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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[385]

No. 25. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Zum Heimathland steht mein Verlangen.

O sprich von keiner schönern Zone –
Ich häng’ an meinem Heimathland,
Und mir ist aller Länder Krone
Des Rheines rebengrüner Strand.
O sprich nicht von des Südens Palmen –
Des Schwarzwalds süße Tannen-Nacht,
Das Thal mit Blumen und mit Halmen,
Wo find’ ich diese deutsche Pracht?

O sprich von keinem bessern Volke,
Als dem, das meine Sprache spricht!
Der Stern bleibt Stern, auch wenn die Wolke
Verfinstert hat sein gold’nes Licht.
Und jene Sprache – sanft und linde
Klingt sie im Herzen fort und fort,
Darin die Mutter mit dem Kinde
Gekoset einst das erste Wort.

O sprich von keinen frohern Stunden,
Die hier die Zukunft bringen mag;
Die Heimath heilt die tiefsten Wunden
Und Freuden bringt sie jeden Tag.
O Zeit, wo froh im Lenz als Knabe
Ich wilde Rosen suchen ging,
Und, knieend auf des Vaters Grabe,
Um’s Kreuz die duft’gen Kränze hing!

O sprich von keinem treuern Herzen,
Und sprich von keinem fremden Glück,
Mild, wie der Strahl der Himmelskerzen,
Ist meines deutschen Mädchens Blick!
Zum Heimathland steht mein Verlangen,
Ein müder Fremdling such’ ich Ruh’,
Und wo das Licht mir aufgegangen,
Drück’ man mir auch die Augen zu.[1]

Baltimore.
Karl Heinrich Schnaufer.


  1. Der letzte Wunsch des Dichters ging nicht in Erfüllung, denn bald, nachdem er sein tiefgefühltes Lied gesungen, starb er und liegt nun drüben in fremder Erde begraben. Es waren aber deutsche Hände, die ihm die Augen zudrückten.
    Die Redaction.

Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Der Metzger war anfangs vollständig verblüfft, denn die fest auf ihn gerichteten Augen des Mädchens zeigten, daß sie die Tochter ihres Vaters war, und drangen ihm gleich Messerspitzen durch und durch; jetzt hatte er sich eben genug wieder gefunden, um den alten höhnischen Ton anzuschlagen. „Oho,“ rief er, „so ist das gemeint? Ist es schon so weit, daß man im Bergwirthshaus die Gäst’ ausschafft, die Jahr aus, Jahr ein einkehren und ihr schweres Geld sitzen lassen? O, mir kann’s recht sein, unser Einer laßt sich so ’was nit zweimal sagen. … Komm’, Niederkirchner, ich fahr’ noch weiter mit Dir, wirst mir wohl über Nacht eine Liegerstatt geben können in Deinem Haus … ich will keine gesunde Stund’ mehr haben, wenn ich noch einen Fuß herein setz’ in das Bergwirthshaus, wo man die Leut’ hinauswirft. … – Es kann leicht eine Zeit kommen, wo sie froh wären, wenn ihnen ein Gast noch hereingeht! … Das ist für meine Zehrung,“ fuhr er fort, während er sich mit dem Bauer erhob und ein Guldenstück auf den Tisch warf, daß es zu Boden kollerte.

Juli hob es auf. „Wir brauchen von Dir nichts,“ sagte sie, „was Du genossen hast, ist Dir geschenkt, den Gulden aber leg’ ich in die Armenbüchs’ …“

„Das ist gescheidt,“ rief der Metzger noch zur Thür herein, „da könnt Ihr ihn wieder herausnehmen – kann sein, daß ihr ihn bald selber braucht …“

In aufloderndem Unmuth eilte ihnen Juli nach, ein scharfes Wort schlagfertiger Erwiderung auf der Zunge; als sie an die Thür kam, rollte das Fuhrwerk bereits durch die schwarze Regennacht davon; unwillig wollte sie zurückkehren, als an den Stufen eine dunkle Männergestalt auftauchte und vor sie trat.

Es war Falkner.

„Erschrecken Sie nicht – ich bin es,“ sagte er, ihre Hand [386] ergreifend, „seien Sie mir herzlich gegrüßt und nehmen Sie nicht über, daß ich zu Ihnen komme wie eine wandelnde Dachtraufe …“

Juli stand sprachlos; sie war zu überrascht, als daß sie ihm zu wehren vermocht hätte, als er ihre Hand an den Mund führte und mit Küssen bedeckte. „Sie sind’s, Herr Falkner?“ stammelte sie. „Sie kommen zu mir – und zu dieser Stund’? … Ich sorg’, ich geh’ um im Traum und werde jählings aufwachen …“

„Nein, Sie träumen nicht … ich bin es und halte wirklich und leibhaft diese liebe warme Hand umfaßt! Wie freue ich mich, daß gleich Sie es sind, die mir zuerst begegnete … ich habe Ihnen so Vieles zu sagen, ich habe mich so sehr darnach gesehnt, Sie wieder zu sehn!“

Ein Händedruck verrieth ihm, daß diese Sehnsucht nicht vereinzelt gewesen, wenn auch ihre Rede aus nichts bestand, als aus Worten wirthschaftlichen Eifers. „Mein Gott,“ rief sie, „Sie tropfen ja, Sie sind bis auf die Haut naß geworden. … Kommen Sie doch herein! Das Herrenstübl ist geheizt, wegen der Passagiere, die Nachts mit dem Postwagen kommen … machen Sie sich’s bequem, Sie müssen ja durch und durch verkältet sein – kommen Sie nur herein, ich will Ihnen gleich ein Glas warmen Wein machen …“

„Lassen Sie das,“ sagte Falkner, indem er der leitenden Hand in das kleine angenehm erwärmte Nebenstübchen folgte, „ich bin nicht so verwöhnt, daß mir ein solches Regenbad gleich Schaden bringen sollte … ich habe Ihnen so viel zu sagen und darf mich nicht verweilen … es möchte nicht gut sein, wenn ich Ihrem Vater begegnete …“

Sie widersprach nicht und nickte traurig; Falkner zog sie auf einen Stuhl an seiner Seite nieder und hielt fortwährend ihre Hände in den seinigen umschlossen. „Zwei Gründe sind es hauptsächlich,“ sagte er, „die mich bestimmten, trotz Regen und Nacht noch heute den Umweg zu Ihnen zu machen. Sie wissen wohl schon, daß die Hindernisse, welche der Anlegung einer Eisenbahn entgegenstanden, heute beseitigt wurden und in kürzester Zeit mit dem Bahnbau begonnen werden soll. Die Nachricht von der Erkrankung meines Vaters nöthigt mich, morgen mit dem Frühesten eine Reise in meine Heimath anzutreten, die mich lange, vielleicht auf unbestimmte Zeit ferne hält; sollte ich gehen, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben? Konnte ich es, ohne mindestens Abschied von Ihnen genommen zu haben, so wie es mir um’s Herz ist? … Und dann bin ich auch Ihres Vaters wegen hier. Sie sollen das heute zwischen mir und ihm Vorgefallene nicht von Andern, nicht von ihm, Sie sollen es nur von mir selber erfahren …“

„Also ist wirklich etwas vorgefallen?“ seufzte Juli. „So habe ich mich nicht umsonst geängstigt und gesorgt!“

„Leider! Ihr Vater war der einzige von allen Grundbesitzern, der beharrlich die Abtretung des nöthigen Bodens verweigerte. Der Regierungscommissär, ein wohlmeinender, humaner Beamter und mit den Verhältnissen wohl bekannt, glaubte den Grund dieser Hartnäckigkeit in dem Umstande zu finden, daß durch die Verödung der Bergstraße Ihr Vater allerdings zunächst mit Schaden bedroht erscheint; er fand es billig, hierauf Rücksicht zu nehmen, und übernahm es, der Regierung gegenüber den Ankauf des ganzen Besitzthums um einen entsprechenden Preis zu vertreten, obwohl dasselbe für die Bahn weder unumgänglich nothwendig, noch besonders dienlich ist, und nur auf Wiederverkauf erworben werden kann. Er glaubte, einem solchen Vorschlage bessere Würdigung zu verschaffen, wenn er nicht unmittelbar von ihm ausginge, und weil er wußte, daß ich bereits einige Zeit hier gelebt und sogar in Ihrem Hause gewohnt habe, übertrug er mir ihm den Vorschlag zu machen.“

„Ihnen? Das war wohl gut gemeint, aber gut gemacht ist wohl nichts damit gewesen!“

„Das war auch mein erster Gedanke!“ rief Falkner. „Ich versuchte es daher auch, Einwendungen vorzubringen, sie wurden als unzureichend erklärt und – den wahren Grund,“ fuhr er etwas zögernd fort, „konnte und durfte ich ja doch nicht sagen. … So blieb mir nichts übrig als zu gehorchen; aber es kam, wie ich gefürchtet hatte. Schon als ich ihn zu sprechen begehrte, sah er mich mit so feindseligen Blicken an, daß jede Hoffnung, hätte ich noch welche gehabt, vernichtet war; den Antrag selbst hörte er nicht einmal zu Ende … mit höhnischen Worten wies er denselben, als von mir ausgehend, zurück … weil ich ihm gegenüber einmal geäußert, daß ich Lust hätte, ein Gut zu erwerben, legte er mir die Absicht unter, das seinige, das ich unter der Hand ausgekundschaftet, um einen billigen Preis zu erschleichen. … Ich habe Ihrem Vater jederzeit viel zu gut gehalten, Julie, denn es ist Ihr Vater; aber es giebt Dinge, die ein Mann von Niemand ruhig hinnehmen kann, ohne sich selbst zu entehren … der Vorwurf versteckter Habsucht und Treulosigkeit empörte mich: trotz des gefaßten Vorsatzes, meine Ruhe zu bewahren, versicherte ich ihn in gereiztem Tone, er habe einen Ehrenmann vor sich, und als er mit einem zweifelhaften Worte erwiderte, wandte ich ihm den Rücken und rief ihm zu: vor mir und meiner Vermittelung solle er Ruhe haben, aber es gebe noch andre Mittel und Leute, die solchen dummen Bauerntrotz zu brechen wüßten …“

„O weh,“ seufzte Juli, „das ist noch schlimmer, als ich gedacht – das vergißt er Ihnen niemals!“

„Das fürchte auch ich,“ fuhr Falkner eifrig fort, „und eben darum drängte es mich, Ihnen Alles selbst sagen zu können – Sie kennen mich! Sie wissen, wie fern es mir liegt, Ihren Vater kränken zu wollen; daß ich im Gegentheil nichts sehnlicher wünschte, als mir seine Zuneigung zu erwerben! Sie wissen – nein, Sie wissen es noch nicht!“ unterbrach er sich selbst, „aber Sie sollen es jetzt erfahren, daß der Augenblick, in welchem ich Sie wiedersah, für mein ganzes Leben entscheidend gewesen ist! Das Bild des hübschen Kindes von der Fraueninsel, das mich mit den großen, thränenschimmernden Augen so erschrocken und doch so wunderbar eigen anstarrte, während ich mit dem wüthenden Hunde rang, ist mir nie aus der Seele gewichen aber als ich Sie wiederfand, erkannte ich selbst erst, wie tief, wie unauslöschlich tief es sich mir eingeprägt hatte! – Ich liebe Sie, Julie: seit ich hierher kam, habe ich mich in den schönsten Hoffnungen und Träumen gewiegt! Ich sah schon das Haus, das ich mir zu gründen gedachte, in Wirklichkeit vor mir; ich sah Sie schon im Geiste in all’ Ihrer Lieblichkeit schalten und walten in diesem meinem Hause, ich sah Sie an meiner Seite als die reizende Frau des Hauses, als meine theure innig geliebte Frau. … Und jetzt, wohin sind all’ die schönen Träume verflogen! Was ist aus all’ meinen Hoffnungen geworden …“

Er hielte inne, aber Juli erwiderte nichts; sie gedachte des Apfels mit dem Wurm, den ihr der Herbst so bedeutsam zugeworfen, und Thränen erstickten ihr die Stimme.

„Sie antworten mir nicht? Sie weinen?“ begann er wieder und drängte sich näher an sie. „Reden Sie, Juli; geben Sie mir auf die Eine Frage Bescheid. … Wenn es nun nicht wäre, wie es leider geworden, wenn ich hoffen dürfte, Ihrem Vater nicht zuwider zu sein … was würden Sie sagen, wenn ich zu ihm hingehen wollte, mir Ihre Hand von ihm zu erbitten?“

„Ich bitt’ Ihnen, Herr Falkner,“ sagte Juli leise fortweinend, „reden Sie mir nit solche Sachen vor, ich bin ohnedem schon unglücklich genug …“

„Weiche Sie mir nicht aus,“ rief er zärtlich, „wenn ich Sie fragte, ob Sie mich lieben können und wollen – was würden Sie sagen?“

„… Ich bin viel zu gering für Sie, für so einen gescheidten Mann! Das Bissel, was ich im Kloster hab’ lernen können, bedeutet ja nichts … ich bin ja doch nur ein Bauernmädel!“

„O Juli,“ rief er entzückt, „wenn Du wüßtest, wenn Du ahntest, wie gerade Deine bescheidene Kindlichkeit, Deine durch nichts verbildete Einfachheit mich an Dich zieht und mit jedem Worte mich unlösbarer gefesselt hält … Du bist das Weib meines Lebens, wie ich es mir geträumt. … O rede, was wirst Du auf meine Frage sagen?“

Sie sah ihm durch Thränen in’s Auge und schüttelte dann schmerzlich den Kopf. „Es kann ja doch nit sein …“ sagte sie mit einem schmerzlichen Seufzer.

„O, es soll sein! Es soll werden!“ jubelte er. „Jetzt, da Du nicht Nein gesagt, muß es werden! Was es auch kosten möge, was für Hindernisse auch zu bewältigen sein mögen, ich lasse Dich nicht mehr, ich ruhe nicht, bis Du die Meine geworden …“

Er wollte die nicht mehr Widerstrebende an seine Brust ziehen – da fuhr ein kräftiger Arm zwischen die Beiden, der den jungen Mann im Nacken packte und emporriß. Es war der [387] Arm des Bergwirths, der von den Liebenden unbemerkt eingetreten war und nun mit funkelnden Augen und wuthentstelltem Angesicht hinter ihnen stand. „So?“ rief er mit zornbebender Stimme, „da kommen wir wieder zusammen? Ist das ein Ehrenmann, der sich heimlich, hinterm Rücken des Vaters bei Nacht und Nebel in’s Haus schleicht und die Tochter verführt? Einen solchen heißt man einen Hallunken hier zu Land und einem solchen will ich zeigen, wie ein dummer, trotziger Bauer sein Hausrecht zu brauchen weiß!“

Mit riesiger Gewalt hielt er Falkner am Halse gefaßt und zerrte ihn gegen die Thür hin – dieser aber wehrte und stemmte sich mit der ganzen Kraft seiner jugendlichen Gestalt entgegen und vermochte nach kurzem Kampfe sich loszureißen, aber der rechte Aermel seines Rocks und der des Hemdes darunter zerriß, daß der bloße Arm sichtbar wurde. Juli war einen Augenblick rathlos dagestanden, bleich bis im die Lippen hinein gleich einer Sterbenden, nach Athem ringend und die Tischecke umklammernd, um nicht in die brechenden Kniee zu sinken; im nächsten schon stand sie zwischen dem Vater, der neuerdings auf den Verhaßten losstürzen wollte, und dem Geliebten, der mit hocherhobenem bloßen Arme bereit stand, auch ohne Waffen den Angreifer niederzuschmettern.

Am Arme war eine Reihe kleiner blaurother Punkte zu erkennen.

„Was wollt Ihr Vater?“ rief sie diesem zu. „Es ist nichts geschehen, wegen was Ihr so wild sein solltet ... der Herr hat sich nicht heimlich eingeschlichen, er ist offen und ehrlich gekommen, weil er von mir hat Abschied nehmen wollen! Meint Ihr, ich fürchte mich deswegen vor Euch? Nein – ich hab’ ein gutes Gewissen, Vater, und scheu’ mich nit … Geht weg von der Thür, daß der Herr Falkner friedlich hinaus kann … Du aber, Franz – es ist das erste Mal und wohl auch das letzte Mal, daß ich Sie so nenn’ … Du, Franz, nimm Dich zusammen und zeig’s, was Du für ein Mann bist, heb’ Deinen Arm nit auf – der, gegen den Du’s thust, ist ja mein Vater … Ich hab’ Dir,“ fuhr sie inniger fort und ihre Stimme begann zu zittern unter der Wucht ihres Schmerzes, „vorhin keine deutliche Antwort gegeben auf Deine Frag’ – aber jetzt vor meinem Vater sag’ ich Dir – ja, ich hab’ Dich gern! Und wenn ich auch gewiß weiß, daß mir das nie zu Theil wird, so sag’ ich Dir doch, es gebet’ kein größeres Glück für mich, als wenn ich Dein Weib werden dürft’ …“ Bei diesen Worten hatte sie ihm den Arm niedergezogen, beugte sich darüber und drückte ihren Mund auf die Narben in demselben … „Das Blut, das aus diesen Wunden geflossen ist für mich – das macht, daß ich Dein gehören muß in alle Ewigkeit …“

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn furchtlos an ihrem Vater vorüber, der sie in stummem Grimm gewähren ließ.

Das war ein böses Vorspiel für die Tage, die nun kamen, und was sie brachten, blieb nicht hinter ihm zurück. Vater und Tochter gingen anscheinend ruhig nebeneinander her und das Vorgefallene wurde mit keiner Silbe erwähnt – der verbissene Groll des Bergwirths aber steigerte sich mit jeder Nachricht, welche auf den Bahnbau Bezug hatte. Dieser rückte inzwischen mit außerordentlicher Raschheit vorwärts; ein ungewöhnlich milder Herbst begünstigte die Fortsetzung der Arbeiten bis tief in den November hinein. Manchmal brach wohl der Zorn des Bergwirths in alter Wildheit aus, daß er tobend und schreiend im Hause hin und wieder stürmte; als aber der Spruch des Gerichts eintraf, der ihn endgültig verurtheilte, gegen die zuerkannte Entschädigung die Niederpoint abzutreten, ging in seinem Benehmen eine auffallende Veränderung vor. Er zürnte nicht mehr laut und heftig, wie er früher gethan, sondern begann finster und schweigend in sich hineinzubrüten; Stunden lang sah er regungslos vor sich hin, nur manchmal halblaute Worte murmelnd, von denen nichts zu verstehen war als „meine Bäume“ und „mein Recht und Gewalt.“ … Er beachtete es nicht, daß ihm der Kaufpreis für die entwehrte Niederpoint in’s Haus geschickt wurde; er ertrug es anscheinend gleichgültig, als es hieß, daß die Eichen dort geschlagen würden und das Abgraben begonnen habe – er schien gar nicht zu vernehmen, als sich die Kunde verbreitete, es sei hierbei ein reiches Lager von sehr schönem graugrünem Sandstein zu Tage gekommen, das der Ausnützung als Steinbruch in hohem Grade würdig sei, und daß der Feldmesser Falkner den Bruch von der Bahn käuflich erworben habe.

Von diesem selbst kam keine Kunde mehr in das Bergwirthshaus.

In anscheinend ruhigem Gleichmuth gingen auch Juli die schweren Tage dahin; sie pflegte den Vater und sorgte für ihn mit liebevoller, wenn auch unbeachteter Aufmerksamkeit; sie verwaltete still und geräuschlos die Geschäfte des Häuses – sie war sich völlig gleich geblieben, nur blässer war sie geworden, wenn aber Jemand sie darüber beredete, so lächelte sie mit ihrer gewohnten Freundlichkeit und meinte, das thue der Winter, der pflege immer sie zu bleichen.

Aber der Winter verging, Knospen und Blumen kamen wieder und nur auf ihren Wangen versäumten die Rosen wieder aufzublühen. Um die Zeit, als die Schwalben zurückkehrten, kam auch der Tag, an welchem die Eisenbahn in ihrer größten vollendeten Strecke eröffnet wurde. Es war ein Fest für die ganze Gegend und schon am Vorabend tönte aus allen Thälern von nah und fern das feierliche Läuten der Kirchenglocken und das Krachen der Böller, das, vom Wiederhall getragen, donnerähnlich an den Bergen dahin rollte. Desto trüber war der Abend trotz seiner Schönheit für das Bergwirthshaus, dem die Stunde der Verödung wirklich geschlagen hatten. Die Linden grünten, die Blütendolden der Wildkastanien dufteten, die Aepfelbäume standen da, wie mit Rosen überschneit, und die Schwalben schwätzten vergnügt in dem alten Neste am Hause, das für sie keine Veränderung erlitten hatte – aber es war Niemand weit und breit, der wie sonst die Herrlichkeit des Platzes rühmend genoß; Stellwagen und Postkutsche, welche ihre letzte Fahrt machten, waren leer – wer reisen wollte, verschob es auf den nächsten Tag. Als der Postbartel zum letzten Mal mit seinem ledigen Gespann herantrabte und das Posthorn zum gewohnten Gruße an den Mund setzte, da versagte ihm, was ihm noch nie geschehen, der Ton und er ließ es stumm wieder zurücksinken. Juli reichte ihm, auf den Stufen stehend, den gewohnten Trunk, aber es schmeckte dem Burschen nicht wie sonst; ohne abzusteigen, gab er das noch halb gefüllte Krüglein zurück, schüttelte ihr die Hand und ritt davon während ihm die hellen Thränen in den grauen Schnurrbart herabkugelten …

Auch die ihren flossen, als von drüben noch einmal der Ruf des Posthorns ertönte. Es war ihr, als habe dasselbe nie so weich und schmelzend geklungen, so ganz wie das letzte Grüßen eines scheidenden schönen Glücks – das alte Liebeslied mochte dem Postillon nicht getaugt haben, er blies ein anderes, dessen Worte lauteten:

B’hüt’ Dich Gott. B’hüt’ Dich Gott,
Liebe Annamarin,
B’hüt’ Dich Gott, jetzt geht’s dahin!
In die weite Fremde muß ich fort,
Komm’ nimmer an den lieben Ort –
B’hüt Dich Gott! B’hüt’ Dich Gott,
Liebe Annamarin –
Ich b’halt’ Dich doch im Sinn!

Am andern Tag war die Berghöhe vollends wie ausgestorben – es gab nichts zu thun in der Wirthschaft, auch den Ehhalten war nicht verwehrt worden, die Festfreude zu genießen. Der Wirth hatte sich in sein Zimmer eingesperrt, das rückwärts gegen den Wald hinausging, er hatte auch Fenster und Vorhänge geschlossen, den verhaßten Jubel nicht hören zu müssen. Juli wich dem Unvermeidlichen nicht aus, aber auch durch ihr Herz ging es wie ein Schauder, als aus dem Thale heraus der erste schrille Pfiff der Locomotive die begonnene Herrschaft des Dampfes verkündete.

So schön und warm der Tag gewesen war, senkte sich der Abend doch so kühl herab, daß die Scheiben des Fensters, an welchem sie stand und in verschwimmenden Gedanken in die Dämmerung und die dunklen Berge hinausstarrte, sich mit leichtem Dufte überzogen – unwillkürlich zog sie mit dem Finger Linien in den Duft; ohne zu wissen, was sie that, gestalteten sich die Linien zu Buchstaben … sie schrak zusammen, als plötzlich hinter ihr die Stimme des Vaters ertönte, den es in seinem Gefängnisse nicht mehr gelitten hatte und der unbemerkt von ihr eingetreten war.

Sie sah in ein Angesicht, in welchem der ganze verhaltene Grimm der vergangenen Tage loderte.

„So?“ rief er mit bitterem höhnischen Lachen. „Du stehst hier am Fenster und malst Buchstaben? Droben in meiner Einsamkeit [388] ist es mir auf einmal warm aufgegangen um’s Herz, daß wir von allen Menschen verrathen und verlassen sind, daß wir gar nichts mehr haben, wenn wir zwei von einander lassen. … Ich bin herunter und hab’ Dir sagen wollen, wir wollen Alles vergessen und gut sein lassen und fest zusammenhalten, und jetzt treff’ ich Dich so? Das F. F. das soll wohl Franz Falkner bedeuten? Du denkst also noch alleweil an den elenden Kerl, der vor Allen an unsrem Unglück schuld ist? Und das thust noch obendrein heut’ … heut’, wo das Unglück vollends in Erfüllung gegangen ist. … Du hast wohl gemeint, weil ich die Zeit her still gewesen bin, ich fanget’ an, nachzugeben. … Nichts da, sag’ ich Dir! Jetzt reden wir aus einem andern Ton, jetzt sollst Du den Bergwirth erst kennen lernen. … Ich will Euch einen Tanz aufspielen, Dir und dem verfluchten Feldmesser, der Tanz soll auch aus dem F. F. gehen … das versprech’ ich Dir!“

Umsonst versuchte Juli, die nicht zu Wort zu kommen vermochte, den Tobenden zurück zu halten, er riß sich los und stürmte trotz der immer stärker einbrechenden Dunkelheit hinaus, um bald in dem hinterm Hause beginnenden Walde zu verschwinden. Er wußte selbst nicht, was er beginnen, wohin er sich wenden wollte, die Leidenschaft war um so heftiger in ihm entbrannt, als er sich nun selbst der weichern Regung schämte, die ihn kurz zuvor angewandelt hatte. In planlosem Irrgange rannte er fort, ohne Ziel und Zweck und wußte selbst nicht, wie ihm geschah, als er nach einiger Zeit mit einem Male aus dem sich lichtenden Walde trat und die Niederpoint vor sich liegen sah. …

Zähneknirschend, mit geballten Fäusten gewahrte er die Verwüstung des herrlichen Rasens, der sein Stolz gewesen – sah die traurigen Stöcke der gefällten Eichen und diese selbst, seine Lieblinge, als entästete, rindenlose Stämme daneben liegen und die sonst ungewohnten Augen wurden ihm naß. Er tastete daran herum und streichelte sie, als wären es lebende Wesen, die Gefühl hätten für sein Mitleid, er sprach mit ihnen und jammerte: „Meine schönen Eichen – meine schönen Staatsbäum’ … so hab’ ich euch nit erretten können.“ …

Er stand stille vor einem in den Boden gerammten Stein, trotz der fast eingebrochenen Finsterniß vermochte er das darin eingemeißelte, schwarzgefärbte F. F. zu erkennen – das Markzeichen des neuen Eigenthümers. Die Gewalt der Eindrücke schlug ihm gleich lodernden Flammen über dem Kopfe zusammen, es war als ob sich ihm die Gedanken zu verwirren anfingen. …

„Muß ich denn den verdammten Buchstaben überall begegnen?“ schrie er in die Nacht hinein. „Und der Mensch soll meinen schönen Grund haben, und ich muß mir’s gefallen lassen und kann ihm nichts anthun dafür, dem Räubergesindel übereinander …“

Da scholl die Signalpfeife des auf seiner Rückkehr aus den Bergen heransausenden Zuges.

Er horchte auf und rannte vor bis an den Rand des neuen Steinbruchs, der tief und steil unter ihm abstürzte. … „Da kommt das Ungeheuer, das mich zu Grunde gerichtet hat – mit den rothen glühenden Augen und dem Feuerrachen, g’rad’ als käm’s mitten aus der Hölle …“

Er sprang auf einen Baumstamm, um besser hinabsehen zu können – der Baum regte sich unter seinen Füßen und ein entsetzlicher Gedanke blitzte in ihm auf. „Brüll’ nur zu und spei’ Feuer, Du höllischer Drach’!“ schrie er außer sich, ich fürcht’ Dich nit – ich nehm’s auf mit Dir und wenn Du der Teufel selber bist.“ …

Wüthend stemmte er sich gegen den Baum – er begann zu rollen, erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis er in mächtigem Schwunge über den Rand des Steinbruchs stürzte – am Fuße desselben, wenige Schritte entfernt zogen die Eisenschienen sich hin. …

Die Locomotive des Zuges bog bereits um den nächsten Vorsprung hervor … der Bergwirth sah es nicht mehr, von seinem eigenen Thun entsetzt, war er in den Wald entflohen.

Plötzlich tönte von unten ein ungeheurer schmetternder Krach – die Locomotive war an den Eichstamm gestoßen und bäumte sich wie ein wuthheulendes verwundetes Ungeheuer daran empor – dann flatterte greller Feuerschein auf … ein markerschütternder Jammerschrei schlug an die Sterne. …

Dann war Todtenstille. …

(Fortsetzung folgt.)




Meine Eisvögel.
Von Ludwig Beckmann.


Gewiß hat schon Mancher unserer freundlichen Leser den schönen blaugrünen Eisvogel oder Halcyon im Freien erblickt und sich an dem reizenden Anblick erfreut, allein nur Wenige werden Gelegenheit gehabt haben, das eigenthümliche Wesen und Treiben des scheuen Vogels in unmittelbarer Nähe zu beobachten. Nachstehende Mittheilungen dürften daher einiges Interesse für Freunde der Thierwelt haben, umsomehr, als unser Eisvogel in den Volièren der zoologischen Gärten (mit Ausnahme des Regent-Park) unseres Wissens bis jetzt nicht dauernd gehalten wurde.

Der Eisvogel (Alcedo ispida) ist der einzige europäische Vertreter der so viele Mitglieder zählenden Familie der Alcedinen unter den Leichtschnäblern, welche größtentheils die heißere Zone bewohnen. – Auch unser Eisvogel ist keineswegs ein Freund eisiger Regionen und geht über einen gewissen nördlichen Breitegrad wohl nur als Strichvogel hinaus. An Deutschlands Gewässern ist er fast überall zu finden, indeß immer nur vereinzelt vorkommend, mit Ausnahme der Paarungszeit. Die gestreckte Länge des ausgewachsenen Männchens beträgt selten über neunzehn Centimeter, wovon allein auf Kopf und Schnabel sieben Centimeter gehen. Daher das Groteske, Zwerghafte seiner Erscheinung. Die ziemlich schwach gebauten, rundlichen Flügel erreichen zusammengelegt just den Anfang des kurzen, zwölffederigen Schwänzchens, die winzig kleinen, weich behäuteten Füßchen haben drei Vorder- und eine Hinterzehe. Die äußere Vorderzehe ist fast ebenso lang als die große Mittelzehe und mit dieser bis zum zweiten Gelenk dicht verwachsen. Auch die weit kürzere dritte oder Innenzehe ist nicht völlig frei, sondern bis zum ersten Gelenk mit der Mittelzehe verbunden. Der Fuß des Eisvogels ist daher weder zum Gehen noch Klettern, Schwimmen oder Scharren, sondern vorzugsweise zum ruhigen Sitz auf Zweigen geeignet, und in der That macht der Vogel fast keinen andern Gebrauch von seinem Pedal.

Der lange, scharfgespitzte Schnabel ist nach innen scharfkantig aufgezogen und für das Festhalten der glatten Fische vortrefflich geeignet. Das große Auge mit brauner Iris ist weit nach vorn gerückt und wirkt beim lebenden Vogel tiefschwarz glänzend. Der Rachen ist auffallend weit, die kurze Zunge hat die Form einer stumpfen Pfeilspitze. Dem Schlunde fehlt der Kropf, der ganze Verdauungsapparat ist überhaupt sehr einfach, wie bei den meisten Fischfressern.

Betrachten wir nun die Lebensweise unseres Eisvogels im freien Zustande. – Er ist ein einsam lebender, mißtrauischer und vorsichtiger Vogel, so daß es – namentlich zur Sommerzeit – meistens schwer hält, sich ihm selbst auf Schußweite zu nähern. Indeß scheint er den Menschen vorzugsweise nur an seinen Bewegungen zu erkennen, denn er erscheint oft ganz unerwartet dicht neben einem Fischer, welcher ruhig am Ufer hockt, und setzt sich wohl gar für Augenblicke auf die eingesteckten Angelruthen.

Seine Nahrung besteht fast ausschließlich aus kleinen Fischen von der Größe einer Stecknadel bis zur Länge eines Zeigefingers, bei anhaltendem Regenwetter und trübem Hochwasser sucht er kleine Schalthiere, Wasserinsecten und Libellen, welche auch beim Auffüttern seiner gefräßigen Jungen mit aushelfen müssen. Der Fischfang bleibt indeß die Hauptsache und wird vom frühen Morgen bis zum Abend geübt, indem der Vogel unbeweglich auf einem überhängenden Zweig oder Stein am Ufer hockend auf die vorüberziehenden Fischchen lauert und im Moment ihres Erscheinens blitzschnell mit angezogenen Flügeln auf sie hinunterstürzt. Oft verschwindet der Vogel beim Stoß völlig unter der Wasserfläche, arbeitet sich aber sofort wieder empor und flattert nun, den erbeuteten Fisch quer im Schnabel haltend, auf seinen [389] Platz zurück. Der Raub wird ohne jede weitere culinarische Vorbereitung, roh und unzerstückelt hinuntergeschluckt. Oft würgt er Fische hinunter, welche fast so lang als der ganze Vogel sind, so daß der Schwanz des Fisches noch aus dem Schnabel hervorsteht, während der Kopf bereits vom scharfen Magensaft des Vogels aufgelöst wird.


Eisvögel.
Nach der Natur aufgenommen von Ludwig Beckmann.


Nicht selten wird er ein Opfer seiner Gefräßigkeit, man hat mehrfach Eisvögel beobachtet, welche mit einem halbverschluckten Fisch im Schnabel hülflos im Strome trieben und schließlich untersanken oder von einem Hecht weggeschnappt wurden. Die hervorstechendsten Eigenschaften unseres Eisvogels sind überhaupt sein enormer Appetit und eine dem entsprechende rasche Verdauung. Je nach dem Quantum der Mahlzeit genügen zur letzteren fünfzehn bis zwanzig Minuten, der Vogel würgt dann die unverdauten Gräten und Schuppen, zu einer kleinen Kugel zusammengeballt, aus dem Schnabel und – sieht sich nach weiterer Atzung um. Die Ballen des Eisvogels sind selten größer, als auf der beifolgenden Zeichnung angegeben; sie sind von weißgelblicher Farbe, trocknen an der Luft rasch auf und werden dann nur noch durch den glasartig aufgetrockneten dünnen Schleimüberzug zusammengehalten. Bei geringem Fingerdruck zerfallen sie schon [390] in Staub und flimmernde Splitterchen, zwischen denen wir bei näherer Betrachtung die haarfeinen Grätenreste erkennen. Diese geringe Haltbarkeit der „Gegräte“ mag Ursache sein, daß man dieselben so selten im Freien findet. Scheint dem Vogel der Platz unergiebig, so streicht er plötzlich – meistens einen schrillen Pfiff ausstoßend – davon und seinem nächsten Fischplatze zu, denn jeder Vogel hat in seinem Reviere, welches er hartnäckig gegen alle Concurrenz behauptet, eine ganze Anzahl bestimmter Fangorte, welche er regelmäßig besucht. Er fliegt meistens[WS 1] in einem kleinen aufwärts gehenden Bogen ab, streicht dann aber gerade aus, in geringer Höhe über dem Wasserspiegel und dem Ufer folgend. Starke Krümmungen des Wassers, sowie bewohnte Uferstrecken, sucht er abzuschneiden, indem er auf bestimmten Linien – oft zwischen Gehöften und Wirthschaftsgärten hindurch – quer über Land in reißender Schnelle hinstreicht.

Der weithin hörbare schrillende Laut des Eisvogels klingt etwa „Tsiet!“ und wird meistens zwei, selten drei Mal hintereinander wiederholt. Er ist in geringer Aenderung zugleich Lock- und Angstruf und erinnert an den metallischen Laut der Spechte. Es ist eine jener eigenthümlichen Vogelstimmen, welche, einmal gehört, nie wieder mit anderen, wenn auch nahe verwandten Tönen verwechselt werden, vorausgesetzt, daß der Hörer überhaupt ein Gedächtniß für Vogelstimmen hat, was bekanntlich mit dem „musikalischen Gehör“ gar nichts zu thun hat.

Früh im Jahre beginnt die Paarungszeit des Eisvogels, und wir sehen unseren Einsiedler nun in Begleitung seines Weibchens am Ufer auf und ab streichen, um einen geeigneten Nistplatz ausfindig zu machen. Für letztern Zweck dient eine enge, anderthalb bis drei Fuß lange einfache Erdröhre, an deren etwas erweitertem Ende im Mai oder Juni sechs bis zehn weiße Eier gefunden werden. Meistens ist die Röhre an abschüssigen, glatten Ufern einige Fuß über dem Wasserspiegel gelegen, so daß sie weder durch Hochwasser, noch durch Raubzeug erreicht werden kann.

In Betreff des eigentlichen „Nestes“ herrschen verschiedene Ansichten, was bei der ziemlichen Seltenheit des Gegenstandes und in Betracht der örtlichen Schwierigkeiten, welche sich dem Ausgraben meist entgegenstellen, eben nicht zu verwundern ist. – Meistens verhindert der Oberwuchs (Weidengebüsch) das Durchgraben von der Landseite, während die Röhre zu hoch über dem Wasser belegen ist, um vom Kahn aus bequem erreicht zu werden. Wo aber keine derartigen Hindernisse vorliegen, wird die enge Röhre zu Zeiten leicht beim Ausgraben verschüttet und derartig verunstaltet, daß es schwer hält, ihre frühere Beschaffenheit zu erkennen. Um Letzteres zu vermeiden, ließ der berühmte Ornithologe Gould zuvor einen Haufen Baumwolle von der Eingangsröhre aus auf und über das Nest stopfen und dann vorsichtig von oben bis zur Baumwolle durchgraben. In dieser Weise ward ein vollkommenes Nest mit acht Eiern unbeschädigt an’s Tageslicht befördert, welches dem Britischen Museum überliefert wurde. Die Wände (walls) dieses Restes sollen aus Fischgräten bestehen und einen halben Zoll englisch im Durchmesser halten. – Fischer von Profession behaupten in der Regel, der Eisvogel baue ein förmliches Nest aus Fischgräten. Dagegen haben unsere tüchtigsten deutschen Vogelkenner, Naumann und der alte Brehm, nur eine Unterlage von Gräten gefunden, und wir können uns vorläufig dabei beruhigen. Wahrscheinlich werden die Eier zuerst auf den bloßen Sand gelegt; da ein solcher Nistplatz aber oft viele Jahre hintereinander benutzt wird, so werden die Reste der eingeschleppten und vertrockneten Fische, sowie die ausgeworfenen Grätenballen und sonstiger Unrath im Laufe der Zeit eine krustenförmige Unterlage bilden, welche, den Wänden der Höhlung entsprechend, zuletzt eine Nestform annehmen muß.

Mit Eintritt der kalten Jahreszeit, namentlich bei anhaltendem Regen, mag es unserm Eisvogel bereits sauer genug werden, seinen Appetit in gewohnter Weise zu stillen, da der Fisch jetzt schon, um der Kälte zu entgehen, tiefer am Grunde des Wassers geht. Wir sehen unsern Vogel deshalb um diese Zeit schon häufiger an den Fischweihern und Setzteichen erscheinen; sobald aber diese gefrieren, kehrt er wieder zum fließenden Wasser zurück. – Anhaltender Frost, welcher einen Eisrand am ganzen Flußufer entlang erzeugt, bringt unserm Eisvogel bittre Noth, denn sein eigentliches Fischterrain ist nun völlig geschlossen. Was nützt dem armen Schelm das breite offene Fahrwasser des Stromes? Um hier zu fischen, reicht weder seine Flugkraft, noch sein geringes Tauchertalent und Schwimmvermögen aus. Die kleinen Fischchen, welche er überhaupt bewältigen kann, meiden die Strömung und das tiefere Wasser, und halten sich schon aus Furcht vor den größeren Raubfischen in der Nähe des Ufers. Die Noth steigt mit jedem Tage, und bald sehen wir den sonst so menschenscheuen Vogel, von Hunger und Kälte getrieben, mitten in bewohnten Orten unter dem Gewühl der Brücken und am Ausfluß der Canäle erscheinen, und in den Sicherheitshäfen zwischen eingefrorenen Dampfern und Schleppkähnen jede freie Wasserstelle aufsuchen, wo nur Menschenthätigkeit das Eis durchbrochen. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß in strengen, anhaltenden Wintern mindestens zwei Drittel der schönen Vögel elend zu Grunde gehen. Andererseits müßte ihre Anzahl Legion sein, denn der Eisvogel vermehrt sich sehr stark und hat in Folge seiner Lebensweise keinen einzigen Feind, der ihm sonderlich schaden könnte.

Wir kommen nun zu dem Benehmen unseres Vogels in der Gefangenschaft. Einsender hat schon früher, namentlich aber im letztverflossenen Winter, wiederholt Versuche gemacht, lebend eingefangene Eisvögel an die Gefangenschaft zu gewöhnen, um sie näher beobachten und später einem zoologischen Garten übergeben zu können, denn als Zimmergäste sind sie für die Dauer durchaus nicht zu empfehlen. – Durch frühere Erfahrung belehrt, hatte ich dieses Mal bei Zeiten ein geräumiges Gebauer mit Netzwänden, Wasserbassin und einem Hintergrunde von Schilf und Gezweige herrichten lassen, auch für eine ausreichende Quantität lebender Fischchen schon im Herbste gesorgt. Es hing also nur von den Eisvögeln ab, sich in einem kleinen Fischerparadiese zu denken. – Anfänglich glaubte ich, den wild eingefangenen Vogel wenigstens am ersten Tage „stopfen“ (d. h. Fische mit der Hand in den Schlund des Vogels bringen) zu müssen, indeß ist dies ganz überflüssig, besonders, wenn bereits ein eingewöhnter Vogel im Käfig befindlich.

Der neue Ankömmling stürmt zunächst pfeifend gegen die Netzwand, flattert einen Augenblick hin und her, ohne einen Anhaltepunkt zu finden, und läßt sich dann irgendwo im Gezweige nieder. Er sitzt nun hoch aufgerichtet, mit Hals und Kopf in eigenthümlicher Weise fortwährend auf und nieder ruckend, während das kurze Schwänzchen in entsprechendem Tempo aufwärts wippt. Nach einer Weile scheint er sich etwas zu beruhigen und eine seitliche Richtung des langen Schnabels läßt schließen, daß er die Fischchen im Bassin beobachtet. Er scheint nur der Umgebung nicht zu trauen und wir ziehen uns vorsichtig zurück. Nach längerer oder kürzerer Pause erschallt plötzlich ein lauter Platsch! – Der Vogel hat sich in’s Bassin gestürzt, und wie wir den Kopf wenden, sitzt er bereits wieder auf dem Rande des Bassins, stolz aufgerichtet, den gefangenen, silberglänzenden, zappelnden Fisch quer im Schnabel haltend – ein reizender Anblick! – Der Vogel verharrt unbeweglich, wie ausgestopft, in seiner Stellung, und wir glauben schon, daß er sich fürchtet, in unserer Gegenwart den Fisch zu verzehren. Allein diese Pause wiederholt sich, namentlich bei größeren Fischen, nach jedem Fange und hat augenscheinlich nur den Zweck, das Mattwerden und Absterben des Fischchens an der Luft abzuwarten. Bei dem weichen Leben dieser kleinen Geschöpfe ist dies schon nach einigen Augenblicken der Fall, und der Vogel läßt nun, ohne sich irgendwie zu rühren, den glatten Fisch langsam seitwärts durch den Schnabel gleiten. Wir fürchten, sein Raub müsse ihm im nächsten Augenblicke entfallen, da wirft er den Fisch plötzlich durch eine geschickte Bewegung herum, so daß er nicht mehr quer, sondern der Länge nach im Schnabel ruht, und schluckt ihn dann, den Kopf voran, eiligst hinunter. Macht der Fisch während des Herumschwenkens noch eine Bewegung, so geräth unser Vogel plötzlich in heftige Aufregung und schleudert den unglücklichen Fisch so heftig links und rechts an die Sitzstange oder den Rand des Bassins, daß es laut klatscht.

Hat der Eisvogel endlich den Fisch hinuntergewürgt und nach kurzer Zeit der Ruhe den Ballen, von dem wir oben sprachen, wieder von sich gegeben, so schüttelt er wiederholt und rasch Kopf und Schnabel, unter eigenthümlich schnabberndem Geräusch der zusammentreffenden Schnabelhälften, wahrscheinlich um diese von anhängenden Schuppen und Fischschleim zu reinigen. Dann zeigt der lange Schnabel wieder langsam seitwärts oder abwärts und im nächsten Moment plumpt er bereits wieder hinunter auf einen andern Fisch. Dies Abwärtssteigen geschieht so rasch, daß schwer [391] zu sagen, wie es eigentlich geschieht. Oft lüftet er einen Augenblick zuvor die Flügel, namentlich wenn er seitwärts stoßen muß oder der flache Wasserstand des Bassins ein Aufstoßen auf den Boden unvermeidlich macht; unter günstigen Verhältnissen plumpt er einfach senkrecht kopfüber oft mehrere Fuß tief hinunter. Der Fisch wird immer quer über dem Rücken und zwar in seinem Schwerpunkt ergriffen. Fehlstöße habe ich nie bemerkt. Ein Exemplar, dessen Unterschnabel etwas abnorm gebaut und fast drei Achtel Zoll kürzer als der Oberschnabel war, fing Fischchen von Stecknadelgröße mit Sicherheit. Dieser Vogel blieb nach dem ersten Stoß meistens auf einer flachen Stelle des Bassins bis zum Rande im Wasser sitzen und schnappte Alles, was in den Bereich seines Schnabels kam blitzschnell weg.

Ist das Bassin leer, so wird der Vogel unruhig, erinnert sich seiner Gefangenschaft und stürmt plötzlich unter schrillem Pfeifen vorwärts gegen die Netzwand. Sehr hübsch sieht es aus, wenn zwei Vögel während des Fliegens oder beim Niederlassen auf den Sitzstangen unverhofft zusammentreffen. Sie fallen dann meist beide senkrecht zu Boden und sitzen nun eine ganze Weile platt auf dem Steiß ruhend, den Körper gerade aufgerichtet, die Flügel ausgebreitet und den Schnabel weit aufgesperrt, wie ein paar Wasservögel einander gegenüber. Von Zeit zu Zeit lassen sie bei dieser Gelegenheit ein zorniges, heiseres „Järrrt järrr!“ hören, der einzige Laut, welchen ich bis jetzt außerdem bekannten Pfiff von unserm Eisvogel gehört. Vor ihren spitzen Schnäbeln haben sie gegenseitig gewaltigen Respect; indeß erinnere ich mich nicht, gerade gesehen zu haben, daß sie von dieser gefährlichen Waffe unter sich Gebrauch machten.

Auf dem platten Boden ist der Vogel höchst ungeschickt; er sitzt dann meist mit vorgestreckten Füßen und aufliegendem Steiß, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Am liebsten sitzt er auf weichen, glatten Zweigen von Fingersdicke, auf denen er oft eine ganze Strecke blitzschnell seitwärts trippelt, um einem andern Vogel Platz zu machen.

Beim Hin- und Herflattern der Eisvögel im Käfig fällt der fortwährende Farbenwechsel ihres Rückengefieders dem Beobachter auf. Bald sehen wir dasselbe einförmig graublau mit einem hellen, kalten, lasurblauen Streif – bald wieder tief warm olivengrünlich mit leuchtend spangrünem Streif. Im Halbdunkel des Gezweiges erscheint er fast bräunlich mit schwachem weißgrünem Schimmer, als ob dem Gefieder ein eigenes, schwaches Phosphorleuchten innewohnte. Diese Erscheinung ist deshalb merkwürdig, weil dem weichen, zerschlissenen Rückengefieder unsers Vogels jener metallische Spiegelglanz, welchen wir an vielen Tropenvögeln (auch an unserer Saatkrähe und Stockente) bewundern, gänzlich fehlt. Man kann dies hübsche Variiren der Farbe auch an ausgestopften Exemplaren beobachten, wenn man z. B. am Fenster stehend, den Vogel gegen das helle Tageslicht und dann, sich herumwendend, in’s Dunkel des Zimmers hineinhält.

Zwei Hauptzierden des lebenden Vogels gehen beim Ausstopfen unwiederbringlich verloren. Zunächst der wunderbar feine Atlasglanz des weißen Kehlfleckes, ebenso verlieren die weichen, schön mennigerothten Füßchen beim Austrocknen alles Ansehen und schrumpfen schwarz und drahtähnlich zusammen. Auch das durch- scheinende Lack- oder Braunroth des Schnabels verschwindet völlig.

Leider ist es dem Einsender bis jetzt nicht gelungen, alte Eisvögel am Leben zu erhalten, und er möchte daher auch keine weiteren Versuche in dieser Hinsicht machen. Die übliche Phrase vom „Todtgrämen“ oder „Trauern um den Verlust der Freiheit“ dürfte auf meine Eisvögel nicht passen, man müßte denn annehmen, daß sie wie die Eltern des „Peter in der Fremde“ ihren Gram im Essen erstickt hätten. Wahrscheinlich ist der zarte Respirationsapparat dieser Vögel nicht im Stande, die Folgen der Aufregung zu überstehen, welche das Einfangen, der Transport und das Einsetzen in die Volière unvermeidlich mit sich bringt. Der Vogel gewöhnt sich allerdings rasch in die neuen Verhältnisse, allein das Uebel ist einmal vorhanden. Eines Tags glauben wir ein etwas beschleunigtes Athemholen und nachlässigere Haltung der Flügel zu bemerken, am nächsten Morgen sitzt er platt auf dem Boden, macht noch einen vergeblichen Versuch zum Fressen, fällt um und ist todt. In ganz ähnlicher Weise verenden die meisten einsam lebenden und zart gebauten Vögel in der Gefangenschaft, z. B. Waldschnepfen, seltener die Rallen und Hühner oder die mit derberen Lungen ausgestatteten kleinen Säugethierarten.

Jung aus dem Neste genommene Eisvögel sollen dagegen ohne große Schwierigkeiten selbst bei Fleischfütterung (am besten wohl Rinderherz in Streifen geschnitten) aufzuziehen sein. Wie schon erwähnt, ist die Lebensweise des schönen Vogels indeß nicht geeignet, ihn als Zimmergast zu empfehlen. Dagegen würde er in den großen Flugvolièren unserer zoologischen Gärten bei durchfließendem Wasser sich vortrefflich halten und in Gesellschaft der seltenen Wasserstaare und einiger feinen Strandläuferarten gewiß fortwährende Anziehungskraft auf die Besucher ausüben.

Es würde zu weit führen, alle wundersamen Eigenheiten, welche Poesie und Aberglauben unserm Eisvogel angedichtet haben, hier anzuführen. In Brehm’s trefflichem Werke „Illustrirtes Thierleben“ finden wir (Band IV., Seite 160) eine höchst ergötzliche Sammlung. Wir vermissen darunter nur die altenglische Sitte, einen todten Eisvogel als Wetterprophet oder Windzeiger zu benutzen. Der Vogel ward zu diesem Zweck nicht ausgestopft, sondern nur seiner Eingeweide beraubt, mit gewissen Specereien einbalsamirt und dann an einen Faden an der Decke aufgehängt. Seine Drehungen wurden bei geschlossenen Thüren und Fenstern aufmerksam beobachtet, bis der Schnabel anhaltend nach einer Richtung zeigte. Aus dieser Himmelsgegend mußte unfehlbar demnächst der – Wind kommen.

Noch heutzutage pflegen Freunde altenglischer Sitte in ihren Landhäusern am See einen Eisvogel unter der Decke, wenn auch nur als Curiosität, aufzuhängen. – Den Einsender erinnert diese angebliche Eigenschaft eines getrockneten Vogels immer an den empfindlichen Seehundskoffer jenes quiescirten Schiffscapitäns, welcher (der Koffer nämlich) bei eintretender Fluth regelmäßig sein Haar aufsträubte, gegen Eintritt der Ebbe aber wieder spiegelblank niederlegte.



Vom Eck- und Edelstein der Deutschen.
Von Karl Kuh in Nassau an der Lahn.


Unvergessen in der großen Geschichte der Entwickelung Deutschlands und auf immer mit ihr verknüpft ist der Name des Mannes, der ein Recht hatte auf die Ehre, als „des Rechtes Grundstein, Bösen Eckstein, der Deutschen Edelstein“ gepriesen zu werden. Was Karl Freiherr von und zum Stein als Staatsmann hat und was er als solcher gethan und wie er seinen mächtigen, durch und durch deutsch gesinnten Geist auf König Friedrich Wilhelm den Dritten und Kaiser Alexander hat einwirken lassen, das ist sattsam in der Geschichte Deutschlands verzeichnet und wurde auch von der Gartenlaube schon in ausführlichen Artikeln des Jahrganges 1859 geschildert.

Angesichts der durch Stein verherrlichten und geweihten Punkte unseres Städtchens Nassau und einem Bedürfnisse unseres Herzens folgend, versuchen wir jedoch hier, seine Persönlichkeit und was damit unmittelbar zusammenhängt, den Enkeln näher zu bringen, und dies gerade zu einer Zeit, da dasjenige zur lebensvollen Wirklichkeit gekommen ist und kommen wird, was er angestrebt, und da man beschäftigt ist, ihm ein Denkmal an dem Orte zu setzen, wo seine Wiege gestanden.

Stein war mittlerer Größe, mehr kurz und gedrungen als hoch und schlank, starken Leibes mit breiten Schultern, fester Stellung und gleichen Schrittes. Auf diesem Leibe ruhte ein stattliches Haupt mit breiter, sehr zurückgeneigter Stirn, einer mächtigen Adlernase, einem fein geschlossenen Munde und einem ein wenig zu langen und spitzen Kinn. Das Auge war braun, klein und scharf und funkelte mehr, als daß es leuchtete. In der Regel sprach dieses Auge Freundlichkeit und Treue aus; aber wenn der Mann in sehr ernster und gar, wenn er in zorniger Stimmung war, konnte es fürchterlich blitzen. Das war das Besondere an ihm, daß sich auch bei der heftigsten Seelenbewegung auf seinem Gesichte gleichsam zwei verschiedene Menschen abspiegelten. Seine Stirn, meistens auch sein Blick, wurden von dem Nebelgewölk des [392] Verdrusses oder vollends von den düsteren Donnerwolken des Zornes selten überzogen. Dort leuchtete fast immer der klare, heitere Himmel eines herrschenden, bewußten Geistes; unten aber, um Mund, Wange und Kinn, zuckten die heftigen empörten Triebe, die wohl an einen Löwengrimm gemahnen konnten. Fast immer trat er die Menschen, auch die gewöhnlichen, die nur Gewöhnliches zu bringen und vorzutragen hatten, mit sehr freundlichem Ernst an; aber seine Geberde erfüllte doch die meisten mit Blödigkeit und Verlegenheit. Die Leidenschaftlichkeit seiner Natur gab ihn wohl auch mitunter dem Jähzorn preis, doch war er sich dessen durchaus bewußt und klagte sich dann selbst über alle Gebühr an, wie es denn seine Art war, als ein wahrhaft demüthiger und rechtschaffener Mann seine Fehler nicht nur anzuerkennen, sondern auch wieder gut zu machen, sobald er glaubte, gute Menschen durch zu große Geschwindigkeit und Heftigkeit verletzt zu haben. Wie oft hat dieser fromme Mann, von früheren Jahren, besonders von seiner Jugend sprechend, im Bewußtsein dieser seiner Leidenschaftlichkeit und anderer angeborenen Feuertriebe gesagt: „Der Mensch soll mit seiner Natur nicht prahlen, wir sind alle arme Sünder. Aus mir hätte ein Bösewicht werden können, hätte eine fromme Mutter und eine fromme Schwester (Marianne) meinen Knaben- und Jünglingsjahren nicht Zügel angelegt.“

Mochten ihn Andere an Kenntnissen und Geschicklichkeiten übertreffen, Etwas war in seinem Geiste, was so Manchem fehlte: Stein war in jedem Augenblick voll und ganz, was er war, er hatte in jedem Augenblick seine Waffe fertig bei sich; in hellen, frischen Stunden blitzte nicht blos Verstand, sondern auch Witz um Witz aus seinem Munde. Solcher Natur gemäß waren Sprache und Rede; festgeschlossen und kurz floß es ihm von den Lippen, selbst in heftiger Aufregung und im zornigen Muthe purzelten und stürzten seine Worte niemals unordentlich durcheinander. Gradaus! und Graddurch! war sein Wahlspruch. Muth und Wahrheit fanden bei ihm immer den rechten Ausdruck und die rechte Rede; diese hätten nimmer krumme, verschlungene Pfade gehen und für alle Schätze der Welt nicht Ja und Nein willkürlich wechseln können.

Zur Illustration dieses seines eigenartigen Wesens zeichnen wir einige Züge. Bei einem Aufenthalte in Rom hielt Stein dem Staatsrath Niebuhr aus Berlin, mit dem er in der dortigen preußischen Gesandtschaftscapelle das heilige Abendmahl zu genießen gedachte, auf dessen Entschuldigung, daß er durch erhaltene Briefe aus Berlin in gereizter Stimmung sei, vor: „Ach was, das Evangelium befiehlt, man soll seinen Feind nicht hassen,“ als ihm jedoch Niebuhr in’s Wort fiel: „Aber hegen Eure Excellenz keinen Haß gegen den Grafen M.?“ entgegnete er:

„Haß? Nein; aber wenn ich ihm auf der Straße begegnete, würde ich ihm in’s Angesicht speien.“

Als einst Fürst W. sich bei Stein zum Besuch meldete, ließ dieser ihm sagen: „Der Fürst mag kommen; aber er wird mir’s nicht übelnehmen, wenn ich ihn die Treppe hinunterwerfen lasse.“ Auf solche Einladung kam natürlich der Fürst nicht, den er wegen seines undeutschen Wesens und seiner Kriecherei nicht leiden konnte. – Einem Anderen, Obersteuereinnehmer Baron von G., der von ihm wegen Steuerbetrugs in’s Gefängniß gebracht worden, aber Wege gefunden hatte herauszukommen, und der sich ihm mit den Worten vorgestellt: „Ich wollte mir die Freiheit nehmen, mich Eurer Excellenz zu zeigen, Seine Majestät der König haben die Gnade gehabt, mich wieder zu rehabilitiren,“ beförderte er mit den Worten: „Geh’ Er, beschmutze Er mir die Augen nicht“ – und den Stock nehmend – „fort, die Treppe wieder hinunter, ich will Ihm zeigen …“ zum Hause hinaus.

Er hatte Etwas von einer Sturmwindsnatur; er mußte rein fegen und niederstürzen, er mußte das Unlautere rasch und unwiderstehlich von sich entfernen, wo es ihm auch begegnete.

So war Stein einmal in Frankfurt bei seinem Banquier Metzter und Comp. im Garten beim Kaffee, als Fürst W. gemeldet wurde. Stein steht auf, läßt anspannen und eilt mit den Worten: „Mit solch einem verfluchten Räuber sitze ich nicht in demselben Zimmer!“ an W. vorüber. Fürst W. hatte sich nämlich, gleich den französischen Generälen, in dem Schlosse (des Herzogs von Braunschweig) Oels in Schlesien das herzogliche Silberzeug gegen einen Schein vom Schloßverwalter ausliefern lassen.

In Nassau besuchte ihn 1825 Graf G. aus Petersburg, der einen im Auslande weilenden, der Verschwörung angeklagten Russen hatte mit zum Tode verurtheilen helfen. Stein fragte G., ob der Verurtheilte schuldig gewesen. Als dieser antwortete: „Eigentlich nicht, wir wußten, daß er im Auslande sicher war,“ stand Stein auf und sagte mit eisiger, verachtender Kälte: „Pfui, Herr Graf, pfui, pfui, Herr Graf!“ und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, als wolle er abwarten, allein zu sein. Der Eintritt eines Hausgenossen gab dem Grafen die gewünschte Gelegenheit, ohne Abschied aus dem Zimmer zu kommen.

Bei solchen Aufwallungen des höchsten Zornes wurde Stein’s Nase weiß und sein Ungestüm drohte ihn wohl manchmal mit fortzureißen. Diese rücksichtslose Ehrlichkeit der Meinung zeigte er aber nicht nur seinen hochgeborenen Standesgenossen gegenüber; er scheute sich ebensowenig, dem Herzog von W., der mit den heiligsten Dingen gern spielte und sich frivole Redensarten in Gegenwart junger Officiere erlaubte, zu sagen: „Ich halte es nicht für passend, daß ein deutscher Fürst schmutzige Gespräche vor jungen Officieren führe,“ worauf der Herzog verstummte, um erst nach einigen Minuten die Unterhaltung wieder fortzusetzen. So konnte „des Rechtes Grundstein und des Bösen Eckstein“ auch mit Fürsten wie ein grimmer Leu umgehen.

Der kühne Recke durfte auch einer russischen Kaiserin, der Mutter Alexander’s, einer geborenen Prinzessin von Württemberg, die bitterste Wahrheit sagen. Nach der Schlacht bei Borodino äußerte sie in Stein’s Gegenwart: „Wenn jetzt noch ein französischer Soldat über die deutschen Grenzen entrinnt, so werde ich mich schämen, eine Deutsche zu sein.“

Stein wurde im Gesicht roth und an der Nase weiß, trat vor sie hin, und des deutschen Volkes „Edelstein“ sprach: „Eure Majestät thun sehr unrecht, solches hier und zwar über ein so großes, treues und tapferes Volk zu sprechen, welchem anzugehören Sie das Glück haben. Sie hätten sagen sollen: Nicht des deutschen Volkes schäme ich mich, sondern meiner Brüder und Vettern, der deutschen Fürsten. Hätten die deutschen Fürsten ihre Schuldigkeit gethan, nimmer wäre ein Franzose über die Elbe, Oder und Weichsel gekommen.“

„Sie mögen Recht haben, Herr Baron,“ antwortete die Kaiserin, „ich danke Ihnen für die Lection.“

Daß aber unser Held seine Natur auch sänftigen konnte, beweist folgende Thatsache. Goethe war 1815 nach Nassau gekommen und in der „Krone“ abgestiegen. Kaum vernahm dies Stein, so begab er sich selbst hin und holte den sich sträubenden Goethe ab in’s Schloß. Die beiden würdigen alten Herren gingen mit der aufmerksamsten und vorsichtigsten Zärtlichkeit nebeneinander her, ohne gegeneinander zu stoßen. Goethe war äußerst liebenswürdig und freundlich mit Allen. Stein, dem Goethe’s Wort: „O ihr Guten, schüttelt an euren Ketten, ihr werdet sie nicht zerbrechen, der Mann“ – er meinte Napoleon – „ist euch zu groß!“ wohl bekannt war, und der in den politischen Ansichten durchaus nicht mit ihm übereinstimmte, war ungewöhnlich sanft und mild, hielt den kühnen, geschwinden Athem seiner Natur an und zügelte den Löwen, daß er nimmer herausguckte. Des andern Tages ließ er anspannen und fuhr mit dem Gaste gen Köln, wo sie den Dom besuchten, und wo er zu dem nachgereisten Arndt sagte: „Nur nichts Politisches! Das mag er nicht. Wir können ihn da freilich nicht loben; aber er ist uns doch zu groß.“

Doch genug der heroischen Züge. Kehren wir in sein häusliches Leben nach Nassau zurück. Nach 1815 besuchte er öfter Nassau und seit 1824 wechselte er seinen Aufenthalt zwischen Nassau und Kappenberg. Den Sommer pflegte er dort und den Winter hier zuzubringen. In Nassau beschäftigte er sich, außer mit den Verfassungsangelegenheiten von Württemberg, Baden, Kurhessen und Frankfurt, mit dem Umgang und Briefwechsel mit bedeutenderen Männern, sowie mit dem Quellenstudium der deutschen Geschichte und lehrte nach dem, was er sich aus derselben niedergeschrieben hatte, seine Töchter und deren Gespielinnen.

Außerdem gaben ihm Schloß, Felder, Wiesen und Wälder, welch letztere er seine besondere Aufmerksamkeit widmete, Beschäftigung nach außen. Seine Güter im Großen und Kleinen waren meistens verpachtet. Den eigentlichen Ackerbau, obgleich er die edle Kunst sehr liebte, hatte er in den Tagen der Jugend und seiner vollen Manneskraft nicht Zeit gehabt zu lernen, noch zu üben; aber den Baum, den Wald, den liebte, den pflegte und beschaute er meistens tagtäglich mit liebenden Augen und besprach seinen Bau und seine Verpflegung und seine Verschönerung mit [393] seinen Förstern und Jägern. Wie oft verweilte er in Gegenwart seiner Freunde bei einem Apfelbaum, bei einer Lärche oder Tanne und erzählte, wie er als kleiner Knabe dabei gewesen, als die selige Mutter und die Schwester Marianne sie haben pflanzen lassen. Seine Abendspaziergänge gingen meistens in den von dem Abendroth beleuchteten Wald oder unter schattigen Bäumen auf Feldern und Wiesen hin, wo er seine einzelnen Lieblingsruheplätze hatte.

Stein’s Haus war ein gastliches für die Nachbarn, für die Männer in Geschäften, die mit ihm irgendwie zu thun hatten. Jeder, der zur Tischzeit in einem Geschäfte oder zu Besuch kam, fand seinen Platz am Familientisch wie bestellt. So lebte er nicht nur mit den unterstehenden Pfarrern seines Patronats, mit seinen Rentmeistern, Förstern, den Beamten, Stadtschultheißen und Schöffen von Nassau und anderen anliegenden Städtchen, sondern auch mit Brückenbauern, Schlossern, Zimmerleuten, die in ihrem Handwerk vorzüglich waren. Sie saßen gelegentlich mit Excellenzen und Grafen an demselben Tische. Stein hatte da nichts von jener falschen, nichtigen Art Freundlichkeit, von jener jämmerlichen Vornehmheit, welche unwillkürlich jeden Anwesenden zu heuchlerischen und lügenhaften Verneinungen nöthigt und erniedrige, knechtische Unterwürfigkeit haben will; hier war auch keine Spur von einem vornehmen Junker, sondern er war in That und Wahrheit der alte, freiherzige, biedere, freigeborene deutsche Ritter.

Jeden Sonntag besuchte er mit seinen Kindern und Hausgenossen den Hauptgottesdienst in Nassau. In Kappenberg fuhr er alle vierzehn Tage in die Kirche nach dem zwei Stunden entfernten Lungen. Den ihm von seiner Mutter und Schwester eingeflößten Glauben hielt er in allen Lagen fest und fand in ihm bei eigenem und des Vaterlandes traurigem Geschick Trost und Erhebung. Maulchristenthum fand bei ihm keine Gnade; breites Gespräch über Religion mochte er überhaupt nicht. Wenn Besucher in der Frühe in sein Studirzimmer kamen, wo unter weltlichen Büchern etwa Bibel und Gesangbuch aufgeschlagen waren, so machte er sie flugs zu und legte sie weg. Begegnete ihm auf dem Spaziergange ein Krüppel oder ein Bettler, der die Hand nach ihm ausstreckte, so gab er still eine Gabe und sprach kein Wort. Und wenn ein wichtiges Geschäft nur einigermaßen zu seiner Zufriedenheit abgemacht war, so sagte er fast jedesmal zu seinen Beamten: „Nun wollen wir auch für die Armen sorgen; die Armen müssen auch was haben.“

Mit seinen Nassauer Mitbürgern lebte er ein Gleicher unter Gleichen. Er konnte es nicht leiden, wenn Jugendgespielen ihn „Excellenz“ anredeten. „Ach was, dummes Zeug, nenn’ mich Karl und sag’ Du,“ war die gewöhnliche Abweisung. Gar oft neckte er, hatte es aber gern, wen man ihm nichts schuldig blieb. Von den Schuljungen, die er bei Begegnung anredete, liebte er kurze, rasche Antworten.

Die Nassauer hatten ihn wegen seiner Leutseligkeit und Wohlthätigkeit sehr gern und zollten dem „Minister“, wie sie ihn nannten, alle Ehrfurcht. Selten trat ihm der Einzelne wie der Stadtvorstand hemmend in den Weg. Als er am 10. Juni 1814 in Nassau eintraf, bereiteten ihm die Bürger einen festlichen Empfang. Zwei „Kosaken von der Lahn“ mit falschen Langbärten und langen Lanzen erwarteten ihn um Mitternacht auf der Landstraße. Auf ein gegebenes Zeichen brannte man auf dem kleinen Haus der Burg Stein ein Feuerwerk ab, läutete man die Glocken, waren die Häuser erleuchtet und jubelten die Einwohner. So zog er durch die Reihen des Landsturms in die Stadt ein. Es war ein Festtag und es wurde beschlossen, den 10. Juni jedes Jahres festlich durch ein Scheibenschießen und einen Aufzug der Schützengesellschaft zu feiern. Stein schenkte der Gesellschaft tausend Gulden, um Denkmünzen und Preise zu vertheilen.




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
Nr. 6. Rheinfahrten. Von Mainz nach Bingen.

„Du trautes Leben an dem Rhein,
Von tausend Reizen übergossen,
Wie hab’ bei deinem Feuerwein
Ich deiner Wonne Gluth genossen!
Wie hat mich frisch dein Hauch umrauscht,
Zu deinen Höh’n der Fuß getragen!
Wie hab’ ich trunk’nen Sinns gelauscht
Auf deine Lieder, deine Sagen!“
 G. Freudenberg.


Wollen uns die Freunde der Gartenlaube auf einer Fahrt den Rhein hinunter begleiten? Eine Fahrt auf Deutschlands schönstem Strom sollte wohl der Mühe lohnen, besonders wenn wir dem Leser am trauten Ofenplätzchen oder im bequemen Lehnsessel die Sorge für Weiterbeförderung ersparen. Die Gartenlaube ist ein geräumig Schifflein, hat bekanntlich gar viele Passagiere aus aller Herren Länder an Bord, und – wem die Fahrt nicht behagt, dem bleibt’s ja unbenommen, an der nächstbesten Station auszusteigen – indem er unsere Schilderung überschlägt. Wir wollen dem Leser nicht Reiseführer- und Localnotizen bieten, sondern „Erwandertes“ vom „Strome der deutschen Poeten“ erzählen.

Mainz, das goldene, die Aurea Moguntia, sei unser Abfahrtsziel. Wohl verdient die Stadt mit vollstem Rechte ihr „goldenes“ Prädicat! Golden perlt ihr Wein, goldener sind der umgebenden Landschaft bezaubernde Reize, golden strahlte ehedem der Stadt bürgerlicher Reichthum und fürstlicher Glanz, „golden“ ist die Mainzer „Luft“, da selbst eine Straße noch aus den Zeiten des Mittelalters diesen Namen führt; die freundliche Stadt ist in Wahrheit das „goldene Herz“ des Rheins und „goldig“ sind vor Allem sie – die Mainzer Frauen und Mädchen. Humor und eine stets rosige Weinlaune, gepaart mit Gastfreundschaft, sind die charakteristischen Eigenschaften des Mainzers, und die goldene Stadt, wie sie da liegt an der Pforte des herrlichen Rheingaus mit den blaudämmernden Bergen, man könnte sie selbst für wonnig, berauscht vom Dufte der heimischen Reben, halten.

Ob die goldenen Initialen der ersten Mainzer Druckwerke, ob die goldene Kugel am römischen Altare eines Denkmals am Drusenloch, ob der Bischof Aureus (der Goldene) der Stadt zu ihrem Beinamen verholfen, wir halten es zunächst mit den „goldigen“ Frauen und Mädchen Moguntia’s. Sie haben ihren Poeten gefunden wie keine andere deutsche Stadt, denn ihnen sang Heinrich Frauenlob begeistert seine Strophen, und dafür trugen ihn, nach Albert’s von Straßburg lateinischer Chronik, die Frauen und Mädchen von Mainz zu Grabe und träuften, wie K. Simrock singt,

„auf die Dichtergruft des Weines solche Fülle,
Ein gold’ner See mit würz’gem Duft umwogte seine Hülle,
Der ganze Kreuzgang schwamm in Wein, es war so mancher Eimer;
Noch duftet um sein’ morsch’ Gebein der edle Laubenheimer.“

Heute wäre Mainz mit größtem Rechte das „eherne“ zu nennen. Mainz ist hessische Stadt und preußische Festung – die Wacht am Rhein – die Grenze am Rhein. – Von dem traurigen Zustande südstaatlicher Heeres-Institutionen hatten die guten Mainzer im Jahre des Heils 1866 die sprechendsten Belege vor Augen. Achtzehntausend Mann deutscher Truppen aus Kurhessen, Nassau, Sachsen, Weimar, Oesterreich und Württemberg hielten die Stadt und Festung besetzt, und um die Thore streiften die Patrouillen zweier incompleter preußischer Landwehr-Bataillone, zum Theil ohne Seitengewehre, und hielten die Festung im Schach.

Vom Fort Alexander, auf der sogenannten Petersau, donnerten Kanonen jeder Größe auf die harmlose Landwehr zweiten Aufgebots, und von den Erbenheimer Höhen erwiderten zwei, sage zwei alte preußische Infanterie-Bedeckungsgeschütze die furchtbare Kanonade, und das – war die Belagerung von Mainz im Jahre 1866. An dem Thore des Festungsbrückenkopfes zu Castel, gegenüber der Stadt Mainz, stand (und steht noch) unter martialischen Emblemen des Krieges in mächtigen Buchstaben sehr bezeichnend: „Cura confoederationis conditum (1832)“, erbaut durch die Sorgfalt des Bundes – und für den Bund mußte die Festung geschont, dem Lande mußte sie erhalten werden.

Nächtlich flogen Leuchtkugeln und Hohlgeschosse herüber – hinüber, ein prächtiges Feuerwerk, dem die preußischen Landwehrmänner auf dem rechten Rheinufer vergnüglich zusahen. Um die Festung Mainz am linken Rheinufer aber zeigte sich nicht ein

[394] Mann feindlichen, das heißt preußischen Militärs: Cura confoederationis conditum – durch die Sorgfalt des Bundes!

Zur Zeit, als Nicolaus Becker sein Rheinlied: „Sie sollen ihn nicht haben“ sang und die ganze deutsche Nation die im Grunde doch wenig poetischen Verse von den „gier’gen Raben“ singend weiter und weiter trug, ereignete sich zwischen Mainz und Biebrich, dem nächsten Orte auf dem rechten Rheinufer ein kleinstaatlicher Scherz drolligster Art. Das linke Rheinufer – hessendarmstädtisch – und das rechte – nassauisch – stritten sich um das Fahrwasser des Rheines und versuchten durch Uferbauten und Abdämmungen den Strom in veränderten Lauf zu drängen. Die abenteuerlichsten Versuche wurden in’s Werk gerichtet, und eines Abends (am 1. März 1841) lichtete bei Mainz eine „nächtliche Flotte“ von ungefähr sechszig Rheinschiffen die Anker und schwamm stromab. Die Schiffe waren mit Steinen jeden, auch größten Calibers befrachtet, und als sie Biebrich gegenüber das festgesetzte Ziel erreichten, spieen die steinbeladenen Ungeheuer ihren Inhalt aus und pflasterten mit diesen Steinmassen das keusche Bett des deutschesten Stromes, nur – um eine harmlose Fluß-Correction zu Wege zu bringen.

Darauf beziehen sich die oft mißverstandenen Verse Heinrich Heine’s:

„Zu Biebrich hab’ ich Steine verschluckt,
Wahrhaftig, die schmeckten nicht lecker!
Doch schwerer liegen im Magen mir
Die Verse von – Nicolaus Becker!“

Die Sache konnte nicht verschwiegen bleiben, führte zu Proceß und Streitigkeiten zwischen den betreffenden Regierungen, und obwohl der Rhein sich von seinem selbstgewählten Pfade nur unbedeutend abbringen ließ, mußte die hessendarmstädtische Regierung die Steine wieder – herausholen lassen. Der Nibelungenschatz liegt im Rhein – und harrt seines Finders – jener nebelnächtlich versenkte Steinschatz ward am Rhein der „Nebeljungenschatz“ genannt.

Imponirend und malerisch streckt sich das Biebricher Schloß am Ufer des Rheins hin, eine frischgrüne Allee überragend. Auf dem Dachrande des Schlosses zeugen noch heute zerschmetterte Steinfiguren mit fehlenden Armen und Köpfen von der Beschießung des Schlosses durch die Franzosen im Jahre 1793, deren Geschütze auf der gegenüberliegenden Petersau – Auen werden die Inseln des Rheines sämmtlich genannt – ihre mörderischen Mündungen gen Mainz und die Umgegend richteten. Die stattliche Caserne dicht am Ufer des Rheines hat die preußische Regierung zu einer Unterofficiersschule eingerichtet, welche über fünfhundert Zöglinge zählt.

Jetzt ist das Biebricher Schloß Privatbesitz eines depossedirten Regenten, der sich einst den reichsten Fürsten nennen konnte, wenn er seines kleinen blühenden Ländchens gedachte. Und doch war kein Friede in diesen Räumen. Der Streit mit seinem Volke, genährt durch verblendete Rathgeber, ließ den Fürsten nicht zur Ruhe im eigenen Lande kommen. Auch die Gartenlaube hat des Herzogs von Nassau erwähnt und seine politischen Fehler offen und scharf beleuchtet. Seiner Wohlthaten ist wenig Erwähnung gethan, seiner Liebe zu den Seinigen hat selten Jemand gedacht, und mancher Verleumdung, hervorgerufen durch politische Erregung, ist der Mensch über dem Regenten zum Opfer gefallen. Nie hat sich der Herzog von Nassau, wie so oft behauptet wurde, an den Einnahmen des Spiels in Wiesbaden bereichert, nie auch nur den unbedeutendsten Vortheil für seine Person und seine Privatcasse aus diesen Einkünften gezogen, und als sein Geschick ihn aus dem Lande trieb, hat der Mensch im Regenten nach wie vor die unendlich zahlreichen Bittgesuche um Unterstützung auch in der Ferne fürstlich berücksichtigt, selbst in der Zeit vor dem Abschluß jenes Vertrages mit Preußen, in welchem er vielleicht selbst nichts sein Eigen nennen konnte. Deshalb erregte das günstige Abkommen, welches die Krone Preußen in edelster Weise dem entthronten Fürsten zugestand, keine Mißstimmung bei der Bevölkerung, und hat die lindernde Zeit einen Schleier über die Ereignisse jener Tage gebreitet, so wird auch Herzog Adolph, mit dem Geschicke versöhnt, einer heiteren Zukunft entgegenschauen können.

Nicht allzufern von Biebrich bildet – die Extreme berühren sich – die ehemalige Bismarcks-Au, nunmehr mit dem Lande verbunden, einen neuen Winterhafen des Dorfes Schierstein. Die Bezeichnung Bismarcks-Au, die halb schon der Vergessenheit anheimgefallen war, wird vielleicht jetzt wieder zu ihrem Rechte kommen, wenn auch der Name der Insel zu dem des bedeutendsten Staatsmannes unserer Zeit in keiner Beziehung steht – er stammt von einer rheinischen Familie Bismarck-Schierstein, den früheren Besitzern der Insel. Die Auen des Rheines führen zum großen Theil die Namen begüterter rheinischer Adelsgeschlechter; so heißt die Rettbergs-Au bei Biebrich nach der Familie von Rettberg, die Langwerther Au nach den Langwerth von Simmern, und fällt dem Rhein-Reisenden die Bezeichnung westphälische Au am Mittelrhein auf, so denke er beileibe nicht an die Provinz Westphalen, sondern an den Grafen von Westphalen, der diese Insel aus der Taufe hob.

Das eigentliche Rheingau beginnt, der wunderbare Weingarten Deutschlands. Saftige Waldgebirge in der Ferne, näher sanft anstrebende Rebenhalden rahmen den Fluß ein. Das linke Rheinufer schmückt das Bild durch dunkelgrüne Tannenwaldungen.

Hier war – bei dem allen Rheinreisenden bekannten Orte Nieder-Walluf – die mittelalterliche Grenze des Rheingaus, eingeschlossen durch die eigenthümlichste Befestigung, welche die Geschichte überhaupt kennt. Das Gebück, ein künstlicher Verhau durch Strauchwerk, einzelne Bäume und undurchdringliche Waldung gebildet, gedeckt durch eine Anzahl (sechszehn) Befestigungsthürme, wehrte Jedem den Eingang, und Beschädigung dieses natürlichen Grenzwerks, durch Beseitigung einzelner Sträucher und Zweige, strafte das mittelalterliche Gesetz – mit dem Tode. Bernhard von Weimar durchbrach 1631 zuerst diesen künstlichen Verhau. Reste der Bedeckungsthürme sind noch vorhanden. –

In der Ferne, hoch über den Rebhügeln des rechten Rheinufers, ragt der spitze Kirchthurm des Dorfes Rauenthal empor. Es muß den schlichten Bewohnern des idyllischen Dörfchens eine seltene Genugthuung gewähren, daß ihr Rebensaft den ritterlichen Kämpen von Steinberg und Johannisberg den Rang auf allen neueren Ausstellungen (1863 Wiesbaden und Hamburg, 1865 Köln, 1867 Paris) streitig machte.

Darum sei auch an dieser Stelle des rüstigen Strebens, des Fleißes dieses rührigen Winzerdörfleins anerkennend gedacht. Vergessen dürfen wir dabei des Mannes nicht, der als kühner Streiter mit Muth und Capital für die Güte des Rauenthalers aller Orten in die Schranken trat. Es ist dies der Procurator August Wilhelmj in Wiesbaden, der Vater des in Deutschland wohlbekannten, in Leipzig durch David gebildeten Violinvirtuosen A. Wilhelmj. Vater und Sohn erinnern an Giovanni Battista Viotti (1753–1824), den bekannten Geigenkönig in London, der seine wunderbaren Violincompositionen als passionirter Weinhändler – im Keller schrieb. Gott Bacchus hob Viotti’s Kinder aus der Taufe. Wilhelm’s unermüdlichem Streben verdanken die Rauenthaler Weine ihre jetzt unbestrittene Anerkennung – ihm gebührte ein Denkmal an den Ufern des Rheines.

Rheingau – Weingau! Wir sind jetzt mitten in dem gesegneten Landstrich, dem Deutschland den Ruf seiner Weine verdankt.

„Ein Eden, lebt das Rheingau in aller Dichter Mund,
Als deutschen Landes Weingau preis’t ihn das Erdenrund!“

Und dieses paradiesische Stückchen Erde bewohnt ein fleißiger, rühriger Menschenschlag, voll Humors und frischen Lebens, von dem Engelmann sagt: „Die Rheingauer gehören nicht zu den vielgewanderten deutschen Volksstämmen und behielten daher lange ihren Urcharakter. Redlichkeit, Treue, reines Naturgefühl und offene derbe Wahrheitsliebe sind ihnen angeboren.“ –

Es folgen jetzt die anheimelnden Namen der eigentlichen Weinorte schnell aufeinander. Hattenheim, Gräfenberg, Marcobrunn, Ingelheim, Geisenheim und Rüdesheim kennt Jeder, selbst wer den Rhein nie bereiste, und auch der Nichtdeutsche hat Achtung vor dem verbürgten Ruf dieser trefflichen Weingelände. Der gute Wein dieser bevorzugten Orte giebt wohl hier und da Veranlassung zu Neckereien und Disput unter den Ortsbewohnern. So ließen die Gemeindevorsteher des Oertchens Erbach unlängst den Markbrunnen (Marcobrunn) erneuern und mit einer Inschrift versehen: „Marcobrunn, Gemeinde Erbach“. – Die Gemarkung Marcobrunn führt nämlich ihren Namen von einem klaren Quell guten Bergwassers, der hier inmitten der Weinberge entsprudelt. Die Bezeichnung Marco-Brunnen rührt offenbar von „Mark“ (Grenze) her, während Andere dem St. Marcus eine Pathenstelle zuschieben, das Volk selbst aber nennt ihn einfach den Marktbrunnen; der [395] Berg, dem der Quell entspringt, heißt Strahlenberg. Nachdem nun die Erbacher ihre Inschrift angefertigt, und dieselbe vor Aller Augen enthüllt hatten, erbosten sich darob die angrenzenden Hattenheimer, in deren Gemarkung der größte Theil des genannten renommirten Weinbezirks liegt; sie verfaßten daher folgende Gegeninschrift:

„So ist es recht und so soll es sein,
Für Erbach das Wasser, für Hattenheim den Wein!“

Seit Kurzem ist nun auch ein Stück amerikanischen Verkehrs und Treibens auf den Rhein verpflanzt. Die Directionen der vereinigten Kölner und Düsseldorfer Dampfschifffahrts-Gesellschaften haben Dampfboote bauen lassen, die, getreu nach amerikanischem Muster ausgeführt, allen Raum auf Deck haben und dem Reisenden eine unbeschränkte Rundschau auf die malerischen Stromufer gestatten. Der Zudrang zu diesen Booten war in den letzten Sommern massenhaft; die Zahl der von der Gesellschaft ausgegebenen Fahrkarten stellt sich auf ungefähr ein und eine halbe Million im Laufe eines Jahres.

Wie die Perle in verschlossener Schale ihren Glanz verbirgt, so versteckt der Rhein seine strahlendsten Edelsteine in bescheidenem Dunkel, in stillen Seitenthälern. Unweit Eltville, in dem als Wallfahrtsort viel besuchten Dorfe Kidrich erheben sich zwei Kirchen gothischen Styles, wie sie selten schöner und reiner in Anlage und Ausführung vorhanden sind. „Wie das Kind bei der Mutter“ steht die St. Michaelscapelle mit dem gothisch durchbrochenen Thurmhelm neben der größeren St. Valentinskirche, deren treffliches Portal, Façade und kunstvolles Chorgewölbe Simrock hauptsächlich hervorhebt.

An einem heißen Sommerabende wanderte ein Engländer, als bescheidener Fußgänger, dem Dörfchen Kidrich zu. Nachdem er erstaunt die beiden Kirchen betrachtet und unter Leitung des Ortslehrers die Orgel der Valentinskirche selbst probirt und gespielt, bittet er den Pfarrverwalter des Ortes um ein Nachtquartier. Entzückt von den beiden Kirchen schwärmt unser Englishman, nicht ohne Kunstverständniß, wenn auch in sehr mangelhaftem Deutsch, von dem stylgerechten Bau der beiden Gotteshäuser, dem kunstvollen Schnitzwerk der Chorstühle, dem reichen Blätterwerk am Thurm, den trefflichen Spitzbogen der Fenster und dem vollendet schönen Ton der Orgel in St. Valentin. Er verweilt mehrere Tage in Kidrich, beschwört den Pfarrverwalter, alles unnöthige Beiwerk an Bretterverschalung und sinnloser Zierrath, die sogar den prächtigen Lettner verunstaltete, in den Kirchen zu beseitigen, und erbietet sich, die Orgel von St. Valentin auf eigene Kosten herstellen zu lassen. Mit diesem Versprechen scheidet er und läßt bis zum nächsten Lenze den geistlichen Freund in Kidrich ohne Nachricht. Dann aber erscheint er wieder und zwar begleitet von einem Orgelbauer aus Brüssel, der indeß bald erklärt, die Orgel nur in seiner Werkstatt in Belgien repariren zu können. Der Pfarrverwalter, in gutem Glauben an des Engländers Rechtlichkeit, gestattet, daß das Orgelwerk aller unnöthigen Verschalungen entkleidet wird, und es entpuppt sich in der That ein Instrument, daß der belgische Künstler des Entzückens und Lobes kein Ende findet. Engländer und Orgelbauer entfernen sich mit der Orgel, und – man male sich den Schrecken und die Angst des Pfarrverwalters – alle Nachrichten bleiben von da ab aus, die Orgel kam vorläufig nicht wieder. Da, eines Tages hält das Werk neu und stattlich, mit ihm der Engländer, seinen Einzug in Kidrich. Mister Sutton, so heißt der originelle Renovator, erklärt seinen Entschluß, die Kirche vollständig herstellen zu lassen und wer heute, nach kurzer Frist, nach Kidrich kommt, mag ob der Munificenz staunen, die ein Fremdling unseren heimischen Baudenkmalen angedeihen läßt. Vollendet ist St. Michael, fast vollendet die Restauration der St. Valentinskirche, und Hunderttausende hat Mister Sutton zur Herstellung dieser Prachtbauten verwendet. Das Schnitzwerk der Stühle, eine Arbeit des Meisters Erhard Salnecker von Abensberg (1510), die Malerei der Deckengewölbe, sämmtliche Bildhauerarbeit ist so stylgerecht restaurirt und hergestellt, daß nunmehr beide Kirchen als Muster für jeden Bautechniker gelten können. In Kidrich selbst aber erheben sich zwei neue Gebäude, ein Maler- und ein Bildhauer-Atelier, welche treffliche Künstler beschäftigen und den Beginn einer Kunstschule für das Rheingau bilden. Denn so bald die Herstellung der Kidricher Bauwerke ganz beendet, will Mister Sutton seine segensreiche Thätigkeit auch auf die vielen anderen Baudenkmale des Rheingaus erstrecken. Ehre dem bescheidenen Kunstfreunde, der bei den mäßigsten persönlichen Ansprüchen an das Leben so reiche und allgemeine Opfer bringt!

Aber siehe da! Schon haben wir Eltville, den Hauptort des Rheingaus, erreicht. Vielthürmig schaut das malerische Städtchen in die grünen Wellen des vorüberrauschenden Stromes. Wohl hat es der historischen Erinnerungen gar manche in seinen Chroniken verzeichnet, wenn auch seine Abstammung aus der Römer Zeiten (alta villa) sehr fraglich erscheint. Aus der carolingischen Zeit schreibt sich nach Simrock seine Gründung; um das Jahr 959 erscheint Eltville zuerst unter seinem lateinischen Namen. Was uns bei Eltville beachtenswerth dünkt, ist eine Erinnerung an Gutenberg, deren an anderen Orten noch wenig Erwähnung geschehen.

Als eben Gutenberg die Welt mit jener Kunst beschenkt hatte, die größere Revolutionen auf geistigem Gebiete zu Wege gebracht, als jahrelange Kriege auf politischem, bemächtigte Fust, sein Theilhaber und Genosse, sich der Werkzeuge des eigentlichen Erfinders auf eine eben nicht edle Art. Fust und Peter Schöffer, die Mitwisser der Erfindung und vielleicht auch die weiteren Ausbilder des Gußverfahrens der Gutenberg’schen Schriftgießerei, hatten Gutenberg zum Weiterführen seiner Erfindung Darlehen geleistet, für welche letzterer seine Werkzeuge zum Pfande schrieb. Um den Vortheil der Erfindung allein auszunutzen, verlangte Fust sein Darlehen just in dem Augenblicke zurück, als die gemeinschaftliche Druckerei gerade auf dem Punkte stand – einträglich zu werden. Gutenberg wurde beseitigt und Fust und Schöffer führten das Geschäft mit des Meisters Werkzeugen selbstständig fort, während Gutenberg durch Unterstützung des Mainzer Rathsherrn Conrad Hummer sein eigenes Druckhaus zu Mainz gründete. Da tauchten plötzlich in Eltville im Jahre 1462 drei Schüler Gutenberg’s, der Patricier Heinrich Bechtelmünze, dessen Bruder Nicolaus und Wiegand Spieß von Ortenberg, auf und gründeten in Eltville die zweite deutsche Buchdruckerei, indeß Gutenberg’s Druckerei bis 1465 in Mainz fortbestand.

An der Kirchhofmauer des Städtchens aber zeugt heute noch ein großer, glatt polirter Grabstein von Schiefer (Lei, nach rheinischem Ausdruck) für diese historisch interessante Thatsache. Er gilt einem Jakob von Sorgenloch, genannt Genßfleisch, einem Verwandten Gutenberg’s. Nach Simrock’s Forschungen ward dieses „Vetters Vermählung mit einer Tochter Heinrich’s Bechtelmünze für Gutenberg Veranlassung, sich am Abend seines Lebens dort niederzulassen“.

Aus der Druckerei dieses Bechtelmünze zu Eltville gingen, zum Theil mit Werkzeugen Gutenberg’s, mehrere höchst seltene Druckwerke hervor, so das Vocabulum latino-teutonicum. Das Druckhaus selbst war muthmaßlich die jetzige Frühmesserei. Wenige Jahre später gründeten die Kogelherren des nahe Klosters Marienthal mit den Eltviller Druckwerkzeugen eine Druckerei und cultivirten mit Erfolg diese „Teufelskunst“.

Dem Rhein ferner, in ein idyllisches Thälchen gebettet, liegt Kloster Eberbach, dessen fromme Insassen einst treffliche Seelsorger, aber offenbar noch bessere Winzer waren. Dicht dabei erheben sich die langgestreckten Gebäude der Irrenanstalt Eichberg, gegenüber ragt die Einfassungsmauer des Steinberg auf und aus der Ferne grüßt freundlich das Weindorf Hallgarten, wo von Itzstein, der badische Volksmann, seine letzten Jahre verlebte und starb. Die Gartenlaube hat kürzlich (Jahrgang 1868, Nr. 8) dieser interessanten Oertlichkeit ausführlicher gedacht.

Winkel, das langgestreckte, „durchaus nicht winkelhafte“, das – nach Goethe – „bis zur Ungeduld des Reisenden in die Länge gezogene“ Winkel, gewährt ein stattliches Bild vom Rheine aus. Es sind drei Ortschaften, die hier aneinander gereiht ihre Frontseiten dem Flusse zuwenden, malerisch gekrönt von der St. Aegidienkirche des mittelsten Ortes Mittelheim.

Für uns hat Winkel eine größere Bedeutung. Goethe weilte hier im Jahre 1814 und schrieb seine Notizen zur „Rheinreise“ und den Anfang der trefflichen Schilderung: „Das Rochusfest bei Bingen“, welche letztere er in Tannstädt vollendete. Er wohnte in dem Hause der „geliebten wie verehrten“ Patricier-Familie Brentano-Birckenstock (jetzt Brentano-Pfeiffer), und im selben Hause schrieb Bettina von Arnim, Clemens Brentano’s Schwester, ihre Briefe an Goethe nach Weimar. Die Briefe entstanden hier

[396]
Aus dem Passionspiel in Oberammergau 1870.
Christus.
Johannes.

Joseph Mair.
Christus.
Johann Zwink.
Johannes.

[397] im Jahre 1807, als Bettina im zweiundzwanzigsten Lebensjahre stand. Das Landhaus bewahrt im Goethezimmer, dem Zimmer, worin der Dichter siebzehn Jahre später wohnte, das bekannte Jagemann’sche Bild Goethe’s und einige Federzeichnungen von Goethe’s Hand, so eine in Farben colorirte Skizze von Frankfurt, der Vaterstadt des Dichters. Ueber der Thür des Goethe-Zimmers findet sich, in Metallbuchstaben aus Messing geheftet, eine Stelle aus den Horazischen Oden: „Pauperum tabernas, regumque turres!“ welche im Zusammenhang mit dem hier fehlenden Vordersatz (Pallida Mors aequo pulsat pede) in der Uebersetzung etwa sagen würde: „Der bleiche Tod betritt mit gleichem Fuße die Hütten der Armen und die Paläste der Könige.“ – Die Stelle selbst findet sich bei Horaz: Carm. I., 4, Vers 13 und 14.

Goethe verewigte sein trautes Winkel in den Versen:

„Wasserfülle, Landesgröße, heit’rer Himmel, frohe Bahn,
Diese Wellen, diese Flöße, landen auch in Winkel an –“

welche sich als Autograph unter der erwähnten Federzeichnung finden. Hier in Winkel auch fand das Stiftsfräulein Karoline von Günderode am 26. Juli 1806 sein tragisches Ende. In dem später erschienenen Briefwechsel der Bettina finden sich Andeutungen, die das tragische Geschick dieser romantischen Erscheinung erklären.

Karoline von Günderode, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Karlsruhe geboren, unter dem Namen Tian auch als Schriftstellerin bekannt, suchte den Tod, weil ihre glühende Neigung für den Philologen Creuzer nicht erwidert ward. In dem Weidendickicht, dicht am Ufer des Stromes, fast an der Stelle, wo ehemals die Lützelaue, die Malstätte des Rheingaus lag, stieß sie sich an einem Juliabend des genannten Jahres, gleichzeitig den Tod in den Fluthen suchend, den Dolch in das Herz. Goethe suchte acht Jahre später diese Stelle auf und giebt in seinen Briefen Andeutungen darüber. Die Günderode wird immer eine interessante Erscheinung jener Goetheperiode bleiben, um so mehr, als ihr Geschick auf Bettina von nachhaltigem Eindruck blieb. Auf dem Kirchhof des Ortes Winkel an der Kirchhofsmauer findet sich ihr Grabstein, der kürzlich durch die Bemühungen einiger Literaturfreunde und des Bürgermeisters von Winkel, sowie durch die wirksame Unterstützung des Hofgerichtsrath Petri, eines der bedeutendsten Forscher der rheingauischen Geschichte, gänzlich wieder hergestellt worden ist. Die alte Platte, mit der sinnigen inhaltsvollen Inschrift, ist beibehalten und in antikem Style von dem bekannten Bildhauer Leonhard eingefaßt worden.

Petrus  Maria
 Jakob Hett. Franziska Flunger.

Nach den Mittheilungen, welche Dr. M. Bernays und Dr. Wilhelm Hemsen kürzlich darüber gemacht, findet sich die Inschrift in den „Gedanken einiger Bramanen“ und unter der Ueberschrift „Abschied des Einsiedlers“ in der Herder’schen Blumenlese aus morgenländischen Dichtern; dort indessen in etwas anderer Form als auf dem Grabstein. Man hielt bisher die Günderode häufig für die Verfasserin der Verse, sie hat dieselben indeß nur umgemodelt und sie in dieser veränderten Form als Inschrift für ihr Grab hinterlassen. Das Blatt, worauf sie diesen Wunsch aussprach, befindet sich im Besitze des Reichsfreiherrn Robert von Hornstein in München. Die Grabschrift lautet:

„Erde, du meine Mutter, und du, mein Ernährer, der Lufthauch,
     Heiliges Feuer, mir Freund, und du, o Bruder, der Strom,
Und mein Vater, der Aether, ich sage euch allen mit Ehrfurcht
     Freundlichen Dank. Mit euch hab’ ich hienieden gelebt,
Und ich gehe zur anderen Welt, euch gerne verlassend.
     Lebt wohl denn, Bruder und Freund, Vater und Mutter, lebt wohl!“

Wie Winkel, in bester Weinlage des Rheingaus, liegt, den genannten Ort begrenzend, das Vorörtchen St. Bartholomäi (im Dialekte Barthelmi), wo nach Simrock „Barthel weiß, wo er den Most holt!“ – Es deutet mancherlei darauf hin, daß wir hier den Ursprung dieses deutschen Sprüchwortes zu suchen haben.

Das linke Rheinufer von Mainz bis Bingen bietet uns weit weniger Ausbeute, als das rechte von Mainz bis Rüdesheim, es erfreut sich auch im Allgemeinen nur eines sparsamen Besuchs, [398] obgleich gerade die Aussicht vom linken Stromufer auf das gegenüberliegende Rheingau und namentlich an dem durch Napoleon den Ersten errichteten Obelisk, auf der Straße von Ingelheim nach Mainz, eine außergewöhnlich prachtvolle ist. Der Obelisk trägt die Inschrift: „Straße Karl’s des Großen, vollendet im ersten Jahre der Regierung Napoleon’s, Kaisers der Franzosen.“ Aber Land und Weg dieser Gegend sind bei dem Rheinländer anrüchig; sie führen, am Rhein eine Seltenheit,

„Nur Staub und Sand,
und Sand und Staub, als wär’ es im Aegypterland.“

Die Reste des Palastes Karl’s des Großen in Ingelheim sind kaum mehr nennenswerth. Als Goethe Ingelheim besuchte, stellte sich eben nicht mehr von jenem Prachtbau dar als heute. Den[WS 2] Bezirk des ehemaligen Palastes kennt man noch, wenn auch undeutlich, an hohen mittelalterlichen Mauern, die zwar ehedem wohl nicht dem Palaste selbst angehörten, doch in späterer Zeit auf den ursprünglichen Umfassungsmauern errichtet sein dürften.

Von den prächtigen Marmorsäulen dieses hohen Herrschersitzes sind einzelne nach Paris gebracht, auf dem Schillerplatze zu Mainz dient eine solche als Brunnensäule, eine andere befindet sich im Museum zu Wiesbaden und die Säulen am Ziehbrunnen im Hofe des Heidelberger Schlosses stammen ebenfalls vom Ingelheimer Palaste. Die letzte und einzige in Ingelheim selbst ist an dem Eingangsthor des Baron von Harder’schen Besitzthums eingemauert und trägt eine Inschrift aus dem dreißigjährigen Kriege, die wir wörtlich wiedergeben:

„Vor 800 Jahren ist dieser Saal des großen Keysers Carlen, nach ihm Ludtwig des milden Keysers Carlen Sohn, im Jahr 1044 aber Keyser Heinrichs, im Jahre 1360 Kaiser Carlen Königs in Böhmen Pallast gewesen und hat Keyser Carlen der Große, neben anderen gegossenen Seulen, diese Seule aus Italia von Ravenna anhero in diesen Pallast fahren lassen, welche man bei Regierung Keysers Ferdinandi des II. und Königs in Hispanien Philippi des IV., auch derer verordtneter hochlöblicher Regierung in der unteren Pfalz, den 6. Aprilis Anno 1628, als der katholische Glauben wiederumb eingeführt worden ist, aufgerichtet. Münsterius in Historia von Ingelheim, des heil. römisch. Reiches Thal, Fol. DCLXXIX..“

Ingelheim gegenüber, am rechten Stromufer, grüßt das alte Geisenheim mit seinen weitleuchtenden rothen Sandsteinthürmen, gleichfalls eine Stelle geschichtlicher Bedeutung; denn noch steht dort das alte Schönborn’sche Haus, in welchem Kurfürst Johann Philipp von Schönborn das Instrumentum pacis des westphälischen Friedens entwarf. Hier arbeitete der gelehrte Kirchenfürst mit seinem Freunde Leibnitz und auf Anrathen dieses bedeutenden Philosophen an dem leider vergeblichen Versuche einer Vereinigung der katholischen und der evangelischen Kirche. Leider mußte der Kurfürst zu bald einsehen, daß er – nach seinen eigenen Worten – versucht habe, „einen Mohren weiß zu waschen.“

Ueber Winkel und Geisenheim thront der Johannisberg, das „königliche“ Besitzthum des österreichischen Gesandten am französischen Hofe, des Fürsten Richard Metternich. Nur selten wohnt die fürstliche Familie – das glänzende Pariser Hofleben vorziehend – auf diesem „weintriefenden Hügel“. Weilt aber die Familie Metternich in diesen Räumen, dann weht die – österreichische Flagge von den Zinnen des Schlosses. Schwarz-gelb – am Rhein! Das Schloß Johannisberg hat eine eigenthümliche Geschichte. Im Jahre 1805 schenkte Napoleon der Erste den Johannisberg dem Marschall Kellermann. Vor dem Marschall Kellermann, Duc de Valmy, war der Johannisberg 1803 an Wilhelm von Oranien gekommen und 1814 sollte ihn der alte Vater Blücher als Geschenk von Friedrich Wilhelm dem Dritten von Preußen erhalten. Die Schenkung unterblieb und Oesterreich gab zwei Jahre später den Berg der Metternich’schen Familie, nach eingeholter Zustimmung der Verbündeten, zu Lehen, als eine Belohnung für treue Dienste zur Erhaltung dynastischer Interessen.

Vordem aber besaßen den Berg des Täufers unter dem Namen Bischofsberg die frommen Mönche des Klosters St. Johannis, welches Bischof Ruthard von Mainz um 1106 gründete.

Dem Rheingauer ist die Mähr von den weinseligen Johannisberger Mönchen eine anheimelnde Erinnerung:

Die Mönche von Johannisberg,
Die lebten schön unsäglich –
Sie sah’n tagtäglich weit in’s Land,
Und weit in’s Land tagtäglich.
Und wenn sie starben, klagten sie,
Daß diese Welt so toll war
Und daß sie scheiden mußten, ach!
Vom Keller – der noch voll war.

An der Capelle des Schlosses ruhen die sterblichen Reste eines deutschen Geschichtsforschers und Poeten ohne – Herz. Niclas Vogt, Professor der Geschichte an der Universität Mainz, der Lehrer des Fürsten Metternich, der „eifrige Förderer heimathlicher Geschichte, der begeisterte Freund des rheinischen Volkes“, ward an der Außenseite der Capelle, das Haupt seiner Vaterstadt Mainz zugewendet, bestattet, während sein Grabdenkmal, „errichtet von C. W. L. Fürst von Metternich“, im Innern der Capelle selbst angebracht ist. Das Herz Vogt’s aber wurde auf seinen besondern Wunsch, von einer silbernen Kapsel umschlossen, mitten im Rhein, im sogenannten Mühlstein gegenüber Bingen, eingemauert. Ein schwarzes Eisenkreuzlein bezeichnet die Stelle, die freilich nur selten dem Rheinreisenden auffällt. Geschäftig aber rauschen an dem weit in’s Strombett vorgeschobenen Mühlstein vorüber die Wellen des Stromes dahin und erzählen nächtlich von den Sagen und zauberischen Märchen des Rheines.

Nur wenige Schritte rheinab führen den Wanderer von Rüdesheim zum Mühlstein. Wir aber haben gleichzeitig Rüdesheim, das weingepriesene erreicht, dessen Kirchthurm eine unerklärte Knaufzierde, den türkischen Halbmond, zeigt, während vom jenseitigen Ufer die St. Rochuscapelle herüberleuchtet.

Rheinab zeigt sich, am Durchbruch des rheinischen Schiefergebirges, umspült von den Wellen des Binger Lochs, der sagenreiche Mäusethurm, der erste Markstein rheinischer Burgen-Romantik. Das Lob von Bingen preise, bis uns die Gartenlaube gestattet, den freundlichen Leser weiter zu führen auf den Wellen des romantischen Stromes, Kobell, ein Poet, der seiner Vaterstadt ein dichterisches Denkmal geweiht:

Die herrlichscht’ Gegend am ganze Rhei’
Des is die Gegend vun Binge,
Es wachst der allerbeschte Wei’
Der Scharlach wachst bei Binge! – –
Ke’ Loch is uf der ganze Welt
So berühmt wie deß vun Binge,
Ke’ Thorn so keck in’s Wasser g’stellt
Wie der im Rhei’ bei Binge.
Die Mäus’ vom Bischof Hatto, sich’ (sieh’),
Sie schwumme bis nach Binge.
Ke’ G’schicht’ war je so ferchterlich,
Wie selli dort bei Binge! –

Ferd. Hey’l.


Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten?
Ohne phosphorhaltiges Gehirn kein Verstand, kein Gemüth, kein Wille, also keine geistige Thätigkeit.
Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher.
IV.

Das Sinneswerkzeug, welches in den Schuljahren, aber ebenso im elterlichen Hause wie in der Schule, am meisten mißhandelt wird, ist das Auge, und diese Mißhandlung zieht sehr häufig derartige bleibende Nachtheile beim Schulkinde nach sich, daß dadurch hindernd in das spätere Fortkommen desselben eingegriffen wird. Es ist eine traurige Thatsache, daß eine große Menge von Menschen schon in ihren Schuljahren durch eine falsche Behandlung ihres Sehorgans für eine nicht geringe Zahl von Berufsarten, bei denen ein gutes dauerhaftes Auge erforderlich ist, geradezu untauglich gemacht werden, und daß sie, wenn sie trotz ihres geschwächten Auges doch einen solchen Beruf ergreifen und denselben dann später, wegen eingetretener Arbeitsunfähigkeit des Auges, [399] aufzugeben gezwungen sind, oft in eine sehr traurige Lage versetzt werden. Darum muß nicht nur dahin gestrebt werden, das Sehorgan in der Jugend vor Leiden aller Art zu schützen, sondern es muß auch bei Bestimmung des Berufes nach den dem Auge so nachtheiligen Schuljahren die gehörige Rücksicht auf die Beschaffenheit des Sehorgans genommen werden.

Nur in Kürze wollen wir die Gesetze, welche bei der Pflege des Auges, wenn dieses für den Lebensberuf und fürs Leben ausreichen soll, zu beachten sind, und welcher ebenso der Lehrer wie der Schüler (in Folge von Belehrung durch den Lehrer) stets eingedenk sein sollte, hier im Allgemeinen anführen. – Zuvörderst muß vom Auge, so weit es nur immer möglich gemacht werden kann, die Einwirkung von schädlicher Luft, mit Staub, Rauch, scharfen Dünsten, sowie von zu großer Hitze und Kälte (auch von sehr kaltem Waschwasser, besonders gleich nach dem Erwachen) und von Zugluft abgehalten werden. – Sodann sind Verletzungen aller Art, z. B. Schläge an den Kopf (wie bei Bestrafung des Schulkindes durch den Lehrer) und starker Druck auf das Auge (wie bei’m Zuhalten derselben von hinten her), sowie das Eindringen fremder Körper in dasselbe zu verhüten. – Ganz besonders ist aber auf das (natürliche wie künstliche) Licht, welches auf und in das Auge fällt, zu achten, da dieses die häufigste Schuld an den vielen Augenleiden trägt, und zwar besonders dann, wenn es zu stark und grell ist, so daß es die Nervenhaut des Augapfels durch Ueberreizung lähmt. Ein solches blendendes Licht schadet am meisten, wenn es plötzlich nach vorheriger Dunkelheit, oder wenn es von unten und von der Seite, oder von einem leuchtenden Gegenstande her zurückgeworfen, in unser Auge fällt. Schaden bringt also dem Auge: das oft und lange Sehen in die Sonne, den Mond, in Feuer, Flammen, auf spiegelnde und glänzende Gegenstände (auf von der Sonne beschienene Eis- und Schneeflächen), das Arbeiten (Zeichnen, Lesen, Schreiben, Nähen, Sticken etc.) im hellen Sonnenlichte, das Sehen beim Erwachen sofort in grelles Licht. Ebenso schadet aber auch ein zu schwaches Licht, besonders in der Dämmerung, durch Ueberanstrengung des Auges, zumal wenn dabei feinere Gegenstände besehen und feine Arbeiten gemacht werden. Das unstete, flackernde Licht, so wie ein aus natürlichem und künstlichem gemischtes Licht wirkt ebenfalls nachtheilig.

Der gehörigen Lichtmenge wegen muß beim Baue eines Schulhauses durchaus darauf Rücksicht genommen werden, daß dasselbe eine freie Lage habe und dem Lichte der Zutritt nicht verwehrt werde. Das Schulhaus stehe also (wenn möglich etwas erhöht) nicht zu nahe an hohen Gebäuden (Kirchen), welche der Schule entweder Licht nehmen oder reflectirtes zusenden, nicht in der Nähe von vielen und hohen Bäumen, welche das Licht schwächen und unstet machen können. Das wichtigste Erforderniß für ein Schulzimmer ist stets ein ausreichendes, alle Punkte des Zimmers erhellendes und trotzdem die Augen der Schüler nicht blendendes Licht. Selbst bei trüber Witterung muß ein Schulzimmer doch noch soviel Licht bekommen, daß auch das vom Fenster am entferntesten sitzende Kind ohne Anstrengung noch deutlich sehen kann.

Die Art des Arbeitens und der Arbeit gefährdet das Auge ebenfalls sehr leicht, wenn sie demselben nicht richtig angepaßt wird. Hierbei ist zunächst eine zu lange Anstrengung des Auges, zumal wenn die Arbeit sehr fein oder glänzend, von zu heller oder dunkler Farbe, eine häufige Quelle von Augenleiden. Es ist deshalb durchaus nöthig, wenn ein solches Arbeiten nicht Schwachsichtigkeit (bei welcher die Sehkraft abnimmt und schnell ermüdet) veranlassen soll, das Auge von Zeit zu Zeit ausruhen zu lassen und auf beschattete, mattgraue Gegenstände zu richten, oder mit der Arbeit zu wechseln. – Ganz besonders ist aber eine zu geringe Entfernung des Sehgegenstandes vom Auge insofern von Nachtheil, als sie Kurzsichtigkeit (bei welcher das Auge nur nahe Gegenstände scharf zu sehen vermag) erzeugt. Alles, was uns zwingt, zur schärferen Beobachtung den Gegenstand unserm Auge nahe zu bringen, fördert die Kurzsichtigkeit.

Die Kurzsichtigkeit, welche sich nach und nach bis zur wirklichen Schwachsichtigkeit steigern kann, ist dasjenige Augenleiden, welches am häufigsten den Schuljahren entstammt. Sie wird dadurch veranlaßt, daß das Kind seine Augen (zumal beim Schreiben) zu nahe an den zu sehenden Gegenstand bringt und zu bringen gezwungen ist. Jedoch trägt weit weniger die Schule, wo der Lehrer die körperliche Haltung der Kinder in dieser Hinsicht überwacht, die Schuld an diesem durch anhaltendes Sehen auf zu nahe Gegenstände erzeugten Augenleiden, als das elterliche Haus, wo in der Regel über das arbeitende Kind und dessen Augen keine Aufsicht geführt wird und dasselbe beim Arbeiten (nicht selten im hellen Sonnenlichte) sich meistens viel zu tief auf die Arbeit niederbückt. Deshalb hat aber auch der Lehrer um so mehr die Pflicht, seine Schüler mit der richtigen Pflege der Augen, und zwar schon in den untersten Schulclassen bekannt zu machen und ganz besonders zu warnen: vor der zu großen Annäherung des Auges an die zu sehenden Gegenstände (eine Annäherung von zwölf bis zehn Zoll genügt für ein normal gebautes und gesundes Auge), vor Ueberanstrengungen des Auges und vor falscher Beleuchtung (vor zu grellem, unzureichendem, unstetem und gemischtem Lichte).

Daß in der Schule Alles gethan werden muß, um Kurzsichtigkeit und Schwachsichtigkeit, wie überhaupt jedes Leiden vom Auge des Schülers abzuhalten, versteht sich zwar von selbst, aber es geschieht trotzdem doch nur in sehr unzureichendem Grade und zwar deshalb, weil die allermeisten Lehrer – viele der Herren Schuldirectoren nicht ausgenommen – sich noch gar zu wenig um die Einrichtung und Pflege des menschlichen Körpers bekümmert haben und bekümmern. – Um Kurzsichtigkeit zu verhüten, muß ganz besonders darauf geachtet werden, daß die Bänke der Kinder der Größe angemessen eingerichtet werden und daß das Verhältniß des Sitzes zum Pulte ein solches ist, daß das Kind mit gerader oder nur leicht vorgebeugter Haltung des Körpers und ohne seinen Kopf oder Rumpf stark zu krümmen, die Augen in die gehörige Entfernung (zehn bis zwölf Zoll) zum Pulte bringen kann. Zu diesem Zwecke muß die Tischplatte auch etwas geneigt (etwa zwei Zoll auf zwölf Zoll Breite) sein. Da auch bei unzureichendem Lichte und sehr kleinen Schriften der Schüler sein Auge dem Gegenstande zu sehr und bei vorgebeugtem Kopfe nähern muß, dadurch aber der beim Einstellen des Auges zum Nahesehen thätige Muskel überangestrengt wird, so kann ein solches Licht und das angestrengte Sehen auf feine Gegenstände ebenfalls Kurzsichtigkeit erzeugen und, wenn oft und längere Zeit das Auge bei zu geringem Lichte angestrengt wird, zu bedeutender Schwächung der Sehkraft führen. – Der Blödigkeit oder Schwachsichtigkeit (an welcher sicherlich geschlechtliche Unart häufig mit Schuld trägt) läßt sich dadurch entgegentreten, daß der Schüler (zumal der schwächliche und blutarme) nicht mit Arbeiten überbürdet wird, wobei die Augen stark in Anspruch genommen wird. Allerdings wird hiergegen fast mehr im Hause (durch die vielen Privatstunden und weiblichen Arbeiten) als in der Schule gefehlt. Eine solche Ueberbürdung wird um so verderblicher, je unpassender das Licht (besonders das künstliche) dabei und je feiner die benutzten Gegenstände (die Noten, Lettern, Stickmuster etc.) sind. Es sollen ferner bei unzureichendem Lichte Kinder niemals lesen, schreiben, zeichnen, sticken etc. dürfen, denn nichts verdirbt und schwächt die Augen so leicht, als Verstöße gegen diese Vorschrift. Deshalb muß ein Schulzimmer stets die gehörige Menge Lichtes besitzen und niemals dürfen Stunden, bei denen das Auge angestrengt wird, im Dämmerlichte gehalten werden. Die Kurz- und Schwachsichtigkeit wird durch geringes Licht, bei dem die Kinder ihre Augen dem Sehobjecte sehr nähern müssen, bedeutend gefördert. Der Unterschied, mit wie viel weniger Anstrengung und wie viel ferner man bei voller Beleuchtung als bei geringer Zimmerhelle sieht, ist nicht unbedeutend. Auch die dunkle Schiefertafel, sowie die blasse Tinte nöthigen das Kind, dem Objecte näher zu gehen. Sodann dürfen beim Schreiben- und Lesenlernen niemals zu kleine Schriften (Musterschriften, Geschriebenes und Gedrucktes) in Anwendung kommen, und nie dulde man bei Kindern das Geizen mit dem Raume des Papiers, sowie das Zusammendrängen der Buchstaben und Zeilen.

Wie das Gehirn, verlangt auch das Auge, wenn es gebraucht wurde, die gehörige Pause zum Ausruhen und es sollte das Auge niemals mehrere Stunden hintereinander angestrengt werden. Schon in der einen Stunde sind kleinere Pausen dem Auge wohlthätig. – Daß auch übermäßig starkes, von sehr hellen und spiegelnden Flächen reflectirtes, sowie unstetes und unreines (künstliches und aus diesem und natürlichem gemischtes) Licht vom Auge des Schülers abgehalten werden muß, versteht sich wohl von selbst. Deshalb ist auf den Anstrich des Schullocals, die Fenster mit ihren Gardinen und Rouleaux, den Fußboden, [400] die Stellung des Lichts etc. Rücksicht zu nehmen. – Das dem Auge des Schulkindes wohlthuendste Licht fällt schräg von oben und von der linken Seite ein und es werde dem Schüler durch viele und große (breite und hohe) Fenster so viel als möglich davon geboten. Diejenige Erhellung des Schulzimmers, wo den Schüler das Licht von vorn trifft, ist stets nachtheilig. Licht von beiden Seiten ist insofern unangenehm, als es von der schreibenden Hand einen Schatten auf das Papier wirft. Niemals darf aber Licht von unten her in das Auge des Schülers fallen und also das Fenster höchstens bis zur Tischplattenhöhe hinabreichen. Zur Mäßigung des hellen Sonnenlichtes dienen am besten Rouleaux von ungebleichter Leinwand oder Marquisen. – Zur künstlichen Beleuchtung sollte nur Gas verwendet werden, weil es das meiste und gleichmäßigste Licht liefert. Nur müssen die Gasflammen in gehöriger Menge und Höhe angebracht werden und zum Behuf ruhigen Brennens und richtiger Lichtvertheilung mit einem Glascylinder und einem Schirm (aus Papier, dünnem Porzellan, Glas, nicht etwa aus Kupfer, welches Staub aus Schwefel-Kupfer liefern könnte) versehen sein. Wo kein Glas vorhanden, da nehme man seine Zuflucht zu Oellampen; Kerzen und Petroleum sind unzweckmäßig. – Da dem Auge unreine Luft (mit Rauch, Staub, scharfen Dünsten verunreinigte) schadet, dasselbe reizt und in Entzündung versetzt; da ihm auch Zugluft, zumal bei erhitztem Körper und Auge Nachtheil bringt: so müssen in der Schule diese Schädlichkeiten von den Augen der Schüler abgehalten werden. – Verletzungen des Auges, Erschütterung, Druck und Schlag auf dasselbe, könnten beim Bestrafen des Schülers durch Schläge an den Kopf und in das Gesicht, durch Ohrfeigen, Kopfnüsse und dergleichen zu Stande kommen und dem Auge für’s ganze Leben nachtheilig bleiben.

Dr. Kohn in Breslau, welcher die Augen einer sehr großen Anzahl von Schulkindern untersuchte, fand als Ergebniß dieser Prüfung, daß es keine Schule ohne kurzsichtige Schüler giebt und die Ursache der so häufigen Kurzsichtigkeit der Schulkinder weniger in dem Lehrplan (in Ueberbürdung mit Augenarbeiten), in den Lehrmitteln (zu kleinen Schriften), in der falschen und ungenügenden Beleuchtung und überhaupt in den Anforderungen, welche an die Augen der Schüler gestellt werden, liegt, als vielmehr in den einzelnen Schuleinrichtungen und vorzugsweise an den unzweckmäßigen Schulbänken. Diese sind nämlich so gebaut, daß die Kinder gezwungen sind, die Schrift in großer Nähe und bei vorgebeugtem Kopf und Rumpf zu betrachten (siehe später über Subsellien). – Er fand ferner: daß in den Dorfschulen nur wenig Kurzsichtige zu finden sind, daß dagegen in den Stadtschulen achtmal mehr Kinder kurzsichtig sind als in den Dorfschulen, daß in den Elementar- und Volksschulen weniger Kurzsichtige als in den höheren Schulen zu finden sind, daß in allen Realschulen, höheren Töchterschulen und Gymnasien eine continuirliche, sehr beträchtliche Zunahme der Kurzsichtigkeit von Classe zu Classe stattfindet. Auf den Mittelschulen ist mehr als der zehnte, auf den Realschulen fast der fünfte, auf den Gymnasien mehr als der vierte Theil der Schüler kurzsichtig. Durchschnittlich sind in allen Schulen in den obersten Classen mehr Kurzsichtige als in den untersten. Höhere Grade von Kurzsichtigkeit, die nach und nach zur wirklichen Schwachsichtigkeit führen kann, fand er in den Dorfschulen gar nicht, während schon in den städtischen Mittelschulen die Stärke der Kurzsichtigkeit wächst und in den Realschulen und Gymnasien ganz bedeutend zunimmt. Es giebt übrigens doppelt so viel kurzsichtige Knaben als Mädchen; nach den Lebensjahren findet in allen Schulen eine stetige Zunahme der Kurzsichtigen statt. – Er fand auch noch: daß, je enger die Gasse, in welcher die Schule steht, je höher die gegenüberliegenden Häuser, in einem je niedrigeren Stockwerke die Classe befindlich, um so mehr die Zahl der kurzsichtigen Schüler steigt. – Aus diesen Thatsachen werden hoffentlich die Schulvorstände deutlich ersehen, daß die Humanität keine Knausereien für solche Schuleinrichtungen erlaubt, welche dem Wohle der Kinder dienen.

Das Gehörorgan, Ohr, verlangt allerdings in der Schule nicht eine solche Berücksichtigung wie das Auge; jedoch muß der Lehrer auch diesem Sinneswerkzeuge seine Aufmerksamkeit schenken. Es ist dies deshalb besonders nöthig, weil sehr oft im elterlichen Hause zu wenig auf den Zustand dieses Organs geachtet wird und die ersten Anfänge eines Ohrenleidens, zumal der Schwerhörigkeit, welche in der Schule manchmal eher als im Hause entdeckt wird – sofort die Behandlung durch einen wissenschaftlich gebildeten Ohrenarzt verlangen, wenn der Gehörsinn nicht für’s ganze Leben Schaden erleiden soll. – Von Seiten des Lehrers sind Schläge an das Ohr (Ohrfeigen) und auf den Kopf ängstlich zu vermeiden, weil sie durch Erschütterung und Lähmung des Hörnerven sofortige Taubheit, sowie auch durch Eindruck auf das Trommelfell und die Theile in der Paukenhöhle Schwerhörigkeit veranlassen können. – Der gefährlichen Spielerei der Schulkinder, fremde Körper in den Gehörgang zu stecken oder mit einem Stift darin zu bohren, muß streng entgegen getreten werden. – Zugluft (besonders an nicht dicht schließenden Fenstern), ebenso große Wärme (in der nächsten Nähe des Ofens) müssen vom Ohre fern bleiben. – Auf Ausflüsse aus dem Ohre, ja auch auf Reinhalten desselben den Schüler aufmerksam zu machen, sollte der Lehrer nicht als etwas für ihn Ungehöriges und Entwürdigendes ansehen.

Das Geruchsorgan, die Nase, kann insofern beim Schulkinde Gelegenheit zur Beachtung von Seiten des Lehrers geben, als die Kinder nicht selten durch Bohren mit dem Finger in der Nase, sowie durch das Hineinstecken fremder Körper Veranlassung zu langwierigen Nasenleiden geben. – Widerwärtige und stark reizende Gerüche müssen von den Geruchsnerven fern gehalten werden. – Das ordentliche und anständige Reinigen der Nasenhöhle braucht vom Lehrer nicht unbemerkt zu bleiben. – Die Stinknase, welche bei Schulkindern zuweilen einen unerträglichen Gestank verbreitet, ist für die Mitschüler sehr eklig.

Das Geschmacksorgan, die Zunge in der Mundhöhle, ist ist Bezug auf übelen Mundgeruch und auf die Beschaffenheit der Zähne wohl einiger Aufmerksamkeit von Seiten des Lehrers werth.

Das Tastorgan, die Haut der Hände und Finger, verdient ganz besonders, abgesehen vom Reinhalten, hinsichtlich des Erfrierens Berücksichtigung. Denn es kommen nicht nur Kinder mit Händen, die sie auf dem Schulwege erfroren haben, in die Schule, sondern sie erkälten selbige sogar in zu kalten Schulstuben. – Das Schlagen auf die Hand und Fingerspitzen, die sogenannten „Tatzen“, ist eine Bestrafungsart, die durchaus aus der Schule fern bleiben muß.

Bock.

Die Darsteller von Oberammergau.

„Der Passion“ in Oberammergau hat begonnen, und allwöchentlich wallfahrten Tausende auf allen zum Fuß der Zugspitze führenden Straßen und besonders am Ettaler Kloster vorbei zu dem bairischen Dorfe an der Ammer, aus dessen bescheidenen, längs des Flusses hingestreuten Häusern die Künstler hervorgehen, welche jahrüber mit erfahrener Hand zu schnitzen und zu bilden, zu gestalten und zu formen pflegen, und nun von erhabener, weitgedehnter Bühne herab zu dem in Staunen und Andacht versunkenen Volke sprechen. Die zierlichen Gebirgshäuser, hinter deren Fenstern die schmalen Werktische der fleißigen Kunstjünger sichtbar sind, tragen an ihrer Vorderseite bunte Bilder aus der biblischen und aus der Heiligengeschichte; blumenreiche und obstbaumbergende Gärtchen schließen das einzelne Besitzthum ein, und über dem Thale erheben sich die schönen, waldgeschmückten Berge von Unterammergau. Viele der zuströmenden Touristen mögen nur aus Neugierde kommen und mit dem einzigen Zwecke, sich durch den Anblick des Oberammergauer Passionsspiels ebenso unterhalten zu lassen, wie sie sich in Leipzig etwa durch die Messe oder in München durch das Octoberfest unterhalten lassen; schon Vielen von ihnen aber erging es ganz wider Erwarten, und ernster gestimmt, als sie kamen, in der Tiefe ihres Gemüthes angeregt und jeder spöttischen Bekrittelung unfähig, die der echte Bädecker-Reisende wohl überall im fremden Lande zur Schau trägt, verließen sie den Schauplatz einer so seltsamen und ganz einzigen Erscheinung.

Unleugbar sind Theilnahme und Aufmerksamkeit, die dem Oberammergauer Passionsspiel rings in Deutschland vom Volke im Allgemeinen, wie von den Gebildeten im Besonderen geschenkt werden, seit den letzten Jahrzehnten in bedeutender Zunahme begriffen und diese Thatsache ist als eine um so erfreulichere zu begrüßen, als das Oberammergauer Passionsspiel nicht allein darum so beachtenswerth ist, weil es sich durch den Raum von zweihundert Jahren bis in unsere, wie man versichert, Alles gleichgestaltende Gegenwart herauf gerettet hat, sondern auch darum, weil es bei der unmittelbaren Frische, mit welcher es wirkt, von einer Bedeutung für die deutsche Kunst und für die Entwickelung des deutschen Theaters zu werden verspricht, die heute noch gar nicht in ihrem weitesten Umfange gewürdigt werden kann.

Die Gartenlaube hat es bereits vor zehn Jahren für ihre Pflicht gehalten, dem Passionsspiel die eingehendste Aufmerksamkeit zu schenken; auch in diesem Jahre schon brachte sie, gleichfalls aus der geistvollen Feder Herman Schmid’s einen Artikel über die Vorproben zum Passionsspiel, der allgemeines Interesse gefunden hat. Und wie vor zehn Jahren bringen wir auch heute die portraitähnlichen Abbildungen der Hauptdarsteller, die in Schmid’s Artikel bereits Erwähnung gefunden haben: Christus, der in diesem Jahre zum ersten Male von dem Bildschnitzer Joseph Mair dargestellt wird, nachdem der frühere von Ammergau fortgezogen ist; Johannes, der in dem Bildschnitzer Zwink gleichfalls einen neuen tüchtigen Vertreter gefunden hat; Petrus, der auch heuer von dem Bildschnitzer Hett in unnachahmlich einfacher Treuherzigkeit gegeben wird, und Maria, deren Rolle zum ersten Male in den Händen der Franziska Flunger liegt, der Tochter des Schnitzers und Zeichnungslehrers, der vor zwanzig Jahren den Christus gespielt hat und nun wiederholt den Hohenpriester Annas darstellt.

Wir kommen gewiß mit Mittheilung dieser interessanten Portraits dem Wunsche vieler unserer Leser zuvor, denen es nicht vergönnt ist, in das schöne oberbairische Gebirgsthal zu wandern; wir aber rufen den wackern Spielern von Oberammergau auch für dieses Jahr ein herzliches Glückauf zu.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: meistenr
  2. Vorlage: Denn