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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[353]

No. 23. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.


1. Die Goldgrube.

Die Sonne eines der letzten Julitage war schon tief westwärts hinab gebrannt; ihre Strahlen reichten nur noch eben an die Gipfel des Hochwaldes, durch den sich die breite Straße in mächtigen, langsam ansteigenden Windungen den hohen, steil aufstrebenden Westerberg hinan schlängelte; dennoch war es noch warm genug, um das Steigen mühselig zu machen. Es war daher ganz natürlich, daß ein Wanderer, wenn auch mit nichts als einer leichten Anhängetasche belastet, an einer Straßenrundung innehielt und aufathmend den weißen Basthut lüftete, um sich die Kühle an die Stirn ziehen zu lassen, welche aus einer kleinen sich eben hier öffnenden Bergschlucht hervorstrich, vermischt mit dem Harzgeruche der im Abendroth stärker ausathmenden Tannen und dem feuchten Wasserdufte des Bergbaches. Aus ansehnlicher Höhe und über eine moosbewachsene Felsplatte glitt dieser in breiten silberblitzenden Strängen hernieder, um sich mit dem andern Wildwasser zu vereinigen, das unten in einem bereits dunkel verdämmernden Tobel dahinsauste, durch sein tief in die Felsen gewühltes Rinnsal den ganzer Westerberg nahezu in zwei Hälften spaltend.

Der Ruhepunkt konnte nicht leicht angenehmer gewählt sein.

Das Geländer, mit welchem die abschüssige Tiefe umfangen war, bot eine willkommene Stütze; der nach abwärts gewendete Blick weilte behaglich auf dem ruhigen Grün des Waldes und den überwundenen Steilen des Weges, auf welchem eben ein hochgeladener, mit Leinwand überzogener Frachtwagen trotz des kräftigen Viergespanns, das ihm vorgeschirrt war, nur langsam und unmerklich näher kam; – kehrte sich das Auge der obern Seite zu, so zeigten die in den klaren leichtdurchflossenen Abendhimmel emporragenden Tannenwipfel, daß das Ziel der Wanderung nicht mehr fern sein konnte. Die ganze Bergstraße bot ein einfaches, herzerfrischendes Bild, dazu stieg von dem niederen Gewächs der Berghänge lieblicher Duft empor, aus dem Gehölze scholl das Rufen von Häher und Specht und in einem Busche dicht am Wege hub eine Amsel an, die ersten Noten ihres Schlummerliedes zu üben. Lieblich tönte der Gesang einer Menschenstimme darein, denn der im blauen Staubkittel neben seinem Lastwagen herschreitende Bursche sang sich mit heller Stimme ein lustiges Fuhrmannslied, das, längst volksthümlich geworden, unserem Wanderer wohl bekannt war, und von fern, aus der Tiefe, zogen die weichen Töne eines Posthorns schmeichelnd und lockend herauf.

Der Wanderer sog Licht und Duft, Sang und Klang wie kostend in sich ein; dennoch war er nicht damit allein beschäftigt, sondern schien der Straße selbst und den verschiedenen von ihr eingeschlagenen Richtungen sein besonderes Augenmerk zu schenken, denn immer und immer kehrten seine Blicke wie messend darauf zurück, um sich dann wieder prüfend der Schlucht zuzuwenden, die, von einem ansehnlichen Brückenbogen überbaut, unter seinen Füßen hinzog.

Es war ein junger Mann von kräftiger Gestalt, der man wohl ansah, daß die straffe Haltung ebensowenig hinterm Studirtische erworben war als die gesunde dunkle Färbung des angenehmen, von einem blonden Vollbart umrahmten Gesichts; er war einfach und doch nicht ohne Wahl gekleidet, der leichte Rock war ebenso bequem, als er gefällig saß, und paßte vollkommen zu den festen und doch keineswegs schwerfälligen Schuhen und dem buntgewürfelten Halstuch, das lose um den leicht geöffneten Hemdkragen geschlungen war.

Er ließ den Frachtwagem der eben näher kam, vorbeifahren, es mochte ihm nicht genehm sein, neben dem Fuhrwerk herzuschreiten, dessen breite Radfelgen auf dem Gestein der Straße knirschten; mit einem freundlichen „Guten Abend!“ erwiderte er den Gruß des Fuhrmanns, der nur den Hut rückte, ohne sich in seinem Gesange irre machen zu lassen. Er sah ihm nach, bis er die nächste Steile hinangefahren war und die Worte des Liedes verklungen waren. Schon aber begann es von unten herauf zu tönen und das Posthorn erhob ganz nahe eine andere Weise, die dem Wanderer ebenfalls so bekannt dünkte, daß er sich nach der Richtung der Töne wandte, als wolle er sich auf die Worte zu denselben besinnen.

Ein Postillon mit drei ledigen Pferden kam die Straße herauf und blies behaglich wandelnd auf seinem Horn, während die Rosse den wohlbekannten Weg vor ihm dahinschritten.

„Es ist so,“ sagte der Wanderer horchend vor sich hin; „ich kenne das Lied auch, ich muß es in meiner Kindheit gehört haben, die Mägde haben es gesungen, wenn sie im Winter beim Spinnen beisammen saßen … ich mußte wohl allemal zu Bett, aber ich habe es in meine Kammer hinein und durch den Schlaf gehört und behalten. … Wie hießen doch die Worte? ‚Herzliebster Schatz, ich will dich etwas fragen.‘ … Nicht doch, so war es nicht, aber der Gedanke ist ähnlich. … ‚Herzliebstes Schätzel mein‘. … Richtig, so ist es, nun taucht es mir völlig wieder auf. …

[354]

‚Ich will Dich etwas fragen,
Herzliebstes Schätzel mein –
Die Bäume thun ausschlagen;
Ich will dich etwas fragen:
Wann soll die Hochzeit sein?‘“

Das Lied war eben zu Ende, als der Postknecht näher kam und das blanke Hörnlein, das er an einer weißblauen Schnur über der Brust hängen hatte, zurückfallen ließ; ein ziemlich bejahrter Bursche, dem unter dem Lederhute mit dem Federbusch und der breiten Silberborte auch das Haar schon stark versilbert hervorsah, obwohl er in dem blauen aufgeschlagenen Stutzfrack mit den schwarzen Sammetärmeln und den Silbertressen darauf, in der rothen Weste und den blanken weißen Lederhosen noch ganz stattlich aussah und trotz der schweren Reitstiefel so rüstig einherschritt, als sei er bereit, es noch mit dem Jüngsten aufzunehmen. Dazu stimmte vollkommen der lustige und beinahe listige Zug, der ihm trotz mancher Falte im Gesicht um den Schnurrbart und die lebhaften grauen Augen spielte.

„Grüß’ Gott, Schwager,“ sagte der Wanderer und schritt neben ihm her. „Du blasest ja, daß Einem das Herz im Leib aufgeht … man sollte glauben, Du wärst bei des Königs Hofmusik in die Schule gegangen!“

„Hoho,“ rief der geschmeichelte Postillon entgegen, „mit der Schul’ und der Hofmusik, da schaut’s übel aus; aber wenn man etwas recht lang’ treibt, ist’s nit zu verwundern, daß man’s zuletzt kann, und was man gern thut, das geht völlig gar wie getandelt … Noch weitaus, Herr? Sie wollen gewiß noch in die nächste Poststation? Dann haben wir Einen Weg.“

„Nein,“ erwiderte der junge Mann, „ich denke im Bergwirthshause zu übernachten. Man kann doch leidlich dort unterkommen? Ist’s noch weit bis dahin?“

„Keine halbe Stunde mehr,“ entgegnete der Postillon, indem er mit der Peitsche nach der Berghöhe hinauf deutete. „Sehen Sie da oben die Laubwipfel über den Fichtenbäumen? Die stehen schon im Wirthsgarten, und wenn wir da vorn um die Ecke kommen, sieht man schon das Gemäuer des Hauses selbst, das so weiß und blank ist wie ein frisch gelegtes Ei. Und ob man dort unterkommen kann? Das will ich meinen; das Haus ist mit Allem versehen wie das beste in der Stadt, das macht, weil die Straße gar sehr belebt ist, es vergeht kein Tag, wo nicht Gäste dort einkehren …“

„Du bist wohl schon lange Postillon?“ unterbrach der junge Mann, für den die beredte Lobeserhebung des Bergwirthshauses nichts Anziehendes zu haben schien.

„Freilich, Herr,“ war die Antwort, „es geht schon in die vierzig Jahre; ich bin, seit ich erwachsen bin, niemals was Anderes gewesen. Sie haben vielleicht das kleine Bauerngütl bemerkt, das alte holzbraune Häus’l, das aussieht, als wenn es irgendwo im Rauchfang gehangen wär’; da bin ich daheim. Da stellen meistens die Pferde ein, die man zur Vorspann braucht über den Westerberg, da hab’ ich als Bub’ beim Einspannen geholfen, dann bin ich selber gefahren und bin in den Postillonfrack hineingekommen, als wenn er mir gewachsen wäre! Seitdem fahr’ ich jeden Tag, den Gott giebt, mit dem Eilwagen von der Station überm Berg zu der andern und reite dann mit den Pferden wieder zurück …“

„Seit so langer Zeit? Und Du bist dessen nicht überdrüssig geworden? Ich meine, das immerwährende Einerlei müßte nicht auszuhalten sein …“

„Sie meinen, ich müßte Weillang haben?“ entgegnete der Postillon lachend. „Noch ist mir das keinen Augenblick passirt und wird wohl auch nicht geschehen, denn ich habe keine Zeit dazu! Und mit dem Einerlei hat’s auch seine guten Wege … der Eilwagen ist alle Tage gesteckt voll, alle Tage andere Leut’ mit anderen Gesichtern, Leut’ von allen Nationen, die sich alle um den Postillon nicht kümmern, die ich mir aber alle betrachten kann, gerade als wenn sie meinetwegen hergereist kämen. Und wenn auch das nit wäre, Herr, und wenn’s auch immer der nämliche Weg ist, es giebt doch alleweil was Neu’s und der Wald ist immer anders … ich kenn’ schier jeden Baum und hab’ ihn wachsen sehn und mach’ mir so meine Gedanken, wie’s auf der ganzen Welt doch auch nichts anders ist, als daß man von der einen Station zu der andern hin und wieder reist, und wenn mir ja einmal nichts mehr einfallt, dann hab’ ich ja noch mein Posthörnl’, dann laß ich das statt meiner reden, und wenn ich’s einmal angesetzt hab’, ist mir noch niemals das Trumm aus’gangen!“

„Sieh da, ein Weltweiser im Postillonrock,“ rief der Wanderer, indem er den Burschen, der sich ganz warm geredet, wohlgefällig betrachtete. „Ich lasse Deiner Gesinnung alle Ehre widerfahren, Schwager,“ setzte er dann hinzu, „Jeder sieht mit seinen eigenen Augen; ich für meinen Theil könnte mich beim Anblick der Bergstraße niemals des Gedankens erwehren, daß sie immerhin ein kühner und sogar schöner, aber doch ein mühseliger Bau ist, den man bequemer hätte einrichten können …“

Der Postillon sah ihn mit listigem Blick an und lachte. „Das könnte freilich nicht schaden,“ sagte er, „zumal im Winter, aber wissen Sie, Herr, warum der Has’ über’n Berg lauft? Ich will’s Ihnen sagen, wenn Sie ’s nit wissen … weil der Berg kein Loch hat, wo er durchlaufen könnt’ … so ist’s da auch, der Westerberg ist einmal zu grob und hat halt dem Baumeister nit den Gefallen gethan, daß er auf die Seit’ ’gangen wär’ …“

„Dessen hätte es nicht bedurft,“ rief der junge Reisende, zurücksehend und in die Schlucht deutend. „Der Baumeister durfte nur die Augen aufmachen und dem Wasser ablernen, wo und wie es seinen Weg gefunden hat …“

„Aha,“ rief der Postillon und lachte, daß das Posthorn an der Schnur wackelte, „sind Sie auch ein solcher? Einer von den Projectenmachern? Hab’ schon davon gehört, daß sie eine Eisenbahn zu uns herein in die Berg’ bauen wollen – aber schaun S’, das kann draußen recht gut sein, wo ’s hübsch eben dahin geht, aber bei uns herinnen, in den Felsen und Klüften, da möcht’ eine Kuh lachen, wenn man von so was hört! … Das Wasser, ja das find’t und macht sich freilich überall selber seinen Weg, aber eine Straß’ da in die Schlucht hinein, so mitten durch den Westernberg bauen, das ist nit möglich, das geschieht nit eher als bis einmal Pfingsten vor Ostern kommt …“

„Das scheint Euch nur so, guter Freund; ich habe weite Reisen gemacht und dabei Bauten gesehen, gegen welche diese eine Kleinigkeit zu nennen wäre …“

Der Postillon blieb stehen und faßte den Wanderer am Arm, um ihn ebenfalls anzuhalten. „Wie,“ sagte er, „lassen S’ Ihnen einmal in’s Gesicht schauen, damit ich seh’, ob Sie im Ernst reden und nit etwa denken, dem dummen Post-Bartel will ich einmal einen Bären aufbinden, daß er ihn zu München drinnen auf der Jakobidult sehen lassen kann. … Sie schauen wirklich ganz gesetzt und ernsthaft darein …“ fuhr er dann fort, indem auch über sein erst noch so übermüthiges lustiges Gesicht ein Schatten zog, „es ist also keine Fopperei? Es wär’ wirklich was d’ran an dem Gered’? Also wär’s doch möglich, daß die verflixte Eisenbahn zu uns herein käm’? … O je, o je … das thät’ mir aber leid, da könnt’ mich schon mein Leben verdrießen!“

„Dich? Warum das?“

„Warum? … Nichts für ungut, Herr … aber das ist eine tappige Frag’. … Wenn sie eine Bahn bauen in die Berg’ hinein, dann wird gar bald das Gras wachsen auf der Westerbergerstraß’ … dann wird man keinen Eilwagen mehr brauchen und keine Ross’ und also auch keinen Postillon – was soll ich nachher thun, jetzt, wo ich schon dahin anfang’, ein alter Kerl zu werden? … Aber hoffentlich,“ setzte er entschlossener hinzu, indem er den einen Gaul anhielt und sich in den Sattel schwang, „hoffentlich erleb’ ich’s nicht, daß das geschieht, denn da wird wohl noch viel Wasser rinnen und noch mancher Herbst und Auswärts kommen. … B’hüt’ Gott, Herr, da sind wir jetzt; ich muß das Wirthshaus anblasen, damit sie wissen, daß ich komm’ … ich thu’s alle Tag’ und denk’, ich will’s beim Alten lassen …“

Er setzte das Horn an und blies, seine Pferde antreibend, einen lustigen Ruf, der sich wie ein muthwilliger Gruß anhörte, ganz dem liebliche Bilde gemäß, das auf der eben erreichten Berghöhe sich vor dem überraschten Wanderer zeigte. Es war eine nicht große, aber immerhin ansehnliche Hochfläche, an deren entgegengesetzter Seite die Straße ebenso, wie sie gegenüber aufgestiegen war, sich wieder zu Thal senkte, so daß zu beiden Seiten der Ausblick geöffnet war; gab es auch keine Fernsicht im eigentlichen Sinne, weil nahe und höhere Berge den Horizont abschlossen, so ruhte das Auge doch mit Wohlgefallen auf den mächtig gezogenen Linien der Berge und den Waldmassen, mit denen sie bekleidet waren, wie mit einem schwerfaltigen sattgrünen Gewande, [355] auf welchem nur manchmal als Verzierung sich die weißen Stämme und das helle Laub eines Birkenbüschels abhoben, oder lichtgrüne Gruppen von Ahorn- oder Buchen-Wipfeln, oder auch ein Stück Felsgestein, bald in breiten massenhaften Platten abstürzend, bald in wunderlich geformten Zackenkamm verlaufend. Unten lagen zwar nur zwei schmale Waldthäler, in deren jedem ein Bach dahin strömte, aber die schmalen Gründe prangten mit dem frischesten Wiesengrün und am Wasser blitzte auf der einen Seite ein Mühlschuß und sein im Abendlicht sprühendes Rad, auf der andern, wohin die Sonne nicht mehr reichte, lagen ein paar freundliche Bauernhäuser unter Baumwipfeln beinahe vergraben, und das einzige Zeichen menschlichen Lebens um sie her waren die leichten Rauchwölkchen, die kerzengerade und feierlich darüber emporstiegen.

Je friedlicher der Anblick der beiden Bergthäler war, desto anziehender war der Gegensatz des lebensvollen, rasch bewegten Treibens, das sich auf der Höhe selbst und vor dem Bergwirthshause entwickelte. Dieses, sich nach der ganzen Länge des Platzes hinziehend, war ein ansehnliches Gebäude von jener gemischten Bauart, welche bei Landwirthshäusern sich häufig findet und gar Manches von städtischen Formen entlehnt hat, ohne im Grunde dem Wesen des Bauernhauses völlig untreu geworden zu sein. Im Erdgeschosse führten einige Stufen breit und bequem zu der weit offenen Thür, durch welche man in die helle luftige Hausflur sah, zu deren beiden Seiten breite Fenster mit grau angestrichenem Holzwerk und grünen Läden errathen ließen, wie traulich und einladend die beiden großen Gaststuben hinter ihnen sein mochten; im obern Stock zog sich eine Reihe Fenster ganz wie an einem Stadthause hin und die dahinter stattlich herabfallenden Vorhänge zeigten, daß man wohl darauf bereitet war, eine beträchtliche Anzahl einkehrender Gäste auch über Nacht zu beherbergen. Gegen die Morgenseite hin aber war der alte breit vorspringende Holzgiebel des Bauernhauses erhalten und unter ihm zogen sich die hölzernen Laubengänge dahin, mit dem Kübel für die Hauswurz geschmückt und mit den Nelkenstöcken, an deren überhangenden Stielen die rothen Blumen sich schaukelten, wie an dem gewöhnlichsten Bauernhause. Gegenüber, in gleicher Ausdehnung und nicht minder stattlich dehnten sich die Wirthschaftsgebäude aus, die Scheune mit der Tenne, Ställe und Heuboden, und die rege Thätigkeit, welche überall herrschte, ließ erkennen, daß das Anwesen nicht nur ein viel besuchtes Gasthaus, sondern auch ein bäuerliches Gut von nicht geringer Bedeutung war.

Vor dem Thore der mächtigen Scheune stand ein hochaufgeladener Getreidewagen, und ein halbes Dutzend von Knechten und Mägden war eifrig beschäftigt, die vollen langen Garben mit den goldreifen schweren Aehrenbündeln abzuladen und in den Gevierten des Stadels übereinander zu schichten. Das emsige Schaffen bildete einen lebhaften Gegensatz zu der übrigen auf dem Platze sich entwickelnden Bewegung, denn während von links der Frachtwagen mit seinem Biergespann schwerfällig angerollt kam, und der Post-Bartel blasend auf seinen Gäulen näher trabte, war von rechts ein anderes Fuhrwerk sichtbar geworden, ein sogenannter Stellwagen, durch welchen nicht nur der kleine Verkehr zwischen näherliegenden Orten, sondern selbst mit größeren Städten für Alle vermittelt wurde, denen es unmöglich war, sich der Post zu bedienen. Der Wagen fing eben an, sich seiner ziemlich zahlreichen Bewohner zu entladen, denn bis die Pferde sich von der Anstrengung des Bergweges erholt und eine kleine „Unterleg’“ gemacht hatten, mußten auch die Reisenden sich zu einem Aufenthalt bequemen, ein Entschluß, der nicht eben schwer zu fassen war, wenn zu dieser Säumniß ein so gastlich anmuthendes Plätzchen einlud, als es unter den dichtschattigen Laubkronen der Linden- und Kastanienbäume des Bergwirthshauses zu finden war.

Die Gesellschaft, die unter den Bäumen Platz nahm, war ziemlich bunt; da war ein wohlbeleibter Pfarrer mit greisem Haar und gutmüthig freundlichem Gesicht, der mit einem nicht minder wohlgenährten Viehhändler, dessen Leib der geldstrotzende Ledergurt kaum zu umspannen vermochte, von dem Ergebniß der eben begonnenen Ernte und von den zu hoffenden Fruchtpreisen plauderte; ein Handwerksbursche in grauer Blouse und den Wachstuchhut auf dem krausen Kopf, und ein beurlaubter Soldat, der in die Heimath ging, weil es zur Feldarbeit an Arbeitern gebrach, und der in rasch geschlossener Bekanntschaft und Vertraulichkeit den Wunderdingen zuhörte, die der Geselle von fremden Städten und Ländern zu erzählen wußte; eine alte Bürgersfrau aus einem benachbarten Flecken, die sich gedrungen fühlte, vor dem Ende noch eine Wallfahrt zu machen zur schwarzen Muttergottes von Altötting, und eine junge Bäuerin, mit ihrem Erstgeborenen im Arm, einem dicken vollbackigen Buben, von dem sie Auge und Hand ebenso wenig abwandte, als die alte von Rosenkranz und Gebetbüchlein.

„Das muß man sagen,“ rief der Händler, sich behaglich niederlassend, „schön ist es beim Bergwirth, und das Trumm mit den Reisenden und mit dem Fuhrwerk reißt gar nicht ab – da rührt sich’s vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht! Das Wirthshaus ist eine wahre Goldgrube, und wenn der Wirth einmal seine Tochter ausheirathet, kann sich der gratuliren, der sie kriegt – die wird einen schönen Rogner mitbekommen …“

„Ist das Mädel sauber?“ fragte der reisende Geselle neugierig.

„Na, ob die sauber ist!“ erwiderte der Metzger. „Es sind ihrer nicht viel, die ihr das Wasser reichen können, und in der ganzen Gegend, auf viele Stunden weit, heißt sie nicht anders, als die schöne Bergwirths-Juli … aber da könnt Ihr selber sehn, da kommt sie just über die Staffeln herunter und setzt die Füß’ wie ein Bachstelzel, das durch Wasser geht …“

„Mortbleu,“ rief der Bursch, der auch in Frankreich gewandert war, „das ist straf’ mich Gott wirklich ein bildhübsches Mädel!“

Die Männer hatten nicht Unrecht; wie das Mädchen über den Platz herankam, war es kaum möglich, sich eine anmuthigere Erscheinung zu denken. Sie trug die ländliche Tracht der Umgegend, aber das Mieder saß ihr so knapp und schön, als wäre es eigens für sie ersonnen worden; das reiche braue Haar war in Zöpfen geflochten und um den Kopf gesteckt, die Aermel waren aufgestülpt, um beim Tragen der vielen Biergläser nicht hinderlich zu sein, die sie gleich der geübtesten Kellnerin handhabte, zugleich hatte sie am Arme einen offenen Henkelkorb hängen. Mit leichten Schritten von ungesuchter Zierlichkeit kam sie über den Platz, eine nicht übergroße, aber doch kräftige Gestalt, ein gesundes Roth auf Wangen und Lippen, den Glanz reiner Jugend in den Augen, tiefbraun gleich einer reifenden Haselnuß.

„Möcht’ wissen, was das Dirnl’ treibt,“ sagte der Viehhändler, „aber sie wird mein’ Eid jeden Tag sauberer … und was mir noch an ihr gefallt, ist, daß sie gar keinen Stolz, keinen Hochmuth hat – der Bergwirth hat ein schönes Geld an sie gewendet, und hat sie aufziehen lassen wie eine Herrische oder eine Stadtfräul’n, seit sie aber wieder daheim ist, tragt sie sich auch wieder bäurisch, und weil die Kellnerin just da drüben mithelfen muß beim Getreideabladen, steht ihr die Nasen nicht zu hoch, und sie schenkt gleich selber ein und bedient die Gäste …“

„Und das ist es, was ich bei dem Mädchen besonders hoch anschlage,“ fiel der Pfarrer ein. „Es ist mir von Anfang nicht recht gewesen, daß sie in’s Kloster zur Erziehung gegeben wurde, denn wohin soll es kommen, wenn Jedes höher hinaus will, über seinen Stand, und wenn die Bauerntöchter erzogen werden wie die von Beamten und Edelleuten! Ich habe auch dem Bergwirth mehrmals abgeredet, aber er geht immer nach seinem eigenen Kopf – zum Glück aber ist das Ding gut ausgegangen, die Bergwirths-Juli ist keine solche halbe Docken geworden, die nirgends mehr ganz hintaugt ... sie ist brav und einfach geblieben, wie sie es immer gewesen ist!“

„Sie können schon Recht haben, Hochwürden,“ sagte der Händler, „aber der Bergwirth, der Obernöder würd’ keine große Freud’ haben, wenn er hören thät’, daß Sie seine Juli eine Bauerntochter nennen! Er hat zwar ein Bauerngut, das sich wohl sehen lassen kann, aber die Hauptsach’ ist ihm doch die Wirthschaft, und da kann ich ihm auch nit so viel Unrecht geben, denn da geht’s herein, schier wie zu Regensburg im Stift von Sanct Emmeran, alle Viertelstund’ einen Ducaten … aber da kommt er selber aus dem Haus …“

Das Gespräch brach ab, denn die Wirthstochter war ganz nahe gekommen und fing an, mit freundlichem Grüßen und Nicken die vollen schäumenden Halbkrüglein zu vertheilen und zugleich dem Verlangen nach Brod oder geräucherter Wurst aus dem zur Vorsicht im Korbe mitgebrachten Vorrathe zu entsprechen.

Auch der junge Fußwanderer hatte unter den Bäumen Platz genommen, aber etwas abseits, hart an der Straßenböschung; das Gespräch der Uebrigen entging ihm nicht, und auch sein Blick hing [356] mit Wohlgefallen an der lieblichen Erscheinung – erging es ihm doch damit wie kurz vorher mit dem Liede des Postillons, als müsse er sich einfallen lassen, daß und wo er derselben schon einmal gegenüber gestanden.

Inzwischen trat auch der Wirth hinzu, ein hagerer Fünfziger, doch rüstig und von unverkennbarem Selbstgefühl getragen, das sich in der etwas steifen Haltung ausprägte, auf der breiten Stirn, den zusammengewachsenen Augenbrauen und dem aufgeworfenen Munde aber bis zum Trotze steigerte. Einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe, in Hemdärmeln und weißer Brustschürze, in welcher er links und rechts an der Schulter die Daumen stecken hatte, trat er zu den Gästen, grüßte mit nachlässigem Kopfnicken und nahm es auch nicht an, als der Viehhändler ihm seinen Krug hinschob und ihn nach Landessitte aufforderte, ihm Bescheid zu thun.

„Dank’ schön, Natzi – es muß so auch schon gehn … ich hab’ keinen Durst,“ sagte er, während der Händler etwas verdutzt den Krug zurückzog und selbst einen tüchtigen Trunk that.

„Wie Du willst, Bergwirth,“ rief er dann, „ich zahl’ mein Bier und kann es wohl auch allein trinken. … Aber wie haben wir’s sonst mit einander, wir Zwei? Wie steht’s mit unserer Handelschaft? Wie ich letzthin den Weg gekommen bin, hab’ ich um die rothscheckige Kalbin gefeilt … wie ist’s, hast Dich noch nit anders besonnen?“

„Könnt’ mir nit einfallen!“ erwiderte der Wirth geringschätzig. „Ich hab’ Dir meinen Preis gesagt, und wenn ich einmal was sag’, dann ist es so gewiß, als wenn Dir ein Anderer Brief und Siegel dafür gegeben hätt’! Was ich verlangt hab’, weißt Du – da geht kein Pfenning ab!“

„Du bist gar zu genau, Bergwirth,“ rief der Metzger, „hundert Gulden für eine jährige Kalbin – dafür kriegt man ja schon bald ein Roß!“

„So kauf Dir eins und laß mir ein’ Ruh’!“

„Bist halt ein bockbeiniger Kumpel, Obernöder … wirst Dich vielleicht schon noch besinnen, die fünfundneunzig hab’ ich gesagt, und mehr kann ich nit geben; es wär’ mir nur drum zu thun gewesen, weil die Kalbin so gar schöne gewundene Horn’ hat. … Wie ist es aber nachher mit dem Säg’müller am Fall … kriegt der auch keinen bessern Bescheid? Ich hab’ Dir neulich seine Botschaft gebracht und muß ihm heut’ Antwort sagen … er hat eine große Lieferung übernommen von eichenen Läden und Stöcken; Du hast überflüssige Eichen gerad’ genug stehn, am Abhang, an der Niederpoint. … Schlag’ ein, Bergwirth; der Müller hat Dir kein schlechtes ’Bot gelegt, mein’ ich!“

„Laß mich aus,“ rief der Wirth unwillig, „ich will nichts hören vom Holzverkaufen – ich bin kein solcher Nothleider, daß ich mein Holz verwüsten müßt’ – ich brauch’ den Bettel nit! Mein Holz ist mein’ Freud’ und vor Allen die Eichen drunten am Niederpoint! Reis’ zu, Natzi, mit denen lumpigen paar Gulden – von denen Bäumen wird keiner geschlagen so lang’ der Bergwirth ein offnes Aug’ hat!“

Der Händler wollte sein Spiel noch nicht verloren geben. „Sei nur nit gar so eigen,“ begann er wieder, die Eichen stehn ja da zu dicht, das kann Dir Jeder sagen, der was davon versteht … es sind Viele drunter, die fangen schon an überständig zu werden und gipfeldürr …“

Der Wirth ließ ihn nicht ausreden. „Laß gut sein, Du Siebengescheider,“ rief er und wandte sich ab, „Du bist Einer von denen, die das Gras wachsen hören – aber mir wirst Du doch nit zu schlau! Die Eichbäum’ bleiben stehn und wenn sie gipfeldürr und überständig werden, so werden sie’s mir und kein Mensch braucht sich drum zu kümmern – Verstanden, Natzi? Also strapazir’ Dich nit weiter, damit Dir der Athem nicht kalt wird!“

Er ging, ohne das Achselzucken des Händlers zu beachten, und setzte sich rücklings auf die Bank neben dem Pfarrer nieder; dabei machte er eine Bewegung, als ob er den Hut abnehmen wollte, that es aber nicht, er wollte wohl dem Geistlichen eine Art Respect bezeigen, zugleich aber ihn erkennen lassen, daß er den Abstand zwischen ihm und dem reichen Bergwirth durchaus nicht für einen sehr absonderlichen halte. In dem Gespräch, das er begann, überhörte er die unmuthigen Worte, mit denen der Händler den ihm zunächst Sitzenden unzweideutig zu erkennen gab, daß auch seine im Viehhandel erprobte Geduld zu reißen im Stande war. „Ich seh’ schon, ich muß eine andere Zeit abwarten! Ist halt übermüthig der Obernöder mit seinem Muß-Wirthshaus! Wenn einmal, wie’s überall heißt, die Eisenbahn gebaut wird, dann wird er wohl auch ein bissel kleiner beigeben!“

Unbeachtet von Allen war Juli während dessen zu dem Fußwanderer getreten, der sich den Blumenflor über die Straße besah und ihr daher den Rücken zuwandte. „Was schaffen Sie, Herr?“ wollte sie sagen, aber sie brachte es nicht heraus, als er sich umkehrend ihr den vollen Anblick seines Gesichtes bot; sie verstummte und stand einen Augenblick regungslos vor Verlegenheit, die sich halb wie Freude, halb wie Bestürzung ansah und sie mit glühender Röthe übergoß, bis tief in den Nacken und unter das Busentuch hinein, das über dem Mieder zusammen gefaltet war.

Ihre Bewegung war so sichtbar, daß sie dem Fremden nicht entgehen konnte und ihn zum Theile mit ergriff; kehrte ihm doch die schon beim ersten Anblick aufgetauchte Erinnerung an ein früheres Begegnen zurück, zwar immer noch unklar und zweifelhaft, doch in dämmernden Umrissen, die sich immer mehr zu formen begannen.

„Nun, mein Kind,“ sagte er, sich zuerst sammelnd, „Sie erschrecken ja ordentlich vor mir wie vor einem Ungeheuer? Wie soll ich mir das erklären? Hab’ ich doch bis zur Stunde nicht gewußt, daß ich so sehr häßlich und abschreckeud aussehe!“

„Sind Sie’s denn – oder sind Sie’s nicht?“ fragte Juli mit gepreßtem Athem.

„Wie kann ich das sagen,“ fragte er lächelnd hinwider, „so lang’ ich keine Ahnung davon habe, wer ich denn sein soll? Zwar – je mehr ich Sie betrachte, je gewisser wird es mir, wenn ich mich auch an den Ort nicht erinnere, daß ich Sie schon gesehen habe.“ …

„Ist das wahr? Erinnern Sie sich wirklich noch ein bischen an mich?“ rief das Mädchen mit einem offenen Lächeln des Glücks und der Freude. „Und wegen des Orts – da muß ich Ihnen halt ein bischen drauf helfen. … Sind Sie nicht vor drei Jahren auf der Fraueninsel gewesen, im Chiemsee …“

„Allerdings,“ rief der junge Mann, ebenfalls mit einem Ausdruck in Ton und Blick, der dem ihrigen an Freude nichts nachgab. „Sind Sie etwa …“

„Ja,“ erwiderte sie mit fröhlichem Nicken schlug aber verschämt die Augen nieder, als sie dem Aufleuchten in den seinigen begegnete. „Ich war damals im Kloster, im Institut … ich bin das Mädchen, das Sie, wie wir Schülerinnen spazieren gingen, von dem Hunde retteten, der sich am Fischerhaus von der Kette gerissen hatte und auf uns losstürzte, und der mich, weil ich im Entlaufen gestolpert und gefallen war, schon an den Kleidern gepackt hatte.“ …

„Und Sie haben mich gleich wieder erkannt?“ fragte der Wanderer.

„Wie sollt’ ich nicht?“ erwiderte Juli unbefangen. „Es wär’ ja schlecht von mir, wenn ich Sie vergessen hätte … der böse Hund hätte mich gewiß zu Schanden gerissen, wenn Sie nicht gewesen wären. … Es ist mich hart genug angekommen, daß ich Ihnen nicht einmal habe danken können, denn die Klosterschwester, die uns spazieren führte, ist gleich mit uns dem Kloster zugelaufen, und ich habe mich auch nicht darauf besonnen in meinem Todesschrecken. … Ich habe Angst genug wegen Ihnen ausgestanden, denn es hat geheißen, der Hund sei wüthend gewesen und habe Sie in den Arm gebissen.“ …

„Das Letztere war auch der Fall!“ sagte lachend der junge Mann. „Ich glaube wohl, dem Köter die wilde Lust vertrieben zu haben, aber bis ich ihn so weit gefaßt hatte, war ihm Zeit genug geblieben, mir in meinem Arm zum bleibenden Andenken einen Abdruck seines Gebisses zurückzulassen. … Daß er aber nicht wüthend war, mögen Sie daraus ersehen, daß ich das Glück habe, ganz und heil vor Ihnen zu stehen!“

„Gott sei Dank, tausend und tausendmal!“ rief das Mädchen, dem unwillkürlich ein Seufzer entschlüpfte. „Wie ich wieder einmal heraus durfte, war es mein Erstes, mich nach Ihnen zu erkundigen – aber Sie waren schon fort und Niemand konnte mir Ihren Namen nennen – sie sagten, es kämen der Maler gar zu viele auf die Insel.“ …

„So halten Sie mich wohl auch für einen Maler?“ sagte der Jüngling, indem er sie fragend ansah. „Ich kann das nicht

[357]

In einer schwedischen Dorfkirche.
Nach dem Oelgemälde von Nordenberg in Düsseldorf.

[358] bestätigen – allerdings war ich damals in Gesellschaft einiger Freunde, die sich eine so schöne Lebensaufgabe gewählt haben, aber mein Beruf ist ... ich weiß nicht, soll ich Ihnen gegenüber leider oder Gottlob sagen – ein viel gewöhnlicherer und alltäglicherer ... ich bin ein Bauer oder ein studirter Landwirth, wenn Ihnen das besser klingt, und habe mich jetzt zu meiner Uebung der Feldmesserei gewidmet. ... Aber das ändert wohl nichts, Sie würden sich gewiß nach mir erkundigt haben, wenn Sie auch gewußt hätten, daß ich kein Maler bin?“

„Gewiß, gewiß ... Ich wollte Ihnen ja danken! So ist mir nichts Anderes übrig geblieben, als für Sie zu beten – aber ...“

„Nun - Sie stocken? Was für ein Aber konnte Sie in diesem frommen Vorhaben stören?“

„Die hochwürdige Frau Gisela ... meine Lehrerin,“ erwiderte Juli etwas zögernd, „die hat es mir verboten ... sie meinte, es schicke sich nicht für ein Mädchen, so viel an einen jungen Mann zu denken, wenn er ihr auch das Leben gerettet habe – ich solle das nur dem lieben Gott überlassen, der würde es schon recht machen ... Sie war eine liebe seelgute Frau, die Mutter Gisela, ich versprach auch, ihr zu folgen – aber ...“

„Wie – noch ein Aber?“

„Aber,“ fuhr das Mädchen in lieblicher Unbefangenheit und mit einem schalkhaften Lächeln fort, „ich habe es doch nicht lassen können und habe doch für Sie gebetet, und jetzt kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie es mich freut, daß Sie gesund geblieben sind und daß ich Sie nun doch einmal wiedergesehen habe – und daß Sie ...“

„Daß ich –? Nun?“

Neue Verlegenheit goß ihren Purpur über das Antlitz des Mädchens. „Daß Sie ein – daß Sie kein Maler sind ...“

„Na, was giebt’s denn da? Wie lang’ soll denn der Herr noch warten, bis er sein Bier bekommt?“ rief jetzt die derbe Stimme des Bergwirths dazwischen, der indessen sein Gespräch mit dem Geistlichen beendet hatte, weil der Stellwagen seine Weiterfahrt antrat und die Passagiere sich ebenfalls auf die Beine machten, um den Bergweg in der Abendkühle zu Fuß hinab zu gehen, anstatt sich in dem engen stoßenden Räderkasten durchrütteln zu lassen.

„Ach du lieber Gott,“ rief das Mädchen in reizender Verwirrung, „darauf habe ich ganz und gar vergessen ...“

„Meiner Treu’ – ich nicht minder!“ rief lachend der junge Mann. „Ich dachte nicht mehr daran, daß ich von der Wanderung ziemlich durstig geworden war – so sehr hat es mich erfreut und erfrischt, eine so liebe alte Bekanntschaft zu erneuern!“

„Was? Liebe alte Bekanntschaft?“ rief der Wirth und trat ganz nahe hinzu. „Wie wär’ mir denn das?“

„Ja, Vater,“ sagte Juli fröhlich, „denkt Euch nur die unverhoffte Freud’. Ich hab’ Euch ja erzählt, wie mich auf der Fraueninsel ein wilder Hund angefallen hat ... denkt Euch nur, das ist der Herr, der mir geholfen hat!“

„So? – Ah, das ist ein andres Korn,“ sagte der Wirth plötzlich umgestimmt, indem er den Hut wirklich abnahm, das Mädchen aber enteilte, die verspätete Erfrischung herbei zu bringen. „Mit Verlaub,“ fuhr er dann so artig fort, als er zu sein vermochte, bot dem Gaste die Hand und setzte sich an seine Seite. „Das freut mich, daß der Herr zu uns kommt – mein Mädel hat sich’s schon lang’ gewünscht und die Juli – ich mach’ kein Geheimniß daraus, die ist mir an’s Herz gewachsen, und wer ihr was Lieb’s anthut, der hat mir’s auch gethan ... Also womit kann ich aufwarten? Was wär’s etwa, womit ich dem Herrn eine Freud’ machen könnt’? Woher kommt denn der Herr, wenn man fragen darf? Wo will er hin? Was ist der Herr denn eigentlich in seiner Profession?“

„Mein Name ist Franz Falkner,“ sagte der junge Mann, indem er lächend in die dargebotene Hand einschlug – „meines Zeichens bin ich ein Oekonom und habe die landwirthschaftliche Schule zu Weihenstephan durchgemacht ...“

„So, so!“ unterbrach ihn der Bergwirth. „Nehm’ mir’s der Herr nit übel, aber ich halt’ nit viel auf die studirten, lateinischen Bauern. Aber was wollen ’s dann hier? Der Herr sieht mir nicht darnach aus, als wenn er einen Dienst suchen und sich hier herum als Bauernknecht verdingen wollt’ ...“

„Das ist auch wirklich nicht meine Absicht ...“ erwiderte Falkner heiter, „ich denke einmal irgendwo ein Gut zu pachten oder eine Verwalterstelle zu suchen; jetzt aber bin ich für eine Weile der Landwirthschaft untreu geworden und unter die Feldmesser gegangen ...“

„Ich wüßte doch aber nit, was es bei uns zu vermessen geben sollt’?“ fragte der Wirth verwundert.

„Wie könnt Ihr so fragen, Bergwirth?“ rief Falkner, „Ihr wißt doch, daß es endlich Ernst werden soll mit dem Bau der Eisenbahn ...“

(Fortsetzung folgt.)




Leid und Freude in der Naturforschung.
Vortrag gehalten im Saale der Buchhändlerbörse zu Leipzig von Prof. C. Ludwig.
(Schluß.)

Die alte Anklage der Künstler, daß der Natur das Schöne nur zufällig gelinge, wiederholt die Wissenschaft, trotzdem daß sie die Erfindungsgabe und die Technik der Natur bewundern muß. Wie erhaben sie als Techniker über dem menschlichen Können steht, das leuchtet am besten dem Physiologen ein, wenn er die organischen Gebilde zergliedert.

Zunächst bei der Herstellung des Materials. – Um den Metallglanz der Feder, den Krystall des Auges, den Stahl des Knochens und die elastische Weichheit der Haut zu erzeugen, greift sie nicht wie der Künstler zu Glas und Metall, zu Holz und Kautschuk, kurz zu den verschiedenartigsten Stoffen, sondern sie baut dieses Alles aus ein und derselben Substanz auf, der sie durch geringe Beimischungen und kleine Aenderungen der Structur die Eigenschaften zu ertheilen weiß, durch welche jeder Theil seine Besonderheit empfängt; somit wird durch das locale Gepräge der gemeinsame Charakter nicht verwischt, und trotz aller Mannigfaltigkeit der Erscheinung bewahrt ein jedes Werk schon durch das gleichartige Material seine charakteristische Einheit.

Und nun kommt die Durchbildung des Details; wie sinnreich ist hier ihr Verfahren! Die barbarischen Methoden, mit welchen der Mensch formt und vervielfältigt, Drehbänke, Meißel, Pinsel, Schablone und Presse sind ihr fremd; sie preßt nicht das Einzelne zum Ganzen, sondern sie beginnt den Aufbau mit dem Kleinsten, mit den unsichtbaren Atomen, und läßt diese scheinbar durch eigene Wahl zum Ganzen werden. Dann stellt sie, nachdem aus der Zusammensetzung von Atomen ein mikroskopisch sichtbares Gebilde geworden, in der Zelle der weiteren gleichartigen Zusammenhäufung eine Grenze, die aber immer noch weit unter der Größe des feinsten Sandkorns zurückbleibt. Jede dieser Zellen wird als ein besonderer Mittelpunkt selbstständiger Formgebung behandelt, und zugleich empfängt sie je nach ihrem Standorte besondere Eindrücke von außen her. Indem sich nach einem bestimmten innern Gesetze Zelle an Zelle lagert, von der eine jede von innen herauswächst, entstehen die großen mit freiem Auge sichtbaren Gebilde als das Product vielfacher gleichzeitiger Arbeiten. So erklärt es sich, weil sie alle Zufälligkeiten der äußeren Einwirkung in das innere Gesetz einwebt, daß die Natur trotz ihrer maschinenmäßigen Arbeit doch kein Haar, kein Hautschüppchen, wieviel weniger ein Auge oder eine Hand der andern gleich macht. Wenn wir uns nicht angewöhnt hätten, aus einem Negativ viele photographische Abdrücke zu machen, sondern für jedes neue Bild eine neue Aufnahme ausführten, so würden wir in dieser Technik etwas entfernt Aehnliches erreicht haben, wie dieses der Natur in millionenfach verschiedener Weise gelingt. Wie oft muß der menschliche Künstler seine Methode der Darstellung principiell ändern, um auch nur ganz entfernt jener Mannigfaltigkeit in dem Gleichartigen nahe zu kommen!

Auch in der Proportion der Formen ist sie Meisterin, vielleicht [359] schon darum, weil sie nicht wie der Mensch ihre Werke stückweise entstehen läßt. Sie fertigt nicht erst das Gerüst und füllt und umkleidet dieses mit seinem Inhalte und seinem Ueberzuge, sondern sie legt schon in den Keim die Anlagen aller zukünftigen Formen, so daß der Rumpf mit den Gliedmaßen, die Haut und die Muskeln zugleich mit den Knochen heranwachsen. So wird jeder Theil vom benachbarten gefördert, und jeder beschränkt auch zugleich den anderen, weil alle gleichzeitig aus demselben Material ihren Bildungsstoff beziehen. – Trotz alledem gelingt ihr nicht Alles, denn zahlreiche Mißgeburten entstehen auch in der Werkstätte der Natur – aber was nicht proportionirt ist, das zertrümmert die Prüfung des Lebens, weshalb die große Zahl der Fehlfälle nicht zur großen Summe wird. Müßten alle Statuen unserer Bildhauer und alle Bäume unserer Landschafter die Probe des Schreitens oder des Widerstandes gegen die Eingriffe des Klimas ablegen, so würden uns auch unsere Kunstsammlungen weniger reich an Fehlern erscheinen.

Mit der Güte des Materials, der Durchbildung des Details, dem Festhalten der Proportion ist auch die Kunst der Natur zu Ende. Nach den Anschauungen, die neuerlichst in der Entwickelungslehre der organischen Wesen fast ausschließlich zur Herrschaft gelangt sind, soll die Natur den Bau ihrer Geschöpfe methodisch verbessert haben. Nach der modernsten Phase, welche Darwin’s berühmte Lehre erfahren hat, sollen Frosch und Kröte Vorstudien der Natur zur menschlichen Gestalt gewesen sein. Danach wäre ihr Bildungsfähigkeit nicht abzusprechen, aber ihr künstlerischer Sinn wäre auf das Tiefste gebrandmarkt, wenn sie heute noch den Standpunkt, den sie selbst überwunden hat, fort und fort von Neuem einnähme. Doch wie es sich auch mit der Wahrheit unserer heutigen Naturphilosophen verhalten mag, Eins bleibt sicher: es bildet die Natur, dem Sinne des Künstlers gerade entgegen, leicht und zahlreich das Häßlichste wie das Schönste, und Alles baut und formt sie mit gleicher Sorgfalt und Liebe. In welche Verirrungen unsere heutige Kunstindustrie auch verfallen ist, so tief steht sie nicht, daß sie zugleich um die Gunst der edlen Jungfrau und die der Auster und Spinne buhlte.

Den Meisten unter Ihnen werden die Betrachtungen, welche ich bis dahin angestellt, fremdartig genug klingen, und besonders unerwartet wird es Ihnen sein, sie aus dem Munde eines Naturforschers zu hören, da doch sonst nur Lob und Preis der Wissenschaften ertönt, welche der Neuzeit ihre Signatur aufdrückten. Und doch, so schmerzlich es ist, an dem Inhalte unserer Wissenschaften kann sich kein menschliches Gemüth erquicken, vorausgesetzt immer, daß man den ganzen und vollen Inhalt erfaßt und nicht etwa eine poetische Auslese aus ihm hält.

Anders aber gestaltet sich die Lage, wenn wir vom Wissen zum Können, von dem Begreifen zum Beherrschen übergehen. Mit diesem Schritte gewinnen wir einen neuen und überwältigenden Gesichtspunkt.

Die Mutter Natur hat sich nicht damit begnügt, uns mit einem gebrechlichen Leibe zu begaben, sie hat uns vorsorglich auch mit Gefahren umstellt, sie hat uns mit dem Drange zum Nachdenken erfüllt und uns in die Welt aller Räthsel gesetzt, sie hat uns den Trieb zum Schaffen geschenkt und neben uns Gewalten wachgerufen, die unserer schwachen Körperkräfte spotten, sie hat uns die Liebe zu den Kindern und den Volksgenossen eingeflößt und freiwillig nur kärgliche Nahrung gereicht, so daß dem völkererzeugenden Stamme der Hunger als Zugabe zur Liebe gereicht ward. In dieser Lage bleibt kein Ausweg als die Arbeit des Erkennens, welches zur Herrschaft über die Naturkräfte führt. Die Naturwissenschaften, die Kinder der Noth, bieten das einzige Mittel, um zum Selbstgenuß des Geistes zu gelangen.

Das Ziel ist lockend, aber es liegt in weiter Ferne, denn das, was wir Natur nennen, ist ein dichter Knäuel vielfach verschlungener Fäden, der nicht willkürlich von jedem beliebigen Ort an zu entwirren ist. Jeder folgende Schritt ist vergeblich oder belohnt zum Mindesten nur spärlich die angewendete Mühe, wenn nicht schon der vorhergehende gethan ist.

Den Beweis für diesen Satz giebt in überraschender Weise die Entwickelungsgeschichte der physiologischen Wissenschaft. Der Leib des Menschen ist, wie wir heute mit unumstößlicher Gewißheit erklären, nichts Anderes als eine sinnreiche Zusammensetzung aus mancherlei Werkzeugen, in welchen keine bevorzugten, sondern nur die Kräfte der unorganischen Welt beschäftigt sind; was hätte somit näher gelegen, als daß der Mensch durch eine Zergliederung seines leiblichen Lebens oder dessen der Thiere, welche ihm an Körperbau nahe stehen, zu einer Einsicht in die Vorgänge der unbelebten Natur gedrungen wäre, und doch ist dieser Weg kein einziges Mal von der Naturforschung mit Erfolg eingeschlagen worden. Ja noch weiter, wir haben kein Organ unseres Leibes und sein Wirken eher begriffen, als bis ein Analogon seiner Maschinerie in der unorganischen Natur verstanden war.

Als an der Hand der Astronomie die Grundlagen der Mechanik geschaffen waren, erst da sah der Anatom in dem längst bekannten Knochengerüst das Gesetz des Hebels verwirklicht. Bevor das Fernrohr und das Mikroskop zusammengesetzt waren, ist keinem der vielen Zergliederer des Auges die Einsicht geworden, daß unser Werkzeug, mit welchem wir die Lichtstrahlen sondern und vereinigen, nichts Anderes anstrebe und erreiche, als die genannten Apparate der Optiker. Erst nach den Entdeckungen der Volta’schen Säule wurde auch in unseren Nerven und Muskeln die elektrische Batterie gefunden. Danach wird es auch nicht verwunderlich, daß die Dampfmaschine keiner Wissenschaft größere Dienste als der unsrigen geleistet hat.

Mit der Maschine war zum erste Male ein selbstthätiger Mechanismus künstlich erbaut, in dem sich das Spiel der Kräfte durchsichtig genug gestaltete, um den Zusammenhang zwischen der entstandenen Wärme und der gelieferten Bewegung zu erkennen. Unverzüglich löste sich auch dem Physiologen das große Räthsel der Lebenskraft, indem es sich zeigte, daß es mehr als ein blos poetischer Vergleich sei, wenn man die Kohle als das Nahrungsmittel der Locomotive und die Verbrennung als den Grund ihres Lebens auffasse.

Die Erklärung des Lebens geschah an der Hand der Mathematik, Chemie und Physik, natürlich nicht dadurch, daß die dort gefundenen Lehrsätze und Thatsachen unmittelbar auf die Organe des Thieres und seine Leistungen übertragen wurden; dagegen schützt schon der ganz abweichende Bau und die eigenthümlichen Mittel, mit denen derselbe hergestellt ist. Aber so viel Mühe und Scharfsinn es gekostet hat, die grundsätzliche Uebereinstimmung zwischen dem Organischen und Unorganischen in jedem besonderen Falle darzuthun, die Principien, welche in den reinen Naturwissenschaften gefunden worden, sind doch der Leitstern gewesen, welcher den Physiologen geführt hat.

Darum bleiben auch die Gebiete, auf welchen uns kein dort gefundener Grundsatz leitet, trotz aller Anstrengung im Dunkeln. So wissen wir z. B., daß die Zelle sich ernährt, wächst und theilt, daß sie zahlreiche chemische Verbindungen erzeugt, daß sie das Einfache aufnimmt und das Zusammengesetzte abgiebt; wir wissen, daß sie im Verlauf ihres Lebens je nach Stand, Ort und Bedingung zahlreiche Formen verschiedenster Art, bewegliche und starre annimmt; kurz wir wissen, daß sie der Baumeister unseres Leibes ist. Warum aber gerade diese Formen und diese Stoffe das Wachsthum bedingen, das bleibt uns unbekannt. Mit Sehnsucht sehen wir darum der Entdeckung der Urzeugung, eines homunculus, wenn Sie wollen, entgegen; erst wenn dieser Traum und sei es auch noch so unvollkommen, verwirklicht, wenn erst nur ein Rudiment entwickelungsfähigen Stoffes künstlich hergestellt ist, dann wird auch bald das große Problem der natürliche Entwickelung begriffen und die volle Herrschaft des Arztes und des Landwirthes über die Entwickelung von Pflanze und Thier gewonnen sein.

Doch das volle, das philosophische Verständniß, in welchem die verwickelten Vorgänge der Natur sich aus den wenigen und einfachen Grundsätzen ableiten, die wir kraft unseres Denkens als unzerlegbar ansehen, ist glücklicherweise nicht immer nöthig, um unsere Kenntnisse praktisch zu verwerthen. Jede, wenn auch noch so beschränkte Einsicht führt zu einer entsprechenden Beherrschung der Kräfte. Die Geschichte belegt diesen Satz mit tausend Beispielen, denn worauf gründet sich die Darstellung des Glases, das Pfropfen des Reises, die Anwendung des Opiums, Techniken, die weit in das Alterthum reichen, anders als auf eine genaue Kenntniß von den natürlichen Producten und Processen.

Aber zur vollen und unbedingten Herrschaft gelangen wir nur an der Hand der Theorie, weil sie nicht ein künstliches, sondern ein aus dem Inhalte zahlloser Erfahrungen abgeleitetes Wissen ist, welches das Heer der Naturerscheinungen unserem Verstande so deutlich ausspricht, daß er sie trotz seiner Beschränktheit [360] fassen kann. Weil es aber vollkommen unmöglich ist, daß alle Erfahrungen, auf welche sich die Theorie erstreckt, ihrer Aufstellung vorausgegangen, so steht von vornherein nicht fest, ob sie die volle Wahrheit enthält, und darum liegt es ihr selbst an, sich weiter und weiter zu bestätigen. Sie schließt nie ab, sondern sie ist die lebendige Wurzel und der Sporn der weiteren Forschung, und abermals nicht des ziellosen Forschens durch die Beobachtung, sondern des bewußten durch den Versuch; sie giebt im Voraus an, welche Bedingungen zu erfüllen sind, welche Maßnahmen zu ergreifen, damit ein bestimmter Erfolg gewonnen werde. Somit weist uns die Theorie auf schon durchsuchten Gebieten zurecht und zugleich erschließt sie uns neue und zeigt uns den kürzesten Weg in das Wesen aller Dinge.

Diese Art der Forschung, welcher die Speculation vorausgeht, kennzeichnet die Naturforschung seit dem Ende des Mittelalters, aber erst seit dem Ende des siebenzehnten Jahrhunderts nahmen die Hypothesen, die zur Beobachtung führen, die Eigenschaft der Theorie an, wie wir sie heute verstehen, und kaum seit drei Jahrzehnten haben sich unsere theoretischen Ansichten zu einer solchen Allgemeinheit erhoben, daß sie fast alle bekannten Erscheinungen der Natur unter wenigen allgemeinen Gesichtspunkten zusammenfassen.

Heute kann die Theorie unzählige Erfolge voraussagen, und wo dies nicht, da giebt sie wenigstens in allgemeinen Umrissen den Weg, durch welchen der Aufschluß zu gewinnen ist, und wenn auch nicht über ein ganzes Gefüge von Erscheinungen, so doch wenigstens über einzelne Fäden, welche in das Gewebe eingeschlungen sind. In diesem Reichthum der Theorie liegt die Ursache der gewaltigen Entfaltung, welche unsere Special-Kenntnisse in wenigen Decennien erfahren haben.

Wenn wir den ungeheuren Kreis von Menschen betrachten, die heute im Dienste der Theorie schaffen, vom Heizer der Maschine bis hinauf zu den Spitzen der Wissenschaft, so erkennen wir leicht, daß nicht Alle gleichmäßig von den Früchten der Erkenntniß genossen haben.

Nur Wenigen ist es vergönnt, die Myriaden von Erscheinungen und den Kampf der Kräfte in den Zeichen darzustellen, durch welche die Mathematik ihre rein formalen Operationen ausdrückt, nur Wenigen, diese leblosen Zeichen so zu bewegen, daß sie in voller Wahrheit die Harmonie und den Conflict der Naturkräfte wiederspiegeln. An diese einsamen Spitzen schließt sich eine andere größere Reihe von Geistern an, welche die Resultate des abstracten Denkens zwar verstehen, aber auf Treu und Glauben hinnehmen müssen, um sie in Ausdrücke zu übersetzen, die dem Arbeiter verständlich sind, der schließlich die Befehle der Formel zur praktischen Ausführung bringt.

Der mathematische Physiker, nach dessen Anleitung der Ingenieur und der Mechaniker arbeiten, empfängt aber selbst das Material für sein Denken von dem Forscher. Diesen leiten im Beginn allerdings nur die feinen Sinne und ein richtiger Tact, Hülfsmittel, die er von Hause aus mitbringt. Aber kaum hat er mit ihnen nur einige der Bedingungen erkannt, die der Erscheinung eigenthümlich, so legt er auch den Maßstab an die Kräfte und beantwortet mit ihm die Fragen der Theorie.

Keiner menschlichen Kraft ist es gegeben, die Aufgaben allein zu bewältigen, welche uns die Wissenschaft im weitesten Wortsinn vorlegt; viele Tausende müssen sich in sie theilen, zum Vortheil der Wissenschaft, aber auch zugleich zum Gewinn des Menschen. Neben dem Berufe bleibt so dem Fachmann Kraft und Zeit, um sich der Familie, dem Staate, der Kunst zu widmen, so daß in die menschlichen Kreise auf allen Stufen der Bildung Männer eintreten, welche von der Gesetzmäßigkeit der Natur durchdrungen sind. Die Schärfe, die Klarheit, die Genauigkeit des Denkens und Schaffens fordern sie natürlich auch in den Erzeugnissen der Kunst, in den Gedanken der Geisteswissenschaften, in der Praxis des Staates. Wer kann den Einfluß leugnen, den sie auf die Gestalt des geistigen und sinnlichen Lebens der Culturvölker geübt haben?

Ein Trieb nach Arbeit und Genuß ist in die Welt getreten, wie er früher unerhört war. Längst schon genügen nicht mehr die Gaben, welche der Himmel und die Erde freiwillig spenden. Die Kohle, die Mumie vergangener Wälder, wie tief und wie heimlich sie sich versteckt, entgeht dem Auge und dem Spaten nicht; der Rückstand vertrockneter Meere, vor Jahrtausenden dem festen Land entspült, muß an das Licht zurück, um den Acker zu befruchten; die Producte der Retorte wetteifern an Duft und Farbenpracht mit den Erzeugnissen der Natur; von ihrer Urheimath entführt wird die Pflanze und das Thier in ferner Zone gezüchtet, selbst zu den Tausenden der natürlichen Formen in der organischen Welt werden neue Arten erzeugt. Ueberall drängt sich ein Fordern und Gewähren, so daß, wenn früher dem Talente die Arbeit, heute der Arbeit das Talent fehlt. Vom Bedürfniß getrieben, vom Erfolge gelockt, durchbrechen die niederen Classen der Gesellschaft die alten Schranken und selbst das schwächere Geschlecht trägt die Früchte seines Fleißes auf den Markt des Lebens.

Wer aber einmal nach vorgestecktem Ziele die Kräfte der Natur in den Kampf geführt, der will nicht für immer die Lust des Herrschens missen; wem es aber gelang, aus dem Kampfe der Gewalten eine Beute davonzutragen, eine heilende Arznei, ein Werkzeug, das der Hand die Arbeit abnimmt, einen Stoff, einen Klang, eine Farbe, welche die Sinne ergötzt, wer seinem Verstande die Gabe verdankt, mit der er die Mitwelt erfreute, der bleibt für immer der begeisterte Diener der Wissenschaft. In unseren Kreisen giebt es keinen Abfall. Wir kennen nur den Zuwachs, und dem Zuge, der unsere weiten Kreise durchglüht, widersteht keine Gewalt des Menschen, kein Khedive und kein Czar, und voraussichtlich keine Gewalt unseres Erdballs.

Ueberall, wo die Wissenschaft und ihre Jünger eingreifen, zeigt sich der Erfolg. Kaum kann noch ein Zweifel bestehen, daß wir auf dem Wege sind, durch den es im Laufe der Zeiten gelingen muß, der Menschheit die Kräfte zu Füßen zu legen, welche auf diesem Himmelskörper im Bereiche des Organischen und des Unorganischen walten.

Und wenn es geschehen, wenn die Thaten, die bis dahin die Naturwissenschaft vollführt, als verschwindende gegen die erscheinen, welche sie dereinst geleistet hat, wird dann die Menschheit edler und glücklicher sein? Wird, wenn wir das Klima des Nordens gebändigt, die Phantasie des Südländers bei uns einkehren? Wird, wenn wir Stimmung und Klang der musikalischen Instrumente, wenn wir Leinwand und Farben auf die höchste Stufe der Vollkommenheit gebracht, wieder das goldene Zeitalter der Kunst unter uns entstehen? Und wird, wenn wir den Ueberfluß geschaffen, nur die Freude und das Wohlwollen uns beseelen? Fast hat es den Anschein vom Gegentheil.

Nicht heute, wo die Zeiten so unendlich und der Himmel so hoch erscheinen, sind die ewigen Grundlagen des Rechts und der Sitte entdeckt, sondern in den Zeiten, wo das Märchen von den sieben Schöpfungstagen und von den Engeln, die auf Leitern in den Himmel steigen, gedichtet wurde. Die Werke der bildenden Kunst, die Schönheit und die Bewegung des menschlichen Leibes hat die Hand und das Auge des Hellenen erkannt und geschaffen, der vor der Zergliederung des Körpers mit religiöser Scheu zurückbebte. Die tausend Augen, welche der schnelle Dampf in das Hochgebirge führt, haben uns kein Bild von ihrer Pracht zurückgebracht, wie es der häusliche Dichter des Tell gethan und die Schöpfer der herzerschütternden Symphonien schieden von uns, noch ehe das Gesetz des harmonischen Accords erkannt war.

Vergleichen wir die Kraft des Schaffens in den Gebieten der Kunst und der Philosophie, ja das Verständniß ihrer Werke, die heute vorhanden sind, mit dem, was in glücklicheren Tagen der Vorzeit geschah, so wird uns kaum die Ueberzeugung des Fortschritts erwachsen. Sollte uns darum der Gedanke kommen, daß die Fortschritte der Naturwissenschaften den Rückschritt unserer Seele bedeuten?

Wir sagen: „Nein.“ Weil der Himmel voll Welten und die Erde voll der starken Gesetze, wird die Frage nach dem Woher und Wohin dieser Unendlichkeit nur voller erklingen; weil der Verstand und die Thatkraft wuchsen, muß auch das Recht und die Sitte erstarken, weil der Geist, der den Mechanismus unterwarf, sich höher und freier empfinden muß. Darum leben wir der Ueberzeugung, daß auf diese Zeit der äußeren Arbeit eine andere des inneren Lebens folgen wird, die, von dem Erwerb unserer Wissenschaft getragen, sich reicher als je entfalten muß. Dann mögen in den Sagen jener glorreichen Zukunft die Kämpfer unserer Zeit den Heroen des grauen Alterthums vergleichbar werden, die dem Lindwurm den Tod und dem Landmann den Frieden brachten.




[361]
Der Strike der Schmiede.[1]
Von François Coppée, deutsch von Eduard Mautner.


Ihr Herren vom Gericht, erlaubt mir kurz zu sein;
So war’s: die Schmiede stellten ihre Arbeit ein.
Es war ihr Recht. ’s war kalt, ’s lag tiefer Schnee,
Und schon zu lang’ that uns der Hunger weh.
Am Samstag, als der Wochenlohn bezahlt,
Da führt man mich mit schmeichelnder Gewalt
In’s Wirthshaus, und Gesellen, grau von Haaren –
Von mir sollt ihr die Namen nicht erfahren –
Die sagen:
 „Die Geduld, Gevatter, ist zu Ende
Wir wollen höh’ren Lohn, sonst kreuzen wir die Hände;
Man schindet uns, ein and’res Mittel fehlt,
D’rum wurdet Ihr, als Aeltester, gewählt;
Geht zu dem Herrn, um ruhig ihm zu sagen,
So wie er uns’re Ford’rung abgeschlagen,
Ist blauer Montag fortan jeder Tag.
Gevatter, seid Ihr unser Mann?“
 Ich sag’:
„Ich thu’s, wenn es zu Nutz den Cameraden.“

Herr Präsident, ich baue keine Barricaden,
Bin alt und friedlich und mißtrau’ den Herr’n,
Die unsereins für sich in’s Feuer schicken gern.
Doch konnt’ ich diesem Auftrag mich entzieh’n?
So nehm’ ich’s denn auf mich und gehe hin.
Der Herr ist just bei Tisch, man führt mich bei ihm ein;
Das Elend zeig’ ich ihm und uns’re ganze Pein,
Die Wohnungsnoth, das theure Brod; ich sag’ ihm rund heraus:
So kann’s nicht weitergeh’n; genau dann rechn’ ich aus,
Was er verdient, was wir; das Ende ist davon:
Er könnt’ besteh’n auch bei erhöhtem Lohn.

Er knackt sich Nüsse auf und hört mich ruhig an,
Und sagt sodann zu mir:
 „Ihr seid ein braver Mann,
Gevatter Jean, und die Euch hergesandt,
Die wußten wohl, weshalb sie sich an Euch gewandt.
Für Euch ist stets in meiner Werkstatt Platz.
Doch wißt: zu Grunde richten müßt’ mich Euer Satz!
Ich sperre morgen zu, Gevatter! Meiner Treu’!
Wer Unruh’ stiftet, thut es nur aus Arbeitsscheu!
Sagt ihnen das, es ist mein letztes Wort.“
Ich sage: „Wohl, mein Herr!“
 und gehe ruhig fort;
Mit schwerem Herzen zwar, jedoch vor allen Dingen
Will ich, wie ich versprach, den Freunden Antwort bringen.

Nun bricht das Wetter los, es wird politisirt,
Man schwört, daß Keiner mehr die Arme rührt,
Dem Schwur der Andern sprech’ ich nach den meinen.

Nicht Jeder, wenn er Abends vor den Seinen
Hin auf den Tisch warf von dem Lohn den Rest,
Fühlt’ sich in seinem Innern froh und fest,
Ich steh’ dafür, nicht Jeder schlief die Nacht,
Wenn er an das, was kommen muß, gedacht;
Denn man gewöhnt den Hunger nicht so bald.
Mich traf die Sache hart: ich bin schon alt
Und nicht allein; als ich nach Hause kam
Und auf die Knie’ die beiden Enkel nahm,
Die Mutter – meine Tochter – starb in Wochen,
Der Vater taugt nicht viel – da sank, was ich versprochen,
Mir schwer auf’s Herz, als ich die fröhlichen Geberden
Der Kleinen sah, die bald den Hunger kennen werden.
Doch war mir mehr nicht als den Andern auferlegt,
Und, da man seinen Schwur bei uns zu halten pflegt,
Bestärkt’ ich mich darin, was meine Pflicht zu thun.

Mein altes Weib kam heim vom Waschplatz nun,
Gebeugt vom Bündel feuchter Wäsch’ den Rücken,
Ich sagte Alles ihr mit scheuen Blicken;
Die Alte sprach kein Wort des Vorwurfs, bleich und bebend
Blieb sie, den Blick vom Boden kaum erhebend,
Lang’ unbeweglich, bis sie so begann:

„Du weißt doch, daß ich sparsam bin, mein Mann;
Ich will das Meine thun, jedoch die Zeit ist schwer
Und kaum für vierzehn Tag’ ist Brod im Hause mehr.“

Ich sagte d’rauf zu ihr: „Kommt Zeit, kommt Rath,“
Doch wußt’ ich wohl, daß, wollt’ ich nicht Verrath
Begeh’n, ich machtlos war, daß heimliche Gewalten
Um aufrecht unsern Widerstand zu halten,
Streng überwachten Den, der sich verpflichtet.

Das Elend brach herein. O ihr, die ihr mich richtet,
Seid überzeugt, daß selbst die größte Noth
Zum Diebe mich zu machen nie gedroht:
Ich stürbe ja vor Scham bei dem Gedanken,
Und ich verlange nicht, man soll’s dem danken,
Der, selbst verzweifelnd, immer unverrückt
Nur der Verzweiflung in das Auge blickt
Und dennoch der Versuchung nicht erlag;
Ja, selbst an jenem eisig kalten Tag,
Als, meiner Ehrlichkeit zum Hohn, so Weib
Als Enkel zitterten am ganzen Leib
An uns’res Herdes feuerlosen Steinen,
Als dieser Kinder Schrei’n, als meines Weibes Weinen
Aus frosterstarrter Gruppe schrill und wild
Erklang – niemals – bei diesem Christusbild
Beschwör’ ich es, ist meinem Geist genaht
Der Straße heimliche und feige That,
Bei der das Herz erbebt, das Auge späht, die Hand zugreift;
O, wenn ich jetzt den Stolz von mir gestreift,
Wenn ich vor euch mich beugen muß und weinen,
Ist’s, weil ich wiederseh’ im Geist die Meinen,
Für die ich that; was mich hieher geführt.

Wir lebten denn zunächst, wie sich’s gebührt,
Wir aßen trock’nes Brod, und Alles ward versetzt;
Die Stube ward mir zum Gefängniß jetzt,
Denn unsereinen duldet’s nicht im Zimmer,
Ich litt darunter und fand’s nicht viel schlimmer,
Als später hinter mir des Kerkers Riegel klang.
Mein zweites Leiden war der Müßiggang:
Man glaubt es nicht, doch soll man’s nur probiren,
Gezwungen seine Arme nicht zu rühren,
Da merkt man’s erst, wie uns die Werkstatt theuer
Und diese Luft voll Eisenstaub und Feuer!

Bald war kein Sou in unsrer Wirthschaft mehr.
Ich ging inzwischen ruhelos umher
G’rad vor mich hin, ziellos und wie berauscht
Hab’ ich dem dumpfen Lärm der Stadt gelauscht,
Der besser noch als Schnaps den Hunger bringt zum Schweigen.
Einst, als ich heimgekehrt, der Tag war schon im Neigen,
Ein Tag war’s von Decemberfrost durchschauert,
Fand ich mein Weib, in eine Eck’ gekauert,
Die Enkel an die Brust gedrückt – im Nu
Durchzuckt es mich:
 ihr Mörder, der bist du!

Mein Weib sprach sanft zu mir, mit zagem Blick:
„Das Leihhaus wies das letzte Bett zurück –
Es ist zu schlecht. Was willst du jetzt beginnen,
Um Brod für diese Kinder zu gewinnen?“

[362]

Ich faßte mir ein Herz und sprach: „Ich gehe schon,
Die Arbeit nehm’ ich auf zu uns’rem alten Lohn;“
Und ob ich gleich besorgt um den Empfang,
War in die Schänke doch mein erster Gang,
Wo immer noch die Führer hielten Rath.
Zu träumen glaubte ich, als ich in’s Zimmer trat,
Man zechte hier – wir litten Hungerspein –
Man zechte – die ihr zahltet diesen Wein
Und so für uns gewebt das Hungertuch,
Euch treffe, euch des armen Greises Fluch!

Als ich genähert mich der Zecher Kreis,
Die Stirn gesenkt, das Auge roth und heiß,
Da merkten sie, was mich hieher geführt;
Doch von den finst’ren Blicken ungerührt,
Nahm ich das Wort:
 „Ich sag’s euch frank und frei,
Mein Weib, gleich mir, ist sechzig Jahr vorbei,
Und uns’re Enkel blieben uns zur Last;
In uns’rer Kammer ist der Hunger Gast
Und Alles ist versetzt – ein Bett in dem Spital
Für meinen Lebensrest und dann im großen Saal
Für meinen Leichnam der Studenten Messer –
Das ist es, was noch meiner harrt – nun gut!
Ein schlechter Schluß zwar, aber meinen Muth
Zerbricht er nicht! Doch für die Meinen will ich’s besser!
Wißt denn: Zur Werkstatt kehre ich allein;
Doch bitt’ ich euch vor Allem: willigt ein,
Damit mir Niemand meine Ehre schände;
Mein Haar ist weiß, und schwarz sind meine Hände,
Seit vierzig Jahren bin ich Schmied, in Ehren,
Laßt mich zurück zu meiner Werkstatt kehren;
Zum Bettelnlernen bin ich schon zu alt,
Und dann, o, welche traurige Gestalt:
Mit Furchen auf der Stirne, die gegraben
Die ew’gen schweren Hammerschläge haben,
Nach Gaben strecken eine nerv’ge Hand!
Ich fleh’ euch an – nein, es ist keine Schand’,
Bin ich der Aeltste doch und darum ist’s nur billig,
Zeig’ als der Erste auch ich mich zu fügen willig.
Ich bin zu Ende. Seid ihr bös?“
 Da ruft,
Indem er vortritt, Einer:
 „Feiger Schuft!“

Ein eisigkalter Schauer faßt mich an,
Ich seh’ nach ihm, der mir den Schimpf gethan:
Ein junger Bursche war’s – gleich einer Dirne
Trug er das Haar in Ringeln an der Stirne,
Und sein Gesicht war fahl vom Lampenschein
Der Kneipenbälle und erhitzt vom Wein.
Er starrt mich höhnisch an – die Andern schwiegen,
Mein Herz nur hämmert, meine Pulse fliegen.

Da faßt’ ich meine Stirn mit beiden Händen
Und rief: „So sei’s, die Meinen mögen enden,
Ich werde nicht in uns’re Werkstatt geh’n,
Doch du – ich schwör’s – du wirst mir Rede steh’n:
Wir schlagen uns – ganz wie ’s die Herren thun.“ –
„Wann?“ – „Augenblicklich!“ – „Und womit?“ – „Ei nun!
Wir führen doch den Schmiedehammer Jeder
Weit leichter als den Degen und die Feder;
Ihr, Cameraden, sollt die Zeugen sein;
Zwei Hämmer her! und schließt im Kreis uns ein,
Und du, der niederträchtig feigerweise
Schimpf in das Antlitz schleudert einem Greise,
Zieh’ deine Blouse aus und spuck’ in deine Hand!“

Ich ruf’s und brech’ mir Bahn – dort an der Wand
Liegt altes Eisenwerk in wirren Haufen
Zwei schwere Hämmer, wie gemacht zum Raufen,
Wähl’ ich mir aus und heb’ sie auf im Nu
Und werf’ den bessern meinem Gegner zu!
Der lacht und nimmt mit höhnischer Geberde,
Zu decken sich, den Hammer von der Erde
Und ruft:
 „Du alter Narr, mich schreckst du nicht!“
Ich gehe auf ihn los und schau’ ihm ins Gesicht:
Er senkt den Blick, um seine Schläfe kreisen
Lass’ schwirrend ich des schweren Hammers Eisen,
Der Handwerkszeug und Waffe mir zugleich.

Ein Hund, der heulend unterm Peitschenstreich
Am Boden kriecht, hat nicht so feiges Fleh’n
Im Aug’, wie jenes war, das ich geseh’n
Im Blicke jenes Elenden der zag
Zurückwich jetzt vor meinem wucht’gen Schlag
Bis an die Wand, die einen Rückhalt bot.
Es war zu spät; ein Schleier dicht und roth,
Ein heißer, blut’ger Nebel senkte sich
Um ihn den Schreckerstarrten und auf mich;
Mit Einem Streich hab’ ich sein Haupt zermalmt!

Vergoss’nes Blut empor zum Himmel qualmt.
Ein Mord ist’s – ich verlange nicht, daß man
Als Zweikampf gelten lass’, was ich gethan.
Da lag er, bleich, bespritzt von Blut und Hirne,
Ich senkt’ in beide Hände meine Stirne,
Den Vorwurf fühlt’ ich brennen im Gewissen,
Der Kain’s, des Brudermörders, Herz zerrissen.

Als nun die Cameraden sich mir nahten,
Um mich zu fassen – zitternd, da sie ’s thaten –
Macht’ ich mich los mit leichter Müh’ und sprach:
„Ich selbst verdamme mich zum Tod der Schmach.“

Sie ließen ab von mir – ich hielt zum Sammeln
Dann meine Mütze hin und sprach mit Stammeln:
„Für … nun, ihr wißt …“ Zehn Francs hat’s ausgemacht,
Ein Camerad hat’s meinem Weib gebracht.
Dann ging ich hin und stellt’ mich dem Gericht.

Erzählt hab’ ich die Wahrheit treu und schlicht.
Und wahrlich, nichts habt ihr danach zu fragen
Was mir zu Gunsten mag mein Anwalt sagen.
Genau geschildert hab’ ich diese Dinge,
Damit man sieht, daß oft gleich einer Schlinge
Uns das Verhängniß einer That umstrickt.
Die Kinder hat in’s Spittel man geschickt,
In dem mein Weib dem Kummer unterlag.
Was immer auch für mich nun kommen mag:
Ob Freiheit oder Bagno – mir gilt’s gleich –
Doch ist es das Schaffot – dann dank’ ich euch!




Das Bernsteingold des Samlands und seine neueste Gewinnung.
Von einem Ostpreußen.

Wenn der Besucher der durch ihre malerische Uferschönheit ausgezeichneten westlichsten Hälfte des ostpreußischen Nordstrands Umschau hält von der thurmhoch aufragenden „Fuchsspitze“ des uralten Warnicker Parks voll tausendjähriger Baumwunder, so gewahrt er mit gutem Jägerauge eine starke Meile westwärts am Fuß der Brüsterorter Leuchtthurmspitze eine zumal im Abendstrahl scharf markirte Gruppe kleiner schwarzer Kähne, welche dort regungslos vor Anker zu liegen scheinen. Nahe kommend wird er jedoch bald eine rege Thätigkeit auf und unter ihnen gewahr, welche mit den sonst bekannten nautischen Verrichtungen wenig gemein hat. Es ist dies die Taucherflottille der jungen Königsberg-Memeler Bernstein-Firma Stantien u. Becker.

Bevor wir indeß auf die Schilderung des höchst interessanten neuen Tauchereiverfahrens auf Bernstein, welche zunächst den Zweck [363] dieser Zeilen bildet, eingehen, möge ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Bernsteinsucherei gestattet sein.

Wie im Mittelalter hochnothpeinliche Wegweiser in’s Jenseits, Galgen genannt, längs dem Bernsteinstrande aufgepflanzt, den ungestörten Naturgenuß dieser malerischen Gegend erschwerten, so wissen ältere Leute aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts mehr oder weniger Ergötzliches von den kläglichen Scherereien zu erzählen, die sie von den „Strandkosaken“ jener Tage, den Schutzleuten der damaligen Regalpächter erdulden mußten. Diesem die Badegäste oft in hohem Grade belästigenden Unwesen machte König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1837 ein Ende, indem er das Bernsteinregal den sehr bedürftigen Strandbauern und Fischern gegen geringe Vergütung zu überlassen befahl; ein Recht, welches diese fortan in den ihnen von Urväterzeiten her bekannten Weisen des Schöpfens, Grabens und Stechens ausbeuteten.

So standen die Dinge, als die Herren von der Königsberger Bezirksregierung im Jahre 1862 eines guten Tages durch das Erbieten überrascht wurden, man wolle die Klarmachung des Memeler Fahrwassers im kurischen Haff durch Baggerung, die bisher beträchtliche Summen gekostet, hinfort nicht nur gratis übernehmen, sondern sogar noch fünfundzwanzig Thaler pro Arbeitstag vergüten, wenn das Recht der Bernsteingewinnung darin inbegriffen sei. Dieses willig angenommene Erbieten ging von den Herren Stantien und Becker aus, damals kleine Gewerbtreibende Memels, von denen der erstere bis dahin Kahnschiffer gewesen war und Einsicht in die glückverheißende Situation gewonnen hatte. –

„Viel Geld verdienen ist eine Art Tapferkeit,“ sagt Graf Chlodwig in Auerbach’s neuestem Buch. Nun, an dieser Gattung modernster Ritterlichkeit haben es die eben genannten Herren, recht von der Pike auf gediente Industrie-Obersten, seither wahrlich nicht fehlen lassen.

Auf der Haffseite des Seebads Schwarzort, anderthalb Meilen von Memel auf der kurischen Nehrung gelegen, wo der schöne Rest des alten, unaufhaltsamem Versandungstod verfallenen Hochwalds uns grüßt, wurde das Hauptquartier aufgeschlagen, und rasch blühte hier das San Francisco des neuen ostpreußischen Californiens empor. Schnell wachsendem Bedürfniß folgend bedeckte sich alsbald ein ausgedehnter Bodenstrich mit den Etablistements der neuen Bernsteinfirma: Schiffszimmerplatz, Maschinenwerkstatt, Hafenanlagen, Magazin und Lagerräume, Inspectorwohnung wie Arbeiterbaracken.

Das Gewinnungsverfahren durch Baggerung selbst, nunmehr mit zwölf Dampfbaggermaschinen betrieben, ist der Sachlage angepaßt und völlig zweckentsprechend. Langsam vorrückend und allmählich tiefer dringend graben die zu beiden Selten der Bagger in spitzem Wlnkel gegen den Haffgrund gestellten Schöpfeimer- (Paternoster-)werke zunächst eine grabenartige Rinne in der Bernstein führenden Schicht, indem sie ihren Inhalt in die mit gitterartigem Deckel versehenen begleitenden Prahmkasten entleeren. Mit zunehmendem Tiefgang steigert sich der Bernsteingehalt des so zu Tage geförderten Haffschlammes, bis die Sohle der Bernsteinschicht erreicht ist. Sodann folgt die leichtere und zugleich lohnendere Thätigkeit dieser Schöpfwerke, welche abwechselnd aus dichtgeschmiedeten schweren und siebartig durchlöcherten leichten Eimern bestehen. In der nun fast schlammfreien, meist fünf, oft auch zehn bis fünfzehn Fuß tiefen Wasserrinne rascher sich drehend erzeugen die wuchtigen Eimer eine starke Strömung, welche den Stein lockert und ihn theils diesen, theils den unmittelbar folgenden Siebeimern zuführt, welche ihn wiederum auf jene Prahmgitter ausschütten. Hier wird der kostbare Fund von allem werthlosen Anhang befreit, um, in Säcke gethan, behufs gründlicher Sichtung und Sonderung in die Sortiranstalt zu Memel abzugehen.

In dieser Weise wird mit einem achtstündlich wechselnden Arbeiterpersonal von mehreren Hundert Köpfen Tag und Nacht bei jeder Witterung so lange fortgearbeitet, bis der scharf einsetzende Frost sein strenges Veto spricht.

Man begreift, daß eine solche Arbeit, zumal bei stürmischer Witterung und in rauher Jahreszeit, für die meist völlig durchnäßten Leute eine sehr harte, aufreibende sein muß. Die robusten Naturen des dortigen Litthauer Menschenschlags (Szamaiten oder Kuren) haben sich derselben bei ausreichender Löhnung indeß bisher gewachsen gezeigt. Wir werden diese Wassercyklopen noch bei unterseeischer Thätigkeit wiedersehen.

Fragen wir nun nach den Erfolgen einer so energisch angefaßten Erwerbsarbeit, so ergiebt sich als Durchschnittsertrag der Schwarzorter Baggerei in den letzten Jahren die hübsche Zahl von fünfundsiebenzigtausend Pfund Bernstein pro Jahr von circa dreißig Arbeitswochen. Der wirkliche Werth einer derartigen Menge des kostbaren Fossils entzieht sich jedoch aller Berechnung. Denn die Preise pro Pfund schwanken zwischen vier Silbergroschen für die geringste zur Räucherung und Firnißbereitung bestimmte Waare (Sandgemüll oder Schluck) und etwa fünfundzwanzig Thaler für großes „Sortiment“ (Pfeifenmundstücke und dergleichen), um alsdann, wie jedes Edelgestein abnormer Größe und Qualität, für „Cabinetsstücke“ edelsten hellstrohgelben Bernsteins (Kunstfarbe) bis in’s geradezu Unschätzbare zu steigen. Auch liegt es uns fern, die berechtigten Geheimnisse eines Handelshauses lüften zu wollen, welches unserm lang vernachlässigten Naturschutz nicht nur neue, ungeahnte Fundquellen erschlossen, sondern auch mit viel kaufmännischem Geschick für stets erweiterte Absatzwege sorgt, um mit der schnell wachsenden Erzeugung Schritt halten zu können, und somit ein dauernder Segen unserer gewerbarmen Provinz zu werden verspricht. Seine Agenten und Commanditen finden sich – ein wahrhaft erdumspannender Handelsapparat – zur Zeit bereits in Berlin, Wien, Paris, London, Constantinopel, Bombay, Calcutta, Hongkong, Jeddo, Mazatlan (Mexico) und anderen Orten.

Hat nun im vorliegenden Falle die wissenschaftliche Forschung sich wieder einmal von keck zugreifender Praxis den Vorsprung abgewinnen lassen, so darf dagegen nicht geleugnet werden, daß sie Versäumtes glänzend nachgeholt. Denn die sorgfältigste, eindringendsten geologischen Untersuchungen eines Zaddach, Berent und Anderer auf dem betreffenden Gebiet haben das „Bernsteinräthsel“ seiner völligen Lösung nahe gebracht und mit der Leuchte echter Wissenschaftlichkeit das Dunkel gelichtet, welches die Geburts-, vornehmlich aber die wissenswerthere heutige Lagerungsstätte des kostbaren Minerals lange genug umhüllt hielt.

Der Bernstein, das Elektron (Sonnenstein) der Odyssee, der lieblichen hellenischen Mythe nach, die versteinten Thränen der weinend in Bäume gewandelten Schwestern des Phaëthon, des unklugen Sonnenrosselenkers; jener uralte Fabelstein, dessen Handelsmonopol sich die Phönicier, des Alterthums schlaue Hebräer, durch abschreckende Sagenverbreitung über seinen Fundort Jahrhunderte hindurch zu sichern verstanden; dieser einst dem Golde gleich geachtete Naturschatz – er entströmte in der Schöpfungsperiode, die wir die Tertiärzeit nennen, als ein äußerst schnellfließendes Harz einigen Coniferen- (Fichten-) Arten des mächtigen, große Strecken des nördlichen Continents jener Zeit bedeckenden Bernsteinwaldes. Fortwährend, auch neuerdings vielfach vorgekommene Funde im Bernstein eingeschlossener, in den flüchtigsten Stellungen festgehaltener Thierchen, den Augenblicksbildern der heutigen Photographie vergleichbar, bekunden den raschen Fluß des massenhaft, vielleicht krankhaft, ausgesonderten Harzes. Mit dem Entzücken des eifrigen Archäologen, der heut’ in den einst jäh verschütteten Vesuvstädten ein bis in’s Kleinste erhaltenes Culturbild antiken Lebens vor sich sieht, erblickt der Naturforscher auf vorweltlichem Gebiet in jenen Petrefacten das nie und nirgend wiederholte Schauspiel einer bis in’s Subtilste bewahrten vielgestaltigen Kleinthierwelt; man zählt bis jetzt nicht weniger als tausendvierundzwanzig Arten des vor Jahrtausenden versunkenen reichen „Schöpfungstages“! –

Ihrer ersten Wiege, dem Waldboden des Bernsteinwaldes, sodann in Folge nicht völlig aufgeklärter Naturvorgänge (strömende Wasser) eine Strecke weit entführt, wurden jene Harzmassen auf dem Grunde des Tertiärmeeres abgelagert, welches sie nach und nach mit einer bläulichen Thonmergelschicht umschloß und ihren allmähliche Versteinerungsproceß vollzog. Diese jetzt eifrig verfolgte „blaue Erde“, die Bernsteingoldader der heutigen Welt, durchzieht nun, überlagert von den Bodenschichten der späteren Erdbildungs- (Diluvial- und Alluvial-) Zeiten, vermuthlich die ganze Samlandhalbinsel, die sie somit als eine „Meerentstiegene“ kennzeichnet. Im nordwestlichen Theil derselben ist ihr Vorhandensein auf etwa sechs Quadratmeilen Ausdehnung in verschiedener Tiefe, die sich an den Uferbergen bis zu vierzig Fuß unter’m Meeresspiegel steigert, wissenschaftlich constatirt. Bei etwa zehn Fuß Durchschnittsmächtigkeit eine unterirdische Schatzkammer von wahrhaft kolossalem Werth! Woher aber entnimmt das baltische Meer seinen, schon vor Kaiser Nero’s berühmtem Bernsteintriumph [364] auf dem Weltmarkt erschienenen und heute noch unerschöpflich scheinenden Seeauswurf?

Nirgend anders offenbar, als von derselben blauen Bernsteinschicht, die, sich nördlich sowohl, wie vielleicht zehn Meilen westlich bis gegen Danzig hin unter’m Meeresbecken fortsetzend, in Folge starker Absenkung des letztern bloßgelegt und von der Gewalt der stürmischen Wogen benagt wird. Diese thun dort, wenn man will, ungefähr dieselbe Wirkung im Großen, wie es die schweren Bagger in der Schwarzorter Sandschicht im Kleinen thun (die sich beiläufig als eine Bernsteinablagerung secundärer Art erwiesen). Bei günstiger Richtung der abstillenden Winde wird dann der vom Wogendrang seinem Lager entrissene Stein mit seinem steten Begleiter, dem Seetang (Bernsteinkraut) dem Lande zugetrieben und von den bei seinem Erscheinen eiligst am Strande versammelten Dörflern mit Sacknetzen (Käschern) aufgefischt (geschöpft), wobei die Männer, bis zur Brust im Wasser stehend, deren Inhalt den weiter zurückbleibenden Weibern und Kindern zur gründlichen Sichtung hinschütten. Eine Arbeit, die zumal im Spätherbst, wenn der steife Nordost den oft über die Köpfe spritzenden Wogengischt in Eis wandelt, wahrlich kein „Sport“ zu nennen ist!

Allein gerade die größeren Stücke des werthvollen Minerals sinken oft, in Tangmassen eingehüllt, weit vor der Brandung, von großen Steinen aufgehalten, zu Boden, und werden beim Spiel der Wellen von jenen bedeckt. Diese Beute zu erlangen, warten die Bernsteinfischer die völlig wiedergekehrte Meeresstille ab und beginnen dann die zweite bisher gebräuchliche Gewinnungsart: das Bernsteinstechen.

Ein Taucher in voller Rüstung. Nach der Natur aufgenommen.

In der ersten Frühe eines Hochsommertages sieht man oft genug diese emsigen Schatzsucher in Booten zu fünf bis sechs Mann weit vorgeneigt die grünliche Salzfluth von zehn bis dreißig Fuß Grundtiefe mit gierigen Augen durchspähen. Vermittelst langer Spieße mit verschieden geformter Spitze, nöthigenfalls mit mächtigen gekrümmten zweizinkigen Gabeln, lockern die Einen den beschwerenden Stein, während die Anderen mit gleich langen Käschernetzen das Bernsteinkraut auffangen und emporziehen. Eine außerordentlich reiche Ablagerung ähnlicher Art, in diesem Fall wohl Jahrhunderte lang angetriebener, von mächtigen Steinen und Geschiebeblöcken beschwerter Bernstein, befindet sich auf einer Strecke von etwa sechshundert Schritt Länge und vierhundert Schritt Breite, am Fuß der allen kreuzenden Winden und Wogen ausgesetzten Nordwestspitze von Brüsterort.

Zur Erlangung dieses seiner schönen Farbe und Qualität halber sehr geschätzten „Reef“- oder „Riffsteins“ ist dort vielfach experimentirt worden. Auf Anordnung der königlichen Regierung wurden im vorigen Jahrhundert auch Versuche mit Tauchern (Halloren) gemacht; doch mußten diese alsbald der ungewohnten Rauhheit des Klimas, wie dem Brodneid ansässiger Arbeiter weichen. Da die eben geschilderte Manipulation des „Stechens“ sich den wuchtigen Decksteinen gegenüber als unzureichend erwies, so nahm man seine Zuflucht zu mächtigen Zangen und Flaschenzügen, mittelst deren man die Steinkolosse auf Flöße hob; ein höchst mühsames und nicht immer erfolgreiches Gewaltmittel gegenüber dem sich hartnäckig am Meeresschooß festklammernden Kleinod! So mußte denn den intelligenten Inhabern unserer Bernsteinfirma, welche inzwischen durch Abfindung der bisherigen „Stechereipächter“ auch die Pachtung des Wasserregals bei Brüsterort erworben, der sinnreich erfundene Taucherapparat des französischen Marine-Capitains Rouquayrol-Denayrouze hochwillkommen sein, von dessen praktischer Verwendbarkeit sie auf der Pariser Weltausstellung von 1867 Kenntniß gewonnen hatten. Unverzüglich wurden nun ein paar junge französische Mechaniker, zugleich des Tauchens kundig, nach Brüsterort entführt, und diese sind dann die Lehrmeister des nach und nach in Brüsterort herangebildeten Taucherpersonals nicht nur, sondern auch die Werkführer bei Anfertigung neuer Apparate etc. geworden.

Somit ständen wir denn nach einer zur gründlichen Orientirung unerläßlichen Abschweifung wieder bei unseren Tauchern, deren Verfahren wir in diesen Zeilen schildern wollen, da wohl nur die wenigsten unserer Leser Gelegenheit haben mochten, den Experimenten des Herrn Recher beizuwohnen, der sich vor Kurzem in

[365]

Die Bernstein-Taucherflottille in Brüsterort.
Nach der Natur aufgenommen.

[366] einem sechszehn Fuß Höhe und neunzehn Fuß Durchmesser habenden Wasserbottich vor der Berliner Bevölkerung producirte.

Der von ihm benutzte Apparat war eben nach dem Muster des Capitains Rouquayrol-Denayrouze gebaut; dessen Tüchtigkeit zu erproben und des Tauchers Geschicklichkeit bewundern zu lassen, ist aber jedenfalls das wogende Meer geeigneter, und so möge uns denn der geneigte Leser, inmitten einer muntern, schaulustigen Badegesellschaft, mit den Zutrittskarten der gastlichen Bernsteinherren versehen, zu dem riffumragten Seegestade von Brüsterort begleiten. Der freundliche Inspector, Herr St., ein Memeler Kaufmann, der sich den größten Theil des Jahres auf das windgepeitschte Cap Landsend unter meist fremde Zungen redende Meermenschen gebannt sieht, hat uns sofort – Männlein und Fräulein bunt durch einander – in eine mächtige Ruderarche gepackt, und steuert uns der etwa tausend Schritt entfernten Taucherflotille entgegen, indem er unserem fröhlichen Geplauder, seinem geliebten Hochdeutsch, mit sichtlichem Behagen zuhört. Eben macht unser Boot eine Schwenkung, um sich breitseit gegen einen der luftpumpenden Taucherkähne zu legen, als eine von unserm Bug in die Fluth blickende Jungfrau einen jähen Aufschrei vernehmen läßt.

Aus „den bewegten Wassern“ war „ein feuchter Mann emporgerauscht“ und hatte ihr mit gespenstigen Augen zugewinkt. Und sieh! da taucht dicht vor unseren Augen wieder solch ein „Graulichmacher“ auf, durch einen leisen Ruck an seinem Rettungsseil von unserer Visite benachrichtigt; und wir müssen gestehen, daß er mit dem unförmlichen Kopf und den tellergroßen Glasaugen mehr einem vorweltlichen Saurier, als einem Exemplar der heutigen Species „homo sapiens“ gleicht.

Und athmete lang’ und athmete tief,
Und begrüßte das himmlische Licht!

Denn:

Aus dem Grab, aus der strudelnden Wasserhöhle
Hat der Brave gerettet die lebende Seele!

Betrachten wir indeß, um systematisch zu verfahren, zunächst den jungen Taucher, der soeben für sein unterseeisches Tagewerk eingekleidet wird; ein Verfahren, das unseren von der Schaukelbewegung wohl ein wenig elegisch herabgestimmten Gemüthern wie eine Art Henkertoilette erscheint.

Ueber einen den ganzen Körper warm umschließenden Wollenstoff wird der in einem Stück gefertigte Gummi-Anzug angelegt, der, sowie der Helm, eine den dortigen Verhältnissen – die Leute können fast nur liegend arbeiten – angepaßte veränderte Form erhalten hat. Während wir im vorigen Jahre noch den schweren kupfernen Vollhelm der französischen Erfindung im Gebrauch fanden, der gleich den ältesten plumpen Ritterhelmen Kopf und Hals umschließt, sahen wir jetzt ein Ding nach Art einer Kesselpauke, welches, an den kapuzenartig sich über den Scheitel des Tauchers fortsetzenden Gummistoff hermetisch festgeschraubt, vor dessen Gesicht hängt, ohne Kopf und Nacken zu beschweren. Hierdurch ist zugleich die Möglichkeit gegeben, daß der Taucher, der sonst nur durch den Mund allein ein- und ausathmen darf, vermittelst sechs- bis achtmaligen durch die Nase bewirkten Ausathmens den Raum innerhalb des Anzugs mit Luft erfüllen und sich so, wie wir gesehen, ohne fremde Hülfe empor bringen kann. Dieser neue Helm hat, wie der alte, drei Oeffnungen für Augen und Mund, welche durch luftdicht einzuschraubende Rundfenster, von starken Kreuzdrähten geschützt, verschließbar sind. Wie aber athmet der Taucher mit dem französischen Apparat? Nächst dem Helm ist des Tauchers wichtigstes Armaturstück jener kleine schwarze Kasten von starkem Eisenblech, welcher ihm jetzt wie ein Tornister auf den Rücken geschnallt wird. Es ist dies sein Luftreservoir, seine künstliche Luftröhre, wenn man will. Denn in diesem Behälter, in welchen von oben her der vierzig Fuß lange Gummischlauch der Luftpumpe mündet, wird die Athmung durch ein sinnreiches Ventil geregelt. Dies läßt nämlich beim jedesmaligen Einathmen nur das zu einem Athemzug erforderliche Luftquantum hindurch, beim Ausathmen hingegen schnellt es in die Höhe und öffnet der ausgestoßenen Luft den Weg, auf dem sie durch ein sich sofort wieder schließendes „Lippenventil“, in der obern Ecke des Luftkastens angebracht, entweichen kann.

Nun wird unserem Taucherlehrling das Mundstück des Gummischlauchs, welcher von hier aus, mit scharfer Biegung den Helm durchbrechend, seitlich in den Luftkasten tritt, fest zwischen die Zähne gesteckt, dann folgt seine Beschwerung mit einem halben Centner Blei an Füßen, Achseln und Helm, und:

„Geheimnißvoll über dem kühnen Schwimmer
Schließt sich der Rachen.“

(Schluß folgt.)




Aus der Jugend einer berühmten Frau.

Als der Unterzeichnete vor einiger Zeit im Auftrag des Stadtraths zu Zwickau das dortige Rathsarchiv revidirte, fiel demselben bei dieser Gelegenheit ein ziemlich umfangreiches Actenstück in die Hände mit der Aufschrift: „Acta inquisitionis in Sachen Friederike Caroline Weißenbornin und deren Entführung durch Gottfried Zornen de anno 1712“. Da nun bekanntlich die berühmte Schauspielerin Karoline Neuber, mit welcher die Epoche des besten Geschmackes in der Geschichte des deutschen Theaters beginnt, eine geborne Weißenborn war, so wurde meine Neugier auf den weiteren Inhalt des Actenstücks angeregt und wirklich stellte sich heraus, daß dasselbe nicht nur über Jahr, Datum und Ort ihrer Geburt, welche bisher ganz verschieden angegeben wurden[2], sondern auch über die noch ganz in Dunkel gehüllte dornenreiche Jugendzeit der ausgezeichneten Künstlerin die interessantesten Aufschlüsse giebt.

Zuvörderst stellen die Acten ihren damals in Zwickau wohnhaften Vater, den Advocaten Daniel Weißenborn, auf welchen wir unten zurückkommen werden, nicht eben in ein schmeichelhaftes Licht, indem sie ihn als einen jähzornigen, atheistischen, von Jedermann gefürchteten Haustyrannen erscheinen lassen, welcher durch seine rohe Behandlung seiner Gattin ein frühes Grab – sie starb im Jahre 1705 – bereitet hatte, als die Tochter Karoline eben erst ihr achtes Altersjahr erreicht hatte. Wenn er nun auch dieser einen guten Schulunterricht ertheilen ließ, so bekümmerte er sich doch sonst nicht weiter um ihre Erziehung und behandelte sie auf eine Weise, welche oft in die rohesten Mißhandlungen und gemeinsten Schimpfreden ausartete. Daß aber eine solche Behandlung keine kindliche Liebe erwecken konnte, läßt sich denken. Als daher am Neujahrstage des Jahres 1712 sich ein solcher Act der Haustyrannei wiederholte, entsprang Karoline der väterlichen Zuchtruthe, um Hülfe und Aufnahme bei ihrer Tante (Vaters Schwester), welche an einen Floßholzverwalter Fritzsche verheirathet war, zu suchen, und als sie diese nicht fand, ihre Zuflucht zu einem Beutler Namens Trübiger zu nehmen, dessen Tochter bei ihrem Vater gedient hatte. Hier hielt sie sich einige Monate auf, bis sie endlich auf Zureden und durch Vermittelung ihres Beichtvaters, des Diaconus M. Thym, sich mit ihrem Vater wieder aussöhnte, um zu Ostern desselben Jahres in das Vaterhaus zurückzukehren.

Nun war Weißenborn durch langjährige Krankheit (Gicht) gepeinigt, welche wohl auch sein Benehmen gegen Frau und Kind in etwas milderem Lichte erscheinen läßt und ein Hauptgrund seines hitzigen Temperaments sein mochte, indem sie ihn nicht nur im Jahre 1702 zur Aufgebung seines Reichenbacher Gerichtsinspectorats und zur Uebersiedelung von Reichenbach nach Zwickau genöthigt hatte, sondern auch periodisch ganz an Haus und Zimmer fesselte. Weil er aber dadurch an seiner juristischen Praxis verhindert wurde, so hatte er einen ihm bekannten jungen Mann, Namens Gottfried Zorn, den vierundzwanzigjährigen Sohn eines armen Zwickauer Schuhmachers, welcher fünf Jahre lang in Jena die Rechte studirt hatte, als Amanuensis angenommen, welchem er auch zugleich Wohnung und Kost gewährte. Bald knüpfte dieser mit der schönen, frühreifen Karoline ein Liebesverhältniß an, jedoch – wie sich in den Acten zwischen den Zeilen lesen läßt – nicht ohne Vorwissen ihres Vaters, welcher Zornen sogar unter

[367] gewissen Bedingungen seine Tochter zur Frau versprochen zu haben scheint. Beinahe drei Vierteljahr hatte dieses Verhältniß gedauert, als eines Tages Weißenborn mit Zorn’s Mutter in einen Wortwechsel gerieth und sich in der Hitze desselben thätlich an ihr vergriff. Darüber kam Zorn, der sich seiner Mutter annahm und seinen Principal zur Rede setzte, mit dem letzteren dermaßen zusammen, daß er von diesem aus dem Hause gejagt wurde.

Obwohl nun Weißenborn seiner Tochter unter den härtesten Drohungen jeden ferneren Umgang mit ihrem Geliebten untersagte, blieb ihm Karoline doch treu. Ja, als einst nach einer verrathenen heimlichen Zusammenkunft mit ihrem Gottfried ihr Vater sie mit Erschießen bedrohte, wenn sie nicht von ihm ließe, entfloh sie endlich am 14. April 1712 Abends mit Hülfe ihres Geliebten abermals aus dem väterlichen Hause und aus der Stadt. Anfangs trieb sich das flüchtige Pärchen in der Umgegend Zwickaus herum, besonders in Greiz, Reichenbach und Zwönitz, wo es die spärliche Unterstützung von Freunden und Verwandten – Karolinens Onkel mütterlicher Seits Namens Wilhelm war Archidiaconus in Greiz – in Anspruch nahm, und als diese aufhörte, verkaufte es, um Subsistenzmittel zu gewinnen, die entbehrlichsten Kleidungsstücke, ja Karoline sogar ihr schönes starkes Haar, bis endlich, auf Weißenborn’s Antrag mit Steckbriefen verfolgt, die Flüchtlinge am 21. Mai in Affalter vom schönburgischen Justizamte Hartenstein verhaftet wurden, um unter Escorte in die Zwickauer Rathsfrohnveste abgeliefert zu werden. Sofort leitete Weißenborn gegen den Entführer und seine Tochter beim Stadtgericht den Inquisitionsproceß ein, in welchem der Reichenbacher Advocat Dr. J. P. Striebe die Verteidigung der Angeklagten übernahm. Sieben Monate lang mußte das unglückliche Liebespaar bei der schlechtesten Kost im Gefängniß schmachten und scheint dann wieder auf freien Fuß gesetzt worden zu sein, nachdem der Entführer gestalten Sachen nach absolvirt worden.

Was nun das fernere Schicksal Zorn’s betrifft, welchen der den Inquisitionsacten beigeheftete Steckbrief als einen langen Menschen mit blassem, etwas pockennarbigem Gesicht und lichter Perrücke (Karoline aber als eine schlanke hübsche Blondine) schildert, so kam vier Jahre später an den Tag, was er eigentlich für ein Patron war. In einem Bericht des Zwickauer Stadtraths an den Landesherrn vom 26. Juli 1717, dessen Concept sich im Rathsarchiv vorgefunden hat, bringt nämlich die gedachte Behörde an, „daß sich beim Zwickauer Stadtgericht eine gewisse Margarethe geb. Zapff, eines Schuhmachers Tochter aus Leutenberg im Schwarzburgischen, erst schriftlich und neuerdings mündlich gemeldet und klagend angebracht habe, wie sich der Jenaische Student Gottfried Zorn, nachdem er sie zu Falle gebracht, laut beigefügten Zeugnisses am 29. Juni 1709 zu Katharinau bei Saalfeld habe trauen lassen, sie aber bald wieder böslich verlassen und jetzt eine zweite Frau genommen habe, ohne von ihr geschieden zu sein. Da nun Zorn sich auch mit der Karoline Weißenborn in Zwickau wider ihres Vaters Willen in ein Eheversprechen eingelassen habe, welche Sache an das Consistorium verwiesen sei, und der Angeklagte gegenwärtig in Dresden als Quartiermacher bei der königlichen Garde du Corps angestellt sei, so sehe sich der Stadtrath zur pflichtschuldigen Anzeige der Bigamie Zorn’s und seines Ehebruchs beim Landesherrn genöthigt.“ In Folge dessen kam Zorn in eine zweite Criminaluntersuchung bei dem königlichen Gouvernements-Kriegsgericht in Dresden, dessen Urtheil in der Sache laut eines an den Stadtrath gerichteten, vom 23. December 1717 datirten Schreibens des Regiments-Schultheißes Joh. Chr. Müller eben gesprochen war. Wie aber dasselbe gelautet und was weiter aus dem Quartiermeister Zorn geworden, ist nicht zu finden.

Unsere Karoline, welche aus ihrem Gefängniß, nachdem sie durch ihren obgedachten Onkel Wilhelm endlich wieder mit ihrem Vater ausgesöhnt worden, in das alte Joch zurückkehren mußte, mag sich über den Verlust ihres Geliebten wohl bald getröstet haben. Die Inquisitionsacten lassen sie als ein frühreifes, listiges, energisches, der französischen und lateinischen Sprache mächtiges Mädchen erscheinen, dessen gute Schulbildung auch mehrere den Acten beigeheftete eigenhändige Briefe beweisen. Den interessantesten derselben, welchen Karoline unterm 25. November 1712 aus dem Gefängniß (sie saß in des Gerichtsdieners Wohnstube) an das Zwickauer Stadtgericht geschrieben hat, um namentlich auch die Erziehungsmethode ihres Vaters drastisch zu schildern, theilen wir nachstehend wörtlich mit:

„Wohledle Veste Hochachtbare und Rechtswohlgelahrte,
Hoch- und Wohlweise, Hochgeehrteste Herrn!

Es soll sich dem sichern Verlaut nach mein Herr Vater itzo meistens dahin bemühen, wie er mich wieder in seine Gewalt kriegen möge, hat mir auch allbereit zum öfftern durch seine Magd hinterbringen lassen, daß, woferne ich nicht von Herrn Zornen abstehen, das ist, nach dessen Belieben diesem meinem Gewissen und der Gerechtigkeit zuwider leben (würde), er die Sache so lange verzögern wolle, bis wir im Arrest darüber crepiren müssen. Nachdem aber verhoffentlich denen Wohllöblichen Herren Stadtgerichten aus der abgehörten Zeugen Aussage einigermaßen wissend, wie grausam obgedachter mein Herr Vater auch aus der allergeringsten Ursache mir in meiner zartesten Jugend mitgespielet, und mich gleichsam, als wäre ich keine von Gott erschaffene und erlöste Seele, verfluchet und verwünschet, mir die allerschändlichste Nativität gestellet und mit solchem unchristlichen Beginnen mich unverantwortlich geärgert, zudem auch das durch seine an meiner seligen Frau Mutter verübte Tyranney dargestellte Exempel noch Männiglich vor Augen; und über dieses leichtlich zu erachten, daß ich ins Künftige gegenwärtiges meines Arrestes halber, worein mich die Tyranney und Affecten meines Herrn Vaters gestürzet, bey ihm noch weit heftigeren Sävitien als zuvor würde unterworfen und in steter Lebensgefahr sein müssen, indem er ja sein hitziges Naturell nimmermehr ändern, vielmehr aber seinen einmal gegen mich gefaßten Zorn, auch wenn ich das Geringste versehe, stärken wird; als lebe ich in der gewissen Hoffnung, es werden die Wohllöblichen Herren Stadtgerichte, woferne mein Herr Vater, um mich wieder in seine Tyranney zu zwingen, sich bei Denenselben schriftlich oder durch seinen Gevollmächtigten bearbeiten möchte, dieses sein Bitten nicht stattfinden lassen, auch dessen Intentiren der Verzögerung der Sache Krafft Ihrer obrigkeitlichen Macht und Gewalt unterbrechen. Die ich wie sonst unausgesetzt verharre Derer Wohllöhlichen Herren Stadtgerichte unterthänigst gehorsamste

Friederica Carolina Weißenbornin.“     

Von Wichtigkeit zur Ermittelung des Geburtsortes und Geburtstages Karolinens ist ferner das den Acten Fol. 287 in beglaubigter Abschrift beigefügte Taufzeugniß derselben, wozu wir hier noch bemerken, daß einer uns aus Reichenbach zugegangenen Nachricht zufolge der Tauftag Karolinens auch zugleich ihr Geburtstag ist. Das Zeugniß lautet folgendermaßen:

„Den 9. Martii Anno 1697 ließ Herr Daniel Weißenborn, vornehero Jur. utr. Pract., wie auch Hochadelich Metzschischer Gerichtsinspector allhier, mit seinem Eheweibe Frau Anna Rosina, Herrn Johann Heinrich Wilhelms, Hochgräflich Reuß-Plauischen Hofverwalters zu Rothenthal (bei Greiz) ehelicher Tochter, eine Tochter taufen, welche mit den Namen Friederica Carolina benennet wurde und zu Pathen hatte:

1) Herrn Adam Friedrich Metzsch, Erb-, Lehn- und Gerichtsherrn auf Reichenbach und Friesen,
2) Frau Maria, Herrn Johann Knüpfers, Notarii publ. wie auch Hochadelich Metzschischen Stadt-, Land- und Ordens-Richters allhier Eheliebste, und
3) Frau Maria Sophia, Herrn Heinrich Beckers Jur. utr. Pract., wie auch Stadtschreibers allhier Eheliebste;

welches aus hiesigem Tauf-Protokoll also extrahiret und hiermit bescheiniget wird.
 Sign. Reichenbach den 24. November Anno 1712.
 Michael Hoffmann p. t. Kirchner.“

In obiger Weise endigte sich also der erste Liebeshandel der nur erst fünfzehnjährigen Karoline, welche bald mit dem Zwickauer Primaner Johann Neuber, dessen Vater ein Werdauer Advocat war, eine neue Liebschaft anknüpfte. Als nun eines Tages ihr Vater deshalb sie mißhandelte, entsprang sie aus dem Fenster des väterlichen Hauses (es ist das gegenwärtig Herrn Kaufmann Schickedanz gehörige Nr. 50 auf der Schneeberger Straße) und flüchtete mit ihrem zweiten Geliebten, welchen sie bald darauf heirathete, nach Weißenfels, wo sie sich zwanzig Jahr alt mit demselben bei der dort anwesenden Spiegelberg’schen Schauspielergesellschaft anwerben ließ, deren Direction sie im Jahre 1727 übernahm. Ihre spätere glänzende Laufbahn als dramatische Künstlerin, ihre hohen Verdienste um das deutsche Theater, namentlich das Autodafé in Leipzig, wodurch sie im Verein mit dem [368] Professor Gottsched im Jahre 1737 den Hanswurst für immer von der deutschen Bühne verbannte, und ihr trauriges Ende – sie starb im December 1760 zu Laubegast bei Dresden 63 Jahr alt im größten Elende – sind den Lesern der Gartenlaube aus dem vortrefflichen Artikel Diezmann’sLessing und die Komödiantenprincipalin“ in Nr. 43 des Jahrgangs 1860 bekannt und gehören der Geschichte der dramatischen Kunst an. Die in jenem Artikel beklagten Lücken in der Jugendgeschichte der Neuberin glauben wir durch obige Mittheilungen in zuverlässiger Weise ausgefüllt zu haben und wollen darum hier nur noch gelegentlich bemerken, daß dem Vernehmen nach ein in ihrer Geburtsstadt Reichenbach zu diesem Zwecke zusammengetretener Verein der großen Künstlerin gegenwärtig daselbst ein Denkmal zu errichten beabsichtigt.

Schließlich noch einige Nachrichten über ihren Vater, welche wir in sogenannten Blättchenacten des Zwickauer Rathsarchivs gefunden haben. Sohn eines wohlhabenden Kürschners und Gastwirths in Zwickau hatte Daniel Weißenborn zu Leipzig und Straßburg studirt, um seit 1684 in seiner Vaterstadt als Rechtsanwalt zu prakticiren und 1691 die Gerichtshalterei zu Planitz zu übernehmen. Als er im folgende Jahre Gerichts-Inspector zu Reichenbach wurde, verlegte er gleichzeitig seinen Wohnsitz dahin, und übernahm kurz darauf auch noch das Lengenfeld-Mylauer Gerichts-Inspectorat. Diese Bestallungen gab er jedoch 1702, wie oben erwähnt, Krankheits halber wieder auf, um mit Frau und Kind nach Zwickau zurückzukehren, wo er im Jahre 1724 starb, nachdem er in ziemlich bedrängte Verhältnisse gerathen war, so daß nach seinem Tode der förmliche Concurs ausbrach. Seine oben erwähnte Schwester scheint mit ihrem Bruder von ziemlich gleicher Gemüthsart gewesen zu sein und sich um ihre Nichte wenig oder gar nicht bekümmert zu haben, während sein älterer Bruder, der herzogliche Holstein-Wiesenburgische, Reußische und Schönburgische Hof-, Justiz- und Consistorialrath Dr. Friedrich Weißenborn, schon vor Karolinens Geburt (1694) gestorben war.

Dr. E. Herzog.


Blätter und Blüthen.


 Kein Kind im Haus.
Aus dem Englischen von Fr. Gerstäcker.

„Kein Kind im Haus!“ Ich weiß, es sind
Die Stuben alle blank und rein,
Kein Spielzeug liegt herum – kein Ball,
Kein Kreisel oder Baugestein.

5
Kein Fingerstrich die Scheiben malt,

Kein Stuhl zerkratzt, kein Gang blockirt,
Soldaten, ob von Holz ob Blei,
In keinem Zimmer aufmarschirt.

Nicht kleine Strümpfe liegen da,

10
Zum Stopfen sorgsam abgezählt,

Kein Haufen Kinderwäsche gar,
Kein Schuh’chen, dem die Sohle fehlt.

Nicht nöthigt man die kleine Schaar
Zum Lernen oder zum Gebet,

15
Kein Händchen giebt’s zu waschen und

Kein Mäulchen, das „Erzähl’ mir!“ fleht.

Kein Kindername grüßt das Ohr,
Wie „Herzchen“, „Schatz“ und „kleine Maus“,
Kein Jubelschrei, kein Kichern selbst

20
Bei Lust und Spiel. – „Kein Kind im Haus!“


 Hillsdale.




In einer schwedischen Dorfkirche. Wäre nicht die eigenthümliche Tracht, in der wir auf unserem Bilde die Bäuerin vor uns sehen, mit dem reich verschnürten und gestickten Mieder, mit der großen Brustnadel, dem weit ausgeschlagenen Kragen und namentlich dem breit über den Kopf laufenden, oben in Knoten geschlungenen Tuch, so würden wir in unserer Bezeichnung das Wort „schwedisch“ füglich weglassen können, so deutsch und heimathlich mutet uns Alles an, was wir auf dem Bilde des schwedischen Malers sehen. Jeder unserer Leser ist schon in der goldenen Morgenfrühe einer sonntäglichen Wanderung durch ein Dorf gekommen, wo gerade Gottesdienst war und wo durch die offene Thür der alten lindenbeschatteten Kirche der volle Klang der Orgel und der getragene Chorgesang der ländlichen Gemeinde tönte. Eine staubige, schmalgewundene, unter den vorsichtigsten Schritten dennoch ängstlich knarrende Treppe führt auf den Chor der Kirche, wo der Lehrer des Dorfes, wie schon seit einer langen Reihe von Jahren, so auch heute mit seinem tüchtigen Orgelspiel die Herzen der Gemeinde erhebt. Hinter seinem Stuhle steht die von ihm im Laufe des Winters wacker geübte Knabenschaar, mit der Tonfülle der Orgel im kräftigen Gesang um den Preis ringend, während andere Kinder umhersitzen und knieen, das Auge nicht von den kunstgeschickten Fingern des Lehrers verwendend. Ein alter blinder Mann hat an der Seite seines jugendlichen Führers in sicherer Ecke Platz genommen, während eine reiche Bäuerin ihre eben genesene Tochter gleichfalls aus dem Gedränge der Kirche herauf auf den Chor gerettet hat. Ueber Allem schwebt das Licht der Sonne, goldig und schön und gern auf die andächtige Ruhe Derer blickend, die sich in ihrer heißen Gluth Tag aus Tag ein der vergangenen Woche auf freiem Felde mühten.

Bengt Nordenberg, der Maler des Bildes (geb. 1822), ist einer der Söhne Skandinaviens, welche durch die Blüthe der Düsseldorfer Künstlerschule an die Ufer der Düssel gelockt wurden und dort ihre Ausbildung genossen haben. Seine zahlreichen Schöpfungen sind in ganz Europa verbreitet; einige derselben haben ehrenvolle Plätze gefunden, so dasjenige, in welchem der Künstler das gleiche Motiv, das unsere heutige Illustration zeigt, in kaum bemerkenswerth verschiedener Weise behandelte und das in dem städtischen Museum zu Leipzig aufgestellt ist. In vielen Gemälden aus dem Familienleben hat er das behagliche Glück einfacher Verhältnisse zu schildern verstanden; in seinen Darstellungen des religiösen und kirchlichen Lebens weht eine überzeugende Innigkeit und Wärme, die den Künstler beim Schaffen erfüllte und die sich unbewußt und wohlthuend dem Beschauer mittheilt. Unser Holzschnitt wird einen Begriff von den schlichten und wahren Motiven geben, durch welche dieser Eindruck erreicht wird.




„In dieser Stunde“, das schöne Gedicht von Robert Prutz, welches in Nr. 14 unseres Blattes zur Veröffentlichung kam, ist vom Opernsänger Krückl in Kassel in Musik gesetzt und, den „Lesern der Gartenlaube“ gewidmet, soeben bei Scheel in Kassel erschienen.




Kleiner Briefkasten.

R. W. in Lm. Ihre Frage, warum der Abdruck der von uns angekündigten Schmid’schen Erzählung „Die Türken in München“ noch nicht erfolgt sei, ist allerdings gerechtfertigt. Jedoch hat der Verfasser dieselbe schon vor geraumer Zeit wieder von uns zurückerbeten, um ihren Abdruck im Sonntagsblatt der „New-Yorker Staatszeitung“, die schon längst eine Originalarbeit des auch in Amerika gefeierten Autors zu veröffentlichen wünschte, möglich zu machen. Wir glaubten, der Bitte Herman Schmid’s um Zurückgabe um so eher nachkommen zu müssen, als er uns durch eine andere Erzählung zu entschädigen versprach, deren Abdruck wir, wie Sie sehen, wirklich denn auch schon in heutiger Nummer beginnen konnten.

Ed. Cl. in Batavia. Wir haben eine Antwort des Herrn Wilh. Bauer, der sich, wie bekannt, gegenwärtig in Wildbad (in Würtemberg) zur Cur von schwerer Gicht befindet, an Sie zur Post gegeben, ersuchen Sie aber, falls jener Brief nicht an Sie gelangen sollte, auf diesem Wege um genaue Angabe Ihrer Adresse. Mit Ihren übrigen Vorschlägen und Ansichten erklären wir uns einverstanden und danken Ihnen für Ihre treue Anhänglichkeit an die Gartenlaube bei den Antipoden.

M. in F. Nur noch einige Zeit Geduld und Ihre Erwartungen werden sicher erfüllt werden. Marlitt arbeitet, wie sie der Redaction der Gartenlaube persönlich versichert, wieder fleißig an der neuen Erzählung und hofft baldigst mit einer neuen Schöpfung ihrer poesievollen Phantasie vor den Leserkreis unseres Blattes zu treten. Wann dies geschieht, können wir freilich mit Bestimmtheit nicht angeben.

B. in R. Waldeck’s Portrait und Biographie („Der Bauernkönig“) finden Sie bereits in Nr. 26 des Jahrgangs 1862 der Gartenlaube.



„Aus eigener Kraft“.

Wir sind leider in die Nothwendigkeit versetzt, unseren Lesern die nachfolgende Mittheilung des Herrn von Hillern machen zu müssen, der uns unterm 8. dieses Monats schreibt: „Ich muß Sie davon benachrichtigen, daß meine Frau nach vorhergegangenem längeren Unwohlsein nunmehr an den Masern schwer erkrankt und daß es ihr dadurch unmöglich geworden ist, ihren Verpflichtungen gegen Sie und Ihre Leser nachzukommen. Der Arzt hat ihr aufs Neue jede geistige Anstrengung, die übrigens im Augenblick an und für sich ganz unmöglich wäre, streng untersagt, und so muß ich zu meinem und meiner Frau lebhaftesten Bedauern Sie ersuchen, nochmals eine Unterbrechung im Abdruck der Erzählung eintreten zu lassen. Daß meine Frau Alles thun wird, um das Mißliche für Sie weniger mißlich zu machen, und daß sie, sobald es nur irgend geht, die Ueberarbeitung des Romans wieder aufnehmen wird, darauf dürfen Sie sich verlassen.“

D. Red.

Inhalt:   WS: enthält nur den Inhalt dieses Heftes.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir entnehmen mit Erlaubniß des Uebersetzers und der Redaction obiges Gedicht der „Neuen Freien Presse“, die jeden Nachdruck auf das Strengste verfolgen wird.
    Die Redaction.
  2. Nach Einigen war Reichenbach im Voigtlande ihr Geburtsort, nach Anderen sollte es Zwickau sein, und als das Geburtsjahr wurde bald 1692, bald 1700 angegeben.