nicht sehen konnte; wie sein Haar gänzlich weiß, waren seine Augen vollständig trübe geworden; er konnte keine Arbeit mehr verrichten, kein Geschäft mehr besorgen; mit einem Stocke versehen, vermochte er nur an bekannten Orten seinen Weg zu finden. So war die Bank sein Lieblingsplätzchen geworden, denn sie lag nicht weit von dem kleinen Hause entfernt, das sich, wie bei allen größeren Bauernhöfen, am Ende des Obstgartens erhob, um den in die Ruhe oder „in den Austrag“ gegangenen Alten eine stille und bequeme Zuflucht zu gewähren oder, wenn solche nicht vorhanden, als sogenanntes Zubau-Gütl ständigen verheiratheten Tagelöhnern zur Herberge zu dienen. Wie einst Wolf an dieser Stelle gesessen, ein Bild des Frohsinns und der Kraft, und in zierlicher Thätigkeit, saß nun der Alte da, müßig, ein Bild der Schwäche und der Betrübniß; das weiße Haupt vorgebeugt, die Hände um die Kniee geschlungen, sah er stundenlang unbeweglich vor sich hin, wenn bei Augen, die nur Nebel und in demselben verschwimmende Umrisse gewahren, von Sehen gesprochen werden kann; er hatte das Ansehen, als wäre er über langem Sinniren und Grübeln müde geworden und eingeschlummert, aber er schlief nicht; die Welt der Erinnerung wachte in ihm und das um so klarer und lebhafter, als keine äußeren Eindrücke den Reigen ihrer luftigen Gestalten verscheuchten. Weil Tag und Nacht ihm fast keine Unterscheidung brachten, geschah es nicht selten, daß er bis nach Mitternacht lichtlos und allein an seinem Tisch oder auf seinem Bett saß, ohne daß Jemand seiner gedachte oder ihn mahnte, denn er wollte Niemand um sich haben; sein Stolz ließ es nicht zu, seine Schwäche einzugestehen. Er that, als bedürfe er Niemand, als sei er vollkommen im Stande, sich selbst zu helfen und zu bedienen; darum litt er keinen Menschen in seiner Nähe und hatte sogar an der Schwarzwälder Uhr in seiner Stube das Schlaggewicht ausgehoben, weil es ihm peinlich war, wenn ihr Schlag ihm verkündete, wie entsetzlich langsam die dunkeln einförmigen Stunden von der Stelle rückten. Das Ganggewicht aber zog er jeden Tag pünktlich auf, damit es den Anschein habe, als vermöge er das Zifferblatt und die Zahlen ganz wohl zu unterscheiden; wollte er wissen, welche Zeit es war, so horchte er vorher lange und sorglich, ob Niemand in der Nähe sei, ihn zu belauschen; dann tastete er mit der Hand nach den Zeigern [433] und untersuchte ihren Stand, um daraus die Stunde zu errathen. Es war nur natürlich, daß er in dem wortkargen Brüten und in der Einsamkeit vielfach ein Anderer geworden: zu der Schwere und Wucht der Bürde, die er unsichtbar und schweigend trug, war die lange Zeit, während deren sie getragen werden mußte, als neues Gewicht hinzugekommen und hatte den alten Spruch wahr gemacht, daß die Länge die Last trage.

Fünf Jahre waren vergangen, seit er Dickl den Lindhamerhof übergeben hatte, seit Wolf in die weite Welt, er selbst aber in das Austragshäuschen gewandert war; die fünf Jahre hatten ihn um zehn älter gemacht.

Nach einer geraumen Weile hob er das Antlitz empor, sei’s, daß er dem wehmüthigen Summen der Windharfe lauschen wollte oder daß der feinhörige Blinde den Schritt Th’resens vernommen hatte, die aus dem Hause auf die Gräd getreten war und, auf das Geländer gelehnt, in den Morgen hinaussah; sie hatte den Fuß angehalten im Gehen. Sie wollte offenbar nicht gleich bemerkt sein; auch durch ihre Seele ging die Erinnerung eines andern Morgens, an dem sie auch so dagestanden, der noch viel klarer und schöner heraufgegangen, und dem doch ein so banger und trotz allen Glanzes lichtloser Abend gefolgt war.

Auch an ihr war die Zeit nicht vorüber gezogen, ohne ihre Stundenzeichen anzumerken; aber sie hatte durch die Aenderung nichts an ihrem eigenthümlichen Wesen eingebüßt, sondern eher an Bedeutsamkeit gewonnen: ihre Gesichtsfarbe war bleicher und ihre Gestalt schlanker geworden; aber das ließ ihr gut und der Ausdruck ihrer Mienen war noch einnehmender, denn der herbe Zug, der früher ihren Mund umgeben hatte, war gemildert und zu jener weichen Wehmuth geworden, die, eine Tochter der Ergebung, über ihren Schmerz in sich selbst Herr geworden und sich ein Verlorenes dadurch wieder erworben hat, daß sie darum trauert. In dem Schauen und Erinnern wollte sich etwas wie brütender Trübsinn auf sie niedersenken; aber sie ließ es nicht Macht gewinnen über sich: gewaltsam raffte sie sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn, als könne sie mit der Wolke, die sich darauf gelagert, auch jene glätten, die sich hinter derselben zusammen gezogen. „Wie geschieht Dir denn, Th’res?“ sagte sie in halblautem Selbstgespräch vor sich hin. „Hast Dir nit vorgenommen, daß Du alleweil den Kopf über’m Wasser behalten willst? Heißt das sich zusammen nehmen und nimmer an das denken, wo alles Denken doch nichts mehr nutzt? … Ach, ja wohl,“ setzte sie dann mit einem Seufzer hinzu, „versprechen und verbieten ist halt leichter als halten und folgen … Das ist, als wenn ich da drinn’ einen Spiegel stehen hätt’, durch den ein Sprung geht, was ich auch anschau’ damit, der Sprung laßt sich nit leugnen und schneid’t Alles mitten auseinander.“

Die Aeolsharfe ließ sich wieder hören.

„Rührst Dich auch noch?“ sagte sie schmerzlich; „Dir geht’s halt wie mir, Du traurige Saiten! Das Spiel, zu dem Du gehörst, ist lang zerbrochen; aber Du kannst es nit lassen und fangst doch dann und wann wieder zum Klingen an. – Guten Morgen, Lindhamer,“ fuhr sie fort, indem sie über die Stufen herab zu dem Alten trat. „Seid Ihr schon heraus und habt gar nicht auf mich gewartet? Sonst ist es doch mein Geschäft, daß ich Euch in’s Freie führ’.“

Der Alte lachte, wie Jemand, der sich seiner Ueberlegenheit bewußt ist. „Was denkst von mir?“ rief er. „Ich bin ein bissel früher wach geworden als sonst und bin gleich heraus – Du meinst wohl, ich kann keinen Schritt allein gehn?“

„Fallt mir nit ein,“ entgegnete Th’res; „ich hab’s ja erst neulich gesehn, wie gut Ihr fort könnt, wie Ihr allein den Bergweg hinunter seid.“

„Willst mich vexiren?“ unterbrach sie der Alte rasch. „Ich wär’ auch ganz gut hinuntergekommen, wenn der Dickl nit den alten Weg verlegt und eine neue Fahrstraß’ gebaut hätt’, ohne mir was zu sagen …“ Sein ärgerlicher Ton zeigte, wie sehr ihm die Erinnerung unangenehm war, und das Lachen klang sehr gezwungen, mit dem er fortfuhr: „Eine neue Fahrstraß’! Seit der Lindhamerhof steht, ist der alte Weg gut genug gewesen; aber die jungen Leut’ wollen halt Alles fein bequem haben und die verstehn Alles besser, als die Alten. Aber davon wollt’ ich noch nicht reden, wenn er nur nicht die Geschicht’ angefangen hätt’ mit dem Brünnl’.“

„Ich mein’, Ihr solltet jetzt hinüber kommen in Eure Stuben,“ sagte Th’res rasch dazwischen, „ich hab’ Euch das Frühstück hinüber gebracht.“

„Ist es denn schon so spät?“ rief der Alte sich erhebend. „Es rührt sich ja noch gar nichts auf dem Hof. Alles ist mäuselstill im Stall und auf der Tenn’ – sie sollten ja schon lang’ mit Dreschen angefangen haben.“

Das Mädchen sah traurig umher und warf dann einen Blick des Mitleids auf den blinden alten Mann; eine so schmerzliche Regung überkam sie, daß sie die Lippen zwischen die Zähne klemmen mußte, um ohne Stimmzittern die Frage des Bauers beantworten zu können. „Weiß nit recht,“ erwiderte sie; „ich denk’, es wird wohl so ein halber Feiertag sein. Virgili, glaub’ ich – oder was!“

„Lauter neue Bräuch’!“ grollte der Alte. „Ich hab’ meiner Lebtag nit gehört, daß am Virgilitag nit gearbeit’ wird, will nur sehn, was sie noch Alles aufbringen …“ So murrte er in sich hinein, während er allein, geraden Weges, aber doch etwas unsicheren Schrittes, seiner Wohnung zuging. Nach einer Weile hielt er inne, wandte sich um und sagte mit halblauter, etwas unterdrückter Stimme: „Wie ist’s, Th’res? Wenn ein halber Feiertag ist, hast vielleicht Zeit, daß Du auf ein Stündel zu mir hereinkommst – können wir Eins mit einander schwätzen, und weißt Du was?“ fügte er etwas gleichgültiger hinzu, „kannst auch Deine Cither mitbringen. Ich mach’ mir zwar nicht viel aus dem Geklimper, aber ich weiß ja, Du hörst es gern.“

Th’res lächelte und sah den Alten mit einem leichten Kopfnicken an, als wenn sie sagen wollte, daß sie ihn wohl kenne und wisse, daß es, so abgeneigt er sich auch anstelle, doch Niemand mehr um das Citherspiel zu thun sei, als ihm selbst. „Wenn Du noch so fein auftrittst,“ dachte sie, „ich hör’ Dich doch gehn, Alter,“ und legte traulich ihre Hand auf seinen Arm. „Es wird sich wohl machen, daß ich die Cither herüberschwärzen kann auf ein halbes Stündl’,“ sagte sie mit ihrem besten herzlichsten Ton, „ich hab’ so was gehört, daß die Bäurin ausfahren will: sie ist bei der Müllerin am Ort zu Gevatter gestanden; da soll heut’ das Kindelmahl sein; ich bin begierig, ob ich noch was spielen kann, drüben im Haus komm’ ich nie dazu; die Bäurin kann’s nit leiden, und es ist recht gut und brav von Euch, daß Ihr Euch so aufopfert und laßt mich bei Euch spielen, wenn’s Euch auch zuwider ist.“

Sie huschte hinweg; geschmeichelt tastete sich der Alte nach dem Austraghause in seine Stube und ließ alle Thüren hinter sich offen stehen, damit er hören könne, was draußen vorginge, vielleicht auch, daß, wenn Jemand ihn zufällig beobachtete, er sich überzeugen mußte, wie gut er sich zurecht zu finden wisse. Er hatte am Tische Platz genommen und schickte sich eben an, sich den Kaffee zurecht zu machen, als es draußen vor dem Hause laut wurde und Stimmen durcheinander tönten, so daß er nach den ersten Worten, die er verstehen konnte, das Geschirr zurückschiebend, sich wieder erhob und nach dem Ausgange tastete.

Eine scharfe kreischende Weiberstimme wurde in lautem heftigen Schelten hörbar; sie gehörte der jungen Bäurin, Dickl’s Frau, die vom Straßenwirthshause auf den Lindhamerhof als Herrin eingezogen war. Die Bäurin war eine stark gebaute und wohl genährte Person, deren Verhältnisse über die gewöhnlicher Frauen etwas hinausgingen; dennoch war sie durchaus nicht unförmlich und die ganze Erscheinung, wenn auch in etwas größeren Maßen ausgeführt, machte wohl einen überraschenden, aber keineswegs unangenehmen Eindruck. Man traute es ihr auf den ersten Blick zu, daß sie wohl im Stande war, als Herrin und Wirthschafterin eines großen Anwesens das Regiment zu führen. Das Angesicht war von blühendem Aussehen; rothe Wangen, rothe Lippen und hochblaue Augen boten mit der auffallend weißen Haut ein lockendes Bild jugendlicher Frische; aber die Züge waren nicht edel: die stumpfe Nase, der aufgeworfene Mund und das etwas vorgedrängte breite Kinn ließen den Zornmuth und die Derbheit errathen, in denen sie sich so eben erging. Sie war im höchsten Staat, den eine Bauersfrau zu tragen vermag; eine schwere goldene Erbsenkette hing von dem weißen Halse, den sie ein paar Mal umwand, bis auf das Silbergeschnür am Mieder herab, an welchem, um den Reichthum recht zu zeigen, goldene Münzen und andere kostbare Schaustücke, zum Theil mit Edelsteinen besetzt, funkelten. Wie das bunte langbefranste Brusttuch,

[434] war auch die Schürze aus dem schwersten Seidenstoffe; kostbare Spitzen faßten dasselbe ein und der schwarze Rock war mit gleichfarbigen Sammetstreifen der feinsten Art besetzt. War auch im Ganzen die bäurische Tracht der Gegend beibehalten, so ließ doch jedes einzelne Kleidungsstück durch Zier und Ueberfeinerung erkennen, wie sehr die Trägerin bestrebt war, für etwas Anderes angesehen zu werden, als sie wirklich war. Vollends war dies aus den hohen Schnürstiefelchen zu ersehen, in denen die derben Füße steckten, so wie aus dem modisch zugestutzten Hütchen, das auf dem reichen hochblonden Haare so schief saß, als wäre es vom Winde verweht worden und dort hängen geblieben.

Es konnte kaum einen stärkern Gegensatz geben als den zwischen ihr und Th’res, die ihr gegenüberstand, die eine Hand auf den Rücken gelegt, als ob sie etwas zu verbergen suche; die feine, geschmeidige Gestalt in dem schmucklosen Arbeitsanzug, der anmuthige Ernst des Gesichts gaben ihr das vollste Uebergewicht über die zürnende Gegnerin, die, vielleicht weil sie das selbst empfand, sich zu immer leidenschaftlicherem Grimme steigerte.

„Was ist mir das für eine Wirthschaft!“ rief sie. „Ich ruf’ mir droben in der Stuben fast die Lung’ heraus, damit Jemand kommen soll, der mir beim Anziehn hilft, und Du trengest (tändelst, versäumest dich) da unten herum, als wenn ich für Dich gar nicht auf der Welt wär’.“

„Ich hab’ wahrhaftig nicht rufen hören,“ entgegnete Th’res gelassen, „sonst wär’ ich gleich gekommen.“

„Still!“ unterbrach die Bäuerin sie mit kreischendem Aufschrei. „Was hast Du denn für wichtige Sachen zu denken, daß Du nit hörst? Und wenn’s so wäre – wenn Du nur so viel Aestimation für mich hättest, als das Schwarze unter’m Nagel ausmacht, so hättest Du gar nit auf’s Rufen gewartet, so hättest Du von selber gewußt, was Deine Schuldigkeit ist, und wärst zu mir gekommen. Wirst schon eine andere Abhaltung gehabt haben – gewiß bist Du wieder bei dem Alten gesteckt und hast raisonnirt und uns ausgerichtet.“

„Ich richte keinen Menschen aus,“ sagte Th’res noch immer ruhig, wenn es ihr auch heiß durch die Wangen lief; „aber beim alten Lindhamerbauern bin ich wohl gewesen und hab’ ihm den Kaffee gebracht.“

„Still sei!“ schrie die Bäuerin wieder. „Ich hab’ Dir schon gesagt, daß ich nichts hören will von Deinen lumpigen Ausreden – an denen fehlt’s Dir nie; an Dir ist ein halber Advocat verloren gegangen. Deswegen weiß ich doch, was ich weiß; ich schaue Euch Alle durch und durch, als wenn Ihr ein Glasfenster auf der Brust hättet. Ihr könnt mich Alle nicht ausstehn und spinnt hinter meinem Rücken zusammen gegen mich; ich bin Euch ein Dorn im Aug’, seit ich einen Fuß hereingesetzt hab’ in den Lindhamerhof. Wenn Du nichts Besonderes mit dem Alten hast, warum hast Du denn jetzt gerade noch einmal zu ihm hinüber gewollt, nachdem Du ihm den Kaffee doch schon gebracht hast? Wenn Du Dich nichts zu scheuen hast, was hältst Du denn in der Hand, was Du so auf dem Rücken versteckst?“

„Nichts Unrechtes,“ sagte Th’res; „es ist meine Cither – der Vater hat danach verlangt.“

„So? Die Cither?“ schrie die Bäuerin. „Auf das also ist’s abgesehn gewesen? Ihr habt gemeint, wenn die Katz’ aus dem Haus ist, haben die Mäus’ Rantewuh (Rendezvous)? Du hast gemeint, wenn ich fort bin, dann braucht es nichts, als die Arbeit Arbeit sein lassen und faullenzen? Da ist was gut dafür. Her mit der Cither!“

Th’res trat einen Schritt zurück und hielt das Instrument jetzt mit beiden Händen an die Brust gedrückt. „Die Cither ist mein,“ sagte sie mit fliegendem Athem; „ich wüßte nit, warum ich sie hergeben sollt.“

„Weil ich es haben will, Du widerspenstiges Geschöpf!“ schrie die Bäuerin und machte Miene, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. „Wenn ich Dir gut zum Rathen bin, so giebst den Schepperkasten her oder es geht Dir nit gut …“

„Laßt mich in Frieden, Bäu’rin!“ rief Th’res hinwieder, und in ihren Augen funkelte eine Entschlossenheit, die zum Schutze ihres Kleinods auch den Kampf mit dem ihr offenbar überlegenen Weibe nicht scheute. „Meine Cither geht Euch nichts an – wenn’s Euch zuwider ist, will ich s’ aus dem Haus thun und nimmer spielen – aber Euch geb’ ich die Cither nit …“

„Das wollen wir einmal sehn!“ schrie die Bäuerin außer sich und wollte auf Th’res losspringen; aber die mächtig dazwischentönende Stimme des Alten hielt sie zurück. Auf der Schwelle des Austraghauses stehend, hatte er den Wortwechsel mit angehört und war näher gekommen; er schien nicht zu fühlen, daß auf seinen Augen ein Schleier lag, so fest hielt er sie nach dem Orte gerichtet, von welchem die Stimme der Bäuerin herkam, und den Nacken trug er so kerzengerade aufrecht, wie er ihn in den Tagen seiner Kraft getragen, da er noch als Herr und Vogt auf dem Lindhamerhofe geschaltet hatte und gewohnt war, daß seine Blicke als Gesetze geachtet wurden, denen gegenüber kein Widerspruch galt.

„Laß es die Schwieger gut sein!“ sagte er im Tone eines Herrn, der zwar begütigen, aber durch sein Dazwischentreten entscheiden will. „Die Th’res kann nichts dafür – ich hab’ es ihr gesagt, daß sie mit der Cither zu mir herüberkommen soll.“

Die Worte des Alten verfehlten vollständig ihren Zweck; statt zu beruhigen, waren sie Oeltropfen, in die Gluth gesprengt, und machten die Flamme nur noch höher auflodern.

„So? Mischt Ihr Euch noch darein?“ rief die Bäuerin mit so maßloser Heftigkeit, daß ihr die Stimme überschlug. „Ihr seid auch gegen mich verschworen? Das wird ja immer schöner; statt daß Ihr, wie sich’s für den Schwiegervater gehören thät’, mich unterstützt, helft Ihr noch zum Gegentheil und muntert die Dienstboten auch noch auf in ihrem Uebermuth und Trotz. Recht so – nur so fort! Mir geschieht’s ganz recht; warum bin ich herein auf den miserabeln Hof – ich hätt’s vorher wissen können, daß es mein Unglück ist.“

Das Antlitz des Alten färbte sich dunkelroth. „Oho, Frau Schwieger,“ entgegnete er mit vor Unwillen bebender Stimme, „thu’ Sie sich nicht versündigen! Das Unglück, daß Sie Lindhamerbäu’rin geworden ist, wird wohl auszuhalten sein. Es fallt mir auch nit ein, der Frau Schwieger in Ihre Haushaltung oder Wirthschaft dareinzureden oder gar einen Dienstboten gegen Sie aufzuhetzen; aber wenn ich auch nicht mehr der Herr im Haus bin, thät’s der jungen Bäu’rin doch ganz wohl anstehn, wenn sie hört, was der Alte sagt. Wenn auch meine Augen nicht mehr so klar sind wie eh’dem, so ist’s doch in meinem Kopf nit so finster geworden, daß ich nicht noch recht wohl unterscheiden kann, was sich gehört und was nicht, und darum laß ich mir von Niemand das Reden verbieten, Frau Schwieger, und darum sag’ ich Ihr, daß Sie Unrecht hat, wegen einer solchen Kleinigkeit einen solchen Lärm aufzuschlagen. Sie selber ist der fällige Theil, denn es wär’ Ihr kein’ Perl’ aus der Kron’ gefallen, wenn Sie sich selber angezogen hätt’; so viel ich weiß, hat eine richtige Bäu’rin noch niemals eine Kammerjungfer gebraucht, und weil Sie doch schon einmal von Dienstboten red’t, so will ich Ihr auch sagen, daß Sie auch da auf dem Holzweg ist; die Th’res ist kein Dienstbot’.“

„Nit, Vater – von mir ist ja gar keine Red’,“ warf Th’res erschrocken ein, aber es bedurfte ihrer Dazwischenkunft nicht; die Bäuerin hatte in ihrer Wuth schon einen Ausweg gefunden, dem Zanke eine neue Wendung zu geben: sie rief Dickl herbei, der gleichfalls im vollen Festtagsstaate aus dem Hause getreten war. Er that, als gewahre er die Anwesenden gar nicht, und wolle sich dem Knechte zuwenden, der eben beschäftigt war, ein feines muthiges Pferd an eine elegante einspännige Kutsche zu schirren. Die Bäuerin, zu dem letzten Mittel der Bosheit ihre Zuflucht nehmend, brach in Thränen aus und wiederholte ihren Ruf mit schreiender gellender Stimme.

„Da komm’ her,“ rief sie, „jetzt kannst Du zeigen, ob Du ein Mann bist und nit umsonst auf dem Lindhamerhof sitzest. Wenn Du es leidest, daß man so mit Deinem Weibe umgeht, dann bist Du kein richtiger Mann. Dann will ich nichts von Dir wissen. Scheiden lass’ ich mich von Dir, wenn die Person da noch länger im Haus’ bleibt. Sie oder ich – Eins von uns Beiden muß fort!“

Es war Dickl höchst unangenehm, in den Vorfall hineingezogen zu werden, und diese unangenehme Empfindung machte sein Gesicht noch widerlicher, als es in den letzten Jahren geworden; es war aufgedunsen und stark geröthet – die Spuren aller Leidenschaften und eines wüsten regellosen Lebens hatten sich darin eingegraben. Er hatte die Bauerntracht gänzlich abgelegt und städtische Kleider angezogen, so daß er wie ein Bürger [435] aussah, der sich auf seinen Reichthum etwas zu Gute thut, und dessen weichlich dicke Hände mit den schweren Goldringen daran deutlich verrathen, daß er sich die Arbeit nicht sehr anliegen und durch den Fleiß Anderer Das erwerben läßt, was er verschleudert.

„Was giebt’s denn da?“ rief er hinzutretend in rauhem Tone. „Ich bin der Lindhamer Bauer; ich bin der Herr im Haus’, und Du bist mein Weib – ich und Du haben zu befehlen. Ist das Jemand nit recht? Hat Jemand was einzuwenden dagegen?“

„Niemand will Dir was einreden,“ entgegnete der Alte, „Niemand macht Dir oder der Schwieger die Herrschaft streitig auf dem Lindhamerhof, wenn Du’s auch nicht nöthig hättest, gegen mich so den Herrn herauszukehren – ich mein’, Du hättest ihn schon gezeigt all’ die Zeit her. Das Ganze ist nicht so viel Gered’ werth. Ich hab’ von der Th’res verlangt, daß sie mit ihrer Cither zu mir kommen soll; das ist der Schwieger nit recht und sie will haben, daß die Th’res ihr die Cither giebt.“

„Und sie will sie nit hergeben?“ rief Dickl mit höhnischem Lachen. „Ja, mein’ liebe Kath’rin’, das hätt’ ich Dir gleich sagen können, daß Du da den Kürzeren ziehst – die Cither giebt sie nit aus der Hand, die ist ja ein Andenken von ihrem saubern Schatz, von dem Loder, dem lüderlichen …“

„Dickl,“ rief der Alte in aufloderndem Zorne und trat ihm mit der ganzen Würde des einstigen Gebieters so entschieden entgegen, daß der junge Mann trotz seiner Frechheit vor dem Blicke des Blinden die Augen niederschlug und sich abwendete. „Schäm’ Dich in’s Herz hinein, daß Du so red’st! Ich mein’, Du hättest am allerwenigsten Ursach’ dazu.“

[447] Dickl war im Begriffe, heftig zu erwidern, und auch Th’res hielt nur mühsam an sich, um den kecken Spötter gebührend abzufertigen, aber im entscheidenden Augenblicke wurden die Streitenden durch den heranrollenden Wagen getrennt.

„Es ist gut einstweilen,“ begann der Alte ruhiger, „lassen wir’s wenigstens gut sein, bis Du wieder kommst, dann wollen wir all’ diesen Geschichten auf einmal ein Ende machen – ich seh’ wohl, es thut nimmer gut, daß die Th’res bei Dir im Hofe ist, die Schwieger vertragt sich nicht mit ihr, so wird’s das Gescheidtste sein, wenn ich sie zu mir nehm’.“

„Das wär’ nit viel besser als Teufel tauschen,“ sagte die Bäuerin giftig, indem sie in den Wagen stieg. „Wenn sie im Austraghaus’ ist, ist sie doch noch im Hofe – aber ich mag mich jetzt nimmer ärgern; wenn ich aber wieder komm’, mach’ ich der Geschicht’ ein End’, darauf könnt Ihr Euch verlassen!“

„Oder ich thu’s statt Deiner,“ sagte Dickl, indem er den Wagenschlag zumachte. „Fahr’ nur zu, Kath’rin’, Du kehrst doch im Straß’wirthshaus’ einen Augenblick beim Schwiegervater ein, ich komme bald nach und treff’ Dich dort … ich hab’ noch was zu thun. Aergere Dich aber nicht, Kath’rin’, ich sorg’ dafür, daß Dir kein Mensch mehr was zu Leid’ thut – das können sich Alle hinter die Ohren schreiben, die’s angeht,“ setzte er, während der Wagen hinwegrollte, mit erhobener Stimme hinzu. „Im Austraghaus’ leid’ ich keinen Dienstboten, der mir nit recht ist; das Austraghaus gehört so gut mein wie der Lindhamerhof; da muß gerad’ so gut geschehen, was ich will, und wem’s nit recht ist, der kann sein Bündel schnüren und sich packen. … Wer’s auch ist, ich frage nichts darnach!“

Er eilte rasch dem Hause zu. Ohne Erwiderung, langsam suchte der Alte seine Wohnung auf, von Th’res geleitet, die ihn auf die Bank in der Stube führte und dann die Cither auf den Tisch vor ihm niederlegte.

„Ich lass’ die Cither da bei Euch,“ sagte sie mit einer Stimme, deren Beben sie vergeblich zu verbergen suchte. „Drüben könnt’ ihr was geschehen, auf jeden Fall ist sie bei Euch jetzt sicherer als in meiner Kammer. … Bleibt eine Weil’ da, Lindhamer – ich schau’ im Hause nach der Arbeit, dann komm’ ich wieder!“

Der Alte antwortete nicht – er konnte es nicht; die Worte, die er eben vernommen, hatten wie ein Donnerschlag auf ihn gewirkt und gleich einem solchen das lockere Gebäude des Vertrauens erschüttert, das er gegen sein wahres Empfinden sich aufgebaut und, so oft es auch einen Stoß erhielt, immer wieder in halb unbewußter Selbsttäuschung ausgebessert hatte. Jetzt drohte es ihm über dem Kopfe zusammenzustürzen. Jetzt konnte er sich nicht mehr verhehlen, daß auf dem Lindhamerhofe nicht Alles war, wie es sein sollte, und daß der Stolz seines Lebens in argen Händen dem Verfalle entgegengehe, von dem er ihn dadurch hatte erretten wollen, daß er dafür die Freude seines Lebens zum Opfer brachte. Die Zukunft lag vor ihm wie ein in dichten Nebel gehülltes Thal; wie in diesem hier und da noch der schwache Umriß eines Baumwipfels zu erkennen ist, wollte sich manchmal noch ein Gedanke der Hoffnung gestalten; aber sie vermochte nicht durchzudringen; das Gewölk verschlang sie, und vor seinen Augen lag wie vor seiner Seele das einförmig düstere ununterbrochene Grau an sich selbst verzagender Trostlosigkeit.

Th’res war indessen in den Hof gegangen, ebenfalls in einer Bewegung, die ihr das Herz zusammenkrampfte, als ob es brechen wolle; sie war betäubt und vermochte nicht einmal zu weinen; nur die Augen waren umschleiert, daß sie durch die Thränen Alles ansah wie ein Land, über das eben ein Regen hinzuziehen beginnt. Wohl gab es in Haus und Küche zu schaffen und anzuordnen; aber sie war außer Stande, in dieser Erregung den Mägden gegenüberzutreten, und wollte erst in [448] ihre Kammer, um in der Einsamkeit sich selbst wiederzufinden. In ihrer Hast gewahrte sie nicht, daß in der dunklen Ecke am Fuße der Stiege, wo ihre Kammer lag, eine dunkle Gestalt lehnte und sich vorsichtig an die Mauer drückte, wie um ja nicht bemerkt zu werden oder etwas auszuspähen. So war es auch in der That. Kaum war Th’res achtlos auf die Stiege gekommen, als der Mann hervorstürzte, sich so stellte, daß ihr der Rücken abgeschnitten und sie in die Ecke gedrängt war.

„Wer ist da?“ rief sie zusammenschreckend. „Du bist es, Dickl? Was hast im Sinn, daß Du Einem nachschleichst wie der Dieb in der Nacht?“

„St! schrei’ nit so!“ entgegnete Dickl mit gedämpfter Stimme. „Es trifft sich gut, daß die Dirn’ just nit in der Kuchel ist – es braucht Niemand zu hören, was wir Zwei miteinander haben …“

„Was wir Zwei miteinander zu reden haben, darf die ganze Welt hören,“ rief Th’res laut. „Was willst von mir? Wenn Du mich aus dem Haus jagen willst, so scham’ Dich nit und thu’s, daß es alle Leut’ sehn …“

„So sei doch still!“ entgegnete Dickl näher tretend, daß sein heißer Athem ihr die Wange streifte. „Es fallt mir ja nit ein, Dich aus dem Haus zu jagen, ich möcht’ ja vielmehr, daß Du’s drinn’ recht gut haben solltest, und wenn ich anders red’, so ist es ja nur wegen dem lieben Hausfrieden. Ich muß auswendig so thun; aber das weißt Du ja schon lang’, daß ich inwendig ganz anders gesinnt bin gegen Dich … Mein Weib ist immer gleich obenaus; aber wenn Du nur gescheidt sein und mit Dir vernünftig reden lassen wolltest, nachher wollt’ ich sie schon dahin bringen, daß sie nichts mehr gegen Dich hat –“

„So?“ stammelte Th’res, welcher Scham und Zorn beinahe die Sprache hemmten.

Dickl fühlte sich dadurch ermuthigt und fuhr noch kecker fort. „Gewiß!“ flüsterte er. „Weiß der Teufel, wie mein Weib es erträtscht hat, daß Du mir gefallst; da eifert sie nun in der Still’ – aber wenn Du ihr ein wenig nachgeben und schön thun wolltest, dann ließe sie sich’s schon ausreden und wir könnten –“

„Bist Du bald fertig, nichtsnutziger Mensch?“ rief Th’res in ausbrechendem Zorn. „Ist es Dir nit genug, daß Du mich aus dem Haus jagen willst? Mußt’ Du mir auch noch eine solche Schand’ anthun? Hab’ ich Dir noch nit deutlich genug gezeigt, daß ich Dich nit ausstehn kann? Was hab’ ich denn schon Unrecht’s gethan in meinem ganzen Leben, daß Du mich für Deines Gleichen zu nehmen ’traust, Du ausgeschämter Mensch?“

„Du willst also nit?“ rief Dickl doppelt wüthend, denn ihr längeres Schweigen hatte ihn mit der kühnen Hoffnung geschmeichelt, daß sie seiner Werbung nicht mehr so abgeneigt sei wie früher. „Willst auf Deinem Eigensinn bleiben?“

„Laß mich hinaus!“ rief sie wieder. „Oder ich zeig’ Dir durch die That, was Du meinen Worten nit glauben willst!“

„Oho!“ schrie Dickl, nun ebenfalls jede Rücksicht vergessend, daß das Gespräch vielleicht Zeugen gefunden haben könne. „Darauf will ich’s wohl ankommen lassen …“ Er suchte sie vollends in den Winkel zu drücken; aber Th’res, alle ihre Kraft sammelnd, hatte ihn rasch um die Mitte gefaßt und warf ihn mit solcher Gewalt von sich, daß er zu Boden gestürzt wäre, hätte nicht der Brunngraber, der unbeachtet zur Hausthür hereingekommen war, ihn mit offenen Armen aufgefangen, während Th’res in ihre Kammer schlüpfte, die Thür zuwarf und den Riegel vorschob.

„Das muß ich sagen,“ rief der Brunngraber mit rohem Gelächter, „ich hab’ schon ein eignes Glück, daß ich allemal dazu komm’, wenn’s scharf heruntergeht. Kannst es halt nit lassen,“ fuhr er dann fort, indeß Dickl sich wieder aufraffte, „mußt Dir immer wieder die Finger verbrennen bei dem Dirnl und weißt doch, daß sie nichts von Dir wissen will.“

„Weiß der Teufel, wie das ist,“ grollte Dickl, „sie muß mir’s angethan haben, aber ich will es ihr schon eintränken! Ich find’ doch schon etwas aus, daß sie klein beigiebt!“

„Bin dabei,“ sagte Sepp, „ich hab’ Dir schon gesagt, daß sie mir auch ein Dorn im Aug’ ist, und wenn Du ihr was anhängen kannst, hilf’ ich Dir dabei, wie ich Dir sonst überall geholfen hab’ – wär vielleicht gerade jetzt eine gute Gelegenheit dazu: wie ich neulich in Rosenheim war, hab’ ich gehört, daß dieselben Komödianten, die Luftspringer wieder da sind … Du weißt schon, welche … vielleicht könnt’ man da was herausbringen!“

„Sepp,“ entgegnete Dickl, indem er mit ihm durch das Fletz in die Wohnstube ging, „mach’ Dich dahinter! Wenn Du das zuwege bringen könntest, wenn Du die Th’res dahin bringen könntest, daß sie zu mir kommen und nachgeben und mich bitten müßt’ … Alles kannst von mir verlangen, was Du nur willst …“

„Ja, mit dem Versprechen bist Du leicht bei der Hand!“ entgegnete der Brunngraber. „Das Versprechen kostet nichts, aber mit dem Halten geht’s schon ein Bissel zäher! Ich werd’ schau’n, was ich zuweg’ bringen kann – aber ich bin nit deswegen zu Dir herauf … Rück’ heraus, Brüderl – ich brauch’ Vorspann!“

„Schon wieder Geld?“ rief Dickl unwillig. „Du bist der Nimmersatt! Du hast ganz recht, daß Du ein Brunngraber ’worden bist, aber Du kannst einen Brunnen auch ausschöpfen! Ich kann Dir heut’ nit helfen, ich hab’ kein Geld: die Bäu’rin ist zum Kindlmahl gefahren, da kann ich mich nit spotten lassen und hab’ ihr die letzten zehn Kronthaler zum Angebind’ mitgegeben …“

„So, so?“ entgegnete der Andere, der sich benahm, als wenn er zu Hause wäre, aus dem kleinen Mauerschränkchen die Branntweinflasche heraus nahm und sich ein Glas vollgoß. „Wenn es weiter nichts braucht, so thust Du Dir leicht auf der Welt! Aber damit ist mir nit geholfen, also schau, wo Du Geld herbekommst, oder,“ fügte er hinzu, indem er mit einem Seitenblick das Glas an den Mund setzte – „oder ich muß zu der Bäu’rin gehen und schauen, ob die kein’s für mich hat!“

„So ist’s recht, schlechter Kerl!“ schrie Dickl und schlug die Faust auf den Tisch „Zuerst bist Du überall dabei und voran, Du verführst mich und hintennach drohst Du mir mit dem Verrathen! Es ist doch kein Mensch als Du daran schuld, daß es so weit mit mir ’kommen ist … Du hast mich zum Spielen verleitet! Du hast mir die Handler und Juden in’s Haus gebracht, die mich aufgefressen haben mit ihren Wechseln! Du hast gesagt und groß gethan, daß Du das Lindenbrünnl’ fassen willst, daß es nie ausbleiben kann, und jetzt ist es über Deiner Gräberei erst ganz aus’blieben, und der Lindhamerhof ist um die Hälft’ weniger werth, als wie zuvor!“

„Dummer Teufel!“ entgegnete der Brunngraber roh. „Möchtest jetzt den Spieß umkehren, daß er mich stechen soll? Ich soll Dich zum Spielen verführt haben? Als wenn da noch was zu verführen gewesen wär’! Als wenn Du nit schon gespielt hättest wie ein Landsknecht, wie wir miteinander besser bekannt ’worden sind! … Die Juden und die Händler willst mir vorwerfen? Woher hätt’st Du denn das Geld genommen, mit dem Du Dich durchgefrettet hast bis heute, wenn ich sie nit zu Dir geführt hätt’? – Und vollends von dem Brünnl’ will ich schon gar nichts hören! Meinst, so was kann man über Nacht machen und um einen Pfifferling? Ich stell’s her, hab’ ich gesagt, und ich thu’s auch, ich lasse mich finden darum, aber Geld muß ich haben, damit ich nit mitten in der besten Arbeit aufhören muß, wie jetzt!“

„Ich soll Dir wohl jeden Schaufelstoß vergolden?“ rief Dickl. „Aber ich will mich heute nit zertragen mit Dir! In ein paar Tagen ist doch Alles anders, der Jude hat mir ein österreichisches Loos verkauft, morgen ist die Ziehung, vielleicht mach’ ich einen Treffer, dann ist mir auf einmal geholfen!“

„So? Du hast ein Loos?“ fragte Sepp lauernd. „Laß mich doch einmal sehen …“

„Der Jude hat’s in Verwahrung,“ erwiderte Dickl verlegen. „Ich mußt’ es ihm als Pfand geben zu dem letzten Wechsel, den ich ihm ausgestellt habe – damals, weißt Du, wie ich den Grauschimmel von ihm gekauft habe …“

„Der Dir nach vierzehn Tagen umgestanden ist, weil er dämpfig war und Du es nicht gekannt hast … Na, dann ist das Loos in guten Händen, das muß ich sagen … Aber wir werden ja sehen,“ fuhr er fort, indem er sich Dickl näherte und ihn auf die Achsel klopfte. „Ich hab’ eigentlich nur sehen wollen, wie Du Dich anstellst, wenn man Dir auf den Leib geht … ich bin mit Dir zufrieden! Vergiß mir nur nit, daß Du mit [449] dem Gericht Ordnung machst wegen der Klagen, die gegen Dich schon eingereicht sind – wenn Du nicht vorsorgst, verkaufen sie Dir das Haus über’m Kopf … Du mußt ja das Schreiben schon bekommen haben, der Gerichtsdiener hat mir’s im Vertrauen gesteckt!“

„Freilich, freilich …“ entgegnete Dickl zerstreut, „ich weiß nur nicht gleich, wo ich den Wisch hingelegt hab’! Was liegt auch daran – es hat immer noch seine acht Tage Zeit; bis dahin hab’ ich vielleicht mit meinem Loos gewonnen, oder wir treiben anderswo Geld auf …“

„So gefallst Du mir!“ lachte Sepp. „Und jetzt will ich Dir’s nur auch eingestehn, wegen was ich eigentlich gekommen bin – drunten im Straßwirthshause sind ungarische Ochsenhändler mit schweren Leibgurten voll Kremnitzer Ducaten … Was meinst? Wollen wir hinunter und mit ihnen paschen, daß sie nit gar so schwer zu tragen haben?“

„Ich bin dabei,“ rief Dickl. „Du bist halt doch mein Spezi! Ich geh’ mit Dir, Bruder – aber vergiß mir nit auf die Th’res!“

„Wie werd’ ich vergessen!“ sagte Sepp, indem sie das Haus verließen. „Die bekommt eine Suppe eingebrockt, an der sie eine gute Weil’ auszulöffeln haben soll!“

Der alte Lindhamer war indessen wie versteint in seiner Stube im Brüten und Sinnen gesessen; er richtete sich horchend auf, als er die Thür gehen hörte, und ein mattes Lächeln glitt über sein vergrämtes Gesicht, als auf sein Werda Theresens freundliche Stimme antwortete. „Ich bin’s,“ sagte sie; „ich will fragen, ob es Euch recht ist, wenn ich Euch jetzt etwas auf der Cither vorspiele …“

„Setz’ Dich einmal zu mir her,“ sagte er herzlich und streckte die Hand aus, damit sie ihm die ihrige bieten sollte. „Es ist schön von Dir, daß Du kommst und mir das Citherspielen antragst; aber ich sorg’, die rechte Lust zum Spielen ist Dir heute gerad’ so gut vergangen, wie mir zum Hören; ich mein’, wir hätten gar viel mit einander zu reden …“

„Kann wohl sein,“ erwiderte Th’res und setzte sich neben ihn auf die Bank – „ich möcht’ dann wohl auch eine Frag’ stellen, wenn’s erlaubt wär’ …“

„So frag’ – was braucht’s dazu noch einen eignen Verlaub?“

Th’res sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin; das Reden schien ihr nicht leicht anzukommen. „Ich weiß nit, wie ich’s machen soll,“ sagte sie dann, „ich komm mir vor wie der kleine Knab’, von dem ich gelesen hab’ in dem Büchl’, der Heinrich von Eichenfels, der sein Leben lang in einer finstern Höhlen gewesen ist und nit gewußt hat, daß es draußen Himmel und Erd’ und Sonn’ und Mond drüber giebt! So ist für mich der Berg gewesen, auf dem der Lindhamerhof steht, und wie ein Hennl’, das aus dem Ei kriecht, hab’ ich’s nit anders gewußt, als daß ich daher gehör’ und da daheim bin …“

„Du gehörst auch her …“

„Ich hab’s nie anders gewußt – und wenn mir auch manchmal was besonders vor’kommen ist, es hat mich nichts gedruckt: Ihr und die Bäurin, Gott hab’ sie selig, seid’s ja alleweil’ gut gewesen mit mir! So bin ich aufgewachsen und festgewurzelt wie einer von den Bäumen da, die alle da stehen und kann doch keiner sagen, wie er her’kommen ist und wer ihn gesetzt hat … An einem Tag aber – an demselbigen Tag, an dem sich so viel umgekehrt hat auf dem Lindhamerhof, da ist auch für mich eine Aenderung geschehn – da ist ein Fremder heraufgekommen, der hat mich gefragt, als was ich denn auf dem Hofe wär’, und hat mich ausgelacht, weil ich ihm nit recht hab’ antworten können … Da ist mir’s gewesen, als wenn man mit einem Licht in ein Spinnengeweb’ fahren thät’, und das leichte Gespinnst hat aufgelodert in der Geschwindigkeit und lichterloh – seitdem schaut mich Alles um mich herum mit andern Augen an und seitdem hab’ ich’s nimmer aus dem Sinn gebracht. Ich hab’s zehnmal auf der Zung’ gehabt an dem Tag, wie wir nach Aibling hinein gefahren sind, und hab’ Euch fragen wollen, als was ich denn so eigentlich auf dem Hof bin, ich hab’s allemal wieder ’nuntergeschluckt – aber jetzt …“

„Jetzt willst doch fragen?“ sagte der Alte, da sie stockend inne hielt.

„Ja und nein,“ erwiderte sie. „Denn nach dem, was vorhin gered’t worden ist, könnt’ ich eigentlich schon wissen, als was ich da bin – als eine Magd, die man ausschändet und der man mit dem Fortjagen droht, und eigentlich bin ich noch weniger, denn die schlechteste Magd ließ sich das nit gefallen …“

„Du bist keine Magd – ich hab’ gleich …“

„Ja, Ihr habt gleich dawider geredt,“ unterbrach ihn Th’res, „das ist wahr und Ihr habt auch ganz recht gehabt und wißt selber nit, wie sehr … wie ich von Euch bin, hat mir der Dickl den Weg abgepaßt und hat mir’s ausgedeutscht, als was ich auf dem Hofe sein und bleiben könnt’, wenn ich nur wollt’.“

„So was hat er sich unterstanden?“ fuhr der Alte entrüstet auf. „Hat denn Treu’ und Ehr’ schon völlig ein End’ bei ihm, dem nichtsnutzigen Burschen, dem …“

Er sprach das Wort nicht aus, das ihm auf den Lippen schwebte, und verbarg sein gramvolles Angesicht in den Händen; Th’res that, als habe sie sein Abbrechen nicht bemerkt, und fuhr in ihrer Rede fort:

„So wird es wohl das Beste sein, ich schnüre mein Bündel; ich will der Bäurin die Freud’ nit machen, daß sie mich fortjagen kann, und will noch vorher freiwillig gehn.“

„Was? Du willst fort?“ rief der Alte überrascht.“

„Muß ich denn nit?“ entgegnete sie betrübt. „Ich kann ja mit Ehren nimmer bleiben, und dann, wer weiß, ob’s nit auch für Euch gut ist, vielleicht habt Ihr auch mehr Ruh’, wenn ich nimmer als der Störenfried im Haus bin.“

Der Alte schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, nein, das wird nit sein,“ sagte er traurig und doch bemüht zu verbergen, wie tief ihn die Nachricht in’s Herz getroffen; „mit dem Dickl ist es weit gefehlt, ich hätt’s nie geglaubt, daß er so sein könnt’ …“ aber wenn Du gehst, nimmst Du meine letzte Freud’ mit Dir – nachher bin ich erst recht allein. Na, vielleicht hat unser Herrgott ein Einsehn und macht mir die Augen bald ganz zu.“

„Macht mir das Herz nit noch schwerer, es kommt mich ohnedem hart genug an, daß ich fort soll. Müßt mir auch kein’ Vorwurf machen! Schon vor fünf Jahren – Ihr wißt wohl, wann das gewesen ist, bin ich mit dem Gedanken umgegangen, daß ich fort soll, aber wie ich gesehn hab’, wie’s mit der neuen Wirthschaft ausschaut und wie Eure Augen alle Tag’ schlechter ’worden sind, da hab’ ich’s aufgegeben und bin da geblieben, bloß wegen Euer; aber jetzt, jetzt kann’s nimmer sein! Lassen wir’s gut sein, bis es sein muß, und reden wir nimmer davon; erzählt’s mir lieber, ob ich wem angehör’ oder ob ich so auf dem Baum gewachsen bin wie ein Holzapfel.“

„Ja, das ist eine eigene Geschicht’,“ sagte der Alte und starrte vor sich hin, als ob er die Ereignisse, deren er gedachte, in der Erinnerung an sich vorbeiziehen sehe, „eigen, aber kurz und traurig auch dazu! Ich hab’ Dir nie davon erzählen wollen, es hat’s nit nöthig gehabt und Du hast auch niemals darnach gefragt und wenn ich gestorben wär’, hättest es schon beim Herrn Pfarrer und am Landgericht erfahren, wo Alles hinterlegt und richtig gemacht ist wegen Deiner … Daß Du nit unser eigenes Kind bist, hast wohl gemerkt, denn Du bist viel zu gescheidt, aber ich mein’, wir haben’s Dich nie gespüren lassen und wenn Du einmal die Geschriften holst und brauchst, wirst sehn, daß wir Dich nit zum Spott als Kind angenommen haben. … Das ist aber so gewesen.“

Er hielt, wie um sich vorzubereiten, einen Moment inne und begann dann:

„Einmal, es war so um Johanni herum und ist ein gar heißer Jahrgang gewesen und hat Wochen lang kein Tröpfl’ geregnet, daß schier Alles verdurst’ ist, die Bäch’ sind ganz seicht geworden und viele Brunnenquellen sind ganz ausgeblieben … sogar unser Lindenbrünnl’ kam spärlicher und machte mir Angst, daß ich daran dachte, ich wollt’ einmal einen tüchtigen Mann aufsuchen, der was davon verstünde. Da bin ich mit meinem Weib selig über Land gefahren, weil ich mich ein Bissel um Vieh umschaun wollt’, und wie wir in die Gegend von Flintsbach gekommen sind, da hat Einer, den ich so weitschichtig gekannt hab’, sich draußen in der Einöd’ ein Haus gebaut; das ist, wie’s dort Brauch ist in der Gegend, schon ganz aufgezimmert gewesen und das Dach war darauf gesetzt und hat es nichts mehr gebraucht, als es mit den Steinen auszufüllen und die [450] Wänd’ aufzumauern. Daneben haben sie gerad’ angefangen, einen Brunnen zu graben, und das ist ein schweres Werk gewesen, denn sie haben einen tiefen, tiefen Schacht ausheben müssen, bis sie auf Wasser ’kommen sind, und der Brunngraber-Sepp … Du kennst ihn ja, der hat’s über sich genommen gehabt, den Brunnen fertig zu machen. Wie wir nun dahin kommen und einen Augenblick anhalten, sind sie gerad’ in großer Noth gewesen, denn der Brunnenschacht, bei dem nit drauf vorgesehn war, daß er so tief werden müßt’, wollt’ wieder eingehn und es ist die höchste Noth gewesen, ihn zu bolzen und mit Spreizen zu versehn, aber es ist kein Mensch in der Nähe gewesen und bis Einer in’s Dorf gelaufen wär und hätt’ von dort Leut’ herbeigebracht, wär’s wohl zu spät gewesen … Ich hab’ nit viel helfen können, denn mich hat erst einige Tag’ zuvor beim Getreideeinführen ein Gaul geschlagen gehabt, daß ich den Arm kaum hab’ rühren können.

Währenddem wir so beisammen stehen und sinniren, kommt auf der Straß’ ein Fuhrwerk daher, wie man’s gar oft sieht; es sind arme Leut’ aus’m Tirol – Laninger heißen sie’s, wenn mir recht ist –, so Landfahrer halt, die mit Geschirr oder Tirolerobst oder sonst in Handelschaft herumziehen. Es war ein kleiner, aber hoher zweirädriger Karren mit einer weiß-grauen zerfetzten Blache darüber – es ist kein Pferd davor gespannt gewesen, sondern der Mann und das Weib haben selber gezogen, daß ihnen, wie sie still gestanden haben, der Schweiß nur so heruntergetropft ist in den Straßenstaub –, im Wagen drinnen aber sind zwei Kinder gewesen, zwei keine Dirndln, das eine so von drei Jahren, das andere um ein paar Jahrln älter, die haben unter der schlechten Blachen und auf einer Schütt’ Stroh so gut geschlafen, als wenn sie in dem besten seidenen Himmelbett liegeten. … Mein Weib selig ist in ihrer Gutheit gleich hin zu den Leuten, hat mit der fremden Frau gered’t und ihre Freud’ an den Kindern gehabt, die sich in der Sommerhitz’ völlige rothe Röserln auf die Backen hergeschlafen hatten; der Herr von dem Neubau und der Brunngraber, die sind über den Mann her, ob er sich nicht ein paar Gulden in der Geschwindigkeit verdienen und mithelfen wollt’ bei dem Brunnenbolzen. Der Mann war von keiner starken Art, mehr auf der hagern Seiten, er ist auch wohl müd’ gewesen und abgehetzt von dem Wandern und Wagenziehen, aber das geschwind verdiente Geld hat ihn doch gelockt, und wie ihm der Bauherr noch ein Abendessen versprochen hat und daß er ein Nachtquartier haben sollt’ in dem Neubau, da hat er sich nimmer besonnen. … Na, ein Nachtquartier hat er auch ’kriegt, aber ein ganz anderes, als er sich erwartet hat. – Aber hörst mir denn auch zu?“ unterbrach sich der Erzähler, „ich hör’ Dich ja nit einmal schnaufen und weiß gar nit, ob Du da bist …“

„Wohl bin ich da und hör’ zu,“ erwiderte Th’res, „fahrt nur fort – aber es verhebt mir frei das Schnaufen bei der Geschicht’.“

„Ueberdem,“ begann der Alte wieder, „so hat sich der Mann bereden lassen, er hat seinen Karren mit den Kindern von der Straße weg nebenan auf den Anger in den Schatten gefahren, und dann haben wir uns alle Vier über den Brunnen hergemacht, die Bolzen und Spreizen, mit denen er ausgemacht war, besser zu verkeilen. … Der Fremde und der Sepp sind auf der Leiter in den Brunnen hinuntergestiegen, ich hab’ oben widergehalten und der Bauherr hat den Schlägel genommen, um den ersten Keil einzutreiben. Bei den ersten paar Schlägen hat sich nichts gerührt, nachher aber hat das Erdreich angefangen zu rieseln und ich hab’ gesehen, wie es ein Brett immer mehr und mehr herausgebogen hat, daß es am Brechen war. … ‚Macht, daß Ihr heraufkommt,‘ hab’ ich hinuntergeschrien, ‚es geht ein!‘ … Der Sepp, der oben auf der Leiter gestanden ist, war mit einem Sprunge heraus, der fremde Mann ist auch heraufgeklettert und hat schon die Hand nach den obersten Spreißeln ausgestreckt – da ist das Brett gebrochen, die Spreizen sind gewichen, das Erdreich ist nachgestürzt, es hat die Leiter abgeschlagen; auf der der Mann gestanden ist … eh’ man hätte können Amen sagen, hat’s ihn hinuntergerissen und verschütt’t.“

Er hielt aufathmend inne und hatte nicht mehr nöthig, nach der Anwesenheit seiner Zuhörerin zu fragen; ein schwerer, thränengepreßter Seufzer verrieth ihre Gegenwart.

„So war halt das Unglück fertig,“ fuhr der Lindhamer fort, „die Bäuerin ist bei der fremden Frau geblieben, die gerad’ hinausgeschrien hat vor Leidwesen und Verzweiflung, sie hat sich die Haar’ ausgerauft und sich auf dem Boden gewälzt, und hat die Erd’ über dem Brunnen mit den Händen aufscharren wollen – die Kinder sind gar nit aufgewacht und haben’s verschlafen, daß sie Waiseln ’worden sind in dem Augenblick. Ich bin gleich in’s Dorf hineingefahren, daß die Räder nur so geflogen sind, aber bis Leut’ kamen, ist doch eine Stund’ vergangen, und bis man das Graben hat anfangen können, schier noch eine … wie man ein Bissel hintergekommen ist, hat man ihm zugerufen durch die Erd’, er sollt’ nit verzagen und an der Hülf’ Gottes verzweifeln – er hat’s aber wohl nimmer gehört, denn später, wie man ihn endlich herausgebracht hat, da hat man’s gesehen: er hat nit lang’ zu leiden gehabt, das eingehende Erdreich hat ihm gleich den Garaus gemacht.“ …

Th’res war von der Bank neben dem Alten heruntergeglitten und hielt jetzt, auf den Knieen liegend, ihr thränenüberflossenes Angesicht auf die Hand des Alten, die sie bewegt ergriffen hatte, niedergebeugt.

„Ich glaub’ wohl, daß Du weinst,“ sagte er und fuhr ihr mit der andern Hand streichelnd über Stirn und Haare, „es geht Dich ja auch nahe genug an – Du wirst es schon errathen haben: das kleinere von den beiden Dirnln bist Du gewesen, und den sie todt aus dem Brunnen heraufgewunden haben, war Dein Vater. – Wir haben der Frau,“ fuhr er, da Th’res, leise weinend, nicht antwortete, nach einer Weile fort, „gut’ Ding’ so viel gegeben, daß sie für den ersten Augenblick hat ausreichen können, und sind nachher heimgefahren. Ueber den andern Tag aber sind wir wieder’kommen, weil der Verunglückte ist ein’graben worden. Er liegt auf dem Friedhof von einem kleinen Filialkirchl’, das nit weit davon mitten in den Feldern unter lauter schönen alten Linden steht, daß man sich kein schöner’s Plätzl zum Rasten aussuchen könnt’ … da ist er an der Mauer ein’graben worden – ich will Dich einmal hinführen und Dir den Ort zeigen, ich hab’ ihm ein richtiges christliches Grabkreuz darauf setzen lassen. … Die Frau, Deine Mutter, die sich zuerst angestellt hat wie unsinnig, die hat sich in der Zeit schon wieder besonnen und zusammengeklaubt gehabt, daß wir uns darüber verwundert haben; sie hat sich schon ausgedacht gehabt, was sie thun wollt’, hat ihren Karren mitsammt dem Geschirre schon an den Kramer im nächsten Orte verkauft gehabt und hat gesagt, sie wollt’ mit ihren Kindern zu Fuß schön langsam in’s Tirol zurückgehen, wo sie ihre Mutter und ihre Heimath hätt’. Mein Weib, und – ich muß’s sagen – mich auch haben die zwei Dirnl’n gedauert, die dagestanden sind und haben nit gewußt, was ihnen geschehen ist, und die Bäuerin hat sich alleweil schon ein Mädel in’s Haus gewünscht. … ‚Wie wär’s,‘ hat sie gesagt, ‚wenn wir eines von den Kindern mit uns nehmen thäten? Die Mutter, mein’ ich, ist keine von Denen, die sich um den Todten graue Haar’ wachsen laßt, da sind die Kinderln wohl auch nit besonders aufgehoben. … Wenn wir eines bei uns behalten und es christlich aufziehen, thun wir vielleicht ein gutes Werk, wir erziehen uns eine treue Hülf’ im Haus’ und vielleicht eine brave, dankbare Tochter.‘“

Th’res schluchzte laut auf und überdeckte, noch immer knieend, die Hand des Alten mit Küssen.

„So hab’ ich halt Ja gesagt,“ fuhr der Alte fort, „wir haben uns von Deiner Mutter Alles sagen lassen, wo sie daheim ist und wer ihre Befreund’ten sind, der Schullehrer hat’s aufgeschrieben und nachher, wie Du eingeschlafen gewesen bist, haben wir Dich mitgenommen auf den Lindhamerhof. Deiner Mutter aber haben wir mit Hand und Mund versprochen, daß wir für Dich sorgen und Dich halten, wie’s recht. … Damals hab’ ich mir freilich nit denken können, daß Du einmal so von mir gehen thätest.“ …

Th’res erhob sich und trocknete sich die Thränen vom Angesicht. „Ich geh’ nit fort,“ sagte sie festen Tones, „ich bleib’ bei Euch, Vater, so lang’ Ihr mich behaltet, mag’s gehen, wie’s will, jetzt kümmr’ ich mich um nichts mehr – aber bei dem Bauern drüben, beim Dickl kann ich nit sein; Ihr müßt machen, Vater, daß ich zu Euch herüber komm’, wie Ihr schon gesagt habt … es ist doch besser, wenn Jemand um Euch ist, der Euch aufwart’t – und das will ich thun, so lang’ ich mich rühren kann, wie sich’s für ein dankbares Kind gehört, und wenn einmal da Eures Bleibens nimmer ist, ich geh’ mit Euch bis an’s End’ der Welt!“

[479] „Du willst Spaß mit mir machen?“ fragte der alte Lindhamer.

„Fällt mir nicht ein. Hört nur zu,“ sagte Th’res, indem sie das Geschirr bei Seite stellte, „aber zuvor müßt Ihr mir versprechen, daß Ihr Euch nicht kränken und verzürnen wollt.“

„Was wird das wieder sein?“ murmelte der Alte bekümmert. „Nimmt denn das Kreuz und Elend noch kein End’?“

„Wer weiß! Wie ich aus dem Markt’ ’raus bin, ist mir der Herr Landrichter begegnet und hat mich angeredet. ‚Ist das nicht die Th’res vom Lindhamerhof?‘ hat er gesagt; ‚grüß’ mir den alten Schweden und sag’ ihm, es freut mich, daß ich ihm wieder ’was Gutes zu wissen machen kann. Wenn er will, kann er auf dem Lindhamerhof bleiben; der fremde Herr, der ihn gekauft hat, kommt vielleicht unter Jahr und Tag noch nicht; er hat dort, wo er daheim ist, ein großes Geschäft, von dem er sobald nicht los kommt …“

„Ja, wie soll denn das werden?“ fragte der Alte. „Warum hat er dann den Hof gekauft?“

„Das weiß ich nit,“ erwiderte Th’res. „Der Herr Landrichter hat mir nur soviel gesagt, daß der Herr mitunter viel reisen muß, und da ist er auch in unsere Gegend gekommen, und weil’s ihm da so viel gut g’fallen hat, hat er seinem Advocaten den Auftrag gegeben, wenn er ein schönes Gut fände, sollt’ er’s für ihn kaufen, und da hat ihm der Advocat so viel Schön’s von dem Lindhamerhof und so viel Gut’s von Euch geschrieben, und nun will er haben, Ihr sollt’ derweil’ auf dem Gut bleib’n, bis daß er selber kommt, und sollt für ihn wirthschaften und ich mit Euch.“

„So, so; das ist es also –“ sagte der Alte kopfschüttelnd, als sie inne hielt. „Das ist wohl gut gemeint, aber es ist nichts für mich – ich bin alt und blind und taug’ nimmer zum Wirthschaften und hernach …“

„Hernach? Ihr habt noch was sagen wollen?“

„Hernach – ich will’s nur ’raus sag’n, was ich mir denk’ … ich bin nit nur alt und blind, ich bin auch arm – aber lieber will ich alle Tage eine ungeschmalz’ne Wassersupp’n essen, als auf’m Lindhamerhof, wo meine Urahn’ln gehaust haben und wo ich Herr g’wesen bin, als Knecht oder Baumann ’rum gehn und um Lohn dienen –“

„I hab’ mir’s ’denkt, daß Ihr so sagen werdet,“ sagte Th’res seufzend, „und ich kann Euch nit Unrecht geben, wenn ich auch wollt’ … Ihr wollt also nit bleiben?“

„Nein; morgen kannst wieder hineingehn nach Aibling, kannst es dem Herrn Landrichter sagen und stift’st die Logie …“

„Das Eine hat’s nicht nothwendig,“ sagte Th’res wieder, „denn wenn auch der Herr nicht kommt, hat er doch einen guten Freund vorausg’schickt, so einen Werkführer oder was – der ist schon da und kommt schon heut’ Nachmittag auf den Hof. Er bringt Geld mit und hat schon Vieh eingekauft, das schönste, das in der ganzen Gegend zu haben gewesen ist – in einem Vierteljahr, hat er gesagt, soll kein Mensch mehr davon wissen, daß der Lindhamerhof auf der Gant gewesen ist.“

Der Alte hatte sich aufgerichtet; ein schwacher Freudenschimmer überleuchtete seine Züge.

„Hat er das gesagt?“ rief er. „Nachher soll’s ihm gut gehn, wer’s auch ist – wenn er’s so richtig im Sinn hat, nachher hab’ ich doch wenigstens den Trost, daß der Lindhamerhof nit zertrümmert und der schöne Wald nit niedergeschlagen wird. Was ist das auch Besonderes? Der Hof bleibt, der Bauer wechselt,“ setzte er mit einem Tone hinzu, der erkennen ließ, daß er kaum Athem genug hatte, das Wort hervorzubringen. „Es bleibt dabei,“ sagte er dann nach kleiner Pause, „morgen gehst Du in aller Früh; aber jetzt sag’ den Leuten drüben, was sie erfahren müssen! Es muß doch eine Stuben hergericht’ werden, wenn der Fremde kommt …“

„Das Hinübergehn nutzt nichts, Vater,“ sagte Th’res. „Es ist Niemand mehr drüben – der Dickel und die Bäuerin sind schon abgezogen …“

Der Greis zuckte zusammen; aber er hatte kein Wort des Bedauerns oder der Entrüstung, daß man gegangen war, ohne es ihn wissen zu lassen. „Dann ist’s freilich was Anderes,“ sagte er ruhig; „dann müssen wir, wenn wir auch nit Wirthschafter sein wollen, doch so thun – wenn der Mann kommt, muß er doch irgend wen finden – drum wirst schon so gut sein und herrichten müssen. Laß mich nur allein, ich brauch’ nichts und will nichts hören … Wenn der Fremde kommt, kannst mir’s ja sagen …“

Schweigend ging Th’res, das Unvermeidliche zu besorgen. Als der Alte gehört, daß die Thür in’s Schloß gefallen war, tastete er sich bis zu derselben hin und schob den Riegel vor – [480] er wollte allein sein mit sich selbst, mit seinem Unglück und der Selbstqual seiner Erinnerung.

Es ging schon stark gegen Abend; die Sonne war dem westlichen Hügelrande schon nahe und verbreitete jene Goldfluth um sich, welche für den andern Tag ihre Wiederkehr in gleicher Herrlichkeit verkündet, als Th’res wieder an die Thüre des Austraghauses pochte, den Alten anrief und ihm meldete, der Werkführer des neuen Herrn mit noch einem Gehülfen sei gekommen. Der Alte trat heraus; er konnte ihr Angesicht nicht erblicken, also auch die Erregung nicht gewahr werden, die auf ihren Zügen sichtbar ward, dennoch entging seinem geschärften Ohre nicht, daß ihre Stimme minder fest klang als sonst.

„Armer Narr,“ sagte er theilnehmend, „bist erschrocken darüber! Ich glaub’s wohl; aber schau mich an! Mich trifft’s doch wohl noch schwerer wie Dich, und mir soll’s doch Keins anmerken, wie hart’s mich ankommt, den Gang zu thun. Wo ist der Herr?“

„Sie haben Haus und Hof kaum angeschaut,“ erwiderte Th’res, „und sind gleich in den Stall, um das neue Vieh zu mustern, das vorhin gekommen ist – Ihr müßt ja das Geläut gehört haben. Dann ist der erste Gang zum Lindenbrünn’l gewesen. Der Eine von den Zweien kann kein Wort deutsch, aber der Andere kauderwälscht so was zusammen, daß man es halbwegs verstehen kann. Der hat gesagt, das wäre die Hauptsache – beim Brünn’l müßt’ man vor Allem nachschauen, wie’s damit stünd’; das wäre das Leben vom Lindhamerhof.“

„Der Mann versteht’s,“ murmelte der Alte, indem er Th’res folgte. „Komm mit! Ich will doch sehn, was sie thun, oder – hören wenigstens,“ fügte er, mit bitterem Scherz sich selbst berichtigend, hinzu. –

In der von den Lindenbäumen gebildeten weiten Runde war es bereits düster und dämmerig; auch die fast ganz entblätterten Aeste bildeten ein so dichtes Kronengewölbe, daß nur der lebhafte Schein der sinkenden Sonne noch einige Helle zu verbreiten vermochte. Die Fremden standen an dem Schachte, den man zu graben versucht hatte, und musterten mit Kennerblicken die Arbeit, wie die umherliegenden Werkstücke. Der Alte trat an Th’resens Hand näher, die sich hinter ihn stellte und so zurück hielt, daß der Fremde, den man als den Werkführer bezeichnete, sie nicht erblicken, wohl aber von ihr beobachtet werden konnte; die Vorsicht war jedoch unnöthig, denn der Fremde schien sie gar nicht zu beachten, und sah über sie hinweg, als ob sie gar nicht zugegen wäre. Sie hatte denselben bis jetzt nur aus der Ferne gesehen; aber bei seinem ersten Anblick hatte ein eigenthümliches Gefühl sie durchzuckt: es war ihr, als sei diese schlanke, kräftige Gestalt ihr nicht unbekannt; doch ebenso schnell, als er entstanden, hatte sie den Gedanken als eine Thorheit wieder verscheucht. Der Mann war ja völlig fremd, verstand nicht einmal Deutsch und sein Anzug zeigte, daß er aus einem ihr unbekannten, weit entfernten Lande komme. Er trug, wie sein Begleiter, einen kurzen, schwarzen Leibrock, enganliegende Beinkleider und Halbstiefelchen und auf dem Kopfe die hohe Pelzmütze mit Reiherfeder, wie sie die Juraten oder ungarischen Studenten zu tragen pflegen. Das Gesicht, soweit man es von fern und durch die Dämmerung erkennen konnte, war von dichten schwarzen Haaren und einem ungewöhnlich starten Barte beinahe völlig verdeckt und blaue Brillengläser machten es unmöglich, die dahinter verborgenen Augen zu erkennen. Der Gefährte sprach eifrig zu seinem Herrn; wenn auch die Sprache fremd klang, war doch zu erkennen, daß er ihm erklärte, daß die Sache mit dem Brunnen verkehrt angegriffen sei und daß an einem andern Orte der Versuch hätte gemacht werden sollen.

„Das sein nix,“ setzte er dann in gebrochenem Deutsch hinzu, um sich den Landleuten verständlich zu machen, die von den umliegenden Weilern und Häusern herbeigekommen waren, um den Fremden zu betrachten; denn das Gerücht dessen, was auf dem Lindhamerhof vorgehe, war schnell in die Nachbarschaft gedrungen. „Das sein ungeschickt. Ist das Wasser geradezu abgeleitet, wie absichtlich. Hätte man gesucht weiter oben, hätte man finden müssen den rechten Schacht.“

Der Alte nickte still Beifall. „Ja wohl,“ sagte er, „ich habe Einen gekannt, Herr, der hat dasselbe gesagt, aber man hat ihm nicht geglaubt.“

Beim ersten Laut aus dem Munde des Alten hatte der Fremde sich rasch gegen ihn umgewendet und Th’resens von ihm nicht weichendem Auge entging es nicht, daß er zusammenbebte und mit Gewalt an sich hielt; nur seinem Begleiter rief er ein paar Worte der Ueberraschung zu, aber so leise und flüchtig sie gesprochen waren und so fremdartig sie klangen, erweckten sie doch in Th’res einen Widerhall, über den sie sich nicht zu täuschen vermochte. „Die Stimm’“ … zitterte es wie ein Hauch von ihren Lippen, und wie ein Verdürstender, dem man erst einen Tropfen gereicht, beugte sie sich vor, um noch mehr von den Klängen zu schlürfen. Sie vernahm nichts mehr; der Gehülfe aber trat zu dem Alten und sagte:

„Kommt, Herr Pany – Vater – der Herr da sein Bruder von dem Herrn, was hat gekauft den Hof. … Er hat gehört von Euch daß Ihr seid ein braver Mann, und er möchte Euch geben die Hand.“

„O, gern, gern, mit Freuden,“ sagte der Greis und streckte die Hand aus. Im nächsten Augenblick hatte der Fremde sie ergriffen, drückte sie herzlich und warm, aber schweigend und eilte rasch hinweg, dem Gehülfen die Führung des Greises überlassend, der verwundert nach dem Entflohenen fragte.

„Kommt er gleich wieder,“ sagte dieser. „Wird ihm eingefallen sein Geschäft, wichtiges, das er nicht versäumen darf.“

Th’resens Zweifel und Schwanken war bei diesem Anblick in Gewißheit, ihre Besorgniß und Befürchtung in Freude übergegangen, und eine Fluth von Entzücken brach aus den lange zurückgehaltenen Tiefen des Herzens hervor. Sie gewahrte darüber kaum, daß ihr das Führeramt abgenommen war und die übrigen Anwesenden sich entfernt hatten, als es nichts mehr zu schauen und zu lauschen gab.

„Er ist’s! Er ist’s! – Wahrhaftig – es ist Wolf,“ murmelte sie, und wie ein Engelsflug gingen alle Gedanken der Freude und Hoffnung, alle dem Einen kleinen Worte entsprossen, durch ihre Seele. War es denn möglich? Der in Trauer Ersehnte, der heimlich Geliebte, der schon verloren Geglaubte war wieder da, und wie war er wiedergekommen! Er hatte den Hof um hohen Preis gekauft; er mußte also auch in der Fremde wacker geblieben sein, mußte fleißig gearbeitet und sich zu einem ansehnlichen Mann emporgeschwungen haben, und nun, im Augenblick des höchsten Leids, da war er wirklich wieder da! war als Retter und Helfer da, also ganz der Alte mit dem alten guten Herzen, und wollte unerkannt sehen, was daheim wohl noch beim Alten geblieben! Sie hob die blinkenden Augen zu dem verglimmenden Abendhimmel empor, voll Dankes wegen des Alten, dem nun, nach schwülem Gewittertage, noch ein schöner, wolkenfreier Lebensabend zu hoffen stund, voll Dankes für sich selbst, wenn auch zugleich mit der Lust ein bittres Weh ihr durch die Seele zuckte und sie fühlen machte, daß Wolf durch die mit ihm vorgegangene Veränderung ihr entfremdet und entrissen sein mußte; er war ein Anderer geworden, ein reicher weltgewandter Mann – sie war dasselbe arme, unscheinbare, einfältige Landmädchen geblieben, und zwischen ihm und ihr sah sie eine Kluft aufgethan, die alle Sehnsucht, alle Treue der Liebe nicht auszufüllen vermochte und in der ihr Glück unterging, wie die Sonne, die eben am Horizont versank.

Fußtritte rauschten durch das abgefallene dürre Laub und mahnten sie, daß es im Hause noch für sie zu thun gab. Sie wollte dahin, aber der Brunngraber-Sepp, der aus dem Gebüsch, das sich hinter den Lindenstämmen hinzog, unbeachtet hervorgeschlichen war, vertrat ihr den Weg.

„Du bist allein da?“ sagte er. „Hab’ ich mich also doch verspätet? Ich habe gehört, der fremde Käufer hat einen Tausendkünstler mitgebracht, der das Brunnengraben besser verstehen will, und ich hätte gern auch von seiner Gescheidtheit profitirt. Aber es ist Alles schon fort, wie ich seh’. Meinetwegen! Ich werd’ das Kunststück noch früh genug erfahren, und es ist mir ganz recht, daß ich Dich allein antreff’, denn ich hab’ Dir was Besonderes zu sagen …“

„Geh’ mir aus dem Weg!“ sagte Th’res gelassen; „ich hab’ nichts mit Dir zu verkehren.“

„Ja ja, ich weiß schon, wie es mit uns Zweien ist,“ entgegnete Sepp roh, „Du willst nichts von mir wissen, wie ich nichts von Dir. Ich leugn’s nit; aber ich hab’ ein so gutes Herz, das es nit leid’t, daß Du in Dein Unglück rennst, drum will ich Dir helfen …“

[481] „Ich brauch’ keine Hülf’,“ erwiderte Th’res. „Laß mich meiner Wege geh’n, sag’ ich! Was hast, daß D’ Dich so vor mich hinstellst? Ich glaub’ gar, Du hast getrunken.“

„Getrunken?“ rief Sepp wild. „Na, das hab’ ich nit, aber g’laufen bin ich, wie ein Hund; hab’ wohl in der Eil’ einen Krug Bier hinein gestürzt, aber das ist mir nit in den Kopf gestiegen, denn ich weiß noch recht gut, was ich will. Was ich hab’, hast Du gefragt? Einen Zorn hab’ ich, daß ich den Nächsten Besten, der mit mir anbinden will, bei der Gurgel packen und in der Luft erwürgen könnt’. Der Dickl, der Hallunk, hat mich zum Narren gehabt. Er ist mir Geld schuldig und hat versprochen, er zahlt mich, wenn er das bekommt, was ihn vom Hof ’raus trifft. Heut’ hat er mich bestellt, daß ich mit ihm zu Gericht geh’n sollt’, wo die Auszahlung wär’, aber er hat einen andern Weg genommen und ist nit gekommen, und wie ich dann hinein bin nach Aibling, und hab’ einen kürzern Weg machen wollen, bin ich in’s Moor hineingerathen, daß ich bei einem Haar versunken wär’ … Bis ich mich dann mit Müh’ und Noth hab’ ’rausgearbeitet, ist’s zu spät gewesen, da war er mit dem Geld schon auf und davon – aber mir kommt er nit aus!“ murrte er, wie ein zähnefletschender Hund, – „mir nit! Der Brunnensepp weiß den Weg auch in’s Tirol zu finden.“

„Was geh’n mich Eure schlechten Händel an?“ rief Th’res. „Macht’s miteinander aus! Zum letzten Mal: geh’ mir aus dem Weg!“

„Gleich gleich! Nur nit gar so eilig! Hab’ Dir ja das Alles nur gesagt, weil Du’s hast wissen wollen … Jetzt will ich Dir aber auch sagen, was ich Neu’s erfahren hab’ und was Dich nah’ genug angeht …“

„Was wär’ das?“ fragte Th’res etwas gelassener, weil ihr die Vermuthung aufstieg, daß Wolf vielleicht auch von Sepp gesehen und erkannt sein könnte.

„Es ist nit mehr und nit weniger,“ sagte Sepp, „als daß ich das Mädel von den Seiltänzern aufgefunden hab’, dem der Wolf selbigsmal auf dem Aiblinger Markt zum Eiertanz aufgespielt hat. Weil doch kein Mensch seither von ihm ’was gehört hat und weil ich doch weiß, daß er Dir an’s Herz gewachsen ist, hab’ ich gedacht, es könnt’ Dir Freud’ machen, von ihm zu hören. „Sie hat mir Alles erzählt …“

„Und was wär das?“ fragte Th’res mit halbem Athem.

„Was sonst, als daß er sich in sie verliebt hat, und daß er eigentlich nur wegen ihr fort ist. Er hat sich mit der ganzen Bande auf’m Inn auf’s Schiff gesetzt, ist in’s Kaiserliche hinunter gefahr’n und auch Luftspringer und Seiltänzer ’worden und ’rumgezogen mit der Bande. Das Mädel aber hat er zum Narren gehabt, und wie er an ihr abgefressen gehabt hat, hat er sie in Noth und Elend sitzen lassen, und wahrscheinlich nit allein –“

„Das ist erlogen,“ stammelte Th’res, und dankte es der immer stärker einbrechenden Dämmerung, daß sie die Verwirrung verhüllte, welche die Nachricht in ihren Zügen hervorrief.

Im Gebüsch raschelte es; keines der Beiden achtete darauf.

„Erlogen?“ lachte Sepp. „Aha, möchtest Dir selbst was weis machen! Es nutzt Dich aber nichts: es ist Alles wahr, sag’ ich Dir. Ich kann zehn Juramente darauf ablegen. Wenn Du aber willst, kannst Du’s von der Landfahrerin selbst hören; sie ist da und kommt auf den Hof. Ich hab’ ihr selbst zugered’t, daß sie’s thut. Sie will ihm nachfragen und den Vogel aufsuchen, der ihr von der Leimruthe durchgebrannt ist – kannst sie selber fragen, wenn Du doch mir nit glaubst.“

Th’res erwiderte nichts mehr. So hoch das Entzücken über die Wiederkehr Wolf’s sie empor getragen, so tief war nun der Schmerz, in den wie in einen Abgrund sie die Gewißheit stürzte, daß er draußen auf seiner Wanderschaft wohl klug und reich, aber noch leichtsinniger geworden, als er gewesen – für diese Gewißheit zeugte noch mehr als die Zuversicht des Brunngrabers der Umstand, daß die Anwesenheit der Tänzerin, die doch unmöglich eine Erfindung des Sepp sein konnte, mit Wolf’s Ankunft zusammentraf. Es war klar, daß sie seine Spur verfolgt hatte, um die Rechte ihrer verrathenen Liebe geltend zu machen. Wäre Th’res allein gewesen, sie wäre neben der vertrockneten Quelle niedergesunken und hätte am liebsten den Quell des eigenen Lebens versiechen lassen wie diese. Sepp’s Anwesenheit bewahrte sie davor.

„Na, wo bläst denn jetzt der Wind her?“ rief er lachend. „Krieg’ ich keinen Botenlohn für meine Nachricht? Ich hätte ihn wohl verdient, mein’ ich. Jetzt wirst doch einsehen, daß ich’s gut mit Dir mein’, und wirst Dein Herz losmachen von dem Loder, der Dir im Weg steht bei Deinem Glück. Wie ist’s, soll ich das fremde Weibsbild rufen?“

„Es ist nit nöthig,“ sagte Th’res, sich aufraffend und mit abwehrender Geberde, „ich hab’ nichts mit ihr zu thun … Wenn sie kommt, will ich sie anhören, aber ich hab’ kein Recht, sie auszufragen, kein Recht, dem Wolf einen Vorwurf zu machen – ich gehör’ nit in’s Haus. Er ist nit mein Bruder und auch sonst nit verwandt mit mir oder so besonders gut freund gewesen, daß er mir eine Rechenschaft geben müßt’ … aber weil Du mir doch das Alles hinterbracht und mich eigens aufgesucht hast, sollst Du Deinen Botenlohn haben, Sepp – es ist der, daß ich Dir sag’, ich weiß jetzt, warum es mich allemal völlig kalt überlaufen hat, so oft Du mir begegnet bist; ich weiß, warum Du mich, obwohl ich Dir nie ein Leid’s gethan hab’, nie hast recht anschauen können – Dein Gewissen hat Dich geschlagen … vielleicht seh’ ich Einem gleich, von dem Du nit gern hören und den Du noch viel weniger sehen magst …“

„Du? Wer müßt’ das sein?“ fragte Sepp unsicher.

„Einer, den sie mit starren Augen und bleichem Todtengesicht aus einem Brunnen herauf gezogen haben, wo es ihn verschütt’ hat … mein Vater!“

„Jesus!“ rief Sepp auf und schlug die Hände vor die Augen, als habe er plötzlich den Todten erblickt.

„Du siehst,“ fuhr Th’res fort, „ich weiß jetzt Alles. Was Du für eine Schuld dabei auf Deiner Seele hast, ob’s Bosheit gewesen ist oder Leichtsinn, das mach’ mit unserm Herrgott aus – ich verzeih’ Dir’s. Vielleicht ist’s zu meinem Glück gewesen, daß Du meinen armen Vater in den Brunnen hinuntergelockt hast, weil ich dadurch auf den Lindhamerhof gekommen bin; aber das will ich hoffen, mir gehst Du in meinem Leben nimmer in den Füßen ’rum!“

Sie eilte weg; der Brunngraber dachte nicht daran, sie zu halten. Die unerwartete Beschuldigung hatte ihn so getroffen, daß er nur unsicher und langsam durch die Dunkelheit enteilte, öfter stehen bleibend und um sich blickend; er suchte die Tänzerin. „Sie hat doch versprochen, daß sie kommt,“ murrte er, „und ist doch ausgeblieben! Weibsbildervolk – es ist Eine wie die Andre!“

Er strich an dem Hofe vorüber. Dort war es schon still und dunkel geworden; nur das Licht im Zubauerhause zeigte, daß der Alte von den Fremden dorthin gebracht worden war. Sie selbst schienen bei dem neuangekommenen Vieh im Stalle zu sein, denn von dorther ließen sich Stimmen vernehmen. Im Hause waren die Fenster der ihnen zur Wohnung angewiesenen Gemächer ebenfalls noch dunkel – für den Herrn unter ihnen war Wolf’s ehemalige Kammer bestimmt.

Th’res war unter den Linden stehen geblieben; sie sah Sepp hinwegeilen und setzte sich auf eines der zerstreut umherliegenden Werkstücke – die völlige Dunkelheit des Orts war ihr geeignet, ungestört mit sich zu Rathe zu gehen und den Entschluß zu fassen, der gefaßt werden mußte. So schmerzlich ihr die Furcht und Besorgniß gewesen, den ihr entfremdeten Geliebten verlieren, ihm vielleicht selbst entsagen zu müssen, so war ihr doch die Gewißheit, die sich wie ein vergifteter Dolch in ihre Seele bohrte, noch peinvoller – die Gewißheit, daß der Mann, den ihre vertrauende Liebe gegen eine Welt vertheidigt, auf den sie wie auf einen Felsen Häuser gebaut hätte, ihre Zuversicht nun doch zu Schanden gemacht, daß sie nun doch einen Unwürdigen in ihm erkennen mußte. Mit jedem Augenblicke wurde es ihr wie ein wachsender Brand klarer und klarer, daß auch seine Rückkehr nichts war als ein Beweis seiner Gesinnung: leichtfertig und übermüthig, wie er gegangen, kam er wieder, sein altes Spiel fortzusetzen, nur um seinem Hochmuthe durch die erworbenen Schätze einen Triumph zu verschaffen und seine Feinde zu erniedrigen, unbekümmert um die blutenden Herzen, über die er als Sieger dahinschritt. Und auch mit ihr hatte er offenbar nichts Anderes im Sinne – aber in ihr wenigstens sollte er sich getäuscht haben! Sie wollte ihm zeigen, daß sie ihn durchschaue; gleich bei seiner Ankunft sollte er erkennen, daß sein Gewebe, so fein und heimlich er es auch [482] gesponnen und aufgestellt, doch auf den ersten Blick von einem einfachen unwissenden Bauernmädchen erkannt und zerrissen worden.

Aber wie sollte das geschehen? Es mußte ein einfaches Mittel sein, aber so bündig und bestimmt, daß es eine Mißdeutung nicht zuließ. Sinnend war sie endlich unter den Bäumen hervorgetreten und sah in den dämmernden Abendhimmel empor, der eben jetzt das ziehende Gewölk mit seinem letzten Purpur färbte, daß es seinen Schein in das Fenster von Wolf’s Kammer warf und die runden Scheiben erglühen machte. Mit dem aufschimmernden Lichte kam auch Th’res ein lösender Gedanke; raschen unhörbaren Schrittes näherte sie sich dem Austraghause. Die Thür desselben wie die der Stube waren offen. Der Alte hatte sich in die innere Kammer zurückgezogen. Mit Einem gewandten Griffe hatte sie die Cither von der Wand geholt und schritt lautlos aus dem Hause zum Hofe hinüber und in das Zimmer des Fremden. Mit flüchtigem Blicke durchmusterte sie das Gemach, ob Alles in Ordnung und nirgends Abhülfe nöthig sei; dann drückte sie die Cither schmerzlich an die Brust, küßte sie und legte sie neben Leuchter und Feuerzeug, daß er beim ersten Lichtstrahl ihrer gewahr werden mußte.

„B’hüt’ dich Gott – ich dank’ dir für die viele Freud’, die du mir gemacht hast,“ sagte sie mit stockender Stimme; „jetzt gehörst wieder daher – vielleicht hat er doch noch eine Freud’ an dir – da wird er dich gleich sehen und wird hernach schon wissen, was du zu bedeuten hast. Zum Aufheben hat er mir dich gegeben, und ich hab’ dich gut aufgehoben, du weißt es. Jetzt ist er selber wieder da; jetzt geb’ ich dich deinem Herrn wieder zurück – mich braucht er ja jetzt nicht mehr …“

Die Stimmen der Fremden vom Stalle her näherten sich und scheuchten sie abermals auf. Sie floh aus dem Hause und hörte im Fliehen, wie der Gehülfe sich darüber verwunderte, daß Niemand von den Angehörigen sich blicken lasse, um den neuen Herrn zu bedienen, ihm Abendimbiß und Herberge anzuweisen. „Sein sonderbare Leut’ in diesem Haus,“ sagte er, „kümmert sich Niemand um Herrschaft – aber halt, da huscht etwas Weißes wie ein Kleid oder wie ein Schurz durch die Dämmerung. Läuft das vor uns davon? Dann wollen wir’s gleich einholen und wissen, woran wir sind.“ Er wollte seinen Vorsatz ausführen und würde Th’res sicher eingeholt haben, wäre nicht im Hausgange eine Magd mit Licht erschienen, den Gästen zu bedeuten, daß die Mahlzeit für sie bereitet und sie beauftragt sei, sie dabei zu bedienen. Die Furcht, verfolgt zu werden, jagte Th’res bis an’s Brünnlein unter die Linden und darüber hinaus an den mit Gebüsch bewachsenen Hügelrand, der dort einen schönen, vor Wind geschützten und mit frischem, weichem Rasen begrünten Hag bildete, auf welchem die Mondsichel, die eben aus den Wolken brach, ihr helles Silberlicht so voll niedergoß, als hätte sie es darauf abgesehen, das liebliche Plätzchen in seiner ganzen Anmuth erscheinen zu lassen.

Th’res gewahrte das Alles nicht. In der Einsamkeit überkam sie das Leid, das sie in der letzten Stunde erfahren, mit neuer doppelter Wucht; sie knickte unter derselben zusammen und sank in’s Gras, um in einen Strom von Thränen auszubrechen. Die Arme gekreuzt und das Gesicht in ihnen verbergend, lag sie eine Zeitlang und mischte ihre Thränen in den Thau, mit dem der Abend bereits das Gras zu überhauchen begann.

Nach einer Weile erhob sie das Haupt und horchte halb aufgerichtet in die Abendstille hinaus; als nichts umher sich regte, sank sie wieder auf den Boden zurück; nach wenigen Augenblicken erhob sie sich wieder, um noch angestrengter zu lauschen.

„Was ist denn das?“ sagte sie für sich hin. „Es klingt und rauscht und braust mir in die Ohren, als wenn in der Fern’ ein Wagen rollt und der Wind durch die Blätter saust, und wenn ich horche, ist Alles wieder mäuschenstill. Es ist nichts,“ meinte sie, nachdem sie noch einmal mit angehaltenem Athem gelauscht, „es muß in mir selbst sein. Das Blut, glaub’ ich, summt mir in den Ohren und singt mir mein eigenes Elend vor. … O, ich wollt’, ich wär’ bei meinem armen Vater und dürfte mir gleich da mein Grab ausmessen, der Länge nach!“

Wieder warf sie sich auf den Rasen, richtete sich aber augenblicklich wieder auf.

„Das ist nichts um mich herum,“ sagte sie, gegen den Boden gewendet, „das ist ja unter mir in der Erde. Das rauscht und saust und gurgelt durcheinander, wie wenn’s Wasser wäre, das wallt und steigt und nicht ’raus kann. Herr Gott! wenn das vielleicht das Brünnl’ wär’, das verloren gegangen ist!“ …

Erschreckt sprang sie auf, sowohl wegen der Entdeckung, die sie gemacht, als auch weil der Mondenschein einen Schatten neben sie auf den Rasen gebreitet hatte; ein Mann trat zugleich aus den Linden hervor, und eine liebe, nur zu wohlbekannte Stimme rief ihren Namen. Ein Aufschrei der Ueberraschung entglitt ihr, in welchem Freude und Schmerz zusammenschmolzen wie die verschiedenen Metalle, die man zu einer Glocke nimmt, daß sie einen schöneren Klang bekomme; die eine Hand an das wildschlagende Herz, die andere an die fieberisch pochende Stirn gedrückt, rief sie laut: „Halt, wer da? Wer schleicht da ’rum wie ein Dieb in der Nacht?“

„Th’res!“ rief der Mann wieder, indem er näher trat, „ich bin’s – erschrick’ doch nit! Wie ich die Cither in meiner Stub’ gefunden hab’, hab’ ich sogleich gewußt, daß Du mich erkannt hast. Da hab’ ich nit bis zum Morgen warten können, Dich zu grüßen, und such’ Dich überall. Ich kann mich nit länger verstellen gegen Dich, und warum sollt’ ich auch? Jetzt ist ja nichts Heimliches mehr zwischen uns.“

„Das mein’ ich auch,“ entgegnete Th’res mit erzwungener Kälte. „Was wollen Sie von mir, Herr Lindhamer?“

„Th’res!“ rief er vorwurfsvoll hinwieder. „Wie red’st Du zu mir? Ich bin ja der Wolf, der sich so auf Dich gefreut, der sich keinen Tag niedergelegt hat, ohne an Dich zu denken, der die Stunden gezählt hat bis zu der, wo er Dich wiedersieht, und Du red’st so zu mir?“

„Wie sollt’ ich sonst? Ich red’, wie früher auch …“

„O, thu’ mir das nit an!“ rief Wolf herzlich. „Thu’ nit, als wenn Du nit wüßtest, wie ich gesinnt bin zu Dir! Wenn ich’s auch sonst nit erfahren hätt’ – in derselben Stund’, wo wir von einander gegangen sind, dort an der Rosenheimerstraß’ bei dem Muttergottesbild, dort ist mir das Licht aufgefangen, daß ich Dich gern hab’ und Du mich auch, Du kannst das so wenig vergessen haben, wie ich …“

„Es ist spät,“ unterbrach ihn Th’res. „Ich muß in’s Haus; es schickt sich auch nit, daß wir da so spät miteinander reden, Herr Lindhamer.“

„Th’res,“ rief Wolf, wild auffahrend wie früher, „tratz’ mich nit! Sag’ noch ’mal den Namen, und ich laß Alles liegen und stehen und geh’ noch einmal auf und davon, um gewiß nit wieder zu kommen. Was hast wider mich? Verdrießt’s Dich, daß ich Dir nie was hab’ wissen lassen von mir, oder daß ich mich nit selber zu erkennen gegeben hab’? Schau’, ich hab’s gut gemeint – ich hab’ geglaubt, ich hätt’s recht schön ausgedacht. In Ungarn bin ich so glücklich gewesen und hab’ auf einer großen Mühl’ gearbeitet, und wie ich mir so das Werk angeschaut hab’ – Du weißt ja, ich hab’ alleweil’ solche Basslereien gemacht –, da ist mir’s eingefallen, wie sich das Ding um Vieles verbessern ließ; ich hab’s aufgezeichnet. Der Herr hat’s darnach einrichten lassen, und weil’s eingeschlagen hat und hat gut gethan, hat er mich zum Werkführer gemacht und mir einen Theil vom Gewinn überlassen – ich bin nit reich ’worden, Th’res, aber so viel hab’ ich zusamm’gebracht, daß ich gerad’ zur rechten Zeit hab’ helfen können, daß ich den Lindhamerhof erhalten, meinen Vater in seine alten Tag’ trösten und Dich fragen kann, ob Du mein gehören willst. Hunderttausendmal hab’ ich’s mir ausgemalt in Gedanken, wie’s sein wird, wenn ich heim komme und wenn der Vater und alle Leut’ eingestehen müssen, daß ich Das nit bin, was sie mich geheißen haben , daß ich doch ein ordentlicher, richtiger Mensch bin. D’rum hab’ ich mich so verstellt und vermacht – vor Dir hätt’ ich mich freilich nit zu verbergen gebraucht. Du hast’s ja ohnehin niemals geglaubt.“

„Kann wohl sein,“ entgegnete Th’res mit schneidendem Tone; „aber es geschieht manchmal, daß man hinterher was einsieht, was man zuvor nit hat glauben wollen …“

„Th’res, was soll das heißen?“ rief Wolf. „Hab’ ich Dich recht verstanden? Weißt auch, was Du gesagt hast?“

„Ich weiß, was ich gesagt hab’, und Du hast mich auch [484] ganz wohl verstanden,“ sagte Th’res. „Ich weiß jetzt, was ich damals nit geglaubt hab’ – Du kannst leicht geschickt und reich zurückgekommen sein, aber der Loder ist fertig!“

„Ich glaub’ wahrhaftig, mir träumt,“ sagte Wolf wie vernichtet.

„Ich wollt’, es wär’ so,“ entgegnete Th’res schmerzlich; „aber es ist leider Gottes wahr, Alles wahr – freilich nit so wie’s der Vater gemeint hat, aber noch viel ärger. Ich hab’ Dich damals nur für leichtsinnig gehalten, aber jetzt weiß ich’s und, wenn mir auch ’s Herz bricht, ich kann’s nit anders sagen als – Du bist schlecht!“

[495] Th’res entfloh, ohne daß Wolf den Versuch machen konnte, sie aufzuhalten; er wollte es auch nicht, denn er sah ein, daß es jetzt doch vergebens gewesen wäre, sie zu beruhigen und sich Aufklärung darüber zu verschaffen, was in ihr solchen Unmuth und Verdacht hervorgerufen hatte. „Der Morgen wird’s ja herausbringen,“ sagte er anscheinend gelassen; aber als er nach Hause kam und sich in seine Kammer verschloß, schloß er auch die Unruhe mit sich ein. Da war nun der ersehnte Augenblick erreicht: er hatte das Gelöbniß, das er beim Abschiede still in sich und vor sich selbst gemacht, redlich gehalten – vergessen lagen die schweren Mühen, die sauren Wochen voll Arbeit und Entbehrung hinter ihm, und nun, am Ende der Bahn, schien das Ziel, dem er nachgestrebt, sich in ein täuschendes Trugbild zu verwandeln. Er wollte auf der lange nicht berührten Cither zu spielen versuchen, aber nach den ersten Tönen schob er sie wieder zurück, er fand in seinem unruhigen Gemüth keine Harmonie, die er in ihren Saiten hätte aussprechen können. – Der Morgen graute beinahe, als Erschöpfung ihm endlich die überwachten Augen schloß.

Th’res, nur durch wenige Mauern von ihm getrennt, überließ sich in der nächtlichen Einsamkeit ihrer Kammer vollends ihrem Schmerz; angekleidet warf sie sich auf’s Lager und litt dem zögernden Tage entgegen, der ihr letzter in diesem Hause sein sollte; denn sie mußte fort, das stand klar vor ihrer Seele; sie konnte und durfte Wolf nicht wieder begegnen. Sie war ja auch durch nichts mehr gebunden: mit dem Sohne war dem Alten Alles wiedergegeben, was er ersehnt und bedurft hatte, und sie selbst ihrer Verpflichtung ledig. Sie versuchte zu beten; weil der Sturm in ihrer Seele die Gedanken wie steuerlose Fahrzeuge durcheinander warf, konnte sie eigene Worte nicht finden und griff nach dem Gebetbuche, aber auch dafür fehlte ihrem Geiste die Sammlung – um sich erheben zu können, müssen die Schwingen unversehrt sein; gelähmte Fittige vermögen es nicht. Jammervoll legte sie das Buch wieder bei Seite und löschte den kleinen Wachsstock, dessen Licht trotz seiner Schwäche nur ihre Verlassenheit grell zu beleuchten schien – sie wollte Nacht um sich haben, wie sie dieselbe im Herzen trug.

So hatte er nicht die erste Nacht im Vaterhause, so hatte sie nicht das Wiedersehen gedacht!

Der Mond war schon weit heraufgerückt und eben daran, die Bahn nach abwärts einzuschlagen, als Th’res, von einem eigenthümlichen Geräusch geweckt, aus halber Betäubung auffuhr. Es war, als ob leise an ihr Fenster geklopft würde. Sie glaubte sich getäuscht zu haben, aber das Klopfen wiederholte sich deutlicher und bestimmter; leise glitt sie von dem Bett herab und schob den Vorhang an dem vergitterten Fenster bei Seite, um unbemerkt hinausblicken zu können … im Schatten der durch einen Hausvorsprung gebildeten Ecke stand eine weibliche Gestalt; als diese die Bewegung des Vorhangs gewahrte, winkte und deutete sie eifrig, daß Th’res das Fenster öffnen solle.

„Macht auf,“ flüsterte sie, „und habt keine Sorge! Ich will nichts Unrechtes, aber ich habe Euch was Wichtiges zu sagen.“

Verwundert öffnete Th’res. „Was soll denn Das sein,“ fragte sie, „um diese Zeit? Wer seid Ihr denn? Ich kenn’ Euch nicht …“

„Das glaub’ ich wohl,“ erwiderte die draußen Stehende; „aber Ihr habt mich doch schon gesehen. Erinnert Euch nur, was auf dem Aiblinger Markt vor fünf Jahren geschah. Ich bin’s, von der Euch der Alte vorhin erzählt hat, bin das Mädchen, welchem der Sohn aus diesem Hause zum Tanze aufgespielt hat, und um mich hat er Haus und Hof verloren.“

„Was? Ihr, Ihr kommt zu mir?“ rief Th’res und wollte in rasch aufloderndem eifersüchtigem Groll das Fenster zuwerfen. Aber mit dem Groll stieg in ihr auch die edlere Regung echt weiblichen Mitleids auf; sie ließ das Fenster offen, durch welches die weiche Nachtluft und das Mondlicht sich wie begütigend hereinschmeichelte, und sagte mit sanfter Stimme: „Armes unglückliches Leut, was wollt Ihr denn bei mir? Ich kann Euch ja doch nicht helfen.“

„Das weiß ich wohl,“ entgegnete das Mädchen. „Mir kann auch kein Mensch helfen und ich komme nicht um Hülfe – ich komme, weil ich vielleicht Euch von Nutzen sein kann; darum hab’ ich in der Nähe gewartet, bis Alles still geworden ist und schläft, und bin nun hierhergeschlichen, um Euch zu sagen, daß Alles, was Euch der Mann von mir und Wolf erzählt hat, nicht wahr ist –“

„Nit wahr?“ rief Th’res, unfähig, ihre Freude zu verbergen.

„Nicht wahr,“ wiederholte die Tänzerin, „wenigstens was den Wolf betrifft. Er ist mit uns nicht weiter gereist, als bis nach Wien. Dann ist er die Donau hinunter und ich hab’ ihn seitdem mit keinem Aug’ mehr gesehen …“

[496] „Wie ist das aber möglich?“ fragte Th’res mißtrauisch. „Wenn ich auch dem Brunngraber-Sepp nicht trauen will, kann ich doch nit glauben, daß er Alles, was er von Euch erzählt hat, nur so aus den Fingern gesaugt haben soll.“

„Das that er auch nicht,“ entgegnete die Fremde traurig; „von mir hat er die Wahrheit gesagt – ich bin ein unglückliches und verlassenes Geschöpf! Ich habe alles Das ausgestanden und erlitten, was er erzählte; aber der Wolf hat keinen Theil an meinem Unglück. Der Mann, mit dem ich sprach und der Euch erzählte, hat immer von Wolf gered’t und hat gemeint, ich rede auch von ihm, und ich fand es für gut, ihn auf dem Glauben zu lassen …“

„So wär’ er wirklich unschuldig?“ rief Th’res, aufathmend mit dem Gefühle des scheintodt Begrabenen, der, gerettet, Sonne und Leben wieder grüßt. „Gott sei Dank und Dank auch Euch! Kommt doch herein! Bleibt bei uns! Ihr werdet müd’ und vielleicht auch hungrig sein …“

„Nein, nein,“ sagte das Mädchen ängstlich abwehrend; „ich hab’ keine Zeit und hab’ noch einen weiten Weg vor mir.“

„Aber ich kann Euch doch nicht so fortlassen,“ rief Th’res herzlich, „es thät’ mir ja für ewige Zeiten auf dem Gewissen liegen. Wie kommt Ihr denn dazu, mich aufzusuchen?“

„Errathet Ihr das nicht?“ entgegnete die Fremde nach einigem Zögern. „Wenn ich’s denn sagen soll – und warum sollt’ ich nicht? ich habe mich Dessen ja nicht zu schämen –: ich komme, weil – der Wolf mein ganzes Herz eingenommen hatte, weil ich ihn nicht vergessen kann, so lange ich noch etwas zu denken vermag, und weil es mir wohl thut, wenn ich ihm vielleicht etwas Gutes erweisen kann. … Ich war überglücklich, als er mit uns ging – ein paar Tage lang bildete ich mir auch ein, er könnte ein Auge haben für mich, aber er hatte einen guten Schutzengel in seiner Heimath, und jetzt, wo ich den Schutzengel kenne, wundere ich mich nicht, daß er ihm so standhaft treu ’blieben ist. Ich mußte es verschmerzen, als er fortging – ich wäre doch nimmer seiner werth gewesen; so habe ich mir ihn aus dem Sinn geschlagen und das lustige Leben fortgemacht, so lange – so lange, bis ein trauriges Leben daraus geworden ist. Ich will’s nur gestehen, wie ich in diese Gegend kam, wollt’ ich ihn aufsuchen und ihm nachfragen, da begegnete mir der Brunngraber und stiftete mich an, Euch die Lügen zu erzählen … Neid und Eifersucht stachelten mich an, es zu thun – ich dachte, Ihr solltet auch einen Tropfen von dem Elend kosten, das ich habe austrinken müssen, aber ich bin heut’ Abend dazu gekommen, wie Ihr mit dem Brunngraber spracht, da vergingen mir die argen Gedanken, und ich kam hierher, um Euch Alles zu sagen – durch mich und wegen mir soll der wackere Mann keinen Augenblick im schlechten Lichte stehen; durch mich und wegen mir soll er keine traurige Minute haben …“

„O – wenn ich nur wüßte, wie ich Euch danken sollte! Danken für mich und seinen alten Vater,“ rief Th’res und streckte ihre Hand durch’s Gitter der Tänzerin entgegen, die dieselbe gierig ergriff und an die Lippen drückte – vergebens versuchte Th’res, sie zurückzuziehen.

„Laßt mir die Hand,“ sagte die Tänzerin herzlich bittend; „Ihr wißt nicht, was Ihr mir damit thut. Laßt mir die Hand! Vielleicht begreift Ihr, warum ich sie behalten will, wenn Ihr hört, daß das noch nicht Alles ist, was ich Euch zu sagen habe. Ich muß Euch auch noch erzählen,“ setzte sie mit schwankender Stimme hinzu, „daß ich Eure Mutter kenne …“

„Meine Mutter?“ schrie Th’res auf.

„Und Eure Schwester …“

„Meine Schwester auch? O redet! Erzählt, sagt, wo sie sind! Wie geht’s ihnen? Ich habe erst in diesen Tagen von ihnen erfahren und habe seitdem tausendmal bereut, daß ich nicht eher um sie gefragt – daß ich mir’s so gut hab’ gehen lassen, während sie vielleicht Noth und Elend ausgestanden haben …“

„Laßt Euch das nicht kränken,“ entgegnete die Fremde mit zärtlichem Händedruck. „Es ist so besser. Der Himmel hat’s gut mit Euch gemeint, daß er Euch von Eurer Mutter getrennt hat … Ich habe sie gut gekannt; und Eure Schwester, die von gleichem Alter mit mir ist, die – die,“ setzte sie mit einem Seufzer hinzu, „war eine gute Freundin von mir …“

„Aber wo sind sie? Wo, wo ist meine Mutter?“ drängte Th’res.

„Wo ihr recht gut ist,“ war die ernste Antwort. „Sie liegt in der geweihten Erde – vor ein paar Wochen hat man sie eingegraben. Sie hat nach dem Tode ihres ersten Mannes einen Herumtreiber geheirathet, einen Taschenspieler, der Werg gegessen und Feuer gespieen hat, und ist lang’ mit ihrer Tochter herumgezogen. – Vor ein paar Jahren wurde sie krank und siech in ihre Heimath nach Tyrol zurückgeschafft; ihre Tochter Nanna aber zog mit Andern noch in der Welt umher, bis sie vor einigen Wochen erfuhr, daß die Mutter auf den Tod darniederliege und sich nach ihr sehne. Da ist die Nanna heim – ich hab’ sie dort getroffen – ist bei der Mutter geblieben, hat ihr die Augen zugedrückt und sich vorgenommen, nimmer in die Welt zu gehen. Sie wollte einen Dienst suchen, aber weil ihre Gesundheit nicht fest und sie auch der Arbeit weder kundig noch gewohnt ist, haben die Klosterfrauen vom heiligen Wasser zu Absam versprochen, sie bei sich aufzunehmen …“

„Arme, arme Schwester!“

„Zuvor nahm sie sich vor, eine Wallfahrt an den Ort zu machen, wo ihr Vater begraben liegt und in dem Brunnen verschüttet wurde – sie dachte auch ihre Schwester aufzusuchen, die in der Gegend in Pflege sein soll – wo und bei wem, das wußte sie nicht; die Mutter, die in der letzten Zeit völlig verwirrt und blöde geworden, hatte die Aufschreibung darüber verloren …“

Th’res weinte still auf die Gitterstäbe – die Fremde aber fuhr immer weicheren Tones fort: „Sie ist mit mir heraus aus den Bergen und hat mir Alles erzählt – die Mutter hatte ihr einen Ring gegeben, ein schlechtes, silbernes Reifchen, und ihr aufgetragen, es ihrer Schwester, dem Reserl zu geben, wenn sie sie wiederfände.“

„Aber wo, wo ist sie?“ schluchzte Th’res. „Wenn Ihr mit ihr gegangen seid, kann sie doch nicht weit sein, dann muß man sie doch erfragen können. Wo ist sie denn hin?“

„Ich glaube kaum, daß Ihr sie erfragen könnt,“ sagte tief aufathmend die Fremde. „Sie hat keinen Ort gewußt, wo sie hin will; sie ist eben wieder heimgegangen nach Tyrol –“

„Dann will ich sie dort aufsuchen!“ rief Th’res. „Der Vater hat das Aufschreiben, in dem der Ort angegeben ist. – Ich muß sie finden, muß meine liebe, arme Schwester sehen, muß ihr helfen und sie trösten, wenn ich ihr nicht helfen kann …“

„Ich will’s ihr ausrichten,“ sagte ergriffen die Fremde. „Ich sehe sie doch wohl eher, als Ihr … Ich will es ihr sagen, daß Ihr’s so gut meint und sie so gern sehen möchtet; aber sie meint es auch mit Euch gut, o gewiß, von Herzen gut – sie hat mir’s gesagt, sie wünscht Euch alles Gute, keine einzige traurige Stunde, und zum Andenken an sie und an die jetzige Stunde sollt Ihr den Ring da nehmen.“

Die Tänzerin hatte mit rascher Bewegung einen Ring an Th’resens Finger gesteckt, und war, ihre Hand loslassend, rasch zurückgetreten.

„Was ist das?“ rief Th’res – „wie kommt Ihr auf einmal zu einem Ring von der Schwester?“

„Frage nicht!“ rief die Fremde, „und behalte ihn nur! Sei glücklich und werde glücklich! Den Ring habe ich von der Mutter selber. Ich bin ja Deine Schwester, die arme unglückliche Nanna. Leb’ wohl, Schwester! Ich sage es Dir noch einmal, sei glücklich, aber frage mir nicht nach! Tausendmal, tausendmal leb’ wohl! …“

„Schwester! Nanna! Bleib’,“ rief Th’res, die sich vor Verwunderung und Ueberraschung kaum zu fassen wußte, aber sie rief vergebens: draußen war schweigende Nacht, und als sie hinauseilte, schlug der Haushund an, und in der Ferne rauschten die Blätter unter den Füßen der Fliehenden. Vom Hügel starrte Th’res lange in die Nacht hinaus, in der eine schwache Helle den Ort bezeichnete, wo der Mondnachen inzwischen hinabgesteuert war. Gegenüber aber über den Bergen zog lichtkündend ein grauer Streifen hin als Vorbote des Tages, eines Tages voll so unsäglichen Glückes, daß ihr die Seele schauerte, wenn sie des Uebermaßes seiner Wonne gedachte.

Zurückgekommen, wachte sie dem Morgen entgegen, dessen erster Strahl sie in der großen Wohnstube traf, eifrig beschäftigt, den Tisch zum Frühmahl für die Gäste zu schmücken und zu bereiten. Ein schönes Tuch war über die breite Ahornplatte gedeckt, und in einem Henkelkruge prangte gesammelt, was an [497] späten Blüthen, Blumen und Blattgrün in der herbstlichen Umgegend noch anzutreffen gewesen. Eben stellte sie das Geschirr auf den Tisch, als über die Treppe herunter Schritte laut wurden, die ihr von früher her nur zu wohlbekannt waren. Obwohl vorbereitet, erschrak sie, daß die Schalen klirrten, als sie dieselben auf den Tisch stellte; sie mußte sich selbst daran halten, als die Thür aufging und Wolf eintrat und ihr, erglühend wie sie, gegenüber stand. Ein Freudenfeuer loderte in seinen Augen auf, als sie ihm einige Schritte entgegentrat und ihm, den Blick gesenkt, aber freundlich die Hand entgegenstreckte.

„Verzeih’ mir, Wolf!“ sagte sie, Gluth auf den Wangen und ein schönes Lächeln um die bebenden Lippen, „ich habe Dir bitter Unrecht gethan. Verzeih’ mir’s und laß mich die Erste sein, die Dir daheim ‚Grüß’ Gott‘ sagt …“

Wolf hatte die Empfindung eines Menschen, der aus einem dunkeln Kerker plötzlich in einen hell beleuchteten Festsaal tritt; wie geblendet faßte er ihre Hand, aber zu reden wußte er nichts: er zog die sich nicht Wehrende an sich, und statt Frage und Antwort lag das Paar sich in den Armen, rasch zu einander gezogen, wie Eisenstein und Magnet, Hand in Hand, Brust an Brust und Mund an Mund. Sie wußten und fühlten nur, daß sie sich angehört hatten, ehe sie’s selber geahnt, wenn auch durch Land und Strom geschieden. Sie gelobten, auch fürder einander zu gehören, durch alle Geschicke, innig vereint, geläutert und gehärtet in den Schmelzgluthen der Trauer, der Verlassenheit und des Leides. Wohl traf dann Eines nach dem Andern die Reihe, von seinem Leben zu berichten.

Th’res erzählte, was sie von der eigenen Herkunft erfahren, was der Brunngraber-Sepp ihr mitgetheilt, und wie sie die Schwester wieder gefunden, nur um sie wieder zu verlieren.

Wolf berichtete von seiner Wanderfahrt – wie nach langen Mühen gerade die Beschäftigung, die er einst als Spiel getrieben und wegen der man ihn so arg geschmäht, der Angelpunkt geworden, an dem sein Glück sich gewendet, wie er nun das Erlernte wohl zu nützen gedenke, aber zu seinem alten Stande und Geschäfte zurückkehren wolle, um als ein freier, unabhängiger Mann nur ihr, dem Vater und sich selbst zu leben. –

Dann schilderte wieder Th’res die Entdeckung, die sie gemacht, als sie vor ihm geflohen, und Beide freuten sich der neuen, schönen Hoffnung, mit deren Erfüllung auch die letzte Sorge schwand und die Sonne über dem Lindhamerhof so wolkenlos stand, wie über keinem andern Fleckchen Erde, und wenn darauf auch der Palast eines Kaisers stünde.

Der eintretende Gehülfe sah und errieth lachend, was vorgegangen war; er mahnte, sich nicht selbst und zu früh zu verrathen: „Kommt Zeit für Alles,“ sagte er. „Jetzt darf noch Niemand wissen, daß Pany-Wolf ist wieder gekommen in Vaterhaus, was seiniges!“ Als er von Th’resens Entdeckung erfuhr, drang er darauf, eine Untersuchung vorzunehmen und mit der Arbeit zu beginnen.

Die Glücklichen trennten sich, um kurze Zeit nachher sich an der Stelle wiederzufinden, wo Th’res das befremdliche Geräusch gehört hatte. Alle Angehörigen des Hauses und viele Nachbarn waren wieder versammelt, um den Mann zu sehen, der aus Ungarn hergekommen, um in ihrer Nähe sich anzusiedeln und ihres Gleichen zu werden.

Eine flüchtige Untersuchung genügte, um die Richtigkeit der gemachten Entdeckung zu bestätigen; unter nicht sehr dichtem Geflechte von Erdschichten und Wurzeln stand die Quelle in einem natürlichen Schacht, von welchem sie, den Abfluß suchend, früher beim Lindenbrünnlein zu Tage getreten war. Neben dem alten Lindhamer, der es sich nicht nehmen ließ, der wichtigen Arbeit beizuwohnen, stand Th’res mit niedergeschlagenen Augen, denn ihr gegenüber stand Wolf und der Gehülfe; sie fürchtete sich zu verrathen, wenn sie zu ihm aufgeschaut hätte. Wenig Schaufelstiche genügten, bald war der Rasen weggeräumt, und schön und hell wie ein klares Auge blickte der Quellenspiegel empor. Ein allgemeiner Ruf der Freude begrüßte das wiedergefundene Kleinod; nur der Alte stimmte nicht ein – die Hände auf den Stock gestützt, starrte er auf die Erde nieder, als wolle er die verdunkelten Augen zwingen, ihm den verloren geglaubten Schatz zu zeigen.

„Ein Eljen in dieser Stunde!“ rief der Gehülfe laut und freudig. „Nun ist gewonnen Spiel; ist das Schacht natürlicher, wie nicht könnte gemacht werden schöner von erste Techniker. Von hier muß zum Brünnlein geleitet werden und wohin man sonst will, und geht nicht wieder verloren …“

Auf den Wink seines Herrn zog er aus einem Futteral einen schönen Krystallbecher hervor und reichte ihn Th’res.

„Hab’ ich gehört,“ sagte er, „aus diesem Brünnlein soll nur schöpfen, wer hat eine reine Hand, drum soll die Jungfer draus schöpfen zuerst, soll trinken und schreien: ‚Eljen, soll leben der neue Herr von Lindhamerhof, Eljen!‘“

Th’res beugte sich nieder und schöpfte.

„Das kann ich nit rufen, weil ich’s nit versteh’,“ sagte sie, „aber ich will das Glas mit dem herrlichen Wasser, in dem die Sonne so herrlich funkelt, in die Höhe heben und Gott danken und ihn bitten, daß er seine Hand über den Brunnen ausstreckt, über’s Haus und über uns Alle.“

Sie trank; – eine Thräne fiel in den Becher; nach ihr ergriff ihn Wolf, dann wurde er dem Alten gereicht, der aber vermochte ihn nicht zu halten; er begann zu zittern, daß das kostbare Gefäß, hätte Th’res es nicht gehalten, seiner Hand entglitten wäre.

„Bring’ mich heim, Th’res,“ sagte er schwankend; „ich glaube, ich mach’ es jetzt gar …“ Er wurde rasch in seine Stube gebracht, wo Th’res nicht von seiner Seite wich, während am Brunnen nach Anordnung des Gehülfen sogleich die nöthige Vorarbeit beschlossen und damit begonnen wurde, über der Quelle auf eingerammten Pfählen eine Brunnstube zu erbauen. Das starke Herz des alten Lindhamer hielt aber dem Sturm fester Stand, als man vermuthet hatte; schnell, wie seine Kraft gesunken, erholte sie sich wieder, und als es Abend wurde, ließ er nicht nach, bis ihn Th’res in’s Freie begleitete und zu seinem Lieblingsplätzchen unter den Linden führte. Sie setzte sich zu ihm auf die Bank und erzählte, wie die Arbeit am Brunnen unglaublich rasch vorschreite, und welch’ große Vortheile daraus für den Hof entständen, der dadurch seinen ganzen Werth wieder erhalte.

„Ja, ja,“ sagte der Alte mit traurigem Nicken, „ich freue mich auch – Gott ist mein Zeuge, aber es frißt mir doch das Herz ab, daß ich’s auch so hätte haben können, und daß der Hof nit in fremder Hand sein müßte …“

„Ihr müßt dem, was geschehen ist, nit so nachgrübeln,“ sagte Th’res, indem sie ihm die Hand drückte. „Das ist für nichts gut, macht nichts mehr anders.“

„Ich weiß wohl,“ entgegnete er, „einem Reuenden schenkt man nichts, und den Stein, den man nit heben kann, muß man liegen lassen. Ich lass’ ihn auch liegen. Er wird mich doch bald hinunterdrücken unter die Erd’.“

„Warum nit gar! Gebt doch keinen so traurigen Gedanken nach!“ sagte Th’res, „Ihr werdet Euch gar bald wieder zusammenklaub’n.“

„Ja, diesmal geht’s noch,“ sagte er, „aber ich hab’ es heut’ gar wohl gespürt, die Feder da drinn in der Brust, die mich aufrecht gehalten hat, die hat einen Knacks gekriegt, dafür giebt’s kein’ Medicin …“

„Wer weiß? Wenn Euch nun eine recht große Freud’ zu Theil werden thät?“ …

„Eine Freud’ und ich? Wir zwei kommen nicht mehr zusammen auf der Welt.“ Er schwieg, denn vom Hause her ertönten die Klänge einer mit Kunstfertigkeit und Empfindung gespielten Cither. „Was ist denn das?“ fragte er horchend. „Wer spielt denn da?“

„Der neue Herr,“ sagte Th’res, bebend vor Erregung; „er sitzt auf der Gräd und spielt Cither …“

„Ja, kennen’s denn in Ungarn drunten die Cither auch?“ fragte er verwundert. „Das hab’ ich nit gewußt, und schön spielt er auch,“ fuhr er fort, „das muß ich sag’n, so schön, daß es mich fast mahnt …“

Er brach ab und begann immer eifriger zu lauschen; mit angehaltenem Athem beugte er sich vor, während von oben her die zarten Töne in immer weicheren und verlockenderen Weisen herüber schwirrten.

Jetzt schlug der Spieler eine ländliche Volksweise an.

„Ja, wie ist denn das möglich?“ flüsterte der Alte. „Woher kann denn der fremde Mensch das G’sangl kennen, das ja [498] nur bei uns daheim ist? Das kann ja gar nit sein! Mach’ mir nichts vor, Th’res,“ rief er, sich plötzlich aufrichtend, mit lauter Stimme – „wenn ich auch oft drüber gegreint hab’, so viel hab’ ich mir doch gemerkt, so spielt kein Anderer als mein Wolf …“

Im nämlichen Augenblick war die Cither verstummt, er fühlte seine Kniee umfaßt und hörte die Stimme des Sohnes, der freudig bewegt ihm zu Füßen lag.

„Ja, Vater, ich bin’s. Ich bin wieder da. Kannst mir verzeih’n?“

„Verzeih’n? Ich Dir?“ rief der Greis unter Thränen lachend. „Ich hab’ Dir nichts zu verzeih’n, aber Du mir.“

„O Vater, redet nit so!“ sagte der Sohn gerührt. „Sagt mir lieber – darf ich wieder da bleiben? Bin ich kein Loder mehr?“

„Du bist nie einer g’wesen, mein lieber, lieber Bub’,“ lachte der Alte. „Ich hab’ Dir so schwer Unrecht gethan, und Du hast dafür den Lindhamerhof und Dein’ Vater und sein graues Haar wieder zu Ehren gebracht. Bist es denn wirklich?“ fuhr er in erweichtem Tone fort, indem er, um seinen schwachen Augen nachzuhelfen, ihm das Angesicht betastete. „Deine Stimm’ ist’s wohl, aber sonst kenn’ ich Dich ja gar nimmer mehr; bist ja ganz voll Bart und verwachsen wie ein wilder Mann … Wenn ich Dich nur auch sehen könnt’!“

„Seid wohlgetröst’, Vater!“ rief Wolf, „für das wird auch wohl zu helfen sein. Mein Camerad, der mich begleitet hat, ist ein Tausendkünstler, der von Allem was versteht … der hat bei dem ersten Blick, den er in Eure Augen gemacht hat, gleich gesagt, Ihr habt nur den grauen Staar. Für den kann geholfen werden …“

„Ist’s wahr?“ sagte der Alte bewegt. „Soll ich Dir das auch noch verdanken? … Gott geb’s, daß es wahr wird … o, es ist hart, blind sein, aber so hart ist es mich noch nie ankommen, als jetzt, daß ich Dich nit sehn kann. Du bist ja meine Freud’ und mein Stolz, den ich nimmer von mir laß’.“

„Ich geh’ auch nimmer,“ erwiderte Wolf. „Ich bleib’ da, Vater – was ich draußen gelernt hab’, das werd’ ich gar gut brauchen können; aber ich will wieder ein Bauer sein. Ihr sollt Eure Freud’ an dem Lindhamerbauern erleben, und“ – setzte er hinzu, indem er Th’res an sich zog und in die Arme schloß – „eine Bäurin hab’ ich auch schon.“

„Was, eine Bäurin?“ rief der Alte, „Du wirst Dir doch nit etwa gar eine ungarische mitgebracht haben? Wer könnt’ denn das sein?“

„Na, Vater, keine ungarische und auch keine fremde – Eine, die da so gut daheim ist auf dem Lindhamerhof, wie ich und Ihr – die Th’res.“

„Die Th’res,“ rief der Alte im Tone vollster Freude. „Na, dann bin ich meine letzte Sorg’ auch noch los; dann hab’ ich wirklich kein’ Wunsch mehr auf der Welt und könnt’ wohl wie der heilige Simeon sagen: ‚Herr, laß Dein’ Diener in Frieden fahren!‘ … Aber es wär’ nit wahr. Jetzt möcht’ ich erst noch leben mit Euch ein paar Jahrl’n, leben in der puren Glückseligkeit! – Aber wo ist denn Th’res? Warum kommst nit zu mir und sagst mir, daß Dein Willen auch dabei ist? … Ja? Bist, einverstanden?“ fuhr er fort, als sich das Mädchen weinend an seine Brust schmiegte, und legte ihr wie segnend die Hand auf’s Haupt. „Siehst Du, jetzt ist es doch noch recht worden; jetzt brauchst nimmer fragen, als was Du eigentlich auf dem Lindhamerhof bist – jetzt bist an Dein’ rechten Platz, als Frau.“

Rasch wurde nun Alles zur Hochzeit bereitet. Die Kunde von den Ereignissen auf dem Lindhamerhof ging wie ein Lauffeuer durch das Land und zündete überall gleiche Flammen der Freude an. Alle gönnten Wolf und Th’res und auch dem Alten das Glück; der aber eilte und trieb, als fürchte er, die Hochzeit nicht mehr zu erleben; er bestand darauf, daß man sie feiere, noch ehe der Lindhamerhof eingeschneit werde, und das Paar hatte nichts dagegen zu erinnern. …

Vorher machten sie nach eine Fahrt nach dem einsamen Kirchlein in der Flinsbacher Flur; Th’res wollte sich Segen holen von dem Grabe ihres Vaters. Auch um Nanna’s Schicksal mußten Pfarrer und Landrichter Erkundigungen einziehen: sie ergab, daß dieselbe wirklich im Kloster zum heiligen Wasser eine Zuflucht gefunden, aus der sie nicht mehr heraus begehre und in der sie für die Schwester und ihren Mann alles Heil der Erde und allen Segen des Himmels zu erbitten gedenke.

Eine kleine Störung brachte es hervor, als an einem Morgen die neugebaute Brunnstube eingestürzt und unter den Balken der Brunngraber-Sepp als Leiche gefunden wurde. Niemand wußte, wie das gekommen, nur die Vermuthung lag nahe, daß der graue Sünder, unvermögend das Glück Anderer zu ertragen, einen nächtlichen Versuch gemacht hatte, die Quelle zu verderben oder gar zu zerstören, darüber aber das noch nicht festgefügte, sondern nur übereinandergelegte Balkenwerk eingestürzt sein möge und ihn getödtet habe – mindestens ergaben das die gerichtliche Leichenschau und die schwere Kopfwunde des Todten. Dem Volke aber schien es glaublicher, daß das Lindenbrünnlein wieder einmal seine alte Kraft bewährt und den getödtet habe, der mit unreiner Hand aus ihm zu schöpfen versuchte.

Auf dem Lindhamerhof war bald das alte Glück und der alte Wohlstand heimisch geworden; auch die Blindheit des Alten wurde zwar nicht ganz geheilt, aber doch soweit gehoben, daß er, wenn auch trübe, Alles sehen, sich frei bewegen und, als ein Enkel kam, sich an seinen Zügen ergötzen und unterm Lindenbaume dem Knaben zusehen konnte, der vor ihm im Grase an dem Bächlein spielte, an dem sich ein kleines künstliches Mühlrad mit Pochwerk gar lustig drehte und klapperte.

Nach ein paar Jahren kam der Landrichter mit einigen Badegästen von Aibling hereingewandert, um ihnen die schöne Aussicht des Lindhamerhofes und diesen selbst, sowie die Personen der seltsamen Geschichte zu zeigen, die sich dort abgespielt hatte. Auch der preußische Major war darunter, nicht mehr als Curgast, denn die Aiblinger Moorbäder hatten seinen Fuß so völlig gekräftet, daß er, dem sonst der Weg zum Sauer-Keller eine anstrengende Wanderung gewesen, jetzt einen so weiten Ausflug leicht und zum Vergnügen unternehmen konnte. Der Lindhamer-Bauer begrüßte seine Gäste, die ihn mitunter wohl anders erwartet haben mochten; es war nichts Besonderes mehr an ihm zu sehen. Er hatte alles Fremde abgelegt und war ganz mit Herz und Seele daheim, ganz ein Landwirth von der echten Art. Daß er das war, verrieth ringsum die Schönheit der Wiesen, die Pracht der Felder, die Stattlichkeit des Hauses; auf der Gräd stand wieder die alte Bank, aber in der Stube prangte dafür ein stattlicher Bücherschrein. Auch an äußerem Schmuck fehlte es nicht; die zierlichen Staarenhäuschen waren wieder ausgerichtet; die Windfahne mit den lustigen Figuren schnurrte lustig drauf los, und die Luftharfe ließ wieder ihre Accorde hören, als ob der Frieden und Einklang, die im Hause herrschten, sich zu Tönen verkörpert hätten. Die Quelle aber, das Palladium des Hofes, von der Brunnstube geschützt und gefaßt, sendete ihre segensvolle Fluth zum Brünnlein unter die Linden, wo eine Bank aus Baumästen zu anmuthiger Ruhe einlud; von da floß sie am Hause und an der Linde vorüber, bis an den Abhang, wo sie gestaut war, um eine Mühle und ein Sägewerk zu treiben. Wolf hatte diese dahin gebaut, um den Reichthum der Gutswaldung auszunützen.

„Das laß’ ich mir gefallen!“ sagte der Major, als die Gesellschaft aufbrach und die schöne Bäuerin, ein Bild des Glücks und der Zufriedenheit, ihnen das Geleite gab. „Um den Preis eines solchen Besitzthums und eines solchen Weibchens könnte ich mich auch entschließen, ein Bauer zu werden. … Der Lindhamer ist, weiß Gott, ein Schwerenöther und das wird wohl das Nämliche sein, wie sie hier zu Lande sagen – ein Loder!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegegenüber