Textdaten
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Autor: Herman Schmid
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Titel: Der Bergwirth
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–31, S. 353–358, 369–372, 385–388, 401–404, 430–432, 446–448, 462–464, 478–480, 494–496
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[353]
Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.


1. Die Goldgrube.

Die Sonne eines der letzten Julitage war schon tief westwärts hinab gebrannt; ihre Strahlen reichten nur noch eben an die Gipfel des Hochwaldes, durch den sich die breite Straße in mächtigen, langsam ansteigenden Windungen den hohen, steil aufstrebenden Westerberg hinan schlängelte; dennoch war es noch warm genug, um das Steigen mühselig zu machen. Es war daher ganz natürlich, daß ein Wanderer, wenn auch mit nichts als einer leichten Anhängetasche belastet, an einer Straßenrundung innehielt und aufathmend den weißen Basthut lüftete, um sich die Kühle an die Stirn ziehen zu lassen, welche aus einer kleinen sich eben hier öffnenden Bergschlucht hervorstrich, vermischt mit dem Harzgeruche der im Abendroth stärker ausathmenden Tannen und dem feuchten Wasserdufte des Bergbaches. Aus ansehnlicher Höhe und über eine moosbewachsene Felsplatte glitt dieser in breiten silberblitzenden Strängen hernieder, um sich mit dem andern Wildwasser zu vereinigen, das unten in einem bereits dunkel verdämmernden Tobel dahinsauste, durch sein tief in die Felsen gewühltes Rinnsal den ganzer Westerberg nahezu in zwei Hälften spaltend.

Der Ruhepunkt konnte nicht leicht angenehmer gewählt sein.

Das Geländer, mit welchem die abschüssige Tiefe umfangen war, bot eine willkommene Stütze; der nach abwärts gewendete Blick weilte behaglich auf dem ruhigen Grün des Waldes und den überwundenen Steilen des Weges, auf welchem eben ein hochgeladener, mit Leinwand überzogener Frachtwagen trotz des kräftigen Viergespanns, das ihm vorgeschirrt war, nur langsam und unmerklich näher kam; – kehrte sich das Auge der obern Seite zu, so zeigten die in den klaren leichtdurchflossenen Abendhimmel emporragenden Tannenwipfel, daß das Ziel der Wanderung nicht mehr fern sein konnte. Die ganze Bergstraße bot ein einfaches, herzerfrischendes Bild, dazu stieg von dem niederen Gewächs der Berghänge lieblicher Duft empor, aus dem Gehölze scholl das Rufen von Häher und Specht und in einem Busche dicht am Wege hub eine Amsel an, die ersten Noten ihres Schlummerliedes zu üben. Lieblich tönte der Gesang einer Menschenstimme darein, denn der im blauen Staubkittel neben seinem Lastwagen herschreitende Bursche sang sich mit heller Stimme ein lustiges Fuhrmannslied, das, längst volksthümlich geworden, unserem Wanderer wohl bekannt war, und von fern, aus der Tiefe, zogen die weichen Töne eines Posthorns schmeichelnd und lockend herauf.

Der Wanderer sog Licht und Duft, Sang und Klang wie kostend in sich ein; dennoch war er nicht damit allein beschäftigt, sondern schien der Straße selbst und den verschiedenen von ihr eingeschlagenen Richtungen sein besonderes Augenmerk zu schenken, denn immer und immer kehrten seine Blicke wie messend darauf zurück, um sich dann wieder prüfend der Schlucht zuzuwenden, die, von einem ansehnlichen Brückenbogen überbaut, unter seinen Füßen hinzog.

Es war ein junger Mann von kräftiger Gestalt, der man wohl ansah, daß die straffe Haltung ebensowenig hinterm Studirtische erworben war als die gesunde dunkle Färbung des angenehmen, von einem blonden Vollbart umrahmten Gesichts; er war einfach und doch nicht ohne Wahl gekleidet, der leichte Rock war ebenso bequem, als er gefällig saß, und paßte vollkommen zu den festen und doch keineswegs schwerfälligen Schuhen und dem buntgewürfelten Halstuch, das lose um den leicht geöffneten Hemdkragen geschlungen war.

Er ließ den Frachtwagem der eben näher kam, vorbeifahren, es mochte ihm nicht genehm sein, neben dem Fuhrwerk herzuschreiten, dessen breite Radfelgen auf dem Gestein der Straße knirschten; mit einem freundlichen „Guten Abend!“ erwiderte er den Gruß des Fuhrmanns, der nur den Hut rückte, ohne sich in seinem Gesange irre machen zu lassen. Er sah ihm nach, bis er die nächste Steile hinangefahren war und die Worte des Liedes verklungen waren. Schon aber begann es von unten herauf zu tönen und das Posthorn erhob ganz nahe eine andere Weise, die dem Wanderer ebenfalls so bekannt dünkte, daß er sich nach der Richtung der Töne wandte, als wolle er sich auf die Worte zu denselben besinnen.

Ein Postillon mit drei ledigen Pferden kam die Straße herauf und blies behaglich wandelnd auf seinem Horn, während die Rosse den wohlbekannten Weg vor ihm dahinschritten.

„Es ist so,“ sagte der Wanderer horchend vor sich hin; „ich kenne das Lied auch, ich muß es in meiner Kindheit gehört haben, die Mägde haben es gesungen, wenn sie im Winter beim Spinnen beisammen saßen … ich mußte wohl allemal zu Bett, aber ich habe es in meine Kammer hinein und durch den Schlaf gehört und behalten. … Wie hießen doch die Worte? ‚Herzliebster Schatz, ich will dich etwas fragen.‘ … Nicht doch, so war es nicht, aber der Gedanke ist ähnlich. … ‚Herzliebstes Schätzel mein‘. … Richtig, so ist es, nun taucht es mir völlig wieder auf. …

[354]

‚Ich will Dich etwas fragen,
Herzliebstes Schätzel mein –
Die Bäume thun ausschlagen;
Ich will dich etwas fragen:
Wann soll die Hochzeit sein?‘“

Das Lied war eben zu Ende, als der Postknecht näher kam und das blanke Hörnlein, das er an einer weißblauen Schnur über der Brust hängen hatte, zurückfallen ließ; ein ziemlich bejahrter Bursche, dem unter dem Lederhute mit dem Federbusch und der breiten Silberborte auch das Haar schon stark versilbert hervorsah, obwohl er in dem blauen aufgeschlagenen Stutzfrack mit den schwarzen Sammetärmeln und den Silbertressen darauf, in der rothen Weste und den blanken weißen Lederhosen noch ganz stattlich aussah und trotz der schweren Reitstiefel so rüstig einherschritt, als sei er bereit, es noch mit dem Jüngsten aufzunehmen. Dazu stimmte vollkommen der lustige und beinahe listige Zug, der ihm trotz mancher Falte im Gesicht um den Schnurrbart und die lebhaften grauen Augen spielte.

„Grüß’ Gott, Schwager,“ sagte der Wanderer und schritt neben ihm her. „Du blasest ja, daß Einem das Herz im Leib aufgeht … man sollte glauben, Du wärst bei des Königs Hofmusik in die Schule gegangen!“

„Hoho,“ rief der geschmeichelte Postillon entgegen, „mit der Schul’ und der Hofmusik, da schaut’s übel aus; aber wenn man etwas recht lang’ treibt, ist’s nit zu verwundern, daß man’s zuletzt kann, und was man gern thut, das geht völlig gar wie getandelt … Noch weitaus, Herr? Sie wollen gewiß noch in die nächste Poststation? Dann haben wir Einen Weg.“

„Nein,“ erwiderte der junge Mann, „ich denke im Bergwirthshause zu übernachten. Man kann doch leidlich dort unterkommen? Ist’s noch weit bis dahin?“

„Keine halbe Stunde mehr,“ entgegnete der Postillon, indem er mit der Peitsche nach der Berghöhe hinauf deutete. „Sehen Sie da oben die Laubwipfel über den Fichtenbäumen? Die stehen schon im Wirthsgarten, und wenn wir da vorn um die Ecke kommen, sieht man schon das Gemäuer des Hauses selbst, das so weiß und blank ist wie ein frisch gelegtes Ei. Und ob man dort unterkommen kann? Das will ich meinen; das Haus ist mit Allem versehen wie das beste in der Stadt, das macht, weil die Straße gar sehr belebt ist, es vergeht kein Tag, wo nicht Gäste dort einkehren …“

„Du bist wohl schon lange Postillon?“ unterbrach der junge Mann, für den die beredte Lobeserhebung des Bergwirthshauses nichts Anziehendes zu haben schien.

„Freilich, Herr,“ war die Antwort, „es geht schon in die vierzig Jahre; ich bin, seit ich erwachsen bin, niemals was Anderes gewesen. Sie haben vielleicht das kleine Bauerngütl bemerkt, das alte holzbraune Häus’l, das aussieht, als wenn es irgendwo im Rauchfang gehangen wär’; da bin ich daheim. Da stellen meistens die Pferde ein, die man zur Vorspann braucht über den Westerberg, da hab’ ich als Bub’ beim Einspannen geholfen, dann bin ich selber gefahren und bin in den Postillonfrack hineingekommen, als wenn er mir gewachsen wäre! Seitdem fahr’ ich jeden Tag, den Gott giebt, mit dem Eilwagen von der Station überm Berg zu der andern und reite dann mit den Pferden wieder zurück …“

„Seit so langer Zeit? Und Du bist dessen nicht überdrüssig geworden? Ich meine, das immerwährende Einerlei müßte nicht auszuhalten sein …“

„Sie meinen, ich müßte Weillang haben?“ entgegnete der Postillon lachend. „Noch ist mir das keinen Augenblick passirt und wird wohl auch nicht geschehen, denn ich habe keine Zeit dazu! Und mit dem Einerlei hat’s auch seine guten Wege … der Eilwagen ist alle Tage gesteckt voll, alle Tage andere Leut’ mit anderen Gesichtern, Leut’ von allen Nationen, die sich alle um den Postillon nicht kümmern, die ich mir aber alle betrachten kann, gerade als wenn sie meinetwegen hergereist kämen. Und wenn auch das nit wäre, Herr, und wenn’s auch immer der nämliche Weg ist, es giebt doch alleweil was Neu’s und der Wald ist immer anders … ich kenn’ schier jeden Baum und hab’ ihn wachsen sehn und mach’ mir so meine Gedanken, wie’s auf der ganzen Welt doch auch nichts anders ist, als daß man von der einen Station zu der andern hin und wieder reist, und wenn mir ja einmal nichts mehr einfallt, dann hab’ ich ja noch mein Posthörnl’, dann laß ich das statt meiner reden, und wenn ich’s einmal angesetzt hab’, ist mir noch niemals das Trumm aus’gangen!“

„Sieh da, ein Weltweiser im Postillonrock,“ rief der Wanderer, indem er den Burschen, der sich ganz warm geredet, wohlgefällig betrachtete. „Ich lasse Deiner Gesinnung alle Ehre widerfahren, Schwager,“ setzte er dann hinzu, „Jeder sieht mit seinen eigenen Augen; ich für meinen Theil könnte mich beim Anblick der Bergstraße niemals des Gedankens erwehren, daß sie immerhin ein kühner und sogar schöner, aber doch ein mühseliger Bau ist, den man bequemer hätte einrichten können …“

Der Postillon sah ihn mit listigem Blick an und lachte. „Das könnte freilich nicht schaden,“ sagte er, „zumal im Winter, aber wissen Sie, Herr, warum der Has’ über’n Berg lauft? Ich will’s Ihnen sagen, wenn Sie ’s nit wissen … weil der Berg kein Loch hat, wo er durchlaufen könnt’ … so ist’s da auch, der Westerberg ist einmal zu grob und hat halt dem Baumeister nit den Gefallen gethan, daß er auf die Seit’ ’gangen wär’ …“

„Dessen hätte es nicht bedurft,“ rief der junge Reisende, zurücksehend und in die Schlucht deutend. „Der Baumeister durfte nur die Augen aufmachen und dem Wasser ablernen, wo und wie es seinen Weg gefunden hat …“

„Aha,“ rief der Postillon und lachte, daß das Posthorn an der Schnur wackelte, „sind Sie auch ein solcher? Einer von den Projectenmachern? Hab’ schon davon gehört, daß sie eine Eisenbahn zu uns herein in die Berg’ bauen wollen – aber schaun S’, das kann draußen recht gut sein, wo ’s hübsch eben dahin geht, aber bei uns herinnen, in den Felsen und Klüften, da möcht’ eine Kuh lachen, wenn man von so was hört! … Das Wasser, ja das find’t und macht sich freilich überall selber seinen Weg, aber eine Straß’ da in die Schlucht hinein, so mitten durch den Westernberg bauen, das ist nit möglich, das geschieht nit eher als bis einmal Pfingsten vor Ostern kommt …“

„Das scheint Euch nur so, guter Freund; ich habe weite Reisen gemacht und dabei Bauten gesehen, gegen welche diese eine Kleinigkeit zu nennen wäre …“

Der Postillon blieb stehen und faßte den Wanderer am Arm, um ihn ebenfalls anzuhalten. „Wie,“ sagte er, „lassen S’ Ihnen einmal in’s Gesicht schauen, damit ich seh’, ob Sie im Ernst reden und nit etwa denken, dem dummen Post-Bartel will ich einmal einen Bären aufbinden, daß er ihn zu München drinnen auf der Jakobidult sehen lassen kann. … Sie schauen wirklich ganz gesetzt und ernsthaft darein …“ fuhr er dann fort, indem auch über sein erst noch so übermüthiges lustiges Gesicht ein Schatten zog, „es ist also keine Fopperei? Es wär’ wirklich was d’ran an dem Gered’? Also wär’s doch möglich, daß die verflixte Eisenbahn zu uns herein käm’? … O je, o je … das thät’ mir aber leid, da könnt’ mich schon mein Leben verdrießen!“

„Dich? Warum das?“

„Warum? … Nichts für ungut, Herr … aber das ist eine tappige Frag’. … Wenn sie eine Bahn bauen in die Berg’ hinein, dann wird gar bald das Gras wachsen auf der Westerbergerstraß’ … dann wird man keinen Eilwagen mehr brauchen und keine Ross’ und also auch keinen Postillon – was soll ich nachher thun, jetzt, wo ich schon dahin anfang’, ein alter Kerl zu werden? … Aber hoffentlich,“ setzte er entschlossener hinzu, indem er den einen Gaul anhielt und sich in den Sattel schwang, „hoffentlich erleb’ ich’s nicht, daß das geschieht, denn da wird wohl noch viel Wasser rinnen und noch mancher Herbst und Auswärts kommen. … B’hüt’ Gott, Herr, da sind wir jetzt; ich muß das Wirthshaus anblasen, damit sie wissen, daß ich komm’ … ich thu’s alle Tag’ und denk’, ich will’s beim Alten lassen …“

Er setzte das Horn an und blies, seine Pferde antreibend, einen lustigen Ruf, der sich wie ein muthwilliger Gruß anhörte, ganz dem liebliche Bilde gemäß, das auf der eben erreichten Berghöhe sich vor dem überraschten Wanderer zeigte. Es war eine nicht große, aber immerhin ansehnliche Hochfläche, an deren entgegengesetzter Seite die Straße ebenso, wie sie gegenüber aufgestiegen war, sich wieder zu Thal senkte, so daß zu beiden Seiten der Ausblick geöffnet war; gab es auch keine Fernsicht im eigentlichen Sinne, weil nahe und höhere Berge den Horizont abschlossen, so ruhte das Auge doch mit Wohlgefallen auf den mächtig gezogenen Linien der Berge und den Waldmassen, mit denen sie bekleidet waren, wie mit einem schwerfaltigen sattgrünen Gewande, [355] auf welchem nur manchmal als Verzierung sich die weißen Stämme und das helle Laub eines Birkenbüschels abhoben, oder lichtgrüne Gruppen von Ahorn- oder Buchen-Wipfeln, oder auch ein Stück Felsgestein, bald in breiten massenhaften Platten abstürzend, bald in wunderlich geformten Zackenkamm verlaufend. Unten lagen zwar nur zwei schmale Waldthäler, in deren jedem ein Bach dahin strömte, aber die schmalen Gründe prangten mit dem frischesten Wiesengrün und am Wasser blitzte auf der einen Seite ein Mühlschuß und sein im Abendlicht sprühendes Rad, auf der andern, wohin die Sonne nicht mehr reichte, lagen ein paar freundliche Bauernhäuser unter Baumwipfeln beinahe vergraben, und das einzige Zeichen menschlichen Lebens um sie her waren die leichten Rauchwölkchen, die kerzengerade und feierlich darüber emporstiegen.

Je friedlicher der Anblick der beiden Bergthäler war, desto anziehender war der Gegensatz des lebensvollen, rasch bewegten Treibens, das sich auf der Höhe selbst und vor dem Bergwirthshause entwickelte. Dieses, sich nach der ganzen Länge des Platzes hinziehend, war ein ansehnliches Gebäude von jener gemischten Bauart, welche bei Landwirthshäusern sich häufig findet und gar Manches von städtischen Formen entlehnt hat, ohne im Grunde dem Wesen des Bauernhauses völlig untreu geworden zu sein. Im Erdgeschosse führten einige Stufen breit und bequem zu der weit offenen Thür, durch welche man in die helle luftige Hausflur sah, zu deren beiden Seiten breite Fenster mit grau angestrichenem Holzwerk und grünen Läden errathen ließen, wie traulich und einladend die beiden großen Gaststuben hinter ihnen sein mochten; im obern Stock zog sich eine Reihe Fenster ganz wie an einem Stadthause hin und die dahinter stattlich herabfallenden Vorhänge zeigten, daß man wohl darauf bereitet war, eine beträchtliche Anzahl einkehrender Gäste auch über Nacht zu beherbergen. Gegen die Morgenseite hin aber war der alte breit vorspringende Holzgiebel des Bauernhauses erhalten und unter ihm zogen sich die hölzernen Laubengänge dahin, mit dem Kübel für die Hauswurz geschmückt und mit den Nelkenstöcken, an deren überhangenden Stielen die rothen Blumen sich schaukelten, wie an dem gewöhnlichsten Bauernhause. Gegenüber, in gleicher Ausdehnung und nicht minder stattlich dehnten sich die Wirthschaftsgebäude aus, die Scheune mit der Tenne, Ställe und Heuboden, und die rege Thätigkeit, welche überall herrschte, ließ erkennen, daß das Anwesen nicht nur ein viel besuchtes Gasthaus, sondern auch ein bäuerliches Gut von nicht geringer Bedeutung war.

Vor dem Thore der mächtigen Scheune stand ein hochaufgeladener Getreidewagen, und ein halbes Dutzend von Knechten und Mägden war eifrig beschäftigt, die vollen langen Garben mit den goldreifen schweren Aehrenbündeln abzuladen und in den Gevierten des Stadels übereinander zu schichten. Das emsige Schaffen bildete einen lebhaften Gegensatz zu der übrigen auf dem Platze sich entwickelnden Bewegung, denn während von links der Frachtwagen mit seinem Biergespann schwerfällig angerollt kam, und der Post-Bartel blasend auf seinen Gäulen näher trabte, war von rechts ein anderes Fuhrwerk sichtbar geworden, ein sogenannter Stellwagen, durch welchen nicht nur der kleine Verkehr zwischen näherliegenden Orten, sondern selbst mit größeren Städten für Alle vermittelt wurde, denen es unmöglich war, sich der Post zu bedienen. Der Wagen fing eben an, sich seiner ziemlich zahlreichen Bewohner zu entladen, denn bis die Pferde sich von der Anstrengung des Bergweges erholt und eine kleine „Unterleg’“ gemacht hatten, mußten auch die Reisenden sich zu einem Aufenthalt bequemen, ein Entschluß, der nicht eben schwer zu fassen war, wenn zu dieser Säumniß ein so gastlich anmuthendes Plätzchen einlud, als es unter den dichtschattigen Laubkronen der Linden- und Kastanienbäume des Bergwirthshauses zu finden war.

Die Gesellschaft, die unter den Bäumen Platz nahm, war ziemlich bunt; da war ein wohlbeleibter Pfarrer mit greisem Haar und gutmüthig freundlichem Gesicht, der mit einem nicht minder wohlgenährten Viehhändler, dessen Leib der geldstrotzende Ledergurt kaum zu umspannen vermochte, von dem Ergebniß der eben begonnenen Ernte und von den zu hoffenden Fruchtpreisen plauderte; ein Handwerksbursche in grauer Blouse und den Wachstuchhut auf dem krausen Kopf, und ein beurlaubter Soldat, der in die Heimath ging, weil es zur Feldarbeit an Arbeitern gebrach, und der in rasch geschlossener Bekanntschaft und Vertraulichkeit den Wunderdingen zuhörte, die der Geselle von fremden Städten und Ländern zu erzählen wußte; eine alte Bürgersfrau aus einem benachbarten Flecken, die sich gedrungen fühlte, vor dem Ende noch eine Wallfahrt zu machen zur schwarzen Muttergottes von Altötting, und eine junge Bäuerin, mit ihrem Erstgeborenen im Arm, einem dicken vollbackigen Buben, von dem sie Auge und Hand ebenso wenig abwandte, als die alte von Rosenkranz und Gebetbüchlein.

„Das muß man sagen,“ rief der Händler, sich behaglich niederlassend, „schön ist es beim Bergwirth, und das Trumm mit den Reisenden und mit dem Fuhrwerk reißt gar nicht ab – da rührt sich’s vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht! Das Wirthshaus ist eine wahre Goldgrube, und wenn der Wirth einmal seine Tochter ausheirathet, kann sich der gratuliren, der sie kriegt – die wird einen schönen Rogner mitbekommen …“

„Ist das Mädel sauber?“ fragte der reisende Geselle neugierig.

„Na, ob die sauber ist!“ erwiderte der Metzger. „Es sind ihrer nicht viel, die ihr das Wasser reichen können, und in der ganzen Gegend, auf viele Stunden weit, heißt sie nicht anders, als die schöne Bergwirths-Juli … aber da könnt Ihr selber sehn, da kommt sie just über die Staffeln herunter und setzt die Füß’ wie ein Bachstelzel, das durch Wasser geht …“

„Mortbleu,“ rief der Bursch, der auch in Frankreich gewandert war, „das ist straf’ mich Gott wirklich ein bildhübsches Mädel!“

Die Männer hatten nicht Unrecht; wie das Mädchen über den Platz herankam, war es kaum möglich, sich eine anmuthigere Erscheinung zu denken. Sie trug die ländliche Tracht der Umgegend, aber das Mieder saß ihr so knapp und schön, als wäre es eigens für sie ersonnen worden; das reiche braue Haar war in Zöpfen geflochten und um den Kopf gesteckt, die Aermel waren aufgestülpt, um beim Tragen der vielen Biergläser nicht hinderlich zu sein, die sie gleich der geübtesten Kellnerin handhabte, zugleich hatte sie am Arme einen offenen Henkelkorb hängen. Mit leichten Schritten von ungesuchter Zierlichkeit kam sie über den Platz, eine nicht übergroße, aber doch kräftige Gestalt, ein gesundes Roth auf Wangen und Lippen, den Glanz reiner Jugend in den Augen, tiefbraun gleich einer reifenden Haselnuß.

„Möcht’ wissen, was das Dirnl’ treibt,“ sagte der Viehhändler, „aber sie wird mein’ Eid jeden Tag sauberer … und was mir noch an ihr gefallt, ist, daß sie gar keinen Stolz, keinen Hochmuth hat – der Bergwirth hat ein schönes Geld an sie gewendet, und hat sie aufziehen lassen wie eine Herrische oder eine Stadtfräul’n, seit sie aber wieder daheim ist, tragt sie sich auch wieder bäurisch, und weil die Kellnerin just da drüben mithelfen muß beim Getreideabladen, steht ihr die Nasen nicht zu hoch, und sie schenkt gleich selber ein und bedient die Gäste …“

„Und das ist es, was ich bei dem Mädchen besonders hoch anschlage,“ fiel der Pfarrer ein. „Es ist mir von Anfang nicht recht gewesen, daß sie in’s Kloster zur Erziehung gegeben wurde, denn wohin soll es kommen, wenn Jedes höher hinaus will, über seinen Stand, und wenn die Bauerntöchter erzogen werden wie die von Beamten und Edelleuten! Ich habe auch dem Bergwirth mehrmals abgeredet, aber er geht immer nach seinem eigenen Kopf – zum Glück aber ist das Ding gut ausgegangen, die Bergwirths-Juli ist keine solche halbe Docken geworden, die nirgends mehr ganz hintaugt ... sie ist brav und einfach geblieben, wie sie es immer gewesen ist!“

„Sie können schon Recht haben, Hochwürden,“ sagte der Händler, „aber der Bergwirth, der Obernöder würd’ keine große Freud’ haben, wenn er hören thät’, daß Sie seine Juli eine Bauerntochter nennen! Er hat zwar ein Bauerngut, das sich wohl sehen lassen kann, aber die Hauptsach’ ist ihm doch die Wirthschaft, und da kann ich ihm auch nit so viel Unrecht geben, denn da geht’s herein, schier wie zu Regensburg im Stift von Sanct Emmeran, alle Viertelstund’ einen Ducaten … aber da kommt er selber aus dem Haus …“

Das Gespräch brach ab, denn die Wirthstochter war ganz nahe gekommen und fing an, mit freundlichem Grüßen und Nicken die vollen schäumenden Halbkrüglein zu vertheilen und zugleich dem Verlangen nach Brod oder geräucherter Wurst aus dem zur Vorsicht im Korbe mitgebrachten Vorrathe zu entsprechen.

Auch der junge Fußwanderer hatte unter den Bäumen Platz genommen, aber etwas abseits, hart an der Straßenböschung; das Gespräch der Uebrigen entging ihm nicht, und auch sein Blick hing [356] mit Wohlgefallen an der lieblichen Erscheinung – erging es ihm doch damit wie kurz vorher mit dem Liede des Postillons, als müsse er sich einfallen lassen, daß und wo er derselben schon einmal gegenüber gestanden.

Inzwischen trat auch der Wirth hinzu, ein hagerer Fünfziger, doch rüstig und von unverkennbarem Selbstgefühl getragen, das sich in der etwas steifen Haltung ausprägte, auf der breiten Stirn, den zusammengewachsenen Augenbrauen und dem aufgeworfenen Munde aber bis zum Trotze steigerte. Einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe, in Hemdärmeln und weißer Brustschürze, in welcher er links und rechts an der Schulter die Daumen stecken hatte, trat er zu den Gästen, grüßte mit nachlässigem Kopfnicken und nahm es auch nicht an, als der Viehhändler ihm seinen Krug hinschob und ihn nach Landessitte aufforderte, ihm Bescheid zu thun.

„Dank’ schön, Natzi – es muß so auch schon gehn … ich hab’ keinen Durst,“ sagte er, während der Händler etwas verdutzt den Krug zurückzog und selbst einen tüchtigen Trunk that.

„Wie Du willst, Bergwirth,“ rief er dann, „ich zahl’ mein Bier und kann es wohl auch allein trinken. … Aber wie haben wir’s sonst mit einander, wir Zwei? Wie steht’s mit unserer Handelschaft? Wie ich letzthin den Weg gekommen bin, hab’ ich um die rothscheckige Kalbin gefeilt … wie ist’s, hast Dich noch nit anders besonnen?“

„Könnt’ mir nit einfallen!“ erwiderte der Wirth geringschätzig. „Ich hab’ Dir meinen Preis gesagt, und wenn ich einmal was sag’, dann ist es so gewiß, als wenn Dir ein Anderer Brief und Siegel dafür gegeben hätt’! Was ich verlangt hab’, weißt Du – da geht kein Pfenning ab!“

„Du bist gar zu genau, Bergwirth,“ rief der Metzger, „hundert Gulden für eine jährige Kalbin – dafür kriegt man ja schon bald ein Roß!“

„So kauf Dir eins und laß mir ein’ Ruh’!“

„Bist halt ein bockbeiniger Kumpel, Obernöder … wirst Dich vielleicht schon noch besinnen, die fünfundneunzig hab’ ich gesagt, und mehr kann ich nit geben; es wär’ mir nur drum zu thun gewesen, weil die Kalbin so gar schöne gewundene Horn’ hat. … Wie ist es aber nachher mit dem Säg’müller am Fall … kriegt der auch keinen bessern Bescheid? Ich hab’ Dir neulich seine Botschaft gebracht und muß ihm heut’ Antwort sagen … er hat eine große Lieferung übernommen von eichenen Läden und Stöcken; Du hast überflüssige Eichen gerad’ genug stehn, am Abhang, an der Niederpoint. … Schlag’ ein, Bergwirth; der Müller hat Dir kein schlechtes ’Bot gelegt, mein’ ich!“

„Laß mich aus,“ rief der Wirth unwillig, „ich will nichts hören vom Holzverkaufen – ich bin kein solcher Nothleider, daß ich mein Holz verwüsten müßt’ – ich brauch’ den Bettel nit! Mein Holz ist mein’ Freud’ und vor Allen die Eichen drunten am Niederpoint! Reis’ zu, Natzi, mit denen lumpigen paar Gulden – von denen Bäumen wird keiner geschlagen so lang’ der Bergwirth ein offnes Aug’ hat!“

Der Händler wollte sein Spiel noch nicht verloren geben. „Sei nur nit gar so eigen,“ begann er wieder, die Eichen stehn ja da zu dicht, das kann Dir Jeder sagen, der was davon versteht … es sind Viele drunter, die fangen schon an überständig zu werden und gipfeldürr …“

Der Wirth ließ ihn nicht ausreden. „Laß gut sein, Du Siebengescheider,“ rief er und wandte sich ab, „Du bist Einer von denen, die das Gras wachsen hören – aber mir wirst Du doch nit zu schlau! Die Eichbäum’ bleiben stehn und wenn sie gipfeldürr und überständig werden, so werden sie’s mir und kein Mensch braucht sich drum zu kümmern – Verstanden, Natzi? Also strapazir’ Dich nit weiter, damit Dir der Athem nicht kalt wird!“

Er ging, ohne das Achselzucken des Händlers zu beachten, und setzte sich rücklings auf die Bank neben dem Pfarrer nieder; dabei machte er eine Bewegung, als ob er den Hut abnehmen wollte, that es aber nicht, er wollte wohl dem Geistlichen eine Art Respect bezeigen, zugleich aber ihn erkennen lassen, daß er den Abstand zwischen ihm und dem reichen Bergwirth durchaus nicht für einen sehr absonderlichen halte. In dem Gespräch, das er begann, überhörte er die unmuthigen Worte, mit denen der Händler den ihm zunächst Sitzenden unzweideutig zu erkennen gab, daß auch seine im Viehhandel erprobte Geduld zu reißen im Stande war. „Ich seh’ schon, ich muß eine andere Zeit abwarten! Ist halt übermüthig der Obernöder mit seinem Muß-Wirthshaus! Wenn einmal, wie’s überall heißt, die Eisenbahn gebaut wird, dann wird er wohl auch ein bissel kleiner beigeben!“

Unbeachtet von Allen war Juli während dessen zu dem Fußwanderer getreten, der sich den Blumenflor über die Straße besah und ihr daher den Rücken zuwandte. „Was schaffen Sie, Herr?“ wollte sie sagen, aber sie brachte es nicht heraus, als er sich umkehrend ihr den vollen Anblick seines Gesichtes bot; sie verstummte und stand einen Augenblick regungslos vor Verlegenheit, die sich halb wie Freude, halb wie Bestürzung ansah und sie mit glühender Röthe übergoß, bis tief in den Nacken und unter das Busentuch hinein, das über dem Mieder zusammen gefaltet war.

Ihre Bewegung war so sichtbar, daß sie dem Fremden nicht entgehen konnte und ihn zum Theile mit ergriff; kehrte ihm doch die schon beim ersten Anblick aufgetauchte Erinnerung an ein früheres Begegnen zurück, zwar immer noch unklar und zweifelhaft, doch in dämmernden Umrissen, die sich immer mehr zu formen begannen.

„Nun, mein Kind,“ sagte er, sich zuerst sammelnd, „Sie erschrecken ja ordentlich vor mir wie vor einem Ungeheuer? Wie soll ich mir das erklären? Hab’ ich doch bis zur Stunde nicht gewußt, daß ich so sehr häßlich und abschreckeud aussehe!“

„Sind Sie’s denn – oder sind Sie’s nicht?“ fragte Juli mit gepreßtem Athem.

„Wie kann ich das sagen,“ fragte er lächelnd hinwider, „so lang’ ich keine Ahnung davon habe, wer ich denn sein soll? Zwar – je mehr ich Sie betrachte, je gewisser wird es mir, wenn ich mich auch an den Ort nicht erinnere, daß ich Sie schon gesehen habe.“ …

„Ist das wahr? Erinnern Sie sich wirklich noch ein bischen an mich?“ rief das Mädchen mit einem offenen Lächeln des Glücks und der Freude. „Und wegen des Orts – da muß ich Ihnen halt ein bischen drauf helfen. … Sind Sie nicht vor drei Jahren auf der Fraueninsel gewesen, im Chiemsee …“

„Allerdings,“ rief der junge Mann, ebenfalls mit einem Ausdruck in Ton und Blick, der dem ihrigen an Freude nichts nachgab. „Sind Sie etwa …“

„Ja,“ erwiderte sie mit fröhlichem Nicken schlug aber verschämt die Augen nieder, als sie dem Aufleuchten in den seinigen begegnete. „Ich war damals im Kloster, im Institut … ich bin das Mädchen, das Sie, wie wir Schülerinnen spazieren gingen, von dem Hunde retteten, der sich am Fischerhaus von der Kette gerissen hatte und auf uns losstürzte, und der mich, weil ich im Entlaufen gestolpert und gefallen war, schon an den Kleidern gepackt hatte.“ …

„Und Sie haben mich gleich wieder erkannt?“ fragte der Wanderer.

„Wie sollt’ ich nicht?“ erwiderte Juli unbefangen. „Es wär’ ja schlecht von mir, wenn ich Sie vergessen hätte … der böse Hund hätte mich gewiß zu Schanden gerissen, wenn Sie nicht gewesen wären. … Es ist mich hart genug angekommen, daß ich Ihnen nicht einmal habe danken können, denn die Klosterschwester, die uns spazieren führte, ist gleich mit uns dem Kloster zugelaufen, und ich habe mich auch nicht darauf besonnen in meinem Todesschrecken. … Ich habe Angst genug wegen Ihnen ausgestanden, denn es hat geheißen, der Hund sei wüthend gewesen und habe Sie in den Arm gebissen.“ …

„Das Letztere war auch der Fall!“ sagte lachend der junge Mann. „Ich glaube wohl, dem Köter die wilde Lust vertrieben zu haben, aber bis ich ihn so weit gefaßt hatte, war ihm Zeit genug geblieben, mir in meinem Arm zum bleibenden Andenken einen Abdruck seines Gebisses zurückzulassen. … Daß er aber nicht wüthend war, mögen Sie daraus ersehen, daß ich das Glück habe, ganz und heil vor Ihnen zu stehen!“

„Gott sei Dank, tausend und tausendmal!“ rief das Mädchen, dem unwillkürlich ein Seufzer entschlüpfte. „Wie ich wieder einmal heraus durfte, war es mein Erstes, mich nach Ihnen zu erkundigen – aber Sie waren schon fort und Niemand konnte mir Ihren Namen nennen – sie sagten, es kämen der Maler gar zu viele auf die Insel.“ …

„So halten Sie mich wohl auch für einen Maler?“ sagte der Jüngling, indem er sie fragend ansah. „Ich kann das nicht [358] bestätigen – allerdings war ich damals in Gesellschaft einiger Freunde, die sich eine so schöne Lebensaufgabe gewählt haben, aber mein Beruf ist ... ich weiß nicht, soll ich Ihnen gegenüber leider oder Gottlob sagen – ein viel gewöhnlicherer und alltäglicherer ... ich bin ein Bauer oder ein studirter Landwirth, wenn Ihnen das besser klingt, und habe mich jetzt zu meiner Uebung der Feldmesserei gewidmet. ... Aber das ändert wohl nichts, Sie würden sich gewiß nach mir erkundigt haben, wenn Sie auch gewußt hätten, daß ich kein Maler bin?“

„Gewiß, gewiß ... Ich wollte Ihnen ja danken! So ist mir nichts Anderes übrig geblieben, als für Sie zu beten – aber ...“

„Nun - Sie stocken? Was für ein Aber konnte Sie in diesem frommen Vorhaben stören?“

„Die hochwürdige Frau Gisela ... meine Lehrerin,“ erwiderte Juli etwas zögernd, „die hat es mir verboten ... sie meinte, es schicke sich nicht für ein Mädchen, so viel an einen jungen Mann zu denken, wenn er ihr auch das Leben gerettet habe – ich solle das nur dem lieben Gott überlassen, der würde es schon recht machen ... Sie war eine liebe seelgute Frau, die Mutter Gisela, ich versprach auch, ihr zu folgen – aber ...“

„Wie – noch ein Aber?“

„Aber,“ fuhr das Mädchen in lieblicher Unbefangenheit und mit einem schalkhaften Lächeln fort, „ich habe es doch nicht lassen können und habe doch für Sie gebetet, und jetzt kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie es mich freut, daß Sie gesund geblieben sind und daß ich Sie nun doch einmal wiedergesehen habe – und daß Sie ...“

„Daß ich –? Nun?“

Neue Verlegenheit goß ihren Purpur über das Antlitz des Mädchens. „Daß Sie ein – daß Sie kein Maler sind ...“

„Na, was giebt’s denn da? Wie lang’ soll denn der Herr noch warten, bis er sein Bier bekommt?“ rief jetzt die derbe Stimme des Bergwirths dazwischen, der indessen sein Gespräch mit dem Geistlichen beendet hatte, weil der Stellwagen seine Weiterfahrt antrat und die Passagiere sich ebenfalls auf die Beine machten, um den Bergweg in der Abendkühle zu Fuß hinab zu gehen, anstatt sich in dem engen stoßenden Räderkasten durchrütteln zu lassen.

„Ach du lieber Gott,“ rief das Mädchen in reizender Verwirrung, „darauf habe ich ganz und gar vergessen ...“

„Meiner Treu’ – ich nicht minder!“ rief lachend der junge Mann. „Ich dachte nicht mehr daran, daß ich von der Wanderung ziemlich durstig geworden war – so sehr hat es mich erfreut und erfrischt, eine so liebe alte Bekanntschaft zu erneuern!“

„Was? Liebe alte Bekanntschaft?“ rief der Wirth und trat ganz nahe hinzu. „Wie wär’ mir denn das?“

„Ja, Vater,“ sagte Juli fröhlich, „denkt Euch nur die unverhoffte Freud’. Ich hab’ Euch ja erzählt, wie mich auf der Fraueninsel ein wilder Hund angefallen hat ... denkt Euch nur, das ist der Herr, der mir geholfen hat!“

„So? – Ah, das ist ein andres Korn,“ sagte der Wirth plötzlich umgestimmt, indem er den Hut wirklich abnahm, das Mädchen aber enteilte, die verspätete Erfrischung herbei zu bringen. „Mit Verlaub,“ fuhr er dann so artig fort, als er zu sein vermochte, bot dem Gaste die Hand und setzte sich an seine Seite. „Das freut mich, daß der Herr zu uns kommt – mein Mädel hat sich’s schon lang’ gewünscht und die Juli – ich mach’ kein Geheimniß daraus, die ist mir an’s Herz gewachsen, und wer ihr was Lieb’s anthut, der hat mir’s auch gethan ... Also womit kann ich aufwarten? Was wär’s etwa, womit ich dem Herrn eine Freud’ machen könnt’? Woher kommt denn der Herr, wenn man fragen darf? Wo will er hin? Was ist der Herr denn eigentlich in seiner Profession?“

„Mein Name ist Franz Falkner,“ sagte der junge Mann, indem er lächend in die dargebotene Hand einschlug – „meines Zeichens bin ich ein Oekonom und habe die landwirthschaftliche Schule zu Weihenstephan durchgemacht ...“

„So, so!“ unterbrach ihn der Bergwirth. „Nehm’ mir’s der Herr nit übel, aber ich halt’ nit viel auf die studirten, lateinischen Bauern. Aber was wollen ’s dann hier? Der Herr sieht mir nicht darnach aus, als wenn er einen Dienst suchen und sich hier herum als Bauernknecht verdingen wollt’ ...“

„Das ist auch wirklich nicht meine Absicht ...“ erwiderte Falkner heiter, „ich denke einmal irgendwo ein Gut zu pachten oder eine Verwalterstelle zu suchen; jetzt aber bin ich für eine Weile der Landwirthschaft untreu geworden und unter die Feldmesser gegangen ...“

„Ich wüßte doch aber nit, was es bei uns zu vermessen geben sollt’?“ fragte der Wirth verwundert.

„Wie könnt Ihr so fragen, Bergwirth?“ rief Falkner, „Ihr wißt doch, daß es endlich Ernst werden soll mit dem Bau der Eisenbahn ...“

[369] Lautes Lachen des Wirths unterbrach die Rede Falkner’s, aber das Lachen war kein freudiges und vergnügtes. Der junge Mann, der das verhaßte Wort aussprach, war der Retter seiner Tochter; darum lachte er nur bei seiner Rede, jedem Andern hätte er mit einem wilden Ausbruch seines Zornes geantwortet, der noch vernehmlich genug aus seinem Gelächter herausklang. „Eisenbahn?“ schrie er und schlug, um den verbissenen Groll an etwas auszulassen, seinen Strohhut um die Tischecke, daß die Trümmer davon herunterhingen. „Wie man sich in den Leuten irren kann! Der Herr schaut ganz reputirlich aus und wie ein vernünftiger Mensch, und jetzt kommt er mir auch mit solchen Narreteien daher! Eine Eisenbahn bei uns – über unsere Berge! Man möcht’ aus der Haut fahren, wenn man nur gleich eine andere hätt’ zum Hineinfahren …“

„Nun, über die Berge soll die Bahn so eigentlich nicht gehn,“ erwiderte Falkner, der das Gebahren des Wirths verwundert betrachtete, „aber an denselben, in Einschnitten kann sie sehr wohl geführt werden; man will eben daran gehn, das Nivellement in den Wasserschluchten des Westerbergs aufzunehmen …“

Der Wirth hörte ihn nur halb, er lachte immer lauter, immer zorniger. „Dummheiten über Dummheiten, nichts als Dummheiten!“ rief er. „Zu was brauchen wir eine Eisenbahn; die Straßen, die unser schweres Geld kosten, haben seit vielen hundert Jahren gut gethan und werden noch tausend Jahr’ gut thun, ohne die neumodischen Sachen, von denen wir nichts wissen wollen! … Wir bleiben beim Alten, das wir kennen, wir Bauern da in den Bergen herinnen! Also die Schluchten am Westerberg sollen gemessen werden? Nur zu; ich wünsch’ alles Glück; werden schon darüber kommen, was ihnen der Berg für Nussen zum Aufbeißen geben wird! Und der Herr will vielleicht auch noch bei mir logiren, damit ich den Gift und die Gall’ jeden Tag frisch zu schlucken bekomm’? Nur zu, ich mach’ mir nichts daraus; ich kann’s abwarten und aushalten denk’ ich! Freilich, ein Anderer, wenn mir so gekommen wär’, dem hätt’ ich den Fleck gewiesen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat; aber bei Ihnen, da muß ich schon eine Ausnahm’ machen und ein Aug’ zudrücken – wegen meiner Tochter, der Juli. Also bleib’ der Herr nur da und logir’ er bei mir und mess’ er, so viel er will … ich will zuschaun und mir den Buckel voll lachen, wenn ich seh’, wie einmal Alles drunter und drüber geht wie beim babylonischen Thurm!“

Juli’s Rückkehr unterbrach das Gespräch zu geeigneter Zeit; zugleich kam auch der Postillon heran, der sich ebenfalls anschicken wollte, seinen Ritt fortzusetzen. „Da hat mir der Posthalter ein Lesen mitgegeben, das ich Euch bringen soll, Bergwirth,“ sagte er und reichte ihm ein Schreiben … „ich hab’s in der Taschen gehabt und hätt’ schier ganz darauf vergessen …“

Der Wirth nahm das Schreiben und trat, es öffnend, bei Seite, während der Postillon zu Pferde stieg und bald am jenseitigen Abhange verschwand; sein Gruß war unbeachtet geblieben, denn der Wirth hatte das Papier kaum entfaltet, als er es mit einem halblauten Fluche auseinanderriß und die zusammengeballten zerknitterten Fetzen ingrimmig zu Boden schleuderte.

„Ihr Vater scheint üble Nachrichten bekommen zu haben!“ sagte Falkner, indem er dem unwillig Hinwegeilenden nachsah; das Mädchen aber suchte betroffen die weggeworfenen Stücke zusammen und faltete eines derselben wieder auseinander.

„Was muß denn nur das sein …“ sagte sie, „so auseinander hab’ ich den Vater nit gleich gesehn. … Aha, jetzt glaub’ ich’s wohl!“ fuhr sie fort, als sie einen Blick hineingeworfen hatte … „das ist ihm das Allerbitterste … ‚die Errichtung einer Posthalterei zu Westerberg betreffend‘ … und da steht wieder … ‚kann sein Gesuch einer Würdigung um so minder unterstellt werden, als die in nächste Aussicht gerückte Erbauung einer Eisenbahn‘ … Jetzt begreif’ ich Alles!“

„Ich fange ebenfalls an zu begreifen,“ sagte Falkner, „und sehe nur zu wohl, daß Ihr Vater ein Feind neuer Einrichtungen ist …“

„Ja,“ sagte Juli wie begütigend, „die Posthalterei, die wär’ seine einzige Freud’ gewesen – jetzt ist’s vorbei damit – er hat bis jetzt von der Eisenbahn nichts hören wollen … da wird jetzt dem Faß vollends der Boden aus sein …“

„Das sind schlimme Aussichten für mich – noch ehe ich ahnen konnte, daß ich Sie hier wiedersehen würde, hatte ich mir vorgenommen, hier meinen Wohnsitz zu nehmen und lange Zeit zu bleiben … nach Allem, was ich nun weiß, muß ich Ihrem Vater ein sehr unwillkommener Gast sein – mein Geschäft gehört zu den Vorarbeiten des ihm so verhaßten Unternehmens …“

„Haben Sie deswegen keine Sorge,“ rief das Mädchen rasch, „der Vater ist außerdem die gute Stund’ selber. Sie werden sich schon mit ihm vertragen … wenn Sie wollen,“ setzte sie etwas leiser und langsamer hinzu.

[370] „Ob ich will?“ entgegnete Falkner, dessen Blick mit jedem Pulsschlage wärmer wurde. „Ich will es Ihnen beweisen! Aber wie wird es mit Ihnen sein? Würde es Ihnen jetzt, da Sie mich kennen, nicht doch lieber sein, wenn ich ein Maler wäre? Werde ich Ihnen auch jetzt noch willkommen sein?“

Fragend streckte er ihr seine Hand entgegen, fragend haftete sein Auge auf ihrem erröthenden Angesicht; sie schlug die ihrigen nicht auf, aber sie wehrte ihm nicht, als er ihre Hand ergriff und einen raschen Kuß darauf drückte. …

„Ich muß fort – in die Küche …“ stammelte sie sich losreißend, und flog dem Hause zu – von drüben aber aus dem Bergthale ertönte auf den Fittichen der leise heranschwebenden Dämmerung der verhallende Ruf des Posthorns:

Ich will dich etwas fragen,
     Herzliebstes Schätzel mein –
Die Bäume thun ausschlagen,
Ich will dich etwas fragen:
     Wann soll die Hochzeit sein?




2. F. F.

Wenige Wochen später ging es in dem einsamen Bergwirthshause wohl auch laut und lebhaft her, aber das Laute war nicht so angenehm und die Lebhaftigkeit nicht so erfreulich, als an dem Abende, da der unerwartete Gast im Hause eingezogen.

Es war viel anders geworden seitdem.

Die kühle klare Morgenluft ließ durch ihre in solcher Höhe doppelt fühlbare Frische spüren, daß mit dem September der Herbst eingezogen war, und wer noch gezweifelt hätte, den mochte der eisig schimmernde Reif überzeugen, der an der offenen Nordseite des Hauses auf dem Rasen niedergeschlagen war. Vor dem Hause stand ein leichtes offenes Wägelchen, in der geöffneten Stallthür gegenüber aber lehnte wartend ein Knecht und horchte nach dem Hause hin, aus welchem die laute befehlende Stimme des Bergwirths ertönte. Am Brunnen, der in einen langen Holztrog niederrauschte, stand eine Dirne und war emsig beschäftigt, die kupfernen Reifen an einem Milchkübel blank zu scheuern, während der Ochsenknecht seinen Thieren das Joch auflegte, um mit dem Pfluge in das Kleefeld zu fahren, das umgeackert werden sollte. Demungeachtet fanden die Magd und der Ochsenknecht Zeit, wie Jener auf das zu hören, was im Hause vorging, und darüber ihre Bemerkungen zu tauschen.

„Sacra,“ sagte die Dirne, „heut’ muß er schon mit dem linken Fuß aufgestanden sein, es ist jetzt schon bald eine halbe Stund’, daß er so herum rebellt im Haus. … Heut’ thu’ ich auch schon wieder lieber meine Kübel waschen, als mit der Juli tauschen! Was er nur haben mag, der alte Zornnickel? Und was bedeut’t denn das Schweizerwägerl? Wer will denn verreisen? …“

„Wer sonst als der Bergwirth selber,“ entgegnete der Knecht. „Heut’ ist ja die große Versammlung drunten im Posthaus in Steindorf – da kommen die Bauern aus der ganzen Gegend zusammen, da soll’s ausgemacht werden von wegen der Eisenbahn ...“

„Ja, ja, da geht mir freilich ein Licht auf, wie eine Stalllatern’!“ sagte der Ochsenknecht lachend, indem er seine zögernden Thiere antrieb, sich in Bewegung zu setzen. „Es ist völlig zum Lachen, wie der Mensch so verbeint sein kann, aber von der Eisenbahn will er halt durchaus nichts wissen! Wenn er nur das Wort sagen hört, ist er wie ein Indian, dem man ein rothes Tüchel vorhalt’. … Vor ein paar Tagen bin ich so unter der Lichten vor’m Haus’ gesessen und hab’ nur gehört, wie ein reisender Handwerksbursch von Amerika erzählt hat, daß man dort gar nimmer anders fahrt, als mit Dampf, und daß sich ein Jeder, der’s ein bissel vermag, seine eigene kleine Eisenbahn baut, bis an seine Hausthür hin – der Kerl hat gelogen, daß man’s hat mit Händen greifen können, aber das hat den Bergwirth nichts gekümmert; wie er mich hat stehen sehen, ist er wie ein Drach’ auf mich losgeschossen und hat mich angeschrieen, ob ich nichts Besseres zu thun hätt’, als Maulaffen feil haben … er hätt’ mir schon ein paar Mal angemerkt, daß ich auch Einer von denen sei, die überall dabei sein müßten, wo was Neues den Kopf in die Höh’ reckt … solche Leut’ könnt’ er nit brauchen, und wenn ich so fort machen wollt’, könnt’ ich auf Michaeli meinen Bündel schnüren. … Es ist aber ein guter Platz in dem Bergwirthshaus – also ist es mir ganz recht, daß ich auf’s Feld hinaus muß, denn wer ihm heut’ in die Hand hinein lauft, kann leicht was lösen.“ …

Er eilte den Ochsen, die sich schon langsam auf den Weg gemacht hatten, nach, die Dirne verschwand im Stall, der Knecht aber führte ein Paar schon angeschirrte Pferde heraus, denn die Stimme des Wirths, die eine Weile verstummt gewesen, ließ sich wieder hören und er selber, von Juli begleitet, erschien unter der Thür, zur Abfahrt bereit. „Hab’ mir’s ja gedacht, daß ich wieder warten muß!“ rief er dem Knechte zu. „Könnte schon lang’ eingespannt sein, wenn Du thätest, was ich sag’ … aber in dem Haus thut Alles, was es will, und ich bin der Gar-Niemand …“

„Der Hies ist ja schon fertig mit dem Anspannen, Vater,“ sagte das Mädchen ruhig. „Ihr dürft nur einsitzen – der Morgen ist frisch, er wird gemeint haben, die Ross’ sollen nit so lang’ da stehen in der Kühle …“

„Ja, das hab’ ich mir denken können, daß Du eine Entschuldigung für ihn hast!“ rief der Wirth, in der Thür sich nochmals umwendend. „Du bist die vierzehnte Nothhelferin! Ich kann das nit vertragen, sag’ ich Dir – was ich will, das soll man thun, und das merk’ Dir auch für Dich und halt’ mir gut Haus, bis ich wieder komm’!“

„Das will ich, Vater,“ entgegnete Juli, indem sie ihn freundlich ansah und ihm die Hand zum Abschied hinhielt, „aber ein bissel müßt Ihr mir auch meinen Willen thun. … Versprecht mir, um was ich Euch gebeten hab’, versprecht mir, daß Ihr nicht zornig werden wollt in der Versammlung. Ihr werdet da allerhand hören müssen, was Ihr nit gern hört, und ich hab’ Sorg’ …“

„Ich könnt’ auch den Anderen allerhand sagen, was sie nit gern hören – meinst? Du hast so Unrecht nit, aber ich will nit zornig werden, ich versprech’ Dir’s … ich kann’s auch leicht versprechen, weil ich doch weiß, was bei der ganzen Versammlung herauskommt! Das ist so gewiß, als zwei mal zwei vier … die Projectenmacher mögen sagen, was sie wollen, sie müssen doch abziehen und ich laß’ mir’s dann nit wehren, daß ich sie auslach’, so recht von Herzensgrund … das hab’ ich schon lang’ ausgemacht mit den Bauern in der ganzen Gemeind’ – keiner will was hören von der Eisenbahn und keiner giebt ein Stück Grund und Boden her, und wenn’s auch nit größer wär’, als man mit einer Hand zudecken kann …“

„Wenn sie nur auch dabei bleiben, Vater,“ fuhr Juli fort, „es heißt ja, die den Bau führen, sollen für den Grund weit mehr geben, als er werth ist … ich hab’ sagen hören, es wär’ gar ein großer Vortheil für die ganze Gegend, weil man das Vieh viel leichter hinausbringen und verkaufen könnt’ und das Holz und …“

„So? Hast Du das sagen hören?“ rief der Bergwirth im zürnenden Spott. „Und hältst Du mich für so dumm, daß ich nicht errathen sollt’, von wem Du das gehört hast? Ich will Dir dafür was Anderes sagen … wenn der Bau wirklich ausgeführt wird, dann geben auf dem Westerberg heroben die Füchs’ und Hasen einander Gutenacht, dann kann ich mein Wirthshaus zusperren und die Bettelumkehr ist fertig … Das ist der Vortheil, der dabei heraus schaut! Holz und Vieh hinausbringen –! es ist bis jetzt auch hinaus gekommen, was man gebraucht hat, und Jedes hat bestehen können dabei. … Das merk’ Dir, Juli, und gieb’s zur Antwort, wenn Du wieder so was sagen hörst. … Ich weiß ja doch, daß es niemand Anderer ist, als der verflixte Feldmesser, von dem ich auch wollt’, er wär’ geblieben wo der Pfeffer wächst, statt daß er in mein Haus gekommen ist! Aber da ist nichts daran schuld als meine dumme Lieb’ zu Dir, und daß ich viel zu gut bin … ich hätt’ den saubern Mosje gleich gar nit herein lassen sollen …“

„Vater, redet nit so – Ihr wißt doch, was ich ihm zu verdanken hab’ …“

„Ach was,“ rief der Wirth und suchte ärgerlich seine von Juli gefaßte Hand zu befreien, „die dumme Hundsgeschicht’ kann ich mir doch nit ewig aufmutzen lassen – überall muß ein End’ hergehen und ich hoff’, es ist schon eins hergegangen für alle Zeit! Der Herr Feldmesser ist fort, er hat’s wohl merken können, daß ich seinen Rücken lieber gesehn hab’ als sein Gesicht – und so wird er wohl auf’s Wiederkommen vergessen. … Wenn er’s aber doch thät’, dann steh’ ich nit gut, ob ich’s nit probiret’ und ließ den Tiras von der Ketten …“

„Vater,“ rief Juli entsetzt, „wie könnt Ihr so was nur denken …“

Der Knecht aber riß ungeduldig an den Zügeln der stampfenden [371] Thiere und brummte: „Jetzt ist schon so lang’ eingespannt und es geht doch nicht fort – ich will keine Schuld haben, wenn die Ross’ verschlagen in der Kälten …“

„Es ist auch wahr,“ sagte der Wirth, sprang in den Wagen und ergriff Zügel und Peitsche. „Wär’ schon der Müh’ werth, wenn wegen dem Gered’, das keine Heimath hat, meinen Rossen was zustoßen thät’! Was hab’ ich denn so Besonderes gesagt? Der Mosje kann ja so gut umspringen mit den Hunden … möcht’ wirklich sehen, ob er mit dem Tiras auch fertig werden thät’ …“

Die letzten Worte verklangen fast im Rasseln des Wagens, denn der Wirth hatte auf die Pferde gehauen, daß sie in raschem Lauf dahin flogen, als ginge es in sicherer Ebene fort und nicht einen langen steilen Berg hinunter; kopfschüttelnd sah der Knecht dem tollen Beginnen nach und wandte sich dann mit unwilligem Murren dem Stalle zu: „Ist das ein Uebermuth!“ sagte er. „Den Berg so anzufahren … hoffentlich halten die Bräuneln an, da ist es wieder einmal gut, wenn das Vieh gescheider ist als der Mensch.“ …

Auch Juli sah dem enteilenden Fuhrwerk nach und starrte noch geraume Zeit, als dasselbe schon verschwunden war, in den sich rasch umwölkenden Himmel hinein. Das Wetter schien umzuspringen und ein kalter Westwind trieb dichte Wolkenmassen heran, die sich schon in einzelnen großen Tropfen zu entladen begannen. Sie gewahrte es nicht, denn ihre Augen waren trübe; sie war auf den ersten Anblick ganz dasselbe liebliche anmuthig-kindliche Mädchen, das sie gewesen, als nebenan im Gärtchen noch die Rosen geblüht – jetzt waren diese abgefallen und wer sie näher in’s Auge faßte, mochte wohl gewahren, daß ein ernster herbstlicher Hauch auch über ihr Antlitz dahingegangen war; in den Augen wohnte noch der frühere Glanz, aber diesmal waren es Thränen, die ihn hervorbrachten.

Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf, als wieder ein Windstoß durch die Obstbäume am Hause stürmte und ihr klatschend etwas vor die Füße warf – es war ein halbreifer vom Aste gerissener Apfel. Sie hob ihn auf und ein Zug tiefster Betrübniß ging über das hübsche Gesicht. „Ein schöner Apfel,“ sagte sie halb in sich hinein, „groß und voll und an der einen Seite fängt er schon an, roth zu werden – es muß eine der schönsten Blüthen gewesen sein, aus der er geworden ist, und doch ist er abgefallen – er hat nicht reif werden können, weil ihm der Wurm im Kernhaus sitzt.“ … Sie wollte ihn wegwerfen, hielt aber inne. „Nein,“ sagte sie, „ich will dich auf das Sims über meinem Bette legen und dich anschauen, wenn mir das Herz gar zu schwer wird – ich sorg’, es wird mir gehn wie dir, ich hab’ auch den Wurm im Kernhaus sitzen …“

Sie eilte die Stiege hinan, ihre vorstürzenden Thränen vor der herankommenden Magd zu verbergen.

Trübselig ging der Tag dahin, außer dem Hause, denn der Himmel richtete sich immer mehr zu einem kalten langwierigen Landregen ein, und in demselben nicht minder, denn bei dem schlechten Wetter blieben Gäste fern und der Zeiger der großen Standuhr in der Zechstube wollte nicht von der Stelle rücken, als ob es ihn verdrösse, in solcher Oede allein weiter zu wandern. Auch Juli spürte es heute, trotz aller Arbeit, die sie unternahm, doppelt, wie ihr das Haus so einsam geworden, in dem sie sonst sich so wohl und daheim gefühlt hatte, als wäre darin die ganze Welt umschlossen und alles Glück der Welt – beim Aufschlagen der Augen hatte sie es mit einem Lächeln der Freude begrüßt, um sich beim Schließen derselben auf das Wiedererwachen und den nächsten Tag zu freuen! Und als nun vollends der wohlbekannte Fremde von der Fraueninsel darin eingezogen, mit welchem Entzücken hatte sie immer seiner Rede zugelauscht!

Sie freute sich Morgens dem Augenblick entgegen, wo sie beim Frühstück dem lieben Gaste begegnete, und sehnte sich der Abendstunde zu, wo er, nachdem er den Tag über seinem Geschäfte nachgegangen, wiederkam und es ihr vergönnt war, ein Stündchen ihm gegenüber am Tische zu verplaudern und seinem Gespräche zu lauschen, denn er wußte so viel, daß sie eine Art Ehrfurcht vor ihm empfand, und doch war Alles, was er sagte, so klar und verständlich, als habe sie Alles das längst auch gedacht und gewußt und als sei es in ihr nur erst aufgegangen wie in der Erde der Keim, wenn ihn die Frühlingssonne belebt. Es wäre ihr nicht schwer geworden, ihm die halbe Nacht zuzuhören, aber es ging nicht an, des Vaters wegen, der wohl in den ersten Tagen dieselbe Freundlichkeit zeigte wie beim Empfange, dem man aber bald genug anmerken konnte, daß in dem gleichen Grade, in welchem die Thätigkeit des jungen Technikers sich entwickelte und bewährte, seine Theilnahme für ihn erkaltete und allmählich in unverhehlte Abneigung überging. Anfangs hatte er gelacht, wenn er der Neugier halber den Berg hinabgegangen war, um den Vorarbeiten und Vermessungen durch die Schluchten zuzusehen, weil er überzeugt war, daß sich gleich beim ersten Angriff die Thorheit und Unmöglichkeit des Unternehmens schlagend ergeben müsse; als er aber sah, wie vor dem richtigen Blick des gewandten Meßkünstlers die größten anscheinenden Schwierigkeiten sich in nichts auflösten, wie das Ausstecken der Bahnstrecke immer weiter in den Schluchten vordrang und zuletzt auch dem unkundigsten und hartnäckigsten Zweifler sich die Ueberzeugung aufdrängte, daß es nur einiger verhältnißmäßig unbedeutender Durchlässe, Abstiche und Einschnitte bedurfte, um das als unmöglich verschrieene Werk zu vollenden: da kam der Bergwirth nicht mehr, er hatte die Lust verloren, den Arbeiten zuzusehen. Er ward immer wortkarger, immer schroffer in seinem Benehmen gegen den Gast, und wenn er ihn eine Weile doch noch gegrüßt und hier und da ihm eine verbissene spöttische Bemerkung zugeworfen hatte, grüßte er ihn halb gar nicht mehr und schien zuletzt seine Anwesenheit gar nicht mehr zu gewahren.

Wohl that Juli, deren geschärftem Auge nichts entging, Alles, was in ihren Kräften stand, die drohenden Gewalten auseinander zu halten, aber sie war klug genug, um einzusehen, daß das auf die Dauer unmöglich sein werde und der Zusammenstoß jeden Augenblick erfolgen könne; dennoch war sie wie vom Donner gerührt und fühlte das Herz still stehen, als Falkner eines Abends nach dem Essen ihr die Hand reichte und mit einem Tone, der ihr noch in den Ohren fortklang, mit einem Blick, den sie nicht wieder aus den Gedanken brachte, ihr die Mittheilung machte, daß seine Arbeiten nunmehr seine vollständige Anwesenheit bei denselben erforderten, daß er daher diese Nacht zum letzten Male ihr Gast sei und künftig im Thalgrunde in der Mühle unweit der Niederpoint wohnen werde.

Dort war im Laufe des Nachmittags das gefürchtete Zusammentreffen erfolgt und hatte die vollgeladenen Minen mit Einem Schlage zur Explosion gebracht. Die Niederpoint war der letzte Abhang gegen das Wiesenthal und die Mühle hin und ein so schönes Stück Landes, daß die Vorliebe des Bergwirths für dasselbe ebenso erklärlich als natürlich war. Es war ein ungemein lieblicher Platz; in sanfter Neigung senkte sich der Hügel zu Thal, mit dem schönsten und üppigsten Rasen bekleidet, aus welchem wie in einem Garten eine Menge stattlicher Eichen sich erhob, theils einzeln, theils in Gruppen getheilt, wie keine Kunst sie anmuthiger zu formen vermocht hätte. Das Ganze war von einem schönen hochstämmigen Fichtenwalde umkränzt, der auf’s Sorgsamste gehegt war, so daß, wenn er in einem Jahrzehnt schlagbar geworden, er sogleich mit dem schönsten jungen Anfluge bestanden erschien, an dem ein kundiges Auge sich erfreuen mußte. Den Baumeistern selber that es leid, daß gerade diese schöne Stelle dem Schicksale theilweiser Zerstörung nicht entgehen konnte, denn die Bahn mußte, um eine weite und nutzlose Krümmung zu vermeiden, den Hügel fast bis zur halben Höhe hinauf anschneiden, und gerade die schönsten Bäume standen auf dem Grunde, der zu diesem Zwecke abgegraben werden mußte. Dazu kam die unvermeidliche Verwüstung des schönen Angers und der breite Durchhieb, der durch den schönen Fichtenwald zu führen war und überdies noch zur Einen Seite einen Rand liegen ließ, der forstmäßig nicht mehr zu bewirthschaften und werthlos war.

Mit schwerem Herzen, vielleicht mit einer Art Vorgefühl, ging Falkner daran, den für das Bahngebiet nöthigen Grund durch Einschlagen von Pflöcken zu bezeichnen und die Bäume anzuschlagen, welche dem Beile verfallen sollten, er hatte jedoch kaum damit begonnen, als der Bergwirth gleich einem Rasenden herbeistürzte, die Pflöcke aus dem Boden riß und ihm zuschrie, er solle die Arbeit einstellen, er dulde solchen Eingriff in sein Eigenthum nicht und werde Jeden niederschlagen, der noch mit einem Fuße seinen Grund und Boden zu betreten wage. Vergebens setzte ihm Falkner mit dem Aufgebot aller Ruhe und Besonnenheit auseinander, daß mit diesen blos vorbereitenden Arbeiten ein Eingriff in seine Rechte auch nicht entfernt beabsichtigt sei, daß aber dem Staate nach der [372] Natur und nach bestimmten Gesetzen das Recht zustehe, zu Zwecken der öffentlichen Wohlfahrt über das Eigenthum seiner Bürger zu verfügen, daß er vollkommen dafür entschädigt werde. Der Bergwirth, seiner Sinne kaum mächtig, war für Vorstellungen blind, für Gründe taub, so daß dem Bauführer, wollte er es nicht zur offenen Gewalt kommen lassen, nichts übrig blieb, als das Eigenthum des störrischen Wirths vorläufig zu überspringen und jenseits desselben mit seinen Erhebungen fortzufahren. Er ließ Abends Juli das Vorgefallene mehr errathen, als er es erzählte; sie vernahm ihn auch nur undeutlich und halb, wie durch Schlaf und Traum; Alles in ihr war übertönt von dem einzigen Worte, das den Abschied ankündigte und sich anhörte wie ein schmerzlicher, schmerzerstickter Todesschrei.

Das Scheiden war da, schneller, unerwarteter und flüchtiger, als sie gefürchtet hatte. Falkner erklärte, daß er noch vor Tagesanbruch sich auf den Weg machen müsse; sie durfte also nicht hoffen, ihn vorher noch wiederzusehen, der Vater, ganz gegen seine Gewohnheit, wich nicht aus der Nähe, wenn er auch kein Wort an Juli oder den Gast richtete; es war unmöglich, beim Abschied demjenigen Ausdruck zu geben, was in Beiden während des kurzen Umgangs aufgewacht war, was Beiden gerade im Augenblick der Trennung, wie vom Blitz erhellt, auf einmal zum vollen und klaren Bewußtsein kam und was ihnen überquellend aus dem Herzen nach den Lippen drängte, sie mußten, als es nicht länger zu verzögern war, auseinander gehen wie Fremde oder wie gleichgültige Bekannte, welche die Gewißheit haben, sich bald und freudig wieder zu begegnen, sie mußten es mit lächelnder Miene thun; ein leiser Druck beim letzten Handschlag, ein kurzer verstohlener Blick über die vereinigten Hände hin war Alles, was sie mitnehmen durften in die Trennung und Ungewißheit – und doch war es mehr, als sie je wieder zu vergessen vermochten.

Mindestens bei Juli war das der Fall.

Darum war es ihr öde geworden im heimathlichen Haus und war es heute doppelt, weil in die Gedanken an den Freund sich die nicht weichende Besorgniß wegen des Vaters mischte – mit jeder Stunde steigend, um welche die Wiederkehr desselben sich verzögerte. Wie leicht war es möglich, daß der schwer gereizte Mann seinem Zorn die Zügel schießen ließ und durch eine Handlung der Leidenschaft das Unglück auf sich und die Seinen vollends herabbeschwor! Bei der Versammlung mußte auch Falkner anwesend sein … wie nahe lag es, daß er dem Vater begegnete, daß sie aneinander geriethen, denn sie kannte nicht nur das unbändige Gemüth ihres Vaters, sie hatte oft genug gesehen, wie auch auf Falkner’s Stirn die Ader anschwoll und wie er nur um ihretwillen ein gerechtes Aufwallen seines männlichen Unmuths niedergekämpft hatte …

Immer ängstlicher schlug die Sorge die unheimlichen Flügel ihr um das Haupt, als die Nacht einbrach, ohne daß der Bergwirth oder eine Nachricht von ihm eintraf. Mehrmals lief sie unter die Thür und schaute in das Dunkel und den unablässig niederklatschenden Regen hinaus und athmete hoch auf, als endlich das Rollen eines Wagens an ihr gespanntes Gehör schlug. Wohl erkannte sie bald ihren Irrthum; der Ankömmling war der auf seinen Wanderungen oft einsprechende Viehhändler mit einem Bauern, der ebenfalls bei der Versammlung gewesen war und noch eine Strecke in die Berge hinein zu fahren hatte, während der Händler im Bergwirthshause übernachten wollte. Der Mann mit seinem rohen Wesen und seiner aufdringlichen Vertraulichkeit war ihr von jeher widerlich, dennoch ward er diesmal mit Freundlichkeit aufgenommen; durfte sie doch hoffen, von ihm über das Ausbleiben des Vaters und über den Verlauf der Versammlung Nachricht zu erhalten.

„Ob ich den Bergwirth nicht gesehn habe?“ sagte er auf Juli’s Frage, indem er den Regen vom Hute schwang und sich mit dem Bauer in der Ofenecke niedersetzte. „Freilich haben wir ihn gesehn – nicht wahr, Niederkirchner? Auf den kann die Jungfer immerhin noch eine Weil’ warten, braucht sich aber nit zu ängstigen wegen seiner – der sitzt warm und trocken im grünen Sternen und laßt sich den Ungarischen schmecken, damit er seinen Zorn vergißt …“

Juli fragte nicht weiter; ihr genügte, was sie aus diesen Worten heraushörte; sie wollte weder Unruhe noch Neugier zeigen und rechnete darauf, daß die Redseligkeit der beiden Männer, die unverkennbar dem Glase ebenfalls tüchtig zugesprochen hatten, ihr auch ungefragt mehr mittheilen würde, als ihr zu erfahren lieb war. Diese Vermuthung trog sie auch nicht, denn kaum hatte sie unweit derselben Platz genommen und, den Kopf in die Hände stützend, sich den Anschein gegeben, als ob sie ermüdet und schläfrig sei, als der Viehhändler seinen Gefährten anstieß und mit den Augen nach Juli hinüberwinkte. „Siehst Du, wie sie sich anstellt, als wenn sie schlafen thät?“ sagte er leise. „Das thut sie nur, damit sie sich nicht zu uns hersetzen und mit uns reden muß, wie es Brauch ist bei Gästen, auf die man etwas hält … ich hab’ es schon lang’ gemerkt, seit der Fremde, der Geometer in’s Haus gekommen ist, seitdem ist sie wie umgewandelt – der Discurs mit uns Leuten vom Land ist ihr jetzt viel zu dumm, jetzt steckt ihr die Stadt und die langen Stadtkleider im Kopf, und so gewiß, als der Fremde dem Bergwirth zuwider ist wie Gift und Opperment, so gewiß ist es auch, daß sich die schöne Juli in ihn vergafft hat! Ich lass’ mich hängen, wenn sie nicht jedes Wort hört, das wir reden, und will ihr den Hochmuth eintränken … Also wie ist das gewesen?“ hub er dann mit überlauter Stimme an. „Weil wir jetzt im Trocknen – sitzen, erzähl’ mir nochmal, wie’s bei der Versammlung zugegangen ist … Erzähle nur recht laut,“ setzte er wieder leiser hinzu, „ich will dann schon die richtigen Schlauderwörteln anbringen, wo sie hingehören!“

Der Bauer, wie das Landvolk meist, war gleich bereit, weil es an ein Necken, eine Fopperei ging, und begann in überlauter und weitschweifiger Weise zu erzählen, wie eigens ein Regierungsrath aus der Residenzstadt München gekommen, der die versammelten Bauern als Herren angeredet und ihnen gesagt habe, daß er blos ihretwegen gekommen sei, ein „niederträchtiger“ Herr, der mit Jedem „ganz gemein“ umgegangen wie mit seines Gleichen …

„Aha – nit wie gewisse Leut’,“ schaltete der Metzger ein, „die zu vornehm sind, daß sie Einem Bescheid thun, wenn man ihnen den Krug zubringt!“

Der Commissari, fuhr der Andere fort, habe den Männern auseinandergesetzt, daß sie die Eisenbahn so nothwendig brauchten wie das Brodessen, und daß sie zu ihrem eigenen Nutzen nichts Besseres thun könnten, als so geschwind wie möglich den Grund und Boden abzutreten, den man von ihnen verlange; da hätten die Bauern alle ein Einsehen bekommen und hätten gesagt, wenn man ihnen das früher so ausgedeutscht hätte, so wären sie nie dagegen gewesen aber sie seien eben aufgeredet worden …

„Ja, ja, es giebt schon solche Leutaufhetzer,“ rief der Viehhändler wieder, „solche Hintereinanderbringer, denen es nit wohl ist, wenn ’was zusammen geht! Man kennt sie aber ganz gut – sie sind oft so nahe, daß man sie mit Händen greifen könnt’!“

Der Bauer fand immer mehr Gefallen an dem Spiele, das ihm höchst lustig erschien; es habe aber nichts genützt, fuhr er zu erzählen fort, denn wie der Commissari zuletzt Umfrage gehalten, wer sein Grundstück abtreten wolle, da hätten Alle Ja gesagt, Alle bis auf einen Einzigen, der sei durchaus auf seinem Kopfe stehen geblieben …

„Ein Einziger gegen Alle?“ lachte der Viehhändler. „Ist denn das möglich? Kann’s denn auch einen solchen bockbeinigen Narren geben auf der Welt? Den möcht’ ich auch kennen … Weißt seinen Namen nit, Niederkirchner?“

Der Bauer zögerte mit der Antwort, aber auch ohne das wäre er nicht dazu gekommen, den Namen auszusprechen, denn plötzlich stand Juli, die geräuschlos aufgestanden, hart vor den Beiden und sah dem Händler mit durchdringendem Blick in das verdutzte Gesicht. „Der Vater ist nit zu Haus’,“ sagte sie, „der thät’ Dir vielleicht den Namen sagen, wenn Du die Schneid’ hätt’st, ihn darum zu fragen; weil er aber nit da ist, will ich für ihn reden und sage Dir, daß ich das Spotten und das Gewörtel nit leid’! Wenn Du mich vexiren willst, mußt es gescheider anfangen – über das, was mein Vater thut, kannst Du reden und föppeln, so viel Du willst, aber nit vor seiner Tochter und nit in seinem eigenen Haus’ … verstanden, Metzger-Natzi?“

„Ja – was soll denn das heißen …“ rief der Händler.

„Das soll heißen,“ entgegnete sie wie zuvor, „daß ich Dir das Maul verbiet’ – Solche ungehobelte Gäst’ brauchen wir nit im Haus’, und wem das nit recht ist, was ich sage, der kann seine sieben Zwetschgen zusammenpacken und sich um ein andres Nachtquartier umschaun!“

[385] Der Metzger war anfangs vollständig verblüfft, denn die fest auf ihn gerichteten Augen des Mädchens zeigten, daß sie die Tochter ihres Vaters war, und drangen ihm gleich Messerspitzen durch und durch; jetzt hatte er sich eben genug wieder gefunden, um den alten höhnischen Ton anzuschlagen. „Oho,“ rief er, „so ist das gemeint? Ist es schon so weit, daß man im Bergwirthshaus die Gäst’ ausschafft, die Jahr aus, Jahr ein einkehren und ihr schweres Geld sitzen lassen? O, mir kann’s recht sein, unser Einer laßt sich so ’was nit zweimal sagen. … Komm’, Niederkirchner, ich fahr’ noch weiter mit Dir, wirst mir wohl über Nacht eine Liegerstatt geben können in Deinem Haus … ich will keine gesunde Stund’ mehr haben, wenn ich noch einen Fuß herein setz’ in das Bergwirthshaus, wo man die Leut’ hinauswirft. … – Es kann leicht eine Zeit kommen, wo sie froh wären, wenn ihnen ein Gast noch hereingeht! … Das ist für meine Zehrung,“ fuhr er fort, während er sich mit dem Bauer erhob und ein Guldenstück auf den Tisch warf, daß es zu Boden kollerte.

Juli hob es auf. „Wir brauchen von Dir nichts,“ sagte sie, „was Du genossen hast, ist Dir geschenkt, den Gulden aber leg’ ich in die Armenbüchs’ …“

„Das ist gescheidt,“ rief der Metzger noch zur Thür herein, „da könnt Ihr ihn wieder herausnehmen – kann sein, daß ihr ihn bald selber braucht …“

In aufloderndem Unmuth eilte ihnen Juli nach, ein scharfes Wort schlagfertiger Erwiderung auf der Zunge; als sie an die Thür kam, rollte das Fuhrwerk bereits durch die schwarze Regennacht davon; unwillig wollte sie zurückkehren, als an den Stufen eine dunkle Männergestalt auftauchte und vor sie trat.

Es war Falkner.

„Erschrecken Sie nicht – ich bin es,“ sagte er, ihre Hand [386] ergreifend, „seien Sie mir herzlich gegrüßt und nehmen Sie nicht über, daß ich zu Ihnen komme wie eine wandelnde Dachtraufe …“

Juli stand sprachlos; sie war zu überrascht, als daß sie ihm zu wehren vermocht hätte, als er ihre Hand an den Mund führte und mit Küssen bedeckte. „Sie sind’s, Herr Falkner?“ stammelte sie. „Sie kommen zu mir – und zu dieser Stund’? … Ich sorg’, ich geh’ um im Traum und werde jählings aufwachen …“

„Nein, Sie träumen nicht … ich bin es und halte wirklich und leibhaft diese liebe warme Hand umfaßt! Wie freue ich mich, daß gleich Sie es sind, die mir zuerst begegnete … ich habe Ihnen so Vieles zu sagen, ich habe mich so sehr darnach gesehnt, Sie wieder zu sehn!“

Ein Händedruck verrieth ihm, daß diese Sehnsucht nicht vereinzelt gewesen, wenn auch ihre Rede aus nichts bestand, als aus Worten wirthschaftlichen Eifers. „Mein Gott,“ rief sie, „Sie tropfen ja, Sie sind bis auf die Haut naß geworden. … Kommen Sie doch herein! Das Herrenstübl ist geheizt, wegen der Passagiere, die Nachts mit dem Postwagen kommen … machen Sie sich’s bequem, Sie müssen ja durch und durch verkältet sein – kommen Sie nur herein, ich will Ihnen gleich ein Glas warmen Wein machen …“

„Lassen Sie das,“ sagte Falkner, indem er der leitenden Hand in das kleine angenehm erwärmte Nebenstübchen folgte, „ich bin nicht so verwöhnt, daß mir ein solches Regenbad gleich Schaden bringen sollte … ich habe Ihnen so viel zu sagen und darf mich nicht verweilen … es möchte nicht gut sein, wenn ich Ihrem Vater begegnete …“

Sie widersprach nicht und nickte traurig; Falkner zog sie auf einen Stuhl an seiner Seite nieder und hielt fortwährend ihre Hände in den seinigen umschlossen. „Zwei Gründe sind es hauptsächlich,“ sagte er, „die mich bestimmten, trotz Regen und Nacht noch heute den Umweg zu Ihnen zu machen. Sie wissen wohl schon, daß die Hindernisse, welche der Anlegung einer Eisenbahn entgegenstanden, heute beseitigt wurden und in kürzester Zeit mit dem Bahnbau begonnen werden soll. Die Nachricht von der Erkrankung meines Vaters nöthigt mich, morgen mit dem Frühesten eine Reise in meine Heimath anzutreten, die mich lange, vielleicht auf unbestimmte Zeit ferne hält; sollte ich gehen, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben? Konnte ich es, ohne mindestens Abschied von Ihnen genommen zu haben, so wie es mir um’s Herz ist? … Und dann bin ich auch Ihres Vaters wegen hier. Sie sollen das heute zwischen mir und ihm Vorgefallene nicht von Andern, nicht von ihm, Sie sollen es nur von mir selber erfahren …“

„Also ist wirklich etwas vorgefallen?“ seufzte Juli. „So habe ich mich nicht umsonst geängstigt und gesorgt!“

„Leider! Ihr Vater war der einzige von allen Grundbesitzern, der beharrlich die Abtretung des nöthigen Bodens verweigerte. Der Regierungscommissär, ein wohlmeinender, humaner Beamter und mit den Verhältnissen wohl bekannt, glaubte den Grund dieser Hartnäckigkeit in dem Umstande zu finden, daß durch die Verödung der Bergstraße Ihr Vater allerdings zunächst mit Schaden bedroht erscheint; er fand es billig, hierauf Rücksicht zu nehmen, und übernahm es, der Regierung gegenüber den Ankauf des ganzen Besitzthums um einen entsprechenden Preis zu vertreten, obwohl dasselbe für die Bahn weder unumgänglich nothwendig, noch besonders dienlich ist, und nur auf Wiederverkauf erworben werden kann. Er glaubte, einem solchen Vorschlage bessere Würdigung zu verschaffen, wenn er nicht unmittelbar von ihm ausginge, und weil er wußte, daß ich bereits einige Zeit hier gelebt und sogar in Ihrem Hause gewohnt habe, übertrug er mir ihm den Vorschlag zu machen.“

„Ihnen? Das war wohl gut gemeint, aber gut gemacht ist wohl nichts damit gewesen!“

„Das war auch mein erster Gedanke!“ rief Falkner. „Ich versuchte es daher auch, Einwendungen vorzubringen, sie wurden als unzureichend erklärt und – den wahren Grund,“ fuhr er etwas zögernd fort, „konnte und durfte ich ja doch nicht sagen. … So blieb mir nichts übrig als zu gehorchen; aber es kam, wie ich gefürchtet hatte. Schon als ich ihn zu sprechen begehrte, sah er mich mit so feindseligen Blicken an, daß jede Hoffnung, hätte ich noch welche gehabt, vernichtet war; den Antrag selbst hörte er nicht einmal zu Ende … mit höhnischen Worten wies er denselben, als von mir ausgehend, zurück … weil ich ihm gegenüber einmal geäußert, daß ich Lust hätte, ein Gut zu erwerben, legte er mir die Absicht unter, das seinige, das ich unter der Hand ausgekundschaftet, um einen billigen Preis zu erschleichen. … Ich habe Ihrem Vater jederzeit viel zu gut gehalten, Julie, denn es ist Ihr Vater; aber es giebt Dinge, die ein Mann von Niemand ruhig hinnehmen kann, ohne sich selbst zu entehren … der Vorwurf versteckter Habsucht und Treulosigkeit empörte mich: trotz des gefaßten Vorsatzes, meine Ruhe zu bewahren, versicherte ich ihn in gereiztem Tone, er habe einen Ehrenmann vor sich, und als er mit einem zweifelhaften Worte erwiderte, wandte ich ihm den Rücken und rief ihm zu: vor mir und meiner Vermittelung solle er Ruhe haben, aber es gebe noch andre Mittel und Leute, die solchen dummen Bauerntrotz zu brechen wüßten …“

„O weh,“ seufzte Juli, „das ist noch schlimmer, als ich gedacht – das vergißt er Ihnen niemals!“

„Das fürchte auch ich,“ fuhr Falkner eifrig fort, „und eben darum drängte es mich, Ihnen Alles selbst sagen zu können – Sie kennen mich! Sie wissen, wie fern es mir liegt, Ihren Vater kränken zu wollen; daß ich im Gegentheil nichts sehnlicher wünschte, als mir seine Zuneigung zu erwerben! Sie wissen – nein, Sie wissen es noch nicht!“ unterbrach er sich selbst, „aber Sie sollen es jetzt erfahren, daß der Augenblick, in welchem ich Sie wiedersah, für mein ganzes Leben entscheidend gewesen ist! Das Bild des hübschen Kindes von der Fraueninsel, das mich mit den großen, thränenschimmernden Augen so erschrocken und doch so wunderbar eigen anstarrte, während ich mit dem wüthenden Hunde rang, ist mir nie aus der Seele gewichen aber als ich Sie wiederfand, erkannte ich selbst erst, wie tief, wie unauslöschlich tief es sich mir eingeprägt hatte! – Ich liebe Sie, Julie: seit ich hierher kam, habe ich mich in den schönsten Hoffnungen und Träumen gewiegt! Ich sah schon das Haus, das ich mir zu gründen gedachte, in Wirklichkeit vor mir; ich sah Sie schon im Geiste in all’ Ihrer Lieblichkeit schalten und walten in diesem meinem Hause, ich sah Sie an meiner Seite als die reizende Frau des Hauses, als meine theure innig geliebte Frau. … Und jetzt, wohin sind all’ die schönen Träume verflogen! Was ist aus all’ meinen Hoffnungen geworden …“

Er hielte inne, aber Juli erwiderte nichts; sie gedachte des Apfels mit dem Wurm, den ihr der Herbst so bedeutsam zugeworfen, und Thränen erstickten ihr die Stimme.

„Sie antworten mir nicht? Sie weinen?“ begann er wieder und drängte sich näher an sie. „Reden Sie, Juli; geben Sie mir auf die Eine Frage Bescheid. … Wenn es nun nicht wäre, wie es leider geworden, wenn ich hoffen dürfte, Ihrem Vater nicht zuwider zu sein … was würden Sie sagen, wenn ich zu ihm hingehen wollte, mir Ihre Hand von ihm zu erbitten?“

„Ich bitt’ Ihnen, Herr Falkner,“ sagte Juli leise fortweinend, „reden Sie mir nit solche Sachen vor, ich bin ohnedem schon unglücklich genug …“

„Weiche Sie mir nicht aus,“ rief er zärtlich, „wenn ich Sie fragte, ob Sie mich lieben können und wollen – was würden Sie sagen?“

„… Ich bin viel zu gering für Sie, für so einen gescheidten Mann! Das Bissel, was ich im Kloster hab’ lernen können, bedeutet ja nichts … ich bin ja doch nur ein Bauernmädel!“

„O Juli,“ rief er entzückt, „wenn Du wüßtest, wenn Du ahntest, wie gerade Deine bescheidene Kindlichkeit, Deine durch nichts verbildete Einfachheit mich an Dich zieht und mit jedem Worte mich unlösbarer gefesselt hält … Du bist das Weib meines Lebens, wie ich es mir geträumt. … O rede, was wirst Du auf meine Frage sagen?“

Sie sah ihm durch Thränen in’s Auge und schüttelte dann schmerzlich den Kopf. „Es kann ja doch nit sein …“ sagte sie mit einem schmerzlichen Seufzer.

„O, es soll sein! Es soll werden!“ jubelte er. „Jetzt, da Du nicht Nein gesagt, muß es werden! Was es auch kosten möge, was für Hindernisse auch zu bewältigen sein mögen, ich lasse Dich nicht mehr, ich ruhe nicht, bis Du die Meine geworden …“

Er wollte die nicht mehr Widerstrebende an seine Brust ziehen – da fuhr ein kräftiger Arm zwischen die Beiden, der den jungen Mann im Nacken packte und emporriß. Es war der [387] Arm des Bergwirths, der von den Liebenden unbemerkt eingetreten war und nun mit funkelnden Augen und wuthentstelltem Angesicht hinter ihnen stand. „So?“ rief er mit zornbebender Stimme, „da kommen wir wieder zusammen? Ist das ein Ehrenmann, der sich heimlich, hinterm Rücken des Vaters bei Nacht und Nebel in’s Haus schleicht und die Tochter verführt? Einen solchen heißt man einen Hallunken hier zu Land und einem solchen will ich zeigen, wie ein dummer, trotziger Bauer sein Hausrecht zu brauchen weiß!“

Mit riesiger Gewalt hielt er Falkner am Halse gefaßt und zerrte ihn gegen die Thür hin – dieser aber wehrte und stemmte sich mit der ganzen Kraft seiner jugendlichen Gestalt entgegen und vermochte nach kurzem Kampfe sich loszureißen, aber der rechte Aermel seines Rocks und der des Hemdes darunter zerriß, daß der bloße Arm sichtbar wurde. Juli war einen Augenblick rathlos dagestanden, bleich bis im die Lippen hinein gleich einer Sterbenden, nach Athem ringend und die Tischecke umklammernd, um nicht in die brechenden Kniee zu sinken; im nächsten schon stand sie zwischen dem Vater, der neuerdings auf den Verhaßten losstürzen wollte, und dem Geliebten, der mit hocherhobenem bloßen Arme bereit stand, auch ohne Waffen den Angreifer niederzuschmettern.

Am Arme war eine Reihe kleiner blaurother Punkte zu erkennen.

„Was wollt Ihr Vater?“ rief sie diesem zu. „Es ist nichts geschehen, wegen was Ihr so wild sein solltet ... der Herr hat sich nicht heimlich eingeschlichen, er ist offen und ehrlich gekommen, weil er von mir hat Abschied nehmen wollen! Meint Ihr, ich fürchte mich deswegen vor Euch? Nein – ich hab’ ein gutes Gewissen, Vater, und scheu’ mich nit … Geht weg von der Thür, daß der Herr Falkner friedlich hinaus kann … Du aber, Franz – es ist das erste Mal und wohl auch das letzte Mal, daß ich Sie so nenn’ … Du, Franz, nimm Dich zusammen und zeig’s, was Du für ein Mann bist, heb’ Deinen Arm nit auf – der, gegen den Du’s thust, ist ja mein Vater … Ich hab’ Dir,“ fuhr sie inniger fort und ihre Stimme begann zu zittern unter der Wucht ihres Schmerzes, „vorhin keine deutliche Antwort gegeben auf Deine Frag’ – aber jetzt vor meinem Vater sag’ ich Dir – ja, ich hab’ Dich gern! Und wenn ich auch gewiß weiß, daß mir das nie zu Theil wird, so sag’ ich Dir doch, es gebet’ kein größeres Glück für mich, als wenn ich Dein Weib werden dürft’ …“ Bei diesen Worten hatte sie ihm den Arm niedergezogen, beugte sich darüber und drückte ihren Mund auf die Narben in demselben … „Das Blut, das aus diesen Wunden geflossen ist für mich – das macht, daß ich Dein gehören muß in alle Ewigkeit …“

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn furchtlos an ihrem Vater vorüber, der sie in stummem Grimm gewähren ließ.

Das war ein böses Vorspiel für die Tage, die nun kamen, und was sie brachten, blieb nicht hinter ihm zurück. Vater und Tochter gingen anscheinend ruhig nebeneinander her und das Vorgefallene wurde mit keiner Silbe erwähnt – der verbissene Groll des Bergwirths aber steigerte sich mit jeder Nachricht, welche auf den Bahnbau Bezug hatte. Dieser rückte inzwischen mit außerordentlicher Raschheit vorwärts; ein ungewöhnlich milder Herbst begünstigte die Fortsetzung der Arbeiten bis tief in den November hinein. Manchmal brach wohl der Zorn des Bergwirths in alter Wildheit aus, daß er tobend und schreiend im Hause hin und wieder stürmte; als aber der Spruch des Gerichts eintraf, der ihn endgültig verurtheilte, gegen die zuerkannte Entschädigung die Niederpoint abzutreten, ging in seinem Benehmen eine auffallende Veränderung vor. Er zürnte nicht mehr laut und heftig, wie er früher gethan, sondern begann finster und schweigend in sich hineinzubrüten; Stunden lang sah er regungslos vor sich hin, nur manchmal halblaute Worte murmelnd, von denen nichts zu verstehen war als „meine Bäume“ und „mein Recht und Gewalt.“ … Er beachtete es nicht, daß ihm der Kaufpreis für die entwehrte Niederpoint in’s Haus geschickt wurde; er ertrug es anscheinend gleichgültig, als es hieß, daß die Eichen dort geschlagen würden und das Abgraben begonnen habe – er schien gar nicht zu vernehmen, als sich die Kunde verbreitete, es sei hierbei ein reiches Lager von sehr schönem graugrünem Sandstein zu Tage gekommen, das der Ausnützung als Steinbruch in hohem Grade würdig sei, und daß der Feldmesser Falkner den Bruch von der Bahn käuflich erworben habe.

Von diesem selbst kam keine Kunde mehr in das Bergwirthshaus.

In anscheinend ruhigem Gleichmuth gingen auch Juli die schweren Tage dahin; sie pflegte den Vater und sorgte für ihn mit liebevoller, wenn auch unbeachteter Aufmerksamkeit; sie verwaltete still und geräuschlos die Geschäfte des Häuses – sie war sich völlig gleich geblieben, nur blässer war sie geworden, wenn aber Jemand sie darüber beredete, so lächelte sie mit ihrer gewohnten Freundlichkeit und meinte, das thue der Winter, der pflege immer sie zu bleichen.

Aber der Winter verging, Knospen und Blumen kamen wieder und nur auf ihren Wangen versäumten die Rosen wieder aufzublühen. Um die Zeit, als die Schwalben zurückkehrten, kam auch der Tag, an welchem die Eisenbahn in ihrer größten vollendeten Strecke eröffnet wurde. Es war ein Fest für die ganze Gegend und schon am Vorabend tönte aus allen Thälern von nah und fern das feierliche Läuten der Kirchenglocken und das Krachen der Böller, das, vom Wiederhall getragen, donnerähnlich an den Bergen dahin rollte. Desto trüber war der Abend trotz seiner Schönheit für das Bergwirthshaus, dem die Stunde der Verödung wirklich geschlagen hatten. Die Linden grünten, die Blütendolden der Wildkastanien dufteten, die Aepfelbäume standen da, wie mit Rosen überschneit, und die Schwalben schwätzten vergnügt in dem alten Neste am Hause, das für sie keine Veränderung erlitten hatte – aber es war Niemand weit und breit, der wie sonst die Herrlichkeit des Platzes rühmend genoß; Stellwagen und Postkutsche, welche ihre letzte Fahrt machten, waren leer – wer reisen wollte, verschob es auf den nächsten Tag. Als der Postbartel zum letzten Mal mit seinem ledigen Gespann herantrabte und das Posthorn zum gewohnten Gruße an den Mund setzte, da versagte ihm, was ihm noch nie geschehen, der Ton und er ließ es stumm wieder zurücksinken. Juli reichte ihm, auf den Stufen stehend, den gewohnten Trunk, aber es schmeckte dem Burschen nicht wie sonst; ohne abzusteigen, gab er das noch halb gefüllte Krüglein zurück, schüttelte ihr die Hand und ritt davon während ihm die hellen Thränen in den grauen Schnurrbart herabkugelten …

Auch die ihren flossen, als von drüben noch einmal der Ruf des Posthorns ertönte. Es war ihr, als habe dasselbe nie so weich und schmelzend geklungen, so ganz wie das letzte Grüßen eines scheidenden schönen Glücks – das alte Liebeslied mochte dem Postillon nicht getaugt haben, er blies ein anderes, dessen Worte lauteten:

B’hüt’ Dich Gott. B’hüt’ Dich Gott,
Liebe Annamarin,
B’hüt’ Dich Gott, jetzt geht’s dahin!
In die weite Fremde muß ich fort,
Komm’ nimmer an den lieben Ort –
B’hüt Dich Gott! B’hüt’ Dich Gott,
Liebe Annamarin –
Ich b’halt’ Dich doch im Sinn!

Am andern Tag war die Berghöhe vollends wie ausgestorben – es gab nichts zu thun in der Wirthschaft, auch den Ehhalten war nicht verwehrt worden, die Festfreude zu genießen. Der Wirth hatte sich in sein Zimmer eingesperrt, das rückwärts gegen den Wald hinausging, er hatte auch Fenster und Vorhänge geschlossen, den verhaßten Jubel nicht hören zu müssen. Juli wich dem Unvermeidlichen nicht aus, aber auch durch ihr Herz ging es wie ein Schauder, als aus dem Thale heraus der erste schrille Pfiff der Locomotive die begonnene Herrschaft des Dampfes verkündete.

So schön und warm der Tag gewesen war, senkte sich der Abend doch so kühl herab, daß die Scheiben des Fensters, an welchem sie stand und in verschwimmenden Gedanken in die Dämmerung und die dunklen Berge hinausstarrte, sich mit leichtem Dufte überzogen – unwillkürlich zog sie mit dem Finger Linien in den Duft; ohne zu wissen, was sie that, gestalteten sich die Linien zu Buchstaben … sie schrak zusammen, als plötzlich hinter ihr die Stimme des Vaters ertönte, den es in seinem Gefängnisse nicht mehr gelitten hatte und der unbemerkt von ihr eingetreten war.

Sie sah in ein Angesicht, in welchem der ganze verhaltene Grimm der vergangenen Tage loderte.

„So?“ rief er mit bitterem höhnischen Lachen. „Du stehst hier am Fenster und malst Buchstaben? Droben in meiner Einsamkeit [388] ist es mir auf einmal warm aufgegangen um’s Herz, daß wir von allen Menschen verrathen und verlassen sind, daß wir gar nichts mehr haben, wenn wir zwei von einander lassen. … Ich bin herunter und hab’ Dir sagen wollen, wir wollen Alles vergessen und gut sein lassen und fest zusammenhalten, und jetzt treff’ ich Dich so? Das F. F. das soll wohl Franz Falkner bedeuten? Du denkst also noch alleweil an den elenden Kerl, der vor Allen an unsrem Unglück schuld ist? Und das thust noch obendrein heut’ … heut’, wo das Unglück vollends in Erfüllung gegangen ist. … Du hast wohl gemeint, weil ich die Zeit her still gewesen bin, ich fanget’ an, nachzugeben. … Nichts da, sag’ ich Dir! Jetzt reden wir aus einem andern Ton, jetzt sollst Du den Bergwirth erst kennen lernen. … Ich will Euch einen Tanz aufspielen, Dir und dem verfluchten Feldmesser, der Tanz soll auch aus dem F. F. gehen … das versprech’ ich Dir!“

Umsonst versuchte Juli, die nicht zu Wort zu kommen vermochte, den Tobenden zurück zu halten, er riß sich los und stürmte trotz der immer stärker einbrechenden Dunkelheit hinaus, um bald in dem hinterm Hause beginnenden Walde zu verschwinden. Er wußte selbst nicht, was er beginnen, wohin er sich wenden wollte, die Leidenschaft war um so heftiger in ihm entbrannt, als er sich nun selbst der weichern Regung schämte, die ihn kurz zuvor angewandelt hatte. In planlosem Irrgange rannte er fort, ohne Ziel und Zweck und wußte selbst nicht, wie ihm geschah, als er nach einiger Zeit mit einem Male aus dem sich lichtenden Walde trat und die Niederpoint vor sich liegen sah. …

Zähneknirschend, mit geballten Fäusten gewahrte er die Verwüstung des herrlichen Rasens, der sein Stolz gewesen – sah die traurigen Stöcke der gefällten Eichen und diese selbst, seine Lieblinge, als entästete, rindenlose Stämme daneben liegen und die sonst ungewohnten Augen wurden ihm naß. Er tastete daran herum und streichelte sie, als wären es lebende Wesen, die Gefühl hätten für sein Mitleid, er sprach mit ihnen und jammerte: „Meine schönen Eichen – meine schönen Staatsbäum’ … so hab’ ich euch nit erretten können.“ …

Er stand stille vor einem in den Boden gerammten Stein, trotz der fast eingebrochenen Finsterniß vermochte er das darin eingemeißelte, schwarzgefärbte F. F. zu erkennen – das Markzeichen des neuen Eigenthümers. Die Gewalt der Eindrücke schlug ihm gleich lodernden Flammen über dem Kopfe zusammen, es war als ob sich ihm die Gedanken zu verwirren anfingen. …

„Muß ich denn den verdammten Buchstaben überall begegnen?“ schrie er in die Nacht hinein. „Und der Mensch soll meinen schönen Grund haben, und ich muß mir’s gefallen lassen und kann ihm nichts anthun dafür, dem Räubergesindel übereinander …“

Da scholl die Signalpfeife des auf seiner Rückkehr aus den Bergen heransausenden Zuges.

Er horchte auf und rannte vor bis an den Rand des neuen Steinbruchs, der tief und steil unter ihm abstürzte. … „Da kommt das Ungeheuer, das mich zu Grunde gerichtet hat – mit den rothen glühenden Augen und dem Feuerrachen, g’rad’ als käm’s mitten aus der Hölle …“

Er sprang auf einen Baumstamm, um besser hinabsehen zu können – der Baum regte sich unter seinen Füßen und ein entsetzlicher Gedanke blitzte in ihm auf. „Brüll’ nur zu und spei’ Feuer, Du höllischer Drach’!“ schrie er außer sich, ich fürcht’ Dich nit – ich nehm’s auf mit Dir und wenn Du der Teufel selber bist.“ …

Wüthend stemmte er sich gegen den Baum – er begann zu rollen, erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis er in mächtigem Schwunge über den Rand des Steinbruchs stürzte – am Fuße desselben, wenige Schritte entfernt zogen die Eisenschienen sich hin. …

Die Locomotive des Zuges bog bereits um den nächsten Vorsprung hervor … der Bergwirth sah es nicht mehr, von seinem eigenen Thun entsetzt, war er in den Wald entflohen.

Plötzlich tönte von unten ein ungeheurer schmetternder Krach – die Locomotive war an den Eichstamm gestoßen und bäumte sich wie ein wuthheulendes verwundetes Ungeheuer daran empor – dann flatterte greller Feuerschein auf … ein markerschütternder Jammerschrei schlug an die Sterne. …

Dann war Todtenstille. …

[401]
3. Beim neuen Einsiedel.

Betäubt, in einer Art schmerzlicher Erstarrung war Juli zurückgeblieben; als sie des flüchtigen Vorganges sich deutlich besann, fuhr sie mit der Hand leicht über die angelaufene Fensterscheibe und verwischte die verrätherischen Zeichen, und ein schwerer Seufzer hob ihr die Brust, er entsprang dem doppelten Schmerzgefühle, daß der Augenblick gekommen war, in welchem es galt, wie den Namenszug im Fensterduft, so auch die Züge seines Trägers in ihrem Herzen auszulöschen, und daß dies doch hart und ebenso unmöglich war, als wollte sie das Herz selbst aus der Brust nehmen. Daß der Vater in der Einsamkeit sich selbst wiedergefunden hatte und mit Gedanken der Milde und Versöhnung zu ihr gekommen war, hatte auf ihr ohnehin erschüttertes Gemüth tiefen Eindruck gemacht – wäre er geblieben und nicht im Unwillen davon gestürmt, sie hätte ihm das Opfer ihrer Liebe noch einmal gebracht, nicht trotzig wie das erste Mal, sondern ergeben und gelassen, wenn auch mit nicht minderem Schmerz. Sie eilte ihm wohl nach, aber sie gewahrte ihn nicht mehr, und eine alte Magd, welche an der Thür beschäftigt war, mußte ihr erst sagen, der Wirth sei an ihr vorbei wie ein Sturmwind, sie habe ihm verwundert nachgesehen, bis er im Walde verschwunden sei. Der Mann sei ihr ganz wunderbar vorgekommen, wie Einer, der nicht recht bei sich selber sei, und so müsse es wohl auch sein, denn einem andern Christenmenschen werde es gewiß nicht einfallen, bei sinkender Nacht in den Wald zu laufen.

Jedes dieser Worte fiel Juli wie eine Centnerlast auf’s Herz; der Vorwurf regte sich in ihr, weil sie ihn nicht zurückgehalten; jetzt erst trat sein Angesicht deutlich vor sie hin; sie sah die sonst gelassenen, fast übermüthigen Züge unter dem Druck ungeheurer Erregung erbeben, und eine entsetzliche peinvolle Unruhe trieb sie aus dem Hause, obwohl die Dunkelheit bereits vollständig eingebrochen war. Sie ging an den Wald und eine Strecke in denselben hinein; sie rief, aber nichts antwortete aus den finsteren Wegen als das Aufflattern eines Vogels, den sie im Einschlafen aufgeschreckt. Sie eilte zurück und lief in steigender Beängstigung nach der andern Seite des Hauses an den Straßenabhang, wo unten eingehüllt in volle laut- und lichtlose Nacht sich die Niederpoint hinzog und das einsame Mühlenthal. Mit fieberisch angespannten Sinnen horchte sie hinüber; es war so still um sie her, daß sie den Schlag ihres eigenen Herzens vernehmen konnte … Da mit Einem Male begann es zu sausen und zu rauschen … trotz der Ungewohnheit und Fremdartigkeit des Lautes erkannte sie denselben bald; er verkündete, immer näher kommend, den in der Tiefe gegen den Bergrand herandampfenden Bahnzug … Sie wußte nicht warum, aber es ward ihr plötzlich, als müsse das Getöse fort und fort wachsen in’s Ungeheure und bis zu ihr heraufdringen und sie mit sich fortreißen in den Vernichtungssturm …

Da schlug es plötzlich in ein wüthendes Geheul um, wie sie nie vernommen, das ihren Herzschlag stocken und das Mark gerinnen machte; zugleich loderte ein greller Feuerschein auf, kurz wie ein ungeheurer Blitzstrahl und doch lang genug, um die alte Magd zu gewahren, die ihr aus Neugier und Besorgniß gefolgt, nun eben recht zur Seite stand, um ihr den Arm zur Stütze zu reichen. „Ihr seid wohl erschrocken, Jungfer?“ sagte sie. „Ist auch nicht zum Verwundern; das war ein Schlag und ein Gebrüll, daß es mir in alle Glieder gefahren ist … Das ist drunten gewesen im Thal; wird doch kein Unglück geschehen sein, drunten auf der neuen Eisenbahn …“

„Auf der Eisenbahn … Jesus Maria …“ stammelte Juli, indem sie plötzlich sich aufraffte und, alle Schwäche bemeisternd, dem Hause zurannte; mit dem Worte war, ohne daß sie selbst wußte wie, der Gedanke an den abwesenden Vater wieder in ihr aufgeblitzt. Aber die Eile hatte weder Zweck noch Erfolg, denn als sie an der dunklen Schwelle stand, war auch im Hause noch Alles lautlos und leer wie zuvor. Langsam, mit schwerer Last von Qualen beladen, krochen die Augenblicke dahin, bis sie Tropfen um Tropfen fallend eine Stunde gleich einem Eimer gefüllt hatten. Da endlich wurde durch die Nacht der Hall eilfertiger Schritte hörbar; Juli flog dem Kommenden entgegen, sie rief ihm zu, aber der Ruf erstarb ihr im Munde, als sie den Nahenden erkannte; es war einer der Knechte, der sich auch einen freien Tag ausgebeten hatte, um die Wunder der neuen Eisenbahn zu sehen und die erste Fahrt mitzumachen. Er sah verstört und erhitzt aus, um den Kopf hatte er ein nasses Tuch gebunden, unter welchem blutige Tropfen auf die Wange niederrannen.

„Der Teufel soll die neuen Geschichten holen und die ganze Eisenbahn dazu!“ erwiderte er auf Juli’s athemlose Frage, woher er komme und was ihm begegnet sei. „Wo werd’ ich herkommen, als von der verfluchten Eisenbahn? … Geb’ mir die Jungfer [402] nur ein Bissel Wasser und Essig her, daß ich mir den Kopf abwaschen kann … ich hab’ eine tüchtige Schramme, und wenn ich nicht einen so harten Schädel hätte, wäre es mir gewiß an’s Leben gegangen … Geschieht mir aber ganz recht, warum muß ich überall meine Nase voran dabei haben …“

„Aber so rede doch nur,“ rief Juli, während die Magd das Verlangte herbeiholte und sich anschickte, dem fluchenden Burschen die Stirnwunde auszuwaschen; sie selbst stand wie gelähmt, aber ihre Hand, mit der sie sich am Tische hielt, zitterte. „Was ist denn geschehen?“

„Was wird geschehen sein!“ rief er entgegen … „die Eisenbahn hat umgeworfen oder wie man’s eben heißt … ich will Gott danken, daß ich so davon gekommen bin, aber daran denken werd’ ich auch, so lang’ ich ein offenes Aug’ habe. Es ging ganz lustig und der Zug sauste nur so dahin; ich könnt’ es ihm nit gleich thun mit unsern Bräuneln und wenn ich sie noch so arg hetzen wollt’, und die Bräuneln greifen doch gewiß tüchtig aus … auf einmal aber thut’s einen Schlag und ein Krachen und einen Stoß, nit anders, als wenn Einem das Haus überm Kopf einfallen thät … gleich darauf ist der Wagen umgefallen … wie ich herausgekommen bin, das könnt’ ich nicht sagen, und wenn ich mir damit das Leben gewinnen könnt’ und die Seligkeit dazu … Ich hab’s auch in der Erst’ gar nit gespürt, daß ich mir den Kopf’ angeschlagen hab’, denn was ich draußen gesehen hab’, ist noch grauslicher gewesen als der Schrecken und die Angst … der Dampfwagen war über das eiserne Geleis hinausgekommen und hat im Liegen gezischt und gesaust und Feuer gespieen wie ein Drach’ oder ein wildes Thier, das seinen Treff gekriegt hat und sich im Verenden windet und streckt … ein paar von den angespannten Wägen hat’s auch mit umgerissen, und die Leute, die darinn’ gesessen waren, haben durcheinander geschrieen und gejammert, daß es einen Stein hätt’ erbarmen müssen … es mögen wohl viele nit so gut weggekommen sein wie ich … ich hab’ selber ein paar wegtragen helfen, denen gewiß die Füße ab waren oder ein Arm … auf einmal aber ist’s mir schwarz geworden vor den Augen, da hab’ ich erst gespürt, daß mir das Blut über’s Gesicht heruntergeronnen ist, hab’ mein Tuchel eingetaucht in einen Tümpel am Weg und hab’ gemacht, daß ich weiter gekommen bin …“

Juli zitterte, daß der Tisch unter ihr zu wanken begann. „Aber wie hat denn das geschehen können,“ preßte sie mühsam hervor, „und wo?“

„Wie und wo?“ rief der Knecht und fuhr sich nach der Wunde. „Teufel, wie das brennt! Jetzt spür’ ich erst, was ich mir für einen Merks geholt hab’ … ich werd’ eine schöne Zeit damit zu thun haben … Unten im Mühlthal ist’s geschehen, just wo’s um den neuen Steinbruch herum geht, um die Niederpoint, von dort ist ein Baum heruntergekugelt, eine von den Eichen, die dort geschlagen worden sind … der Baum ist mitten auf der Bahn gelegen und über den ist der Dampfwagen gestürzt …“

Juli erwiderte nichts, sie wankte aus der Stube, um im Freien aufzuathmen; ihr war, als höre sie das entsetzliche Gekrach, als wolle auch über ihr das Haus zusammenstürzen; in dem dunklen Flur des Hauses trat ihr eine dunkle Gestalt entgegen. „Vater,“ keuchte sie, indem sie ihn am Arm ergriff und mit unwiderstehlicher Kraft in das Herrenzimmer drängte … „Vater, wo kommt Ihr her? Wo seid Ihr gewesen?“

Der Bergwirth stand einen Augenblick stumm; die Lampe beleuchtete ihn halb; er sah verwirrt und verwildert aus, er war ohne Hut, das Haar hing ihm wüst um die Stirn, die Züge seines harten Gesichtes waren wie versteint, aber aus den Augen flammte unheimliche Gluth. „Vater,“ rief Juli wieder, leise, aber noch drängender als zuvor, „um Seel’ und Seligkeit willen, wo seid Ihr gewesen …“

„Muß ich Dir etwa Rechenschaft geben?“ rief er wild entgegen, indem er vergeblich ihrer Hand sich zu entwinden suchte. „Geht’s Dich was an? Wir Zwei sind fertig miteinander ...“

„Redet, Vater,“ rief sie in steigender Angst, hielt aber inne, indem sie den Blick fester auf ihn richtete … „Nein, nein,“ schrie sie dann auf und schleuderte seinen Arm wie mit Abscheu von sich, … „sagt nichts, ich hab’s in Eurem Gesicht gelesen und will Euch sagen, wo Ihr gewesen seid … Ihr seid in der Niederpoint gewesen, Ihr habt den Baum hinuntergerollt auf die Eisenbahn …“

Der Bergwirth lachte wild auf. „Du bist wohl verrückt?“ rief er. „Was hab’ ich mit der Eisenbahn zu schaffen?“

„Leugnet’s nicht, Vater,“ entgegnete sie unter einem Strome von Thränen, in dem die Gewitterwolken ihres Herzens sich endlich lösten; „es nutzt Euch nichts … es ist Euch auf die Stirn gezeichnet, wie es vom Kain geschrieben steht in der heiligen Schrift … Mein Herr und mein Gott, so weit hat’s also mit Euch kommen müssen! Ist es denn möglich … Ihr könnt so gut sein, Vater, wenn Euch auch oft die Hitz’ übergeht … kein Mensch kann das besser wissen als ich … Vater, ich weiß, Ihr habt mich alleweil gern gehabt, ich will auch Alles thun, was Ihr von mir verlangt; ich will’s, und Ihr sollt nit ein einziges Mal ein betrübtes Gesicht bei mir sehen … aber gebt mir nur jetzt eine frische freudige Antwort! Seid Ihr wirklich nit in der Niederpoint gewesen … seid Ihr’s wirklich nit gewesen, der … Ich bring’s nit über die Zung’, so entsetzlich ist es … und Ihr … Ihr,“ fuhr sie im Tone des bittersten Jammers fort, „Ihr könnt es auch nit sagen … es graust Euch selber vor dem, was Ihr gethan habt! … Wer weiß, was Alles geschehen ist … Vater, ist es denn möglich, daß Ihr das habt über’s Herz bringen können … ein solches Unglück, so viele unschuldige Menschen … und das Alles habt Ihr auf dem Gewissen!“

Der Bergwirth hatte sich in einen Stuhl geworfen und sah, den Kopf in die Hand gestützt, finster vor sich hin … „Was weiß ich, wie’s gekommen ist,“ murrte er halblaut, „aber es hätt’ mir das Herz abgedrückt; ich hab’ etwas haben müssen, meine Wuth auszulassen … Warum soll alles Unglück mich allein treffen? Es sollen nur Andere auch verkosten, wie es schmeckt!“

„Und Ihr habt nicht bedacht, daß Ihr jetzt erst alles Unglück auf Euch gebracht habt, auf Euch und mich! … Und was Euch auch getroffen hat, bis heut’, Vater … das ist unverschuldet gekommen, aber jetzt … jetzt seid Ihr ein schuldiger Mann, jetzt dürft Ihr Euch vor keinem Christenmenschen sehen lassen und müßt die Augen vor Euch selber niederschlagen, jetzt sind wir erst ganz elend! … Und wenn sie vollends einen Verdacht auf Euch werfen, wenn sie Euch vor’s Gericht rufen … den Bergwirth, vor dem alle Welt den Hut abgezogen hat, weil er ein Ehrenmann gewesen ist … O Vater, Vater, was habt Ihr gethan!“

„Ich? Nichts,“ erwiderte der Wirth, gezwungen auflachend; „Wer kann hergehn und mir sagen, ich hab’s gethan? Sie sollen nur kommen und sollen sehn, was sie mir beweisen können! Ich selber werd’ der Narr nit sein und etwas sagen, und wenn mein eigenes Kind hingehn und mich verrathen will …“

„Vater, redet das nit aus!“ unterbrach ihn Juli, welcher mit der Gewißheit des Geschehenen auch die gewohnte Sicherheit wiederkehrte. „Ihr wißt nit, was Ihr sagt, sonst könnt’ Euch ein solches Wort nit auf die Zung’ kommen … Ich sollt’ Euch verrathen, denkt Ihr? Der Vater fürchtet sich also vor seinem eignen Kind … Nein, Ihr habt wohl vorhin gesagt, wir sind fertig miteinander, und auch mir ist ein Riß durch’s Herz gegangen, nit anders, als wenn Ihr gestorben wärt, aber ich werd’s doch nie vergessen, daß Ihr mein Vater seid … Könnt’ ich nur auch vergessen, daß mein Vater der Bergwirth ist und was er gethan hat, ich wollt’ einen Finger aus der Hand darum geben! Was ich meinem Vater schuldig bin, das weiß ich; aber mit dem Bergwirth bin ich für meinen Theil fertig … Gott geb’s, daß nit Andre kommen und nach ihm fragen …“

Der Wirth lachte wieder hell auf „Oho, laß sie nur kommen und fragen,“ rief er, „der Bergwirth bleibt ihnen die Antwort nicht schuldig – der Bergwirth …“ Er verstummte plötzlich, indem er zusammenschrak, und Juli trat an’s Fenster, durch den geschlossenen Laden zu lauschen.

Geräusch vieler Fußtritte erscholl vor dem Hause und an den Stufen …

„Sie sind’s schon … es ist das Gericht …“ flüsterte Juli erschrocken. Der Bergwirth fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er mit dem krausen Haare auch die Gedanken ordnen und das Zeichen verwischen, von dem ihm Juli gesprochen; er richtete sich zu seiner gewohnten Haltung auf und trat mit einer Gelassenheit zur Thür, welche einen flüchtigen Beobachter wohl zu täuschen vermocht hätte … ehe er die Klinke berührte, [403] ging die Thür auf, Gensd’armen und Gerichtsdiener standen vor derselben.

„Guten Abend, meine Herrn,“ sagte der Obernöder, indem er sie wie Gäste begrüßte, „was verschafft mir so spät noch die Ehr’? Kommen wohl von einer Streif’ zurück und wollen sich ein bissel erfrischen. … Kommen Sie nur herein und nehmen Sie Platz – ich will gleich ein frisches Fäßl anstechen …“

„Gebt Euch keine Mühe, Bergwirth,“ entgegnete der Gerichtsdiener, ihm den Weg vertretend, „wir sind nicht wegen der Erfrischung da – wir suchen einen Arrestanten. Macht keine Flausen, richtet Euch zusammen. Ihr wißt recht gut, daß der Arrestant niemand Anderer ist als Ihr selber …“

„Ich?“ rief der Wirth mit einem Gelächter, das ziemlich unbefangen klang. „Ich soll Arrestant sein? Und wegen was? Wer hat was zu fordern an mich – wer kann mir was nachsagen? Er soll nur kommen, ich bin zu finden und laß’ mich finden; ich bin ein unbescholtener hausgesessener Mann, den holt man bei uns zu Land nicht bei Nacht und Nebel wie einen Spitzbuben aus dem Haus!“

„Mach’ der Herr keine Umstände und Weitläufigkeiten!“ rief der Führer der Gensd’armen dazwischen. „Wir wissen so gut wie er, was Recht und Gesetz ist im Land; der Verhaftsbefehl wird nicht lang auf sich warten lassen, einstweilen aber nehm’ ich den Herrn mit auf meine eigene Verantwortung und Gefahr! Wegen was er mein Arrestant ist, kann ich ihm zwar nicht genau sagen: da muß er schon warten, bis man weiß, wie viele eigentlich verunglückt sind und wie viele davon kommen, dann wird man ihm schon sagen, ob ihm der Proceß gemacht wird als Mörder oder …“

„Geh’ hinaus, Juli,“ rief der Bergwirth, der immer mehr die alte übermüthige Kaltblütigkeit wiederfand, denn das Mädchen, das unbeachtet am Fenster stehen geblieben war, gerieth bei der Rede des Gensd’armen in immer heftigere Bewegung und vermochte es nicht, bei dem letzten Worte einen leisen Aufschrei des Entsetzens zu unterdrücken. „Was soll das Wesen und Gethu’ … Wenn ich fort muß, so werd’ ich morgen wieder kommen, Du wirst indessen das Haus hüten …“

„Die Jungfer bleibt,“ sagte der Gensd’arm, „bis wir unser Geschäft abgemacht haben, hat sie draußen nichts zu thun, und wenn der Herr so gewiß ist, daß er morgen wiederkommt, kann er ja um so leichter mit uns gehn; was liegt daran, ob er einmal eine Nacht nicht so bequem schläft, als wie daheim. … Ich will’s dem Herrn wünschen, daß es so leicht abgeht, aber ich glaub’ es nicht. Es ist sogleich, nachdem das Unglück geschehen war, nach allen Seiten untersucht worden; man sah es deutlich, daß der Baum, der auf den Schienen lag und die Entgleisung verursachte; vorher auf dem Abhang über dem Steinbruch, auf der Niederpoint gelegen war, das zerquetschte Gras und das zerstoßene Gestein ließen erkennen, wo er herabgerollt worden war …“

Der Bergwirth begriff, daß ein entscheidender Augenblick gekommen war; mit voller Ruhe trat er dem Gensd’arm einen Schritt entgegen. … „Und wer kann auftreten und sagen, daß ich es gethan hab’? Das ist himmelschreiend, einem ehrlichen Mann so ’was zuzumuthen – da müssen die Stein’ und die Bäum’ eine Zunge kriegen und die Wahrheit sagen!“

„Das haben sie bereits gethan,“ entgegnete der Gensd’arm mit nachdrücklichem Ernst, „bei der Durchsuchung des Platzes fand sich ein silberner Knopf – der den Baum herabgeworfen hat, ist mit der Jacke daran hängen geblieben und hat ihn sich abgerissen …“

Der Bergwirth erbebte. … „Ach was,“ stieß er hervor, „silberne Knöpfe tragen gar Viele, einer sieht dem andern gleich …“

„Allerdings, aber sonderbar bleibt es doch, daß der Herr gerade solche Knöpfe an seiner Jacke hat, und daß gerade in seiner Jacke ein solcher Knopf fehlt und ein Fetzen Tuch, der daran hängen geblieben ist …“

Er zeigte den verrätherischen Knopf in der offenen Hand; das Auge des Bergwirths erstarrte bei dem Anblick, unwillkürlich tastete er nach seiner Jacke, er fand kein Wort, den wortlosen Zeugen zu widerlegen; Julien vergingen die Sinne, einer der Männer fing sie auf, sonst wäre sie zu Boden gestürzt....

Feierliche Stille waltete einen Augenblick: der Engel der Vergeltung flog durch das Zimmer.

Schweigend deutete der Gensd’arm seinem Gefangenen nach der Thür, schweigend folgte dieser, unsicheren Schrittes, das Antlitz von der Blässe des Todes bedeckt. An der Schwelle hielt er inne – wie von einem elektrischen Schlage getroffen richtete er sich in seiner ganzen Kraft auf, und die Farbe der Erstarrung wich der einer wilden, rasch auflodernden Gluth. Unter den vor der Thür Versammelten hatte er auch den verhaßten Feldmesser erblickt.

„Was wollen Sie hier?“ schrie er ihm wüthend entgegen. „Das ist mein Haus, und wenn sie mich von hier weg schnurgerade auf’s Hochgericht führen, in dem Haus bin ich der Herr; in dem Haus haben Sie nichts zu thun! Haben Sie gemeint, es wär’ jetzt die Gelegenheit, sich heranzuschleichen und Ihr altes Spiel zu treiben. … Hinaus, sag’ ich, oder ich vergreif’ mich an Ihnen …“

„Sie thun mir Unrecht,“ sagte Falkner mit ruhiger Würde, „ich bin diesen Männern gefolgt, weil ich nicht glauben wollte, wessen man Sie bezichtigt, weil ich Zeuge Ihrer Rechtfertigung zu sein wünschte, weil ich dachte, in jedem Falle könnte Ihnen oder Ihrer Tochter der Rath und die Hülfe eines Freundes nöthig sein …“

„Ich will nichts wissen von Ihnen und Ihrer Hülfe!“ rief der Wirth wie zuvor. „Ich dank’ für eine solche Freundschaft, die mit schuld ist an all’ meinem Unglück! Und meine Tochter soll einen solchen Freund auch nit haben, und wenn ich nimmer wieder zurückgeh’ durch diese Thür, so soll das mein letztes Wort an sie sein. … Wenn sie nur irgendwie mit Ihnen verkehrt, wenn sie ein Wort mit Ihnen spricht, ja wenn sie nur noch an Sie denkt, so soll sie verflucht sein! Verflucht bis an mein Grab und noch aus der Gruben heraus! Verflucht …“

Der Ton der bekannten Stimme, der Anblick des geliebten Mannes hatte Juli die Besinnung wiedergegeben. Sie trat jetzt dazwischen und reichte ihm die Hand. „Hören Sie nit, was der arme Mann sagt,“ rief sie gerührt und doch entschieden, „unser Herrgott im Himmel wird es auch nit hören, das weiß ich gewiß! Aber gehn Sie, Herr Falkner, und –“ fuhr sie mit schmerzlichem Widerstreben fort, „und – kommen Sie nit wieder … es muß so sein, vergessen Sie, daß ich auf der Welt bin; und – lassen Sie sich’s recht gut gehn in Ihrem ganzen Leben. … Daß Sie in der schrecklichen Stund’ zu uns gekommen sind; wie ein rechter richtiger Freund … ich verdank’s Ihnen tausendmal; für meinen Vater und für mich. … Gehn Sie, Herr Falkner, ich muß schon allein mit Dem fertig werden, was mir aufgelegt ist …“

Er ging ohne Erwiderung, auch zwischen dem Vater und ihr wurde kein Wort mehr gewechselt. Juli lehnte an der Thür; als der traurige Zug in der Nacht verschwunden war, warf sie die Thür in’s Schloß und schob den Riegel vor. „Ich muß allein fertig werden,“ murmelte sie vor sich hin, „und ich will’s!“

Und sie wurde damit fertig.

Als wäre nicht das Geringste vorgefallen, begann sie am andern Tage das Regiment des Hauses und die Aufsicht der großen Wirthschaft zu führen, wie sie es so oft gethan, wenn der Vater verreist war, und gerade so ruhig, als könne er jeden Abend von der Reise nach Hause kommen. Sie war überall und schien weder Ermüdung noch Erholung zu kennen, der erste Morgenstrahl traf sie schon wach, und sie war es, deren Lampe zuletzt im Hause erlosch; ohne es gegen irgend Jemand auszusprechen, hatte sie sich selbst das Gelöbniß gethan, das Gut solle trotz aller Ereignisse, die es getroffen, nicht geringer werden, und wenn ihr Vater, woran sie nicht zweifelte, einmal wiederkehre, solle er dasselbe in gleich gutem Zustande wiederfinden, wie er es verlassen. Das Wirthsgeschäft selber, so glänzend es früher gewesen, war allerdings so gut wie erloschen; es vergingen oft mehrere Tage, ehe ein Gast einsprach, irgend ein Fußreisender, der die Bergwanderung dem Eisenbahnfluge vorzog, oder ein Knecht, der mit einer Holzfuhre aus den Bergen kam. Sie war daher darauf bedacht, den Ausfall durch erhöhten Ertrag der Landwirthschaft zu ersetzen; aber noch ehe die Blätter im nächsten Herbst abfielen, waren auch diese Aussichten verwelkt, und sie erkannte mit Schrecken, daß, was sie unternommen, nicht viel Anderes war, als in ein durchlöchertes Faß zu schöpfen, und in stummem Verzagen gewahrte sie, wie sie nicht nur nichts zu erringen vermochte, sondern wie auch der bestandene vieljährige Wohlstand von Tag zu Tag vermürbte und trotz aller Mühe, ungeachtet alles Fleißes sich zerbröckelte und verschwand. So sehr sie sich mühte, war es unmöglich, die Sorglosigkeit und den Unterschleif herrenloser Dienstboten zu bändigen. [404] Zur Untreue stellte sich auch das Unglück ein: das schönste Vieh, von dem sie reiche Einnahme gehofft, wurde krank und fiel, und sogar, was seit Menschengedenken nicht geschehen, trat ein – über den reifenden Feldern entlud sich ein Hagelwetter und schlug mit den Aehren und Halmen ihre letzte Hoffnung in den Boden. Ueberdies senkte das große Ungewitter, das über dem einsamen Bergwirthshause stand, sich immer näher und furchtbarer herab: die Entscheidung über das Schicksal seines Herrn, der nach langer weitschweifiger Untersuchung seinem Urtheile entgegensah; von diesem aber hingen alle die unzähligen Ersatz- und Entschädigungsansprüche ab, welche sowohl von den Verunglückten als auch von der Bahnverwaltung für die bedeutenden Kosten der Wiederherstellung dem reichen Bergwirth gegenüber geltend gemacht und zum großen Theile in vorsichtiger Weise schon vor dem letzten Ausspruch angemeldet worden waren. Das Haus wankte in seinem Grunde, und von allen Seiten stürmten steigende Wasser heran, um über dem unterwühlten Grunde zusammenzuschlagen. Es war nicht zu verwundern, daß Alles, was zu fordern hatte, aus Furcht vor dem wahrscheinlichen Falle, auf seine Deckung und Sicherheit bedacht war, und gerade dadurch beitrug, den befürchteten Einsturz herbeizuführen; die Gerichte fanden sich veranlaßt, den Vermögenszustand zu untersuchen; bei der eingetretenen Werthlosigkeit des Wirthschaftsrechtes konnte es nicht ausbleiben, daß die Schätzung von Haus und Hof sehr gering und weitaus unzureichend für Alles, was darauf lastete, ausfiel; die Vergantung wurde beschlossen, und es kam der Tag, an welchem der Notar durch das erste winterliche Schneegestöber in dem Bergwirthshause erschien, um es an den über den Schätzungswerth meistbietenden zu versteigern. Der weite Weg und das böse Wetter hatten den Herrn schon sehr ungehalten gemacht, er wurde es noch mehr, als gar kein Käufer erschien und sich ihm also die Aussicht vergewisserte, die angenehme Fahrt noch einmal machen zu müssen. Mancher hätte vielleicht gern um das schöne Besitzthum gefeilscht, aber Jeder wollte es auf die wohlfeilste Art erwerben und hoffte, diese durch Geduld erreichen zu können.

Bald zog der Winter vollends ein und begrub das Bergwirthshaus in tiefem Schnee wie die Straße über den Westerberg, bei der sonst wohl hundert Hände ineinander gegriffen hatten, um eine fahrbare Bahn herzustellen, während jetzt die Krallen der Nebelkrähe oder die Pranken eines Fuchses die einzigen Werkzeuge waren, die sich in den Schneemassen abdrückten. Es gehörte Juli’s durch eignen Willen gehärtetes Herz dazu, um in der trostlosen Einsamkeit nicht völlig entmuthigt zu werden; sie hatte Niemand um sich als die alte ihr persönlich ergebene Magd und den Knecht, der bei dem Eisenbahnunfalle dabei gewesen, einen rohen, widerhaarigen Burschen, dem sie aber eben des Erlebten wegen Vieles nachsah, und den sie dadurch noch nachlässiger und widerspenstiger machte. Er war der Einzige, der aus dem Hause kam, weil er hie und da den Weg in eine benachbarte Dorfschenke nicht scheute; Juli selbst hatte ihn schon manchmal dazu ermuntert, sich etwas gütlich zu thun, wenn auch die Wunde, die er davongetragen, längst bis auf eine unbedeutende Narbe verschwunden war. Dadurch immer übermüthiger geworden, machte er es sich bald zur Gewohnheit, von seinen Ausflügen betrunken heimzukommen, und die Vorstellungen und Vorwürfe der Herrin erst mit Nichtachtung, dann mit Rohheit zu erwidern. Als er einmal wieder spät in der Nacht und in einem Zustande nach Hause kam, daß er das Erkranken des Einen aus dem letzten noch vorhandenen Pferdepaar nicht gewahrte, und das Thier hülflos zu Grunde gehen ließ, konnte Juli trotz aller Nachsicht nicht umhin, ihm einen derben Verweis zu geben und zu erklären, daß er Haus und Dienst verlassen müsse, sobald er noch einmal betrunken heimkomme.

„Oho – mich aus dem Dienst jagen?“ rief er mit frechem Lachen. „Gehn soll ich? … Meinetwegen, wenn die Jungfer mich fort haben will, kann ich ihr gleich die Freud’ machen und brauch’ sie nit erst auf den nächsten Rausch warten zu lassen. … Zahl’ mir die Jungfer aus, was ich zu kriegen hab’, meinen Lohn von letzter Lichtmeß her und fünfzig Gulden Schmerzengeld für das Loch, das ich in den Kopf ’kriegt hab’ … billiger kann ich’s nit thun, ich möcht’ nicht um tausend den Schrecken und die Schmerzen noch einmal ausstehn! …“

„Du weißt,“ erwiderte Juli, „daß ich über keinen Groschen mehr eigener Herr bin, daß ich dem Gericht für Alles verantwortlich sein muß … den Lohn kann ich Dir drum wohl auszahlen, dazu wird das Bissel wohl noch ausreichen, was da ist, aber Schmerzengeld, Hies … das kann ich Dir nit geben, wenn ich auch wollt’, da mußt Du schon an’s Gericht gehen, wie die Andern …“

„Warum nit gar!“ rief der rohe Bursche. „Das wär’ mir schon zu dumm, daß ich meinem Geld’ langmächtig nachlaufen sollt’ und auf die Letzt’ doch nichts bekäm’! Ich mach’s kürzer und gescheidter; es ist noch genug Sach’ im Haus, das ich brauchen kann, und wenn mir die Jungfer mein Geld nit giebt, so nehm’ ich, was mir gefallt, und mach’ mich bezahlt …“

„Das darfst Du nicht, es ist Alles aufgeschrieben vom Gericht …“

„Um das werd’ ich mich viel kümmern! Und wenn das Haus inventirt ist, dann geh’ ich in den Stall und reit’ mit dem Bräunel fort, er ist ohnedem einschichtig jetzt …“

Er wandte sich trotzig der Thür zu aber Juli rief ihn zurück; sie hatte sich auf einen Ausweg besonnen und aus einem Wandschranke ein kleines Schächtelchen hervorgeholt. „Den Bräunel kann ich Dir nicht lassen, weil er mir nicht gehört,“ sagte sie, „aber Gott soll mich bewahren, daß Ein Mensch, der durch uns ein Unheil erfahren hat, aus dem Haus’ ging’, ohne daß ich ihm gegeben hätte, was er verlangt, und wenn’s mein Allerletztes wäre. … In dem Schächterl da ist auch mein Allerletztes, ein goldnes Ringel mit einem guten Stein, das Einzige, was ich noch hab’ von meiner lieben Mutter … aber nimm’s nur, Hies, und geh’ in Gottes Namen, so viel ist es wohl werth, daß Dir Deine Schmerzen bezahlt sind …“

Gierigen Blicks betrachtete der Knecht den feinen funkelnden Reif; er schien einen Augenblick betreten und unentschlossen, ob er das Anerbieten annehmen solle – aber die Habgier siegte über die edlere Regung; er ergriff den Ring und eilte fort, unbekümmert um den Mann, der an der Thür stehend Zeuge des Vorgangs geworden war.

Es war ein wohlbekannter Gast des Hauses, der freilich selten einsprach und meist nur dann, wenn ein besonderer Anlaß ihn rief oder wenn er, was wieder nicht sehr häufig vorkam, eine kleine Reise machen mußte – der Pfarrer der Gemeinde, welcher das einfache Bergwirthshaus zugetheilt war, dessen Pfarrhaus wie dieses eine Einöde war und tiefer im Gebirge, auf einem ziemlich hohen Berge lag, allein mit der Kirche, während die eingepfarrten Dörfer und Weiler rund herum zerstreut lagen. Er war auch an jenem Abend mit dem Stellwagen durchgereist, als der verhängnißvolle Besuch in das Bergwirthshaus gekommen; seine Erscheinung hatte eine gewisse wohlwollende Würde, wenn auch die starke Beleibtheit und der etwas schlaffe Ausdruck des vollen Gesichts vermuthen ließen, daß große Festigkeit keineswegs ein Hauptzug seines Wesens war.

„Ein böser Bube das,“ rief er, indem er den Arm mit dem Silberknopf eines altmodischen Rohrstocks erhob, als ob er auf der Kanzel stünde, „ich hätte gute Lust, ihm nachzueilen und ihm das unrechte Gut wieder abzunehmen, das er an sich gerissen mit Gewalt und Hinterlist wie Ahab den Weinberg des Naboth.“ … Es hätte der abwehrenden Geberde nicht bedurft, mit welcher Juli ihm entgegentrat, das Wort wäre nicht zur That geworden; denn der Knecht war ein baumstarker und ungeschlachter Mensch und wohl dafür bekannt, daß gütliches Zureden bei ihm ebenso viel ausrichtete, als ein Steinwurf in’s Wasser. „So gehe hin,“ fuhr er in gesteigertem Tone fort, „geh’ hin Du Sohn von der Rotte Korah – das geraubte Scherflein der Waise wird Dir keinen Segen bringen und möge Dir auf der Seele brennen in Ewigkeit!“

„Um Gotteswillen, Herr Pfarrer,“ unterbrach ihn Juli. „Helfen Sie mir aus dem Traum, der mich ängstigt. … Sie kommen zum Bergwirth? In der jetzigen Jahreszeit? Das muß was ganz Besonderes zu bedeuten haben … und wie haben Sie gesagt? Haben Sie mich nicht eine Waise genannt? … Reden Sie, Herr Pfarrer, was ist’s mit meinem Vater?“

„Erschrick nicht, meine Tochter,“ sagte der Pfarrer, indem er sich niederließ, „es ist allerdings keine gewöhnliche Veranlassung, die mich zu Dir führt, aber was ich da soeben von einer Waise sprach, war gewissermaßen nur im figürlichen Sinne gesprochen; aber da Du Deine Mutter verloren und auch Dein Vater für Dich so gut wie ein Verlorener ist, kann man Dich wohl ein Waislein nennen …“

[430] „Mein Vater – was ist’s mit ihm?“ rief Juli hastig und faßte den Arm des Pfarrers. „Ich hab’ mir gleich gedacht, es geht ihn an, weil Sie zu mir kommen. … Er ist verhandelt worden? Nicht wahr – sie haben ihm das Urtheil gesprochen? … O mein Gott, mein Gott …“ setzte sie in rückhaltlosem Schmerzensausbruch hinzu und bedeckte mit beiden Händen die überströmenden Augen.

„Du hast es errathen, meine Tochter,“ erwiderte der Seelsorger, „ich habe es übernommen, das traurige Geschäft, Dir diese Mittheilung zu machen und Dich auf die Nachricht vorzubereiten, die Dir doch bitter schmecken wird wie Galle, wenn Du auch lange gewußt, daß der Trank nicht an Dir vorübergehen könne. Ich habe aber erst vorhin wieder bei meinem Eintreten die Kraft und Entschlossenheit Deines Gemüths erkannt und verhoffe zu Gott, Du werdest in christlicher Ergebung das Kreuz auf Dich nehmen, das der Herr einmal zu tragen Dir auferlegt … Gestern hat wider Deinen Vater, das verirrte Schaf aus meiner Heerde, die Verhandlung stattgefunden, zu welcher auch ich geladen war, um als Seelsorger der Gemeinde anzugeben, was mir bekannt geworden über das Leben und Treiben des Angeklagten, seine Gemüthsart und …“

„Und das Urtheil, Herr Pfarrer … das Urtheil …“

„Wirst Du erfahren, meine Tochter, wenn ich Dir Alles der Reihe nach erzählt,“ fuhr der redselige Mann unbeirrt fort. „Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, eine solche Verhandlung zu sehen, und kann es nicht leugnen, daß es mir einen feierlichen Eindruck machte, als ich in den großen Gerichtssaal trat und die Richter sitzen sah und den öffentlichen Ankläger, die Geschworenen – Bürger und Bauern durcheinander und gegenüber das Volk, Kopf an Kopf gedrängt – mir war beinahe wie damals, als ich zum ersten Male auf die Kanzel treten mußte … das ist ein erhebender Anblick, und es wird wohl auch Anderen so zu Muth werden, als stände er dem Engel der Gerechtigkeit unverhüllt gegenüber, dem das Schwert gegeben ist auf Erden …“

„O Vater – armer unglücklicher Vater …“ rief Juli unter leisem Weinen.

„Es war todtenstill, als er eintrat – oder vielmehr hereingeführt wurde von den Gensd’armen zu der hölzernen Bank, auf [431] welcher der Angeklagte sitzen muß, den Geschworenen gerade gegenüber … er sah blaß aus, wohl von der langen Gefangenschaft, an die er nicht gewöhnt ist und während deren er Zeit genug gehabt, über sich und alles das Seine nachzudenken … ich bin sonst nicht weichherzig, aber es ging mir ein Schnitt durch die Seele, wenn ich mir dachte, wie ich kurz vorher ihn noch hier gesehen habe, in Mitte seines schönen Besitzthums … ein fröhlicher, kräftiger, vielleicht überkräftiger Mann, und jetzt … Doch ich will Dich nicht noch mehr erweichen, mein Kind,“ fuhr er fort, da das Weinen lauter wurde, „ich will Dir rasch erzählen, wie ihm dann die Anklageschrift vorgelesen wurde, in der war es haarscharf zusammengestellt, was geschehen war, und daß Niemand Anderer dafür strafbar sei als der Angeklagte – wie viel Wunden es gegeben und gebrochene Glieder – denn glücklicherweise hat kein Mensch das Leben dabei eingebüßt – und welcher Schaden entstanden war an der Eisenbahn und an den Wägen. Dann wurde Dein Vater zur Antwort aufgerufen und er antwortete, ganz wie ich mir’s von ihm erwartet hatte – er gestand ohne Rückhalt ein, was er gethan, aber er erzählte auch, wie er dazu gekommen, und wie die drohende Verarmung und der immerwährende Verdruß ihn immer mehr gereizt und erbittert hatten, daß er zuletzt seiner nicht mehr recht bewußt und mächtig gewesen und er gar nicht anders gekonnt habe. Das war’s auch, was der Vertheidiger, der dann zu reden kam, so deutlich zu machen verstand, daß man meinen konnte, er sei hinter dem Bergwirth gestanden und habe ihm zugeschaut, wie er den Eichbaum hinunterrollte – es leuchtete mir selber ein und auch den Geschworenen muß es so gegangen sein, denn obwohl der Staatsanwalt mit aller Gewalt dagegen war und meinte, für eine so gefährliche That, die vielen Menschen das Leben hätte kosten können, sei lebenslängliches Gefängniß noch eine viel zu gelinde Strafe, waren sie doch dafür, daß der Bergwirth sich im Augenblick der That im Zustande einer so hochgradigen Aufregung befunden, daß ihm die ganze Schwere derselben nicht bewußt gewesen, also auch nicht ganz zugerechnet werden könne … So ist’s bei fünf Jahren – Zuchthaus geblieben …“

„Fünf Jahre …“ rief Juli auftaumelnd. „Mein Gott – das ist eine Ewigkeit … das übersteht er nicht … und Zuchthaus – der reiche angesehene Bergwirth im Zuchthaus, und seine Tochter, die Tochter eines …“

„Aengstige Dich nicht – wie Du keinen Theil hast an der Schuld Deines Vaters, wird Dich auch von seiner Strafe nichts treffen – kein Mensch wird Dich deshalb auch nur mit einem scheelen Auge ansehen, sondern vielmehr Dich bedauern und Dir behülflich sein …“

Juli schien über etwas nachzudenken. „Und dagegen giebt’s keine Hülf’ mehr?“ sagte sie dann nach einer Pause.

„Keine – als die Gnade des Königs, aber auf diese ist wenig oder vielmehr keine Hoffnung, mein Kind – den Herren vom Gericht war das Urtheil ohnehin nicht recht, sie meinten, es sei viel zu gnädig ausgefallen und es wäre nothwendig gewesen, ein recht scharfes Exempel zu statuiren … Darum füge Dich in christlicher Geduld in das Unvermeidliche … fünf Jahre sind keine Ewigkeit, wie Du im Uebermaß Deines Schmerzes gesagt … in Gebet und Ergebung wird auch diese leidenvolle Zeit für Dich und für den Verurtheilten vorübergehen, und dann …“

„Dann – ja dann,“ sagte Juli und legte die Hand an die Stirn, „ich denke, was ich dann zu thun habe, das weiß ich …“

„Schön, meine Tochter,“ erwiderte der Pfarrer, indem er sie etwas überrascht ansah, „ich freue mich, daß Dir Gott so viele Fassung verleiht in diesen schweren Heimsuchungen – denn leider, Du wirst das selber begreifen, ist das erst einer der ersten Ringe in der Leidenskette, die Dich erwartet. Das Gericht hat Deinen Vater auch in alle Kosten und Schäden verurtheilt …“

„Ja ja – ich begreif’ es wohl,“ sagte sie dumpf und mit bitterm Lächeln, „sie werden kommen und das Bergwirthshaus versteigern um das, was Einer gern dafür geben will!“

„Das ist nun nach dem Gange des Rechts nicht zu vermeiden – aber wenn ich nicht irre, hast Du ja ein ganz ansehnliches mütterliches Erbtheil zu fordern, das Allem vorgeht ... Du wirst ohne Zweifel längst einem Advocaten die Wahrung Deiner Rechte übertragen haben.“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn groß an, als verstünde sie nicht recht, was er gesagt. „Gott soll mich bewahren,“ sagte sie, „daß ein einziger Mensch, dem durch meinen Vater Unrecht geschehen ist, meinetwegen auch nur einen Kreuzer an dem verlieren soll, was ihm gehört …“

„Und was willst Du dann beginnen, gutes, aber thörichtes Kind?“ sagte der Pfarrer, indem er ihr wie segnend die Hand auf den Scheitel legte. „Wovon gedenkst Du zu leben?“

„Deswegen ist mir keinen Augenblick bang’,“ sagte sie, „ich versteh’ die Wirthschaft aus dem Grund’ und habe sonst auch noch allerhand gelernt; ich kann arbeiten und will arbeiten, und so wird sich wohl irgendwo ein Dienst für mich finden …“

„Geh’ hin, meine Tochter,“ rief der Pfarrer salbungsvoll, indem er Hut und Stab ergriff, „geh’ hin und thue, wie Du gesagt, und der Herr wird mit Dir sein! Solltest Du aber nicht wissen, wohin Du Dich wenden könntest, so komm zu mir – meine Schwester bedarf schon lange in der Wirthschaft einer kundigen und verlässigen Helferin, sie kann keine bessere finden, als Dich – darum komm’ in meinen Pfarrhof, wenn Du einen Dienst suchest – er soll Dir wie ein zweites Vaterhaus sein!“

Mit etwas erleichtertem Gemüth gab sie dem würdigen Herrn das Geleit; trotz aller Entschlossenheit war, wenn sie vorsorgend der Zukunft gedacht hatte, der Gedanke, wo sie wohl eine Unterkunft finden würde, und das Suchen nach einer solchen ihr höchst qualvoll und peinlich gewesen – nun war auch diese Sorge gehoben, sie wußte, wohin sie sich zuerst flüchten konnte, wenn die schwere Stunde schlagen würde.

Und sie schlug nur zu bald.

Da keine Gefahr auf Verzug gewesen, war der Zwangsverkauf bis zum Beginn des Frühlings hinaus verzögert worden, weil um diese Jahreszeit die Reise nach dem schön gelegenen Bergwirthshause für alle Betheiligten zugleich als ein angenehmer Ausflug gelten konnte. Ueberraschenderweise fanden sich außer den Beamten wohl viele Neugierige aus der Nachbarschaft ein, aber wenig Kauflustige – das üble Schicksal, das dem Gute zu Theil geworden, mochte Manchen abschrecken. Unter den Wenigen befand sich der dicke Viehhändler, der Haus, Ställe und Scheune mit geringschätzigen Blicken musterte und den von der alten Magd bedienten Gästen mit lärmender Stimme vorerzählte und vorrechnete, wie Alles abgeschwendet und heruntergekommen sei, und wie man so recht in jedem Winkel sehen könne, was es um die Wirthschaft von Weibern sei, und wenn dieselben auch noch so hochmüthig wären und noch so siebengescheidt. Es galt Juli, die, ohne sich um die Anwesenden zu bekümmern, in der Nähe der Gerichtspersonen saß, um zu erwarten, in wessen Hand sie künftig die schöne liebe Heimath denken müsse, die der Schauplatz einer glücklichen Jugend gewesen und der zwar kurzen, aber desto schöneren Zeit einer verlorenen Liebe.

Die Versteigerung endete damit, daß das Bergwirthshaus dem Viehhändler zugeschlagen wurde – um einen Preis, der dem wahren Werthe selbst unter den gegebenen schlimmen Verhältnissen auch nicht annähernd entsprach, und den er mit der prahlerischen Miene eines geldstolzen Menschen aus seinem Leibgurt in Münze und Papier sofort auf den Gerichtstisch hinzahlte, als wäre es der Kaufpreis für irgend ein Stück Kleinvieh, das er so nebenher eingehandelt.

„Wie ist es jetzt?“ fragte er dann, indem er sich mit beiden ausgespreizten Händen auf den Gerichtstisch stützte. „Wann bin ich jetzt der Herr vom Bergwirthshaus? Kann ich jetzt machen was ich will?“

„Allerdings!“ entgegnete der Beamte nach einigem Besinnen, „es ist Niemand vorhanden, der berechtigt wäre, Einspruch zu thun, und da der Kaufschilling vollständig erlegt worden, stehe ich nicht an, Euch den förmlichen Zuschlag sofort zu ertheilen … Ihr seid von diesem Augenblick der Herr vom Bergwirthshause!“

„Der Herr! Das ist’s, was ich haben will!“ rief der Metzger mit rohem Lachen „Und wer Herr im Haus ist, der hat auch das Hausrecht und kann den oder die hinausschaffen, die er nicht drinnen haben will. … Verstanden? Ich mein’ wohl, ich red’ deutsch, daß es verstehen kann wen’s angeht.“

Juli, obwohl anfangs bitter berührt durch den Ausgang des Verkaufs, hatte bald die Absicht des Viehhändlers durchschaut und trat ruhig an den Tisch. „Ich werde das Haus noch in dieser Stunde verlassen,“ sagte sie, „mein kleines Gepäck ist schon geordnet und bereit …“

„Aha, das Gepäck muß ich mir erst betrachten,“ lachte der [432] Metzger, „ich bin jetzt der Herr hier – verstanden, Jungfer? Ich lass’ nichts daraus so mir nichts Dir nichts fortschleppen, was sie etwa brauchen kann …“

„Dazu habt Ihr kein Recht,“ unterbrach ihn der Notar, „die Tochter des bisherigen Eigenthümers darf ungehindert ihre Habseligkeiten mit sich hinwegnehmen … auch dürfte es dem neuen Besitzer ganz wohl anstehn, sich gegen die Tochter seines Vorfahrers in etwas freundlicherer Weise zu benehmen.“

Der Mann hatte der allgemeinen Stimmung den Ausdruck gegeben, ein ziemlich lautes und verständliches Gemurmel der Anwesenden bezeugte das, aber der Metzger im Vollgenuß sich sättigender Rache kehrte sich nicht daran, sondern blickte trotzig über sie hin, bereit, es auch mit Allen aufzunehmen. „Wer hat was einzuwenden dagegen?“ rief er in herausforderndem Ton. „Wen geht’s was an, was wir Zwei mit einander abzurechnen haben? Ihr hört’s ja von ihr selber, daß sie gehn will … vielleicht thät’ ihr der gewisse Gulden gut auf dem Weg, den sie stolz in die Armenbüchsen geworfen hat! Alles geht um auf der Welt, heut’ unten, morgen oben, heute mir, morgen Dir … ist noch nit lang’, daß sie mich aus dem Haus geschafft hat – jetzt ist einmal der Stiel umgekehrt!“

Juli hörte den Hohn des Uebermüthigen nicht mehr ganz; sie war der Stube enteilt, hatte ein schon bereitgehaltenes Bündel ergriffen und war aus dem Hause gestürzt, halb geblendet von den unaufhaltsam hervorstürzenden Thränen, halb erstickt von aufquellender Bitterkeit des Herzens, die sie doch niederkämpfen mußte, denn sie hatte sich vorgenommen, Niemand solle sagen können, daß er einen Laut der Klage von ihr gehört. Sie dachte und fühlte nicht, welche Schwelle es war, die sie verließ, um sie nie wieder zu betreten; sie wandte sich nicht zurück, um mit Blick und Hand dem Vaterhause Fahrwohl zu sagen, auch wenn der Mund ihr den Dienst versagt hätte; nicht rechts, nicht links blickend, ging sie hastigen Schrittes die Bergstraße hinab, auf der nun schon keimender Rasen sich breit zu machen begann. Vergebens streckte der wohlbekannte Apfelbaum ihr die Aeste nach und warf Blüthen auf den Weg, den sie achtlos trat; vergebens schüttelten sich die Buchen in dem neuen frischen Laub, und die Tannen streckten sich, um aus ihren dunklen Zweigen die jungen grünen Keimspitzen zu drängen; es war umsonst, daß ein Rothkehlchen zwitschernd unaufhörlich vor ihr herflatterte, als wolle es ihr durchaus den lustigen Busch zeigen, in dem es sein Nest eingebaut hatte; sie gewahrte selbst das Paar muntrer Bachstelzen nicht, das an der Mauerbrücke über der Schlucht des Westerbachs tänzelnd hin und wieder hüpfte, und das doch dem Mädchen, dem es begegnet, ein sicheres Vorzeichen ist, daß ihm bald das Brautkränzel geflochten werde.

Sie beachtete nicht einmal, als sie am Fuße des Berges die Eisenbahn erreichte, welche Veränderungen der Bau dort hervorgerufen hatte; achtlos schritt sie an dem Bahnwärterhäuschen vorüber, welches an der Bergecke die unvermeidliche Krümmung zu hüten hatte; ohne Aufenthalt eilte sie, das Geleise überschreitend, am Waldrande hin, zu dessen linker Seite sich durch eine nasse Niederung, den nicht völlig trockengelegten Ueberrest eines frühern Sees, der Weg nach einem unweit gelegenen kleinen Marktflecken zog, während rechts ein anderer durch schönen lichten Laubwald gemächlich wieder bergan stieg. Er führte zum Pfarrhof; eingedenk der freundlichen Einladung wollte Juli dort eine erste Zuflucht suchen.

Bald war die Anhöhe erreicht, wo das freundliche Haus, von dem hellgrünen Gartenzaun umgeben und zwischen Obstbaumwipfeln ihr über die Mauer des Kirchhofs entgegenwinkte, in welchem, rund um die unscheinbare Kirche gebettet, alle Gemeindeangehörigen ruhten, die schon in die Ewigkeit hinübergegangen. Auch ihre Mutter war unter den Ruhenden, und sie unterließ darum nicht, den bekannten Hügel aufzusuchen, zu einem herzlichen Gebete daran niederzuknieen in das fußhohe Gras und die nickenden Glockenblumen und dann eine Koralle des am Grabstein befestigten Rosenkranzes vorwärts zu schieben. Sie fühlte sich wunderbar getröstet und gestärkt, als sie sich wieder erhob, und mit freudiger Zuversicht schritt sie dem Pfarrhofe zu, sah sie doch im obern Stock das ehrwürdige Greisenhaupt des gütigen Mannes, der ihr versprochen hatte, ihr Vater sein zu wollen. Er stand an einem Pulte im Fenster und schien in eifriges Studium vertieft. Wenige Augenblicke später hatte sie die Glocke gezogen und stand im kühlen klosterhaft dämmerigen Hausgang der Schwester und Häuserin des Pfarrers gegenüber, die sie mit mißtrauischen Blicken betrachtete und nach ihrem Begehren fragte. Die Häuserin war eine hagere eckige Gestalt, ganz das Widerspiel ihres Bruders, mit einem mürrischen Gesicht und verdrossenen Augen. „Was will die Jungfer bei dem hochwürdigen Herrn Bruder?“ fuhr sie fort. „Wer ist Sie und wo kommt Sie her?“

„Ich bin die Tochter vom Bergwirthshaus drüben auf dem Westerberg,“ entgegnete Juli, deren Aussichten auf die Tage in diesem Hause sich merklich zu umdüstern begannen, mit unsicherem Tone. „Der Herr Pfarrer hat gesagt, daß ich zu ihm kommen soll … er wird es Ihnen wohl schon erzählt haben …“

„Der Hochwürden Herr Bruder hat mir nichts erzählt,“ rief die Häuserin, deren Verwunderung mit jedem Augenblick zunahm, wie Juli’s Betroffenheit. „Die Jungfer soll zu ihm kommen? Wegen was denn?“

„Weil ich für den Augenblick keine Heimath hab’,“ sagte das Mädchen und ihre Augen füllten sich mit Thränen gekränkten Selbstgefühls. „Sie wissen wohl, welch’ ein Unglück bei uns eingezogen ist; da hab’ ich ihm gesagt, ich wollt’ in einen Dienst gehn, und der Herr Pfarrer hat erlaubt, daß ich dann zu ihm kommen soll … seine Schwester brauche schon lang eine richtige und kundige Person, die ihr helfen und an die Hand gehn könne …“

„Wer? Ich?“ fuhr die Häuserin mit zornrothem Gesicht empor. „Ich soll eine Hülfe brauchen? Das ist mir noch im Traume nicht eingefallen; ich brauche Niemand, und wenn es darauf kommt, bin ich ganz wohl im Stand’, Andern auszuhelfen, daß sie aus dem Traum kommen! Ich brauche Niemand; da geh’ die Jungfer immerhin nur wieder ihre Wege … sie muß den Hochwürden Herrn Bruder falsch verstanden haben, oder er hat nicht gewußt, was er sagt, das kommt auch manchmal vor … wenn man so viel zu denken hat …“ setzte sie hinzu, um den schlimmen Eindruck des letzten Satzes zu vertilgen.

[446] „Aber Sie könnten den Herrn Pfarrer doch fragen,“ sagte Juli, „es ist gewiß, wie ich sage …“

„Fällt mir nicht ein!“ rief die Häuserin. „Könnt’ auch gar nicht sein … der Hochwürden Herr Bruder ist gar nicht zu Haus und kommt vor Nacht nicht heim!“

„Nicht zu Haus?“ rief Juli entgegen und ihre Wangen erglühten vor Scham über die kecke Lüge des Weibes, aber sie vermochte nicht, sie deren zu zeihen und zu überführen; auch wäre sie kaum dazu gekommen, denn die Häuserin hatte die Thür weit geöffnet und wußte sie so geschickt zu drängen, daß sie derselben sich nähern mußte, wenn sie das Weib nicht auf die Füße treten, noch von ihr getreten sein wollte. Dabei fuhr sie ununterbrochen im Reden fort, um die Andere nicht mehr zum Worte kommen zu lassen. „Wir brauchen den Hochwürden Herrn Bruder auch gar nicht dazu,“ sagte sie; „wenn ich es sage, ist es so gut, als wenn er es gesagt hätte. … Du lieber Gott, wozu sollt’ ich Jemand brauchen! Und gar Eine aus einem solchen Haus, wo man die Arbeit nicht gewöhnt ist, sondern den Ueberfluß und den Uebermuth! Mit Ihrer Arbeit, Jungfer, wird’s nicht weit her sein; Sie ist ja im Kloster erzogen worden, hab’ ich mir sagen lassen, wie eine Edelmännische. … Ja, so gut hab’ ich’s nicht gehabt! Mein Vater ist ein armer Bürgersmann gewesen, der hat keine solchen Sprünge gelitten; aber arbeiten haben wir gelernt, Jungfer, arbeiten – und ich dank’ es ihm heut’ noch nach in die Grube hinein, daß er mich nicht auch so verzärtelt hat! Geh’ die Jungfer nur in Gottesnamen wo andershin, mit der Arbeit kann sie mir nicht helfen, und das Fräulein im Hause spielen, das thu’ ich selbst, wenn sich’s einmal leidet …“

Juli hörte die letzten Worte nicht mehr, sie war hinweggestürzt, als würde sie von einer unsichtbaren Gewalt geschleudert, und hatte das Scheiden vom Vaterhause sie in’s Herz getroffen, so war die ungerechte Schmach, die sie nun erduldet, die schnöde Bosheit, mit der sie, die Schuldlose, sich behandeln lassen mußte, mit solcher Wucht auf sie hereingebrochen, daß sie nicht einmal Thränen fand und in stummer Bestürzung dahinrannte, als wäre das Weib hinter ihr, sie auf den Fersen zu verfolgen. Erst als sie an den Bergabhang kam, wo sich die Wege theilten, hielt sie inne, aufathmend und sich besinnend, wohin sie sich nun wenden solle. Nach kurzem Bedenken schritt sie dem nahen Marktflecken zu, denn der Abend war nicht mehr fern; zudem hatte der schöne Frühlingstag sich rasch und bedenklich umwölkt, die ungewöhnlich frühe Schwüle ließ den Ausbruch eines Gewitters erwarten, und sie mußte vor Allem darauf denken, ein Unterkommen für die Nacht zu finden. In einem der Brauhäuser des Fleckens war das zu erwarten, und bis zum andern Morgen hatte sie Zeit, zu einem neuen Entschlusse zu kommen.

Behutsam schritt sie durch die feuchte, zum Theil noch sumpfige Niederung hin; ein schmaler Pfad führte durch dieselbe, manchmal durch kleine Holzstücke und starke Aeste überlegt, um ihm mehr Festigkeit zu geben, denn nicht selten schwankte der Boden unter’m Fuß und Juli fuhr in ihrer Betrübniß der Gedanke durch den Kopf, der unsichere Grund sei ein Bild ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Zukunft, in der sie untergehen und versinken müsse, ungekannt und ungetröstet und unbeweint. Auch Todtenbretter waren hie und da auf den Weg gelegt, einfache, mit einem schwarzen Kreuz und ein paar Buchstaben bezeichnete Bretter von [447] der Form eines Sarges, auf denen Gestorbene aus der Umgegend bis zum Begräbniß gelegen waren, und die man an möglichst belebte Orte stellt, damit recht viele der Vorübergehenden ihrer im Gebete denken mögen. An einem kleinen Felsstück, das sich dahin verirrt, war ein solches Brett aufgestellt und sah, überhangen von den paar Sträuchern, die sich an den Stein geklammert hatten, wie ein kleines freundliches Denkmal.

Ein solches war es auch; es galt einer Unbekannten, die bei Nacht durch den Sumpf gewandert, vom Wege abgekommen und versunken war, Niemand würde sie gewahr worden sein, hätte nicht der stöbernde Hund eines Jägers den Scheitel aufgespürt, der noch aus dem Pfuhl hervorragte. Niemand wußte, wer sie war, von Niemand geschah eine Nachfrage nach ihr; es mußte Niemand gelebt haben, der sie vermißte. Auch Juli hatte das oft erzählen gehört, sie war oft des Weges gekommen und an dem Todtenbrett der Unbekannten stillgestanden; es war ihr so unendlich traurig vorgekommen, so ganz verlassen und verloren zu sein in der Welt, und heute stand sie wieder da und es wandelte sie an wie eine Ahnung, als gebe es doch noch ein größeres Elend und tieferes Leiden.

Es dämmerte stark, als sie die ersten Häuser des Marktes erreichte; ihr war es lieb, weil sie hoffen durfte, von Niemand, der sie etwa kenne, gesehen zu werden. Vor einem ansehnlichen Brauhause hielt sie an, es dünkte ihr ein gutes Zeichen, daß vor demselben ein paar hübsche Kinder saßen, einen Wust von frisch gepflückten Wiesenblumen neben sich, die sie verzupften und in kindisch unbedachter Weise zerstörten. Sie setzte sich wartend und unentschlossen auf die Steinbank neben die Kinder und war bald in deren Spiel gezogen. „Ihr müßt die Blumen nicht zernichten,“ sagte sie, „zu dem hat der liebe Gott sie nicht so schön wachsen lassen. Wenn er das gewollt hätte, hätt’ er Alles fein gleich und grün wachsen lassen, wie es das Thier hineinfrißt; damit die Kinder eine Freude haben und schön spielen sollen, hat er Blumen geschaffen und hat ihnen die schönen Farben gegeben und die Glocken gemacht und die Sterne und die Träubeln ... Schaut mir einmal zu, ich will Euch zeigen, wie Ihr einen schönen Strauß binden könnt …“ Die Kinder, von einer guten, aber ein bischen verwilderten Art, sahen der anmuthigen Belehrung, die ihnen wohl selten so zu Theil wurde, mit ruhiger Neugier zu, und auch Juli war es eine angenehme Unterbrechung ihrer Trübsal, einen Augenblick mit Blumen und Kindern zu sein.

Eine Frau mit gutmüthig gleichgültigen Zügen war unter den Thorbogen getreten, ohne daß sie deren gewahr geworden; sie sah eine Weile wohlgefällig zu und trat dann freundlich näher. „Guten Abend,“ sagte sie, „Du kannst gut mit den Kindern umgehn, Mädel; das weiß ich lange nicht, daß sie Jemand so zuhören und stillsitzen … ich wollte, ich hätte Jemand Solchen, der mir darauf Acht giebt; ich hab’ keine Zeit, und der zehnten Person kann man sie auch nicht anvertrauen … da werden sie denn wild und wachsen auf – verzeih’ mir’s Gott, bald hätt’ ich gesagt, wie das liebe Vieh! Wo kommst Du her, Mädel, und wo willst Du hin?“

„Ich bin da droben beim Westerberg daheim,“ erwiderte Juli ausweichend, „und bin unterwegs einen Dienst zu suchen …“

„Einen Dienst!“ rief die Frau erfreut. „Das trifft sich ja prächtig … Du gefällst mir, Mädel, und siehst auch sonst anstellig aus, ich behalt’ Dich, wenn es Dir recht ist, und das vom Fleck weg …“

„Mir ist es gleich,“ sagte Juli ergeben, „Ihr werdet finden, daß ich wohl zu brauchen bin; ich will wohl bei Euch bleiben, Ihr habt ein gutes Gesicht, Frau, und werdet es nicht Lügen strafen …“

„So komm’ herein in’s Haus, setz’ Dich in die Stube mit den Kindern; es wird ganz finster und das Wetter kann auch jeden Augenblick losbrechen … ich will Dir was zu essen geben, und dann können wir Alles gleich festmachen miteinander, wie’s Recht und Brauch ist. … Ich bin so froh, daß ich Dich gefunden hab’, als wenn ich ein G’schloß geschenkt bekommen hätt’ …“

Die Fräu nöthigte sie in die Stube; es war noch dunkel darin, noch hatten die kleinen Marktbürger sich zum Abendtrunke nicht eingefunden. Eben läutete es zum Ave Maria, in die ersten Töne des Glöckleins schmetterten auch die ersten Donner des furchtbar sich entladenden Gewitters und ein starker Regen platzte aufspritzend auf das Pflaster nieder.

Die Wirthin kam bald wieder mit Licht und Essen, die Kinder waren gleich nicht mehr von der neuen Magd gewichen und hingen ihr fragend und kletternd am Gewand. „Iß derweil,“ sagte sie, „und laß Dir’s schmecken; Hunger darf bei mir Niemand leiden! Ich muß nur noch in der Küche nachsehn, dann bin ich gleich wieder da! …“

Ein Mann, vom Regen in’s Haus gescheucht, trat in die Stube und schwang fluchend den nassen Hut aus; es war Einer von denen, die bei der Versteigerung im Bergwirthshause gewesen. Er ging der Wirthin nach und sprach ein paar Worte mit ihr, indem er auf Juli deutete. „Was?“ rief sie, plötzlich umgewandelt, stürzte in die Stube zurück und riß der nichts ahnenden Juli die Kinder von der Seite. „Du bist die Tochter von dem Bergwirth, der so viel Unglück über uns gebracht hat … von dem Mörder, dem Zuchthäusler? Und Du unterstehst Dich und willst Dich bei mir einschleichen in’s Haus und zu meinen Kindern …“

„Aber Ihr habt mich ja selbst …“ stammelte Juli, betroffen von dem neuen Unheil, das über sie hereinbrach.

„Weil ich Dich nit gekannt hab’, Du scheinheilige Heuchlerin!“ schrie das wüthende Weib. „Hätt’ ich gewußt, wer Du bist, ich hätt’ Dir die Thür vor der Nasen zugeschlagen … Nichts da, eine solche Person wäre just die Rechte, daß man ihr Kinder anvertrauen könnte … wer weiß, was sie ihnen anthät; der Apfel fallt nit weit vom Stamm!“

Juli begannen die Sinne sich zu verwirren; war sie es denn wirklich, der man so begegnen durfte? Sie, die mit Wissen noch kein Kind beleidigt; die, wenn sie konnte, den Wurm oder Käfer aus dem Wege trug, ihn nicht zu zertreten! Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf vor innerer Entrüstung, und die Reinheit ihres Bewußtseins funkelte aus ihrem Auge; es war wirklich etwas von dem Sinne des Vaters in ihr, der trotzige Grimm des Wurmes, der sich unter dem Eisengriffe der Jägerfaust windet und ohnmächtig in den gepanzerten Handschuh beißt. „Frau,“ rief sie mit so drohender Geberde, daß die Erschrockene davor ein paar Schritte zurückprallte, „ich rath’ es Euch – redet nicht so mit mir … thut es nicht um Eurer Kinder willen, damit nicht an ihnen gestraft wird, was Ihr Euch an mir versündigt! Ich habe mich nicht in’s Haus geschlichen – ich wollte nur ein Nachtlager haben wie ein anderer Gast – Ihr selbst habt mich aufgenommen auf den Schein hin und schimpft und schmäht mich jetzt wieder auf den Schein … Und wenn Ihr mich mit aufgehobenen Händen bitten wolltet und wolltet mich in Gold fassen, ich – die Zuchthäuslerin, wie Ihr mich genannt habt, bliebe nicht bei Euch – eh’ will ich unter der nächsten Staude am Weg übernachten, als bei Euch! …“

Sie war aufgesprungen und rannte durch das offene Hausthor hinaus in die Nacht und den strömenden Regen – die Wirthin sah ihr verblüfft nach, die Energie des Mädchens hatte sie ein wenig verschüchtert; der Mann, der den Angeber gemacht, leerte seinen Krug und stand auf. „Ich will auch noch weiter um ein Haus,“ sagte er, „in dem da thät’ mir doch kein Tropfen mehr schmecken … Nehmt mir’s nicht übel, Mohrenwirthin, ich hab’ Euch gesagt, wer das Mädel ist, weil ich gedacht hab’, es wird Euch doch merkwürdig sein – aber wenn ich gewußt hätt’, daß Ihr einen solchen Lärm aufschlagt, hätt’ ich auch was Gescheiteres zu thun gewußt …“

Er ging, die Wirthin aber schob die verdutzten Kinder nebenan in die Küche. „Versteht sich,“ murrte sie vor sich hin, „der hat gut reden – seine Kinder sind es nicht … wer weiß, was das desperate Leut’ ihnen angethan hätt’, den armen Hascherln.“ …

Juli war indessen ziellos fortgelaufen, sie fühlte den Regen nicht und nicht den Sturm, der ihn peitschte und warf – erst außerhalb des Ortes unter dem Vorsprung einer kleinen Capelle hielt sie an, strich sich das triefende Haar aus der Stirn und fragte sich fröstelnd wohin. Sie wollte in dem Vorcapellchen niederducken, aber es ging nicht an, der Wind strich durch die Pfeiler und das Geländer, als wolle er versuchen, ob es denn nicht möglich sei, die Widerstrebenden zu beugen, wie die Häupter der Buchen und die Ahornkronen, die sich sausend vor ihm neigten. Sie entsann sich manches Bekannten und Befreundeten aus den guten Tagen, aber sie war so entmuthigt durch die Aufnahme, die ihr bis jetzt geworden, daß sie es nicht wagen wollte, zum dritten Male an eine fremde Thür zu pochen. Wenn nur die Nacht vorüber war, dann wollte sie sich auf die Eisenbahn setzen, [448] die ihr so verhängnißvoll geworden, und wollte sich fortfahren lassen, so weit es ging, fort und in die Welt hinein, in ein Land, wo gewiß Niemand sie kannte – nach langem Sinnen gedachte sie der Schwester einer alten ihr ergebenen Magd, die am Fuße des Westerbergs lebte und sich kümmerlich mit Nähen und Stricken fortbrachte. Dort war sie sicher gut aufgenommen und das kleine Häuschen war unschwer zu erreichen, denn es lag nur wenige Schritte vom Eingange der Niederung entfernt. … Frostgeschüttelt machte sie sich auf den lichtlosen Weg, ihr Umschlagetuch fest an sich ziehend, das ihr der Sturm vom Leibe zu winden suchte … sie hatte gedacht, die Strecke schnell zurücklegen zu können, allein schon die ersten Schritte überzeugte sie von der Schwere und Gefährlichkeit ihres Unternehmens. Es war beinahe unmöglich, in der Finsterniß und auf dem dunklen Grunde den schmalen Pfad zu erkennen und die darauf gelegten Holzbrücken nicht zu verfehlen, zudem hatte sie den Wind gerade gegen sich und die Regentropfen schlugen ihr heftig an Stirn und Augen. Nicht lange, so mußte die Unsicherheit des Bodens, auf den sie trat, sie überzeugen, daß sie bereits vom Wege abgekommen war – mit Schauder fühlte sie denselben unter ihren Tritten nachgeben, und in dem Bestreben, den einsinkenden Fuß wieder hervorzuziehen und festere Grundlage zu suchen, gerieth sie immer näher an die unheimlichen Stellen, wo unter der grünen trügerischen Decke der unergründliche Pfuhl gleich einem versteckten Raubthiere auf sein Opfer lauerte. Ein Schrei des Entsetzens gellte durch Nacht und Wind, als sie plötzlich bis an’s Knie einbrach, und als beim angstvollen Sprunge sie den Boden immer wieder unter sich weichen fühlte – Niemand hörte den Ruf der Angst – schon glaubte sie sich verloren, als sie im Dunkel einen noch dunkleren Gegenstand erkannte, der sie Rettung hoffen ließ, und mit der letzten Kraft der Verzweiflung sich daran festklammerte. Es war die kleine Erhöhung mit dem bebuschten Felsstück – mit vergehenden Sinnen, bis zum Tode erschöpft, sank sie darauf nieder, hart an dem Todtenbrett der Versunkenen … sie gewahrte es nicht; mit verdoppelter Wuth stürmte es auf die Unglückliche herab, die kalten Tropfen begannen sich zu Flocken zu gestalten … sie fühlte es nicht, der Engel des Todes senkte den dunkeln Fittig näher und näher auf sie herab; sie war seinem unspürbaren Kusse verfallen, wenn der Morgen sie noch an dieser Stelle fand.

Nach einiger Zeit kam es wie ein Irrlicht über den Moor daher … es war der Schein einer Laterne, deren Träger ärgerlich und doch lachend über das Unwetter dahinschritt. „Ist mir doch ein solches Gethu’ und Geblase noch gar nie vorgekommen!“ brummte er. „Ist es doch, als wenn alle Hexen und Druden ihren Tanz hielten auf dem garstigen Sumpf; wird wohl Eine von ihnen gewesen sein, was vorhin so kläglich geschrieen hat. … Wenn ich das gedacht hätte, wär’ ich auch heute nicht mehr hinein in den Markt. … Aber was liegt denn da?“ unterbrach er sich und hob die Laterne. „Heiliger Bartlmä, das ist ja ein Weibsbild … die hat sich offenbar verirrt und ist da liegen geblieben. … Da ist’s doch für was gut gewesen, daß ich noch so spät unterwegs bin. … Heda, steh’ auf; Du,“ fuhr er fort, indem er sie rüttelte, „Du hast Dir eine schlechte Liegerstatt ausgesucht.“ … Er leuchtete ihr in’s Gesicht und fuhr erschrocken zurück. „Ja, wie ist mir denn?“ rief er. „Ist denn das nicht die Juli, die schöne Juli vom Bergwirth? Wie kommt denn die daher in dem Unwetter, mitten in der Nacht und so ganz allein. … So steht doch auf, Jungfer, und kommt mit mir … hier müßt Ihr ja zu Grunde gehn …“

Juli schlug die Augen auf, sie sah ihn an, aber ihr Blick war starr und verwirrt.

„Heiliger Bartlmä,“ rief er, „ich glaub’ sie ist gar nicht bei sich selber. … Jungfer, besinnt Euch doch; kennt Ihr mich denn nicht? Ich bin’s ja, der Postbartl, der Postillon, dem Ihr so manche Halbe Bier geschenkt habt. … Sie hört und sieht nicht; ich muß sehen, daß ich sie in die Höhe bringe und in meine Klause; wenn sie wieder bei sich selber ist, werd’ ich ja hören, was es gegeben hat …“

Er zögerte nicht lange; mit kräftigem Arm hob er die Wankende empor und führte sie hinweg, halb sie stützend, halb tragend, bis er sie wohlbewahrt und sicher auf das Lager in seiner Behausung niedergleiten ließ.

In der Nacht vertobte der Sturm; draußen in der Natur wie in Geist und Körper des Mädchens, das bei voller Jugendkraft in einem tiefen Schlafe das beste Mittel fand, sich von den Anstrengungen und der Betrübniß des vergangenen Tages zu erholen.

Ein heller freundlicher Morgen schien durch’s helle Fenster, als sie erwachte und sich verwundert auf einem zwar sehr einfachen, aber sauberen Bette in einem ihr völlig unbekannten Stübchen fand. Fragend blickte sie um sich und wollte sich des Vergangenen erinnern; es war ihr verwischt; sie wußte nicht, ob Alles, was sie den Abend zuvor erlebt und ertragen, nur ein entsetzlicher Traum gewesen; sie war wunderbar gestärkt und erfrischt, und wie einen Gruß wiederkehrenden Glücks ließ sie, rasch ihren Anzug ordnend, die Morgenluft um ihre Schläfe spielen, die durch’s Fenster strich, als habe sie wirklich eine ihr aufgegebene Botschaft zu bestellen. Das Stübchen war außerordentlich klein, es hatte nichts darin Raum als das Bett, in dessen Gestell sich auch eine Kleiderlade befand, ein kleiner Tisch und ein paar hölzerne Stühle. Alles war von der größten Einfachheit, aber rein und zierlich gehalten und so blank, daß man auf dem Fußboden hätte „anrichten“ können. Die weißen Wände waren ohne allen Schmuck, nur auf den Fensterbrettern standen allerlei Blumen in Töpfen und sahen den Ranken der wilde Rebe zu, die draußen, an der Wand des Häuschen emporgezogen, wie scherzend hin und wider schwankten.

Sie eilte aus der Thür, um zu erkunden, wo sie war, und blieb auf der Schwelle stehen, überrascht von dem Bilde anmuthiger Friedseligkeit, das sich vor ihr ausbreitete. Sie befand sich, wie sie sogleich erkannte, am Fuße des Westerberges, in einem rings von stark ansteigendem Bergwalde umschlossenen Thälchen; sie hatte die Nacht in dem Bahnwärterhäuschen zugebracht, an dem sie Tags zuvor so unachtsam vorübergegangen; eine undurchdringliche Tannenhecke umzäunte dasselbe und das zierliche Gärtchen, in welchem ein reicher ländlicher Blumenflor eben seine Farben auszubreiten, seinen Duft zu verstreuen begann. Unfern des Zaunes zog der Bahndamm vorüber, und der Wärter in rother schwarzverbrämter Jacke stand eben an der Stange, des Zuges harrend, dessen Signale er bereits aufgezogen hatte … sie vermochte nicht, sich des Mannes zu entsinnen … sie sah weiter um sich und gewahrte wenige Schritte seitwärts am Berghange das altersbraune Bauernhäuschen, an dem oft, wenn sie des Weges gekommen, ihr Auge mit Wohlgefallen verweilt hatte; vor demselben saß ein uraltes Mütterchen und sonnte sich …

Jetzt sauste der Bahnzug daher und in seiner furchtbaren Wucht vorüber; der Boden dröhnte unter ihm und Juli fühlte ihr Herz aufpochen von der noch nie gesehenen gewaltigen Erscheinung, und eine Art Ehrfurcht überkam sie vor der Erhabenheit des Gedankens, der ein solches Werk in’s Dasein gerufen; sie begriff, wie dagegen kein Widerstand zu dauern vermochte und wie der Geist einer neuen Zeit mit ehernem Tritt über der Gegenwart dahinschritt.

[462] Der Bahnwärter hatte den Zug nach Vorschrift salutirt, dann ließ er die Signalarme herab, aber er machte noch immer keine Anstalt, seinen Posten zu verlassen, sondern blieb stehen, als ob er noch einen Theil seines Dienstes zu verrichten übrig habe … und bald erklangen die lieben bekannten Töne des Posthornes an Juli’s harrendes Ohr …

„Bartel …“ rief sie freudig und eilte zu ihm, während er ebenfalls beim ersten Laut ihrer Stimme sich umwandte und ihr dann entgegengesprungen kam. „Postbartel … bist Du es denn wirklich? Also bei Dir bin ich die Nacht über gewesen? Du hast Dich um mich angenommen, Du braver Bursch …“

„Mein, laß es die Jungfer gut sein, wegen der Bravheit,“ erwiderte Bartel fröhlich, indem er die ihm gebotene Hand ergriff und in seiner Herzensfreude derb schüttelte. „Ich hab’ Euch doch nicht so liegen lassen können … Ihr wärt ganz gewiß zu Grund’ gegangen, und Ihr seid immer so gut gewesen mit mir und so freundlich, schon damals, wie Ihr noch ein kleines Mädel gewesen seid und ich Euch immer auf dem Schimmel reiten lassen mußte. Ihr wißt wohl noch? Ist ein gar gutes lammfrommes Thier gewesen, der Schimmel, und wenn ich mit ihm geredet hab’, hat er jedes Wort verstanden, justement wie ein Mensch … Aber weil die Jungfer nur wieder frisch und wohlauf ist! Ich hab’ gestern recht Angst gehabt um sie, sie hat gar kein Zeichen von sich gegeben …“

„Wie kann ich Dir danken, Bartel!“ sagte Juli, indem sie zu dem Häuschen traten und sich auf der Bank davor niedersetzten ... „ich wußte gar nicht, wo Du hingekommen warst; es ist Vieles geschehen, seit Du mit der Post nicht mehr vorbeigekommen bist am Bergwirthshaus …“

„Denkt nicht daran; davon können wir ein andermal reden, ich fürcht’, es thät’ Euch jetzt traurig machen, und ich möcht, daß Ihr bei mir recht vergnügt wärt, so vergnügt, wie ich selber bin! Ihr müßt nicht verzagen; es geht Manches in der Welt anders, als man denkt … das hab’ ich am besten erfahren. Wer hat mehr Angst gehabt vor der neuen Einrichtung da, vor der Eisenbahn, als ich, und wie ich das letzte Mal von Euch weggeritten bin und hab’ den blauen Stutzfrack ausgezogen, so hab’ ich gemeint, ich müßt’ mich der Läng’ nach hinlegen und sterben, vor lauter Sorge und Kümmerniß! … ‚Was wird aus Dir altem Kerl werden?‘ hab’ ich mir gedacht; ‚gelernt hast Du weiter nichts als Reiten und mit den Rossen umgehn, einer harten Arbeit kannst Du auch nicht mehr vorstehn … jetzt kann es Dir in den Garten wachsen, daß Du in Deinen alten Tagen noch hungern und betteln gehn mußt …‘ und wenn ich an meine bald achtzigjährige halbblinde Mutter gedacht hab’, die drüben in dem alten Haus sitzt und Niemand hat als mich, so hätt’ ich gleich weinen können wie ein Schulbub’ Und jetzt ist es so ganz anders worden! – Jetzt sitz’ ich wie der Vogel im Hanfsamen; hab’ einen Dienst, den ich leicht und noch lang’ versehen kann, ich hab’ mein Bahnwärterhäusel, das so nett und so proper ist wie das von einem Schnecken, hab’ mein gewisses Salari, und was das Kraut erst fett macht, ich hab’ gerad’ die Station kriegt, die sie da hergebaut haben, keine fünfzig Schritte von meinem Heimathl, wo mein Vater gehaust hat, wo ich auf die Welt ’kommen und aufgewachsen bin und wo meine alte Mutter sitzt, daß sie mich erschreien und ich sie alle Finger lang heimsuchen kann … Ich komm’ mir manchmal vor, als ob ich schon auf der Welt in den Himmel ’kommen wär’! … Oder auch wie ich oft von den Klausnern und Einsiedeln gehört hab’, die sich auch so ein schönes stilles Plätzl ausgesucht haben; ich bin auch ein solcher, ein neuer Einsiedel, und Alles das verdank’ ich der Eisenbahn; d’rum hab’ ich mir’s auch fest vorgenommen, so oft ein Zug vorbei ist, nimm ich mein liebs Posthörnl und blas’ ihm nach, daß es eine Freude ist …“

„Guter Bursch,“ sagte Juli herzlich, „ich gönn’ Dir Dein Glück!“

„Aber wie hab’ ich gesagt?“ rief er wieder. „Wem verdank’ ich mein Glück? … Der Eisenbahn? … Nein, die Eisenbahn ist wohl die Veranlassung zu meinem Glück, aber verdanken thu’ ich’s niemand Anderm als dem kreuzbraven Herrn, dem Geometer … Na, die Jungfer weiß schon, wen ich mein’.“

„Doch nicht …“ erwiderte Juli, aber ihr Erröthen zeigte, daß sie wenigstens errieth, wer gemeint war.

„Mein – stell’ sich die Jungfer nit so an,“ rief Bartel lachend, „wenn ich auch ein alter Kerl bin, hab’ ich doch noch ganz junge Augen … Die Jungfer weiß recht gut, daß ich von Niemand Anderm red’ als von dem Herrn Falkner, der die Bahn vermessen hat! … Der hat sich um mich angenommen, weil er mir einmal auf dem Westerberg begegnet ist und ich mit ihm geplaudert hab’, wie mir der Schnabel gewachsen ist; er hat gesagt, ich wär’ ein Kerl, auf den man sich verlassen könnt’, hat sich für mich verwendet und mir den Platz verschafft. Aber er hat auch Recht gehabt; er kann sich auch auf mich verlassen, wann und wo er will … Hoch, der Herr Falkner soll leben und die Eisenbahn daneben!“ Er rief es mit erhöhter Stimme, dann riß er sein Posthorn hervor, trommelte mit den Füßen und blies einen Tusch, daß es lustig in die Berge schmetterte.

Juli blieb einige Tage – das Vergangene wurde nicht erwähnt; der alte Postillon und neue Einsiedel hätte es nicht über’s Herz gebracht, sie zu fragen, und dem Mädchen selbst war es ein Trost, nicht daran zu denken; sie kam sich vor, als wäre sie auf einer glücklichen Insel, durch ein unzugängliches Meer von der harten Welt und den feindseligen Menschen geschieden, allein in einer harmlosen Kinderwelt, die keine Erinnerung kannte und eben darum weder Wunsch noch Hoffnung hatte. Der Gedanke, die stille Zuflucht verlassen zu müssen, tauchte wie ein Schreckbild in ihr auf, und sie vernahm es mit inniger Freude, als Bartel in seiner treuherzigen Weise mit dem Vorschlage herausgerückt kam, sie solle ganz bei ihm bleiben, so lang’ sie wolle und wie sie wolle. „Ich mein’, es wär’ uns allen Zweien damit geholfen,“ sagte er, „ich für meinen Theil gäb’ ich weiß nicht was darum, wenn ich eine solche Gesellschaft und Hülfe haben könnte, zumal wegen meiner blinden Mutter, der es sehr wohl thäte, wenn sich Jemand freundlich um sie annehmen möchte … was ich verdiene, das reicht vollauf für uns Alle; der Jungfer aber, mein’ ich, müßt’ es angenehm sein, wenn sie den Leuten auf eine Weil’ ganz aus dem Gesicht käm’ und aus dem Gerede; in dem Bahnwärterhäuschen da sieht und sucht sie Niemand, und sie kann ja immer thun, was sie will, wenn es ihr einmal gar nicht mehr gefällt … Von mir aus, das versprech’ ich ihr, soll kein sterblicher Mensch erfahren, wo sie ist! Ueberlege sich’s die Jungfer, und mache sie mir die Freude, und sage sie Ja!“

Juli bedurfte keiner langen Ueberlegung, sie nahm das Anerbieten des neuen Einsiedels und die Zusage des Schweigens an und blieb. Sie bereute es auch nicht; es that ihr unendlich wohl, so von der Welt abgeschlossen zu sein und nichts von Allem zu hören, was draußen vorging. Sie besorgte den kleinen Haushalt des Bahnwärters und richtete sich im Nebenhäuschen bei der blinden Alten ein, die den freundlichen liebevollen Umgang bald lieb gewann und an ihr hing, wie an einer Tochter. Juli erholte sich Tag für Tag mehr von dem ausgestandenen Ungemach, und wenn ihr manchmal mahnende Gedanken kamen, drängte sie dieselben mit Gewalt zurück – die an den Vater, weil sie bei dem unvermeidlichen Loose, das ihn getroffen, ihm doch nichts sein und nicht helfen konnte; die an Franz, weil sie ihr doch vergeblich dünkten. Die Erinnerungen an ihn trug sie wie Kleinode im Schatzkästlein ihres Herzens verschlossen – aber sie scheute sich, den Deckel zu lüften und die gefährlichen Geister zu befreien; galt es doch vor Allem, die ganze alte Thatkraft und Festigkeit und sich selber wieder zu finden.

Sie blieb auch ungestört in ihrem Versteck und wagte es allmählich, sich in dem nahen Walde zu ergehen eine schöne sonnige Halde mit einem mächtigen wilden Apfelbaume war ihr bald ein Lieblingsplätzchen geworden, zu dem sie fast täglich lustwandelte, [463] um, mit einer leichten Arbeit beschäftigt, sich des sie umgebenden Friedens und der schönen Aussicht zu freuen, die sich von dort in die lieben Berge aufthat.

Aber – so ganz genau mußte es der neue Einsiedel mit dem Versprechen doch nicht genommen haben, denn als sie eines Abends wieder unter dem Apfelbaume saß, rauschte es im Walde von eiligen Schritten und mit einem Ausruf freudigen Schreckens sprang sie empor, als sie den Kommenden gewahrte. Es war Falkner. Ihr erster Gedanke war zu entfliehen, aber sie vermochte es nicht, denn die Ueberraschung hatte ihr alle Kraft benommen und im nächsten Augenblick stand Franz schon neben ihr, hatte ihre Hand ergriffen und sah ihr mit den ernsten männlichen Augen so recht innig bittend in’s Gesicht.

„Sie sind’s, Herr Falkner,“ flüsterte sie, „das ist nicht recht von Ihnen – Sie hätten nicht zu mir kommen sollen …“

„Nicht so, Juli,“ entgegnete Franz herzlich, „Du fühlst gewiß mit mir, daß es zwischen uns nicht so bleiben kann – daß ich kommen mußte. Ich wäre schon lange gekommen, wenn ich Deinen Aufenthalt gekannt hätte …“

„Was wollen Sie noch bei mir?“ fragte sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Sie wissen ja doch, daß es aus ist mit uns – daß es aus sein muß …“

„Ich weiß das nicht, Juli, und vermag auch nicht es einzusehen,“ entgegnete er sanft. „Du wirst von dem Widerwillen, dem Verbote Deines Vaters sprechen; das ist es eben, was mich zu Dir führt. Juli – dieser Widerwille ist grundlos, Du weißt es; das Verbot ist kraftlos – Du stehst allein in der Welt und bist Herr über Dich selbst … ich wiederhole meine Werbung: folge mir, Juli – werde mein Weib …“

„Ich kann nicht,“ sagte sie dumpf.

„Du kannst, wenn Du willst. … Sieh, es steht bei mir, das Bergwirthshaus zu erwerben – ich will es, wenn Du Ja sagst … ich führe Dich in Dein väterliches Haus zurück, in Deine Heimath – theures, innig geliebtes Mädchen, sage Ja!“

Sie weinte stärker und schüttelte heftig den Kopf.

„Ich werde den Widerwillen Deines Vaters besiegen, ich bin davon überzeugt,“ fuhr er dringender fort. „Auch er wird anders denken, wenn er wieder kommt …“

Juli blickte auf und hob das thränenüberströmte Gesicht zu ihm empor. „Du bist ein braver Mann,“ sagte sie, mit dem eigenen Herzen kämpfend, „Dein Herz ist wie lauteres Gold – aber ich kann nicht! Du sollst glücklich sein Franz – ein Mann wie Du darf zur Frau nicht die Tochter eines Zuchthäuslers haben …“

„Juli,“ rief er außer sich, „welch ein Wort …“ aber sie hörte ihn nicht; mit einem herzhaften Ruck hatte sie ihm die Hand entwunden und floh die Halde hinab.

Eine herbe Thräne im Auge zerdrückend sah er ihr nach und kehrte, als sie verschwunden war, in den Wald zurück.

Drunten im dichtesten Gebüsch warf sich Juli auf den Boden hin und barg, ihres Schmerzes nicht mehr Herr, das glühende Angesicht im kühlen Moos – drunten sauste wieder ein Bahnzug vorüber und in ihr Schluchzen klang das sehnsüchtige Posthorn herauf und blies die alte Weise:

„… Die Bäume thun ausschlagen –
Mein Schatz, ich will dich fragen:
Wann soll die Hochzeit sein?“




4. Der Beißwurm.

Schwer und brütend lag die Mittagsschwüle über dem Garten; auf dem breiten Rasenstück, das nach französischem Muster in der Mitte angebracht war, umdrängte reiches schwellendes Grün die graue Steineinfassung des Springbrunnens, als ob es Kühle und Anfeuchtung von der steigenden Wassersäule suche, die auf dem Gipfel sich überbeugend einen Regenschauer blitzender Tropfen und feuchter Funken von sich sprühte. Rings am Wege standen Obstbäume, die anfänglich niedrig gehalten, seit geraumer Zeit aber der Scheere entwachsen die natürliche Form ihrer Wipfel wiedergefunden hatten und, wie darob erfreut, sich über und über mit Blüthen bedeckten. An den Ecken des Rasens waren Beete mit jenen Frühlingsblumen angebracht, deren Entfaltung meist mit der Obstblüthe zusammentrifft; Hyacinthen streckten die duftigen Dolden empor, Narcisse und Schwertel wiegten sich auf den hohen schlanken Stengeln, während Kränze von Immergrün sich zur Einfassung herumschlangen, oder der Crocus seine goldgelben Kelche in einen Rahmen zusammendrängte. Auf einem der Beete waren verschiedene Arten der Fuchsie zu reichem Farbenspiel zusammengestellt und begannen eben die bunten Glockenhütchen zu entfalten, während ein anderes mit schönen Blattpflanzen zwischen künstlich übereinandergelegten Steinen prangte, aus denen sich das Piedestal einer Urne erhob, von welcher die zartbeblätterten Ranken des Frauenhaars schleierartig niederhingen. Der Geschmack der Anlage trat um so schöner hervor, als über dem ganzen Garten unverkennbar ein sorgfältig wachendes Auge und eine rastlos säubernde Hand waltete und ebensowenig in den Beeten einen wilden Halm aufkommen ließ, als sie auf den blanken feinbekiesten Wegen ein Zweiglein oder abgefallenes Blatt duldete.

Trotz aller Schönheit aber war etwas, was mit der Schwüle drückend auf dem Garten lastete und ihm ein schwermüthiges Ansehen gab; das unter den Bäumen über die Beete oder durch die Wipfel streifende Auge vermochte nirgends weiter zu dringen; keine anstoßende Wiese lockte in’s Freie, keine Zaunspalte ließ die Straße erblicken und verrieth die Nähe von Menschen und ihren Wohnungen; eine hohe Mauer schloß den Raum nackt und kahl an allen vier Seiten ein, denn die an deren Fuß gepflanzten Reben und Spalierbäume stiegen nicht bis zum Rande hinauf, den nur ein hoher dachloser Giebelbau mit stark vergitterten Fenstern übersah, wie ein finsterer, auf einem hohen Posten aufgestellter Wächter.

Es war der Garten des Zuchthauses.

Jetzt kam ein Mann unter den Bäumen hervor, einen Rechen über der Schulter, der den Gärtner kennzeichnen mußte, denn der Anzug that es nicht; sogar die freundliche grüne Schürze fehlte, der Mann war ganz in grobes grauschwarzes Tuch gekleidet, eine gleiche Mütze ohne Schirm saß auf dem kurzgeschorenen silberweißen Haar; selbst ein bekanntes wohlwollendes Auge hätte Mühe gehabt, in der hagern Gestalt, deren Nacken sich unter einer unsichtbaren Last zu beugen begann, den Bergwirth zu erkennen, der vor nicht sehr langer Zeit so aufrecht einhergeschritten war, als wisse er gar nicht, was es heiße, sich zu bücken. Auch die frühere rasche Hastigkeit seiner Bewegung war verschwunden, dagegen hatte die Schärfe der Züge sich noch mehr ausgebildet, und nur in dem Auge, das spähend umherflog, als suche es einen Anlaß, irgend etwas rügen zu können, war ein Funke des Feuers übrig geblieben, das in diesem trotzigen Gemüthe so wild gelodert hatte.

Unbekümmert um die Schwüle nahm er den Rechen herab und zog ihn leicht durch den Rasen; er wollte die Blüthenblätter davon entfernen, die von den Bäumen immer neu herniedergaukelten; dann musterte er die Blumenbeete und kniete an den Felsstücken unter der Urne hin. Kopfschüttelnd betrachtete er die breiten braun überhauchten Blätter des Schönlaubs, an welchem weiße klebrige Schaumtropfen hingen, die er abstreifte und dann eine Gerte zurechtbog, die wie eine Schlinge in den Steinen befestigt war. „Schau’ einmal an,“ rief er mit halblautem höhnischen Lachen vor sich hin, „der Beißwurm ist glücklich durchgerutscht, mit sammt der Wespe, die ich ihm als Köder aufgestellt hatte … daß er dagewesen ist, erkenn’ ich an dem Schleim auf den Blättern, aber er hat sich die Speis’ geholt und die Schlinge hat ihn doch nicht erwischt … es ist halt ein kluges Vieh, thut mir fast leid, daß ich ihm an’s Leben soll … aber der Herr Inspector hat es befohlen, und was der befiehlt, muß ich thun; ich bin ja kein Mensch mehr, der seinen eigenen Willen hat; ich bin ein Auswürfling und auch nicht viel besser, als so ein Vieh …“

Er war so sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, daß er darüber den Genannten nicht bemerkte, der, seine Frau am Arme, in den Garten getreten war und an der Mauer lustwandelte, wo dieselbe eben ihren Schatten auf den Weg breitete. „Da ist er schon wieder,“ sagte innehaltend die Frau, „der Mann ist wirklich unermüdet, sogar jetzt, zur Essenszeit, in der allgemeinen Feierstunde, läßt ihn sein Arbeitsgeist nicht ruhen; mit solcher Sorgfalt und Sauberkeit hat noch Keiner den Garten besorgt … ich muß wirklich darauf denken, ihm ein Zeichen der Zufriedenheit, eine kleine Belohnung zu geben.“

„Ich bitte Dich, das zur Zeit noch zu unterlassen,“ entgegnete der Inspector. „Es ist nun mehr als ein Jahr, daß der Mann sich hier befindet; die Eigenthümlichkeit des Vorfalls, der ihn hierher gebracht, veranlaßte mich, ihn besonders im Auge zu halten; ich bin auch kein Neuling in solchen Beobachtungen, aber ich muß gestehn, daß es bis zur Stunde mir nicht gelang, den eigentlichen [464] Grund seiner Gemüthsart zu erkennen. Ich weiß noch nicht bestimmt zu sagen, ob Güte oder Strenge hier mehr am Platze ist; ein rückhältiges, grimmiges, verbissenes Wesen ist bis jetzt das Einzige, worüber ich mir klar geworden …“

„Auch ich gestehe,“ unterbrach ihn die Frau, „daß ich die Scheu, mit der ich ihn anfangs betrachtete, noch immer nicht ganz überwunden habe. Seine That hat etwas so Wildes und Furchtbares, daß es mich anfangs Wunder nahm, als ich sah, daß Du ihn zur Gartenarbeit bestimmtest …“

„Ich konnte nicht anders, wenn er nicht sofort verloren sein sollte,“ sagte der Inspector. „Er war körperlich im höchsten Grade angegriffen, und die gewöhnliche Arbeit der Sträflinge, die Beschäftigung an der Spule und Kardätsche brachte ihn in eine so aufgereizte Gemüthsstimmung, steigerte sein wildes, störriges Wesen in einem solchen Grade, daß kein anderer Ausweg übrig blieb, sollte nicht sogleich zu den stärksten körperlichen Zwangsmitteln gegriffen werden, die mir überhaupt verhaßt und dennoch von zweifelhaftem Erfolge sind. Da wir keinen Landbau in der Anstalt haben, verfiel ich darauf, ihm eine Beschäftigung zu geben, welche damit doch einige Verwandtschaft hat …“

„Der Erfolg scheint Dir vollkommen Recht zu geben: die Störrigkeit ist ganz verschwunden; soviel ich gewahr werden konnte, ist er unermüdet fleißig, dabei aber immer so ruhig und gelassen, daß ich nicht begreife, wie er zu einem solchen Verbrechen kam …“

„Ich irre kaum, wenn ich dieser Ruhe nicht recht traue!“ erwiderte der Inspector. „Sie kommt mir vor, wie die Rinde über einem Vulcan, unter der es heimlich ohne Unterlaß weiter gährt und kocht. Wäre sie echt, so müßte ihr die Erkenntniß des begangenen Unrechts vorausgegangen sein; dieser aber kommt mir vor, als ob er sogar noch in der Strafe eine Fortsetzung, eine Steigerung des Unrechts erkenne, das ihm zugefügt wurde; wäre sie echt, wiederhole ich, so müßte sie ununterbrochen sein, während hier die scheinbare Gutmüthigkeit und Ruhe mit Zügen von Härte und Bosheit gemischt ist, wie Flammen, die durch eine dichte Rauchwolke lodern … Du magst Dich selbst überzeugen,“ fuhr er fort, indem er sie leise näher führte, daß sie unbemerkt hinter dem Gärtner standen. „Nun, Bergwirth, habt Ihr die Glocke zum Mittagessen überhört?“

Der Sträfling war bei der unerwarteten Anrede aus seiner gebückten Stellung emporgeschnellt, als ob das giftige Thier, nach dem er fahndete; plötzlich auf ihn losgefahren wäre; dunkle Gluth stieg ihm in’s Gesicht bis an die Schläfen unter das weiße Haar, mit sichtlichem Widerstreben und innerem Kampfe griff er langsam nach der Mütze und athmete erleichtert auf, als der Inspector abwinkte.

„Es kann wohl sein, daß ich das Mittagläuten überhört hab’,“ sagte er, indem er den Blick an den Boden heftete, „mich hungert nicht …“

„Gleichwohl ist es Hausordnung,“ entgegnete der Inspector leichthin und doch mit einem Tone, der an Strenge streifte, „das giebt Störungen und Anlaß zu Beschwerden.“

„Ja, ja … ich weiß schon, Herr Inspector,“ rief der Wirth hastig und abermals erröthend entgegen. „Ich weiß schon, in dem Haus muß man Alles thun, was befohlen wird. … Ich hab’ mich nur noch nicht recht daran gewöhnt, aber ich will mir’s merken,“ setzte er mit unverhehlter Bosheit hinzu, „ … in Zukunft will ich mich allemal hungern lassen, wenn ich muß!“

[478] Der Inspector schien die Rede nicht gehört zu haben; mit einem Seitenblick auf seine Frau fragte er den Sträfling nach seiner Beschäftigung.

„Sie wissen ja,“ erwiderte dieser, „Sie haben mir ja selbst befohlen, daß ich den Beißwurm fangen soll, den wir gespürt haben … er war auch schon in der Schlinge und ist doch durchgekommen …“

„Um Gotteswillen,“ rief die erschrockene Frau, „ich setze keinen Fuß mehr in den Garten, wenn sich ein solches Unthier darin befindet!“

„Sei unbesorgt,“ entgegnete der Inspector; „obwohl ich nicht begreife, wie sie hierher versprengt worden sein mag, ist es doch richtig, daß ich gestern an der Urne eine Viper oder Kupfernatter bemerkt habe; die Steine an derselben schienen ihr ein willkommener Schlupfwinkel zu sein, aber der unheimliche Gast wird bald gefangen sein – nicht wahr, Bergwirth?“

„Gewiß,“ erwiderte dieser, „wenn ich ihn aber habe, was soll ich damit anfangen?“

„Wie könnt Ihr fragen? Tödtet ihn; solches Gezücht, das nur um zu schaden dazusein scheint, verdient es nicht anders. Laßt mich bald hören, daß Ihr meinen Befehl vollzogen habt. …“ Er wollte gehen, hielt aber, sich besinnend, ein. „So eben fällt mir ein,“ fuhr er fort, „da Ihr nicht in den Eßsaal kamt, erfuhrt Ihr auch nicht, daß ein Brief an Euch gekommen ist …“

„Ein Brief? Und an mich?“ fuhr der Bergwirth heraus, dem es nicht gelang, eine freudige Ueberraschung vollständig zu beherrschen; augenblicklich hatte er sich jedoch wieder gefaßt und fand den Ton des hämischen Lachens wieder, der ihm eigen war. „Das muß eine Irrung sein!“ sagte er. „Ich wüßte nicht, wer mir zu schreiben hätte und was!“

„Sonderbare Frage – habt Ihr nicht eine Tochter?“

Ueber das Antlitz des Bergwirths ging es wieder, wie ein Windstoß über den See oder über ein reifendes Saatfeld: er wogt darüber hin und im nächsten Augenblick ist seine Spur nicht mehr zu gewahren. Dann lächelte er wieder, wie vorher, als er vom Hunger gesprochen, und ließ die Hand sinken, die er schon nach dem Blatte in der Hand des Inspectors erhoben hatte. „Tochter!“ sagte er. „Ei ja wohl, es ist mir wirklich so, als wenn ich einmal eine Tochter gehabt hätte! Aber die denkt nimmer an den Bergwirth; ich wüßt’ nit, was die mir zu schreiben hätt’ und was sie von mir wollen könnt’ – bin auch gar nicht neugierig darauf …“

„Wie – Ihr werdet doch den Brief Eurer Tochter nehmen und lesen?“ rief der Inspector wie verwundert und wie schreckhaft.

„ … Muß ich?“ fragte der Bergwirth und ließ den Blick finster auf dem Beamten ruhen.

„Ihr müßt keineswegs …“ erwiderte dieser, „ich will Euch den Brief aufbewahren, bis Ihr ihn selber verlangt … Ihr habt Euren freien Willen.“

„Ja, bewahren Sie mir den Brief auf,“ rief der Sträfling hastig, „wenn ich nit muß, will ich nichts davon wissen … es thut [479] mir wohl, wenn’s doch noch etwas giebt, wo ich noch meinen freien Willen haben darf …“

Der Inspector erwiderte nichts mehr; seinen Spaziergang fortsetzend, schritt er an dem Sträfling vorüber, der ihm nachsah, als kämpfe er mit sich selbst, ob er ihn nicht zurückrufen solle, dann aber mit raschem Griffe seinen Rechen aufnahm, um einen Baumzweig anzuharken und niederzuziehen, an welchem das weiße Wollgespinnst eines Raupennestes sichtbar war.

„Was sagst Du nun?“ sagte der Inspector im Fortschreiten zu seiner Frau. „Habe ich nicht Recht? Du hast aus seinen Reden zur Genüge entnehmen können, daß er nur die Beschränkung seines Hochmuths, das Beugen seines Eigenwillens als eine Strafe fühlt – das Müssen allein ist es, was ihn drückt!“

„Das ist traurig!“ erwiderte die Frau. „Mir ward unheimlich bei diesem Menschen, und ich werde mich hüten, ihm wieder zu begegnen! Ein Glück, daß der Schreckliche unschädlich gemacht ist; wer weiß, welches Unheil der noch anzurichten im Stande wäre!“

„Das befürchte ich nun weniger; ich glaube vielmehr, jetzt, nachdem er gesehn und gefühlt, was ihn zu zwingen vermag – Gesetz und Recht – wird er sich hüten, wieder damit in feindliche Berührung zu kommen.“

„Und welche Bitterkeit in seinem Tone,“ rief die Frau, „als er von seiner Tochter sprach! Welcher Haß aus seinen Augen flammte, als er den Brief zurückwies – was hat ihm das Mädchen gethan?“

„Nichts, das ich wüßte – ich kenne sie nicht. Es kamen schon einige Male Briefe von ihr, die er immer annahm; aber jetzt muß ich zweifeln, ob er demungeachtet einen davon gelesen! Da Alles, was an einen Sträfling kommt, durch meine Hand gehen muß, las ich sie alle – das Mädchen scheint mehr Unterricht erhalten zu haben als ein gewöhnliches Landmädchen. Die Briefe enthielten nichts als einfache, herzliche Versicherungen ihrer Ergebenheit und die Bitte, es sie gleich wissen zu lassen, wenn etwas ihm gebrechen sollte, was sie ihm zu verschaffen im Stande sei … In dem heutigen theilt sie ihm mit, daß ihr gerathen worden, seine Begnadigung nachzusuchen, wozu indeß, wie ich vermuthe, wenig Hoffnung vorhanden sein dürfte …“

„Der Unwürdige verdient keine Gnade!“ rief die Frau. „Ich habe an ihm wieder einmal erfahren, wie sehr der Schein betrügt! Und sieh nur,“ unterbrach sie sich stillstehend, „was beginnt er doch?“ Sie standen eben an der Ecke des Rasen-Vierecks und konnten unter der Baumreihe hinweg auf den Platz mit der Urne sehen; statt der Antwort schritt der Inspector quer über das Grün und kam noch gerade recht, um zu erkennen, daß der Bergwirth die Viper, der er auflauerte, wirklich am Halse hart hinter dem Kopfe gefaßt hielt, daß sie sich wohl schlängeln und winden, aber nicht beißen konnte – die Frau kreischte auf bei dem Anblick und floh eilends dem Hause zu. Eben als der Inspector neben dem Bergwirth angekommen, hatte dieser sich zum Grase niedergebeugt; als er die Hand wieder erhob, war sie leer und das gefangene Thier daraus verschwunden.

„Was habt Ihr gethan?“ rief er dem Ueberraschten zu. „Ihr habt die Viper gefangen und wieder losgelassen?“

Der Bergwirth bewegte die Lippen aber die Rede ward nicht zum lauten Worte. „Leugnet nicht!“ fuhr der zürnende Beamte fort. „Ich habe deutlich gesehen, Ihr hattet das Thier fest gepackt, daß es Euch nicht entkommen konnte. Ihr beugtet Euch nieder. Ihr habt es absichtlich frei gelassen … Warum thatet Ihr das? Warum habt Ihr die Viper nicht getödtet, wie ich befahl?“

Der Wirth stand noch immer schweigend; sein Gemüth bäumte und wand sich auf unter der sittlichen Wucht, mit welcher der Ernst des Beamten auf ihm lastete, wie zuvor die Natter sich in seiner Hand gewunden. „Das Vieh hat mir leid gethan,“ stieß er rauh und kurz hervor, „ich hab’ Mitleid mit ihm gehabt …“

„Mitleid?“ zürnte der Inspector. „Ihr – der eine Schaar schuldloser Menschen dem Tode und der Verstümmelung ausgesetzt, Mitleid mit einem Thiere, das nur zu schaden vermag?“

„Der Beißwurm thut keinem Menschen was,“ grollte der Sträfling, „er beißt nur, wenn man ihn verfolgt … jedes Thier hat etwas, womit es sich wehren kann …“

„Ihr sagt mir nicht die Wahrheit,“ donnerte der Inspector. „So sehr Ihr es zu verbergen sucht, durchschaue ich doch Euer verstocktes Gemüth und sehe klar vor mir, warum Ihr so gehandelt habt! Nicht Mitleid hat Euch bewogen, das Thier frei zu lassen, – aus Bosheit habt Ihr es gethan! Ihr ließt es los, weil es ein schädliches Thier ist, weil Ihr ihm die Möglichkeit, schaden zu können, nicht nehmen wolltet! An einem solchen Charakter war meine bisherige Milde am unrechten Ort. Ihr seid nicht im Stande, die geringste Freiheit, die man Euch läßt, ohne Gefahr für Andere zu gebrauchen; aber noch ist es Zeit, das Versäumte einzuholen. Ihr sollt erfahren, daß ich die Macht und den Willen habe, Euch nachdrücklich in die Lehre zu nehmen! Hieher!“ rief er fortfahrend einem Gerichtsdiener zu, den das laute Gespräch in die Nähe gerufen hatte. „Führen Sie den Sträfling Obernöder in den Spinnsaal … er wird bis alls Weiteres Wolle kardätschen!“

„Herr Inspector,“ rief der Bergwirth, der rasch wie noch nie die Mütze vom Kopf gerissen hatte und sie mit beiden Händen an die Brust gepreßt hielt. Er war todesblaß geworden, die Zähne schlugen ihm aneinander und die Kniee zitterten. „Thun Sie mit mir, was Sie wollen,“ keuchte er, „aber sperren Sie mich nicht in den staubigen Saal … schicken Sie mich nicht zum Spinnen … ich muß zu Grund’ gehn, wenn ich die Luft nicht mehr hab’ und die Sonne …“

„Hinein – zur Arbeit!“ herrschte ihn der Inspector an. „Euer Bitten ist vergebens – Ihr seid jetzt nicht werth, daß Euch die Sonne bescheint!“

„Ist keine Hülfe?“ stammelte der Sträfling mühsam, „– muß ich wirklich …?“

„Ihr müßt! Es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, während der Zeit, für die Ihr mir übergeben seid, zu sorgen, daß dem Beißwurm wenigstens die Giftzähne ausgebrochen werden … Fort mit Euch …“

„Nun, so soll’s auch sein,“ murmelte der Bergwirth knirschend. „Sie haben mich in Ihrer Gewalt. Sie werden wissen, was Sie dürfen … und ich – ich muß!“

Fest und aufrecht ging er mit dem Gerichtsdiener hinweg, ohne auch nur noch einen Blick auf den Garten zu werfen, von dem er scheiden mußte; kopfschüttelnd sah ihm der Inspector nach. „Ein solcher Starrkopf ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief er. „Ich fange an zu zweifeln, ob die Strenge ihn zu brechen vermag … wenn der nicht von innen heraus mürbe wird, geb’ ich ihn verloren!“

Juliens Brief hatte außer dem, was der Inspector erwähnt, nur die Klage enthalten, daß sie, so oft sie auch geschrieben, niemals eine Antwort erhalten, und wie gute Hoffnung sie habe, endlich doch noch mit ihrem Gesuche durchzudringen. Der Sommer war ihr in dem stillen Versteck des Bahnwärterhäuschens dahin gegangen; sie hatte im Herbst die Buchen sich röthen und die Birken vergilben gesehen, und der Schnee, der winterlich um das einsame Hüttchen stürmte, hatte sie hinter den überfrorenen Fenstern gefunden, in kleinster Thätigkeit und engster Umgebung, aber die Umgebung bot dankbare Liebe und die Thätigkeit lohnte sich durch Gedeihen.

Der alte Postillon und seine noch ältere Mutter waren ein Bild zufriedenen Glücks, und wenn Bartel manchmal seine Bahnstrecke begangen und vom Schnee gereinigt hatte und dann in die behagliche warme Stube kam, dann rieb er sich lachend die Hände, sah in der Stube herum, die so hell und blank war wie ein Glasschränkchen, und meinte, daß er nun da sitze wie der Vogel im Hanfsamen und daß er sich getraue, eine Wette darauf einzugehen, daß es im dritten Himmel auch nicht schöner und vergnügter sein könne.

Auch Juli’s Gemüth hatte die Einsamkeit wohlgethan und ihr Ruhe gegeben, deren sie so sehr bedurft; die Begegnung mit Falkner hatte wieder alle Stürme entfesselt und alle Untiefen desselben aufgewühlt; genügt doch ein in’s Wasser geworfener Stein, die glatte Seefläche zu stören; lange, lange breiten sich die Ringe immer weiter und immer schwächer aus, bis sie vollends am Gestade ersterben; dann ist der Stein auf den Grund versunken, er hat aufgehört, eine Last zu sein, und ist zum unsichtbaren Kleinod, zum Geheimniß geworden. – Ueber das Zusammentreffen mit Falkner hatte sie gegen Bartel geschwiegen; sie vermied es überhaupt, von ihm oder von der verlorenen Heimath und Allem, was daran mahnen konnte, zu reden; das Einzige, was sie ein paarmal von ihm erbat, war die Besorgung von Briefen an ihren Vater und die Nachfrage, ob noch immer keine Antwort von ihm eingetroffen. Eines Tages brachte der Bahnwärter statt eines solchen das Gerede heim, der Bergwirth könne das eingesperrte Leben im Zuchthause nicht vertragen und sei krank geworden. Da war ihr Entschluß [480] gefaßt; anstatt den Ablauf der Strafzeit abzuwarten, wollte sie thätig sein, sie so viel als möglich abzukürzen, ihrem Vater die Freiheit und mit ihr die Gesundheit zu einem neuen Leben wieder zu verschaffen. War doch in der ganzen Gegend nach Bartel’s Bericht wieder viel von dem Bergwirth die Rede, und schien es doch, als ob die Ansicht über ihn und seine That umgeschlagen und eine viel mildere geworden. Der so ungewöhnlich rasche Verfall und die Verschleuderung des Bergwirthshauses, das früher eine Perle der Umgegend und eine Goldgrube gewesen, die Verurtheilung des Eigenthümers, der, wenn auch mitunter ein „harter Hund“, doch immer als ein ehrlicher und angesehener Mann gegolten, das Verschwinden der Tochter hatten allmählich den anfänglichen Unwillen in Bedauern umgewandelt. Man hörte vielfach sagen, der Bergwirth müsse, wie er das gethan, völlig irr’ und auseinander gewesen sein und er hätte vielleicht ganz anderswohin gehört, als wo er sich jetzt befinde.

Der Postillon sah es wohl lang’ voraus, daß es so kommen werde; als ihm aber Juli ihre Absicht, seine Einsiedelei zu verlassen, mittheilte, war es ihm doch bang’ und weh um’s Herz, beinahe wie damals, als es mit dem Postreiter zu Ende gegangen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er leben und wie es im Hause werden solle, wenn Juli nicht mehr darin weile und walte, und es war nur ein schwacher Trost, daß sie mit Hand und Mund versprach, sie werde die freundliche Zuflucht, die er ihr gewährt, nie vergessen und wolle wieder zu ihm kommen, wenn ihr Vorhaben nicht gelänge oder ihr sonst ein Unheil in die Quere komme. Er war ihr behülflich, die letzten Reste ihres früheren Wohlstandes zu Gelde zu machen, dessen sie vor Allem bedurfte, und drang ihr sogar einen Theil seiner kleinen Ersparnisse als Nothpfennig auf; es gehöre ihr so gut wie ihm, sagte er, denn wenn sie nicht gewesen wäre, würde es mit der Ersparniß schlimm ausgesehen haben.

Gleich die ersten Gänge und Erkundigungen bei den äußeren Gerichten hatten Juli überzeugt und belehrt, daß das, was sie wollte, nur in der Hauptstadt zu erreichen war; kein anderer Mund als der des Königs selbst vermochte das befreiende Wort auszusprechen. Sie wollte zu ihm, wollte ihm selbst Alles sagen, was sie auf dem Herzen hatte und wie es ihr auf der Zunge saß; aber sie erkannte nur zu bald, daß dies das Allerschwerste war, obwohl der König als sehr leutselig und zugänglich gepriesen ward. Wohl ward sie im Vorzimmer des Herrschers mit aller Artigkeit und allen Zeichen liebenswürdiger Theilnahme angehört, aber ihr auch alle Hoffnung benommen, ihre Bitte mündlich vortragen zu können. Der König sei zu sehr überhäuft, wurde ihr bedeutet; auch betreffe das eine Angelegenheit, die in das Bereich des Justizministers gehöre, in welches die Majestät nicht eingreife, ohne ihn gehört zu haben; sie solle nur ihr Gesuch schriftlich übergeben und sicher sein, daß der König es zu Handen bekomme, und sie werde dann schon Bescheid erhalten.

Mit schwerem Herzen folgte sie der Weisung und wartete auf den versprochenen Bescheid; aber Tag um Tag, Woche um Woche verging, ohne daß derselbe erschien. Schon wollte sie sich wieder auf den Weg machen nach München, als sich die Kunde verbreitete, der König, ein Freund des edlen Waidwerks, werde demnächst in einer benachbarten Gegend ein großes Jagen abhalten und mehrere Tage in einem kleinen Berghause verweilen, das er sich zu diesem Ende erbaut. Schon der nächste Abend fand Juli in dem bezeichneten engen Bergthale, und sie war zur rechten Stunde gekommen, denn kurze Zeit nachher ertönten die Jagdhörner und der König erschien, seine Jägercavalcade um und hinter sich – ein stattlicher Zug, denn die kurzen dunkelgrünen Sammtröcke, in welche er sich und seine Begleiter gern gekleidet sah, die breiten Hüte mit den wehenden Federn, die hoch über’s Knie hinaufreichenden grauen Lederstiefel, die blanken Gürtelkuppeln mit den blitzenden Hirschfängern bildeten einen ebenso einfachen wie schmuckvollen Anzug. Vor dem Jagdhause wurde das erlegte Wild abgeladen, um vom König besichtigt zu werden – vor Allem ein besonders starker und stattlicher Berghirsch, ein Vierzehnender, der angeschossen auf den etwas schroffen und gefährlichen Stand des Königs angerannt gekommen, von ihm aber mit seltener Geistesgegenwart und sicherer Hand gerade im Augenblicke der Gefahr erlegt worden war. Das riesige Thier trug als Königswild einen Kranz von Tannzweigen mit Edelweiß besteckt um das Geweih; mit Wohlgefallen betrachtete der Fürst die edle Jagdbeute und die Hörner bliesen in einer schmetternden Fanfare dem königlichen Schützen Waidmanns Heil, als Juli, deren Anwesenheit von Niemandem beachtet worden, plötzlich vordrängte und, ehe die Jäger es hindern konnten; sich dem König zu Füßen warf. Wohl versuchten sie, die zudringliche Störerin hinwegzubringen, aber der Fürst wehrte ihnen ab. Mit jener herzgewinnenden Güte, die selbst sein früher und rascher Tod von dem edlen Angesichte nicht zu tilgen vermochte, forderte er das Mädchen auf, sein Anliegen vorzubringen.

„Ich bin heute auf mein eigenes Vergnügen bedacht gewesen,“ sagte er lächelnd zu seinen Begleitern, „vielleicht ist es mir vergönnt, auch noch Jemand Anderm eine Freude zu machen …“

Juli erzählte, anfangs schüchtern und verwirrt, bald aber mit aller Einfachheit ihres Wesens, aller Innigkeit ihres Gemüths. Schweigend hörte der Monarch zu; sein Blick ruhte mit mildem Wohlgefallen auf dem hübschen, schmerzlich erregten Angesicht Juli’s und ihren thränenschimmernden Augen, als sie am Schlusse ihrer Bitte noch einmal in die Kniee sank.

„Steh’ auf, Mädchen,“ sagte er dann gütig, „die Sache ist mir nicht fremd, ich habe schon davon gehört. Was ich gehört, war allerdings nicht geeignet, Dein Gesuch zu empfehlen; der Inspector der Strafanstalt hat dem Verurtheilten kein günstiges Zeugniß ausgestellt … aber ich will Dir und meinen eigenen Augen einmal mehr glauben als geschriebenen Berichten. Wer eine so wackere Tochter hat und so sehr von ihr geliebt wird, der kann kein gänzlich verlorener Mensch sein … ich übergebe ihn Dir, mein Kind; um der Tochter willen sei dem Vater verziehen … Herr Graf,“ fuhr er, zu einem seiner Begleiter gewendet, fort, „sorgen Sie, daß es sogleich ausgefertigt werde … das Mädchen mag seinem Vater selber die Freiheit bringen … Nun aber zu unserer Jägermahlzeit!“

Schon der nächste Tag traf Juli vor den hohen Thor- und Einfassungsmauern des Zuchthauses; mit freudig bangem Herzen zog sie die Glocke, der ein scharfer gellender Ton und das Rasseln von Schlüsseln und Riegeln antwortete. Wenige Augenblicke später stand sie vor dem Inspector, der in einem mehr als schmucklosen Canzleizimmer in einem Verschlage arbeitete, der ihn von den Persönlichkeiten schied, mit denen er meistens zu verhandeln hatte. Der Beamte las und staunte; er putzte die Brille und las wieder und legte dann, das Mädchen vom Kopfe his zu den Füßen musternd, den überraschenden königlichen Befehl nicht eben sanft auf sein Pult. „Es ist richtig,“ sagte er dann; „zwar ist das nicht der gewöhnliche Weg für solche Dinge … aber es ist richtig. Meinetwegen – Du mußt es fein angefangen haben, Mädel; derlei kommt nicht oft vor; mir aber geschieht ein Gefallen, wenn ich den widerhaarigen Alten los werde, mit dem doch keine Ehre einzulegen ist. Ich habe Alles mit ihm versucht und Alles vergebens. Bei der Gartenarbeit blieb er verstockt und boshaft, beim Spinnen blieb er es auch! Er that sein Tagwerk wie eine Uhr, die abläuft, so weit sie aufgezogen ist. Er arbeitete für Zwei; aber er hätte sein eigenes Auge nicht aufgehoben, wenn es ihm auf den Boden gefallen wäre. Er sprach kein Wort und sein Gesicht sah immer aus wie ein Gewitterhimmel. Ich wünsche Dir Glück, wie Du mit ihm zurechtkommen wirst! Willst Du den alten Starrkopf gleich mitnehmen?“

Juli seufzte tief auf; ein Schauder hatte sie überrieselt, als sie von den Erlebnissen des Vaters gehört. Sie ahnte, welche Wucht von Leiden über dessen hartem Gemüthe dahin gegangen sein mußte … „Wenn’s erlaubt ist, ja,“ erwiderte sie auf die Frage. „Und ist also der Vater jetzt ganz und wirklich frei?“

[494] „So frei wie der Vogel in der Luft ist jetzt Dein Vater,“ erwiderte der Inspector auf Juli’s Frage. „Wenn er Lust dazu hat, kann er morgen wieder eine Eisenbahn entgleisen machen!“

„Um Gotteswillen, Herr, sagen Sie so ’was nit!“ rief Juli entsetzt.

„Warum? Wie willst Du ’s verhindern, Mädchen? Du traust Dir wie mir scheint, einen großen Einfluß zu, von dem ich nichts wahrgenommen habe … Du bist doch seine Tochter? Und sonst hat er keine? Nun,“ fuhr er fort, als Juli traurig den Kopf schüttelte, „dann wirst Du bald erfahren, wie wenig ihm an Dir gelegen ist. Er hat Deine Briefe gar nicht gelesen und zuletzt nicht einmal mehr angenommen!“

„Nicht einmal gelesen!“ seufzte Juli. „O weh, dann ist’s freilich noch viel schlimmer, als ich mir eingebildet habe!“

„Das glaube ich auch. Du kannst Dich aber gleich selbst überzeugen; ich werde ihn rufen lassen. Tritt bei Seite! Hier in dem Verschlag kannst Du Alles sehen und hören, ohne daß er Dich gewahrt.“

Juli wankte hinter die Bretterwand. Es war ihr willkommen, nicht gleich dem ersten Blick des Vaters zu begegnen; sie fürchtete eine zu große Erschütterung für ihn und fühlte, daß sie selbst der Fassung bedurfte, um nicht von dem Gewichte der Begegnung zu Boden gedrückt zu werden. Es währte nicht lange, bis Schritte näher kamen, die Thür aufging und begleitet von einem bewaffneten Gerichtsdiener ein Mann mit schneeweißen Haaren eintrat, die grell von dem dunkeln Züchtlingswande abstachen, das er trug. Trotz der Entstellung, die der verhaltene Grimm und Gram und der Aufenthalt im Strafhause an Gestalt und Zügen hervorgebracht, erkannte sie ihn augenblicklich. Sie mußte die Zähne zusammenklemmen, um nicht laut aufzuschreien vor Entsetzen und Schmerz.

Der Bergwirth blieb an der Thür stehen; zu Boden starrend, wartete er unbeweglich des Kommenden, während der Inspector dem Diener einen Wink gab, sich zu entfernen. „Ich habe Euch etwas Neues zu eröffnen,“ sagte er, „und noch dazu etwas Gutes! Ihr werdet nicht mehr in die Spinnstube zurückkehren …“

„So darf ich wieder in den Garten?“ rief der Alte und sein Auge blitzte auf.

„Mehr als das; Ihr könnt Euch von nun an eine Beschäftigung wählen, welche Ihr wollt und wo Ihr wollt. … Mit Einem Wort: Ihr seid frei!“

„Frei …“ schrie der Bergwirth auf und seine Brust rang und arbeitete, als wäre plötzlich eine schwere Last auf dieselbe gestürzt, die sie zu zermalmen drohte. Er zitterte, und es war einen Augenblick, als wolle er dem Beamten zu Füßen stürzen und seine Hand erfassen, aber auch diesmal verließ der starre Sinn ihn nicht; er gewann es über sich, die Freude zu bemeistern, das gewohnte hämische Lächeln ging über sein Gesicht und mit gleichgültigem Achselzucken sagte er gelassen: „Frei also? Meinetwegen – es ist doch Alles Eins, zu Grund’ gerichtet bin ich doch. Was liegt daran, ob ich hier verschmachten muß oder draußen als Bettler hinterm Zaun sterben darf?“

„Undankbarer, unverbesserlicher Mensch!“ brauste der Inspector auf. „Ihr freut Euch nicht einmal? Ihr nehmt die außerordentliche Gnade, die Euch zu Theil wird, so hin wie Etwas, das sich von selbst versteht? Ihr fragt nicht einmal, wem Ihr sie verdankt? Wäre es nach meinem Sinne gegangen, keine Secunde an Eurer gerechten Strafe wäre Euch erlassen worden, und Ihr seid nicht einmal begierig, zu erfahren, wer Fürbitte für Euch gethan?“

„Ist’s möglich?“ fragte der Alte wie zuvor. „Fürbitte für mich? Ei, wer sollte das gethan haben?“

„… Vater …“ rief Juli, die sich nicht mehr zu halten vermochte und aus ihrem Verstecke hervorstürzend sich ihm an die Brust warf; aber so heiß ihre Thränen darauf niederströmten, sie vermochten nicht die Eiskruste aufzuthauen, die der Groll darüber gezogen. Wohl war er bei Juli’s Anblick und dem Tone ihrer Stimme zusammengezuckt, aber bald drängte und schob er sie rauh und hastig von sich. „Schau,“ rief er, „so viel Müh’ hat sich die Jungfer um mich gegeben? Hat sie doch noch an den Bergwirth gedacht! Kann mir aber schon einbilden, warum das geschehen ist. Die Jungfer meint wohl, ein Gefallen wär’ den andern werth? Aber da hat sie wirklich die Rechnung ohne den Wirth gemacht … auf die Weis’, wie sie will, kann ich mich nit bedanken …“

„Vater,“ schluchzte Juli, „was hab’ ich Euch denn gethan, daß Ihr so bitter hart mit mir umgeht? Ihr habt mir das Messer in’s Herz gestoßen – müßt Ihr mir’s auch noch umkehren im Herzen … ich verlang’ ja nichts, gar nichts von Euch!“

„So? Freilich, freilich! Hätt’ mirs denken können! Du hast mich nit gebraucht, es hat sich Alles machen lassen ohne mich! Hast mir’s ja deutlich genug gesagt, daß Du nichts wissen willst vom Bergwirth!“

„Das hab’ ich gesagt und bleib’ dabei,“ entgegnete Juli, sich etwas sammelnd, „der Bergwirth bleibt in dem Haus zurück, aber den Vater möcht’ ich hinausführen, der mich einmal so gern gehabt hat – bei dem möcht’ ich bleiben und will ich bleiben mein Leben lang und will mit ihm gehn, wohin er will – fort, wo uns Niemand kennt, in ein anderes Land … ich werd’ überall Arbeit finden und Brod für uns Beide!“

Der Bergwirth lachte auf. „In ein andres Land?“ rief er. „Warum so viele Umständ’ mit einem alten … Die paar Jahrl’n, die ’s mir etwa noch leidet, die werden so auch hinüber gehn! Wenn’s also nit anders ist, dann bedank’ ich mich halt recht schön für die Bemühung und für die Fürbitt’ – und so Grüß Gott und B’hüt Gott gleich mit einander, es wird am besten sein, wir gehn gleich an der Thür auseinander! … Wann darf ich fort?“ fragte er gegen den Inspector gewendet.

„Jeden Augenblick!“ erwiderte dieser. „Ich halte Euch gewiß nicht auf, vollends nicht nach dieser Unterredung! Soll das wirklich Euer Abschied von Eurer Tochter sein?“

„Ja, Herr Inspector … wenn ich frei bin, werd’ ich wohl auch meinen freien Willen wieder haben … nicht wahr?“

Der Beamte wandte sich unwillig ab, Juli trat zu ihm. Die Unbeugsamkeit des Vaters war nicht ohne Eindruck auf sie geblieben, und so weich gestimmt sie vorher gewesen, so regte sich doch auch in ihr etwas von des Vaters Blut. „Reden Sie ihm nicht mehr zu, Herr,“ sagte sie gelassen, aber mit bebender Stimme, „der Vater soll seinen eigenen Willen haben – ich werd’ ihm nicht mehr dawider sein! Ich hab’ mir freilich gedacht, es sollt’ anders kommen, wir sollten bei einander bleiben … er hat es ja selber gesagt, wie fest wir zusammengehören; in einer schweren Stunde hat er das gesagt, aber er will’s anders haben und ich … ich will ihm nit zur Last sein. … Vielleicht,“ fuhr sie fort, und das Zittern ihrer Stimme wurde hörbarer, „vielleicht sind Sie so gut, Herr … und sagen ihm, was er von mir nit hören mag. … Ich hab’ gedacht, wenn er aus dem Haus da kommt, wird er ein andres Gewand brauchen, und hab’ eines mitgebracht. … Und Geld wird er auch haben müssen; da ist, was ich hab’ zusammenbringen können – es ist nicht viel, aber für’s Erste wird es wohl langen …“

„Nun – rührt Euch auch das nicht?“ rief der Beamte mit schimmernden Augen, während Juli ein Päckchen vor ihm niederlegte. Was in dem Alten vorging, war nicht zu erkennen, er stand abgewendet, aber er war rasch hinzugetreten und griff nach dem Päckchen, während Juli, das Tuch vor’s Gesicht pressend, der Thür zuwankte.

An derselben hielt sie inne.

„Da hab’ ich noch was vergessen,“ sagte sie, „der Vater hat immer gern Tabak geraucht – die Pfeif’ mit dem Hirschkopf im Ulmen-Maser, die ihm die liebere war – ich hab’ sie mitgenommen, wie ich fort bin aus dem Bergwirthshaus, und habe sie mitgebracht …“

Sie legte die Pfeife auf den Tisch und schritt wieder der Thür zu, aber sie kam nicht dahin – der Bergwirth stand ihr im Weg. Das harte Gemüth des Mannes hatte die größten Opfer und Beweise von Liebe kalt hingenommen – die kleine Aufmerksamkeit [495] auf eine lange nicht mehr befriedigte Lieblingsneigung erschütterte ihn. Er trat Juli in den Weg und streckte ihr beide Hände entgegen. „Du bist gut,“ sagte er mild, während sie laut aufschluchzend ihm an die Brust sank; „Du bist doch meine Juli … mein Mädel, auf das ich alleweil stolz gewesen bin … mein liebes Kind! … Weine nicht … ich seh’s ja ein, daß Du ’s gut mit mir meinst, und will Alles thun, was Du verlangst – ich geh’ mit Dir, wohin Du mich führst … nur Eins,“ fuhr er fort, da Juli nicht zu sprechen vermochte, „Eins beding’ ich mir aus …“

„Alles, Vater – Alles!“

„Eh’ ich aus dem Land geh’ – muß ich das Bergwirthshaus noch einmal sehen …“

„Warum, Vater?“ rief Juli erschrocken. „Was soll das helfen? Das wird Euch nur schmerzen – thut’s lieber nit!“

„Nein, red’ mir nichts dawider ... das hab’ ich mir lang’ vorgenommen, in meiner größten Betrübniß hab’ ich mich auf den Augenblick gefreut ... und wenn’s mir die Brust zersprengen thät vor Herzleid, ich muß hin – von dort führe mich, wohin Du willst; von dort an gehör’ ich Dein!“

Seufzend ergab sie sich in das Unvermeidliche; als der Abend dunkelte, verließen sie das unheimliche Gebäude, die nächste Morgenfrühe traf sie schon auf der Wanderung in die Heimath; sie wäre in wenig Stunden zu erreichen gewesen, aber der Bergwirth wollte der Eisenbahn nicht nahe kommen, und Juli vermied es, ihn zu bereden. Der Tag neigte sich zum Ende, als sie den Fuß des Westerbergs erreichten; demungeachtet bestand der Bergwirth darauf, ihn noch zu ersteigen. Vergebens bat Juli, den Morgen abzuwarten und die Nacht beim Postbartel in seiner traulichen Bahnwärterklause zu verbringen, vergebens erzählte sie, wie freundlich er sich ihrer angenommen und also gewiß auch ihn willkommen heißen werde; mit gewohnter Hartnäckigkeit blieb er bei der Weigerung, sich vor dem Gange, den er sich nun einmal vorgenommen, vor irgend einem Bekannten zu zeigen; er befahl ihr, bei dem Bahnwärter zu bleiben und ihn zu erwarten, noch vor Einbruch der Nacht werde er sicher zurückkommen.

Es war eine wilde trotzige Lust an eigener Qual, was den Bergwirth so unwiderstehlich noch einmal an den Schauplatz eines verlorenen Lebens trieb; er wollte sich vollsaugen am alten Grimm, seine ganze Seele noch einmal mit allem Haß, mit all der Bitterkeit erfüllen, die das Geschehene in ihm hervorgerufen. Es that ihm wohl, als er die unverkennbare Verödung der schönen kunstvollen Bergstraße gewahrte, an deren Rändern weit herein hohe Farrenkräuter wucherten und der Huflattich seine mächtigen wollgefütterten Blätter üppig wie über ein erobertes Gebiet ausbreitete. Dennoch war ihm eigenthümlich und nicht wie sonst zu Muthe; er konnte die frühere Heftigkeit des Empfindens nicht wieder hervorrufen, er vermißte den alten starren Halt in sich – durch die Versöhnung mit Juli war die Rinde seines Herzens gesprengt, das Eis bröckelte und schmolz vom Anhauch des neuen Gefühls, das wie ein warmer Quell unter ihm aufgegangen. Ungewiß, einem Träumenden ähnlich, erreichte er die Höhe und stand betroffen still. Er hatte davon gehört, wie der reiche Viehhändler sein schönes Heim erstanden; wie er in der Absicht, es so bald als möglich wieder loszuschlagen, keine Kosten daran wende, sondern Alles verkommen lasse; er hatte daher erwartet, eine halbe Ruine zu finden, überall von den Spuren des beginnenden Verfalls gezeichnet – statt dessen blinkte ihm das Haus stattlicher als jemals entgegen, mit frisch getünchten Mauern, neu angestrichenen Thüren und Fensterstöcken, in denen helle Scheiben funkelten. Die Bäume blühten und grünten; der Hof zwischen Haus und Scheune war wie gekehrt, und fröhliches Gebrüll aus den Ställen verkündete reichlichen Viehstand.

Der Wanderer stand eine Weile wie betäubt; es wandelte ihn gleich einer Ohnmacht an, daß er, um nicht umzusinken, sich auf den Brunnentrog setzen mußte. Eine Magd kam heran, Wasser zu schöpfen; er wollte entfliehen, aber die Kniee trugen ihn nicht, er tröstete sich damit, daß er die Kommende nicht kannte, also hoffen durfte, auch von ihr nicht gekannt zu sein.

Er sollte sich bald überzeugen, daß diese Hoffnung ihn keineswegs getäuscht.

„Was ist mit Dir, Alter?“ sagte die Magd und stellte ihren Kübel unter das rauschende Brunnenrohr. „Ist Dir schlecht? Willst einen Trunk Wasser?“

„Nein, nein,“ entgegnete er, „ich bin nur ein bissel weit gegangen und bin das Gehn nicht mehr gewohnt – da hab’ ich mich wohl ein wenig übermüdet … es vergeht schon wieder! Bist Du hier im Dienst? Das Haus sieht ja prächtig aus – hat es doch geheißen, es ginge abwärts mit dem Bergwirthshaus?“

„Hast Du auch davon gehört, Alter?“ sagte die Magd. „Ist schon einmal ’was Wahres dran gewesen, aber bei dem frühern Herrn! Der Narr hat gemeint, es wär’ schon dem Faß der Boden aus, weil wegen der Eisenbahn die Einkehr aufgehört hat. Aber der Neue versteht’s besser! Der hat gesagt: ,wenn es auch kein Wirthshaus mehr ist, so ist es doch ein Bauerngut’, und regiert, daß es eine Freude ist! Er hat eine große Schweizerei eingerichtet und einen Bretterhandel und einen Steinbruch – jetzt ist die Goldgruben wieder da wie zuvor!“

„Wer ist denn der neue Herr?“ fragte der Bergwirth, dem es wieder vor den Augen flimmerte und um die Ohren sauste. „Ist’s denn nicht der dicke Viehhändler, der …“

„Warum nit gar! Der wüste Mensch hat sich gar nimmer verwußt in seinem Uebermuth; ist den ganzen Tag im Land herumkutschirt und hat getrunken und ist im Rausch einmal mit Roß und Wagen in den Straßengraben hineingefallen, daß er das Aufstehn vergessen hat! … Nein, der Hof gehört jetzt einem ganz Andern – dem Herrn Falkner; vielleicht kennst ihn, Alter … er ist Geometer gewesen, wie sie die Eisenbahn gebaut haben …“

„Ja, ja … es ist mir, als wenn ich ihn kennen sollt’,“ murmelte der Alte, indem er aufsprang, als sei der kühle Wasserstrahl neben ihm eine sengende Feuersäule. „Ist er daheim?“

„Nein – er ist im Steinbruch oder in der Dampfsäg’ … kannst ihn aber wohl erwarten, er wird bald heimkommen. Wenn Du ein Anliegen hast, Alter, der hilft Dir gewiß ... der versteht Alles und ist ein Mann wie die gute Stund selber! Was er anpackt, das gerath’ ihm auch, und es fehlt ihm gar nichts als wie eine richtige Frau!“

„Nun – die wird doch nicht schwer zu bekommen sein!“ rief der Bergwirth lauernd und mit grinsendem Lachen.

„Ja, wenn’s nicht einen Haken hätt’!“ lachte die Magd entgegen. „Das pfeifen ja die Spatzen auf dem Dach, daß die schöne Bergwirths-Juli sein Schatz ist, daß er aber sie nit haben kann, weil’s der Vater, der alte Spitzbube, nicht zugiebt … Na, vielleicht geht das auch noch anders, als man denkt,“ fuhr sie fort, indem sie den übervollen Kübel ablaufen ließ und dann auf die Schulter hob. „Es heißt ja, der Alte sei krank und soll nimmer herauskommen dort, wo sie ihn aufzuheben gegeben haben. Es wär’ ein Glück, wenn’s so ging … die Juli hat nichts mehr und darf schon darnach umschau’n, daß sie unter die Hauben kommt … gar so dick sind die Hochzeiter nicht gesät und nit Jeder mag gern einen Zuchthäusler zum Schwiegervater haben … Na, gute Nacht, Alter … geh’ fein nimmer gar zu weit heut’!“

„Ich dank’,“ rief er ihr nach, „ich glaub’, ich werd’s nimmer gar zu weit machen – ich hab’ meinen geweis’ten Weg!“ Wie an dem verhängnißvollen Abende seiner That stürmte er hinweg; wie damals führten Zufall und halbbewußte Absicht ihn nach seinem Lieblingsplätzchen, nach der Niederpoint.

Eine noch größere Enttäuschung wartete dort auf ihn.

Der Wust der Zerstörung war verschwunden; wohl fehlten manche seiner lieben Eichbäume, aber die übrig gebliebenen standen in schönen Gruppen beisammen, als bekäme es ihnen gut, daß sie Raum erhalten, sich auszubreiten. Die Wurzelstöcke waren entfernt, der Hang geebnet, der aufgewühlte Boden abgeglichen – die Natur hatte den an ihr verübten Frevel verziehen und über die Wunden, die ihr geschlagen wurden, wieder ihre hoffnungsgrüne Rasendecke gebreitet, schöner, schwellender, blumenreicher als zuvor.

Der Bergwirth hatte das Gefühl eines Menschen, der den Boden, dem er vertraut, unter sich weichen fühlt.

„Aus! Alles aus!“ murmelte er umherstarrend in wachsender Verwirrung. „Alles weicht von mir, Alles ist gegen mich! Die Welt geht ihren Gang wie zuvor … sie geht über mich hinüber, weil ich mich ihr in den Weg geworfen hab’! … Die Dirn’ hat ganz Recht, wenn sie mich einen Narren nennt … wer mit dem Kopf durch die Wand will, ist nichts Anderes … Und doch! Ich bin kein Narr, denn ich weiß ja, was ich thu … nein, ich bin kein Narr und auch kein Spitzbube … ich hab’ mich nur wehren wollen, wie der Wurm sich gegen den Fuß wehrt, der ihn zertritt! [496] Ja wohl, wie der Wurm! Der Inspector hat ganz Recht gehabt, ich bin einer – ein nichtsnutziger Beißwurm, der nur Schaden anrichten kann, dem’s nit anders gehört, als daß er zertreten wird! … Ich habe so Viele unglücklich gemacht und mit ihnen mich selbst; ich bin meiner Tochter im Weg’, ohne mich könnt’ sie glücklich sein! Ich gehöre nicht herein in die Welt … und ich will auch nicht mehr bleiben, ich will hinaus! Hinaus!“ rief er wieder, und der Ruf ging in einen wilden Schrei über, in welchem Wuth und Freude grausig zusammenklangen; es war eine Art grüßender Erwiderung auf das Rasseln und Schnauben des Dampfwagens, das aus geringer Entfernung hörbar wurde. „Bist Du da?“ schrie er wie außer sich. „Rufe mir nur, ich lasse nicht auf mich warten. ... Da bin ich – da!“ Mit gräßlichem Aufjauchzen flog er den Abhang neben dem Steinbruch hinab, in wenig Augenblicken stand er auf den Schienen und heulte der heranstürmenden Maschine seine Flüche und Verwünschungen entgegen. …

Schon war sie ganz nahe, als plötzlich im letzten entscheidenden Moment ein starker Arm den Wahnsinnigen faßte und bei Seite riß: es war der Falkner’s, der eben aus dem Steinbruch kommend mit eigener Gefahr ihn den Rädern entzog; doch konnte er nicht verhindern, daß der Hebel der Locomotive ihn noch streifte und mit furchtbarem Stoße weithin schleuderte, so daß der Retter mit dem Geretteten zu Falle kam. …

Als der Bergwirth wieder zu sich kam, blickte er verwundert um sich; es war Nacht um ihn her, aber eine Lampe brannte hell genug, um ihn die Umgebung erkennen zu lassen. Er glaubte zu träumen, denn Alles, was er um sich sah, kam ihm bekannt vor, und er irrte nicht, er befand sich in seinem gewohnten Zimmer im Bergwirthshause, und Alles war am nämlichen Orte, Alles in demselben Zustande, wie er es verlassen hatte; die weibliche Gestalt, welche im Schatten neben der Lampe saß, war die seiner Tochter. Einen Augenblick war ihm, als habe er eine schwere Krankheit durchgemacht; als wäre Alles, was er erlebt, nur ein Fiebergebilde gewesen, aus dem er genesend erwacht; die Schmerzen seines schwer verwundeten Körpers brachten ihn aber bald zum vollen Bewußtsein. Mit ihm kehrte die Erinnerung des Geschehenen zurück und eine Ahnung dessen, was er noch nicht wußte, dämmerte ihm auf. Ein Seufzer entwand sich seiner Brust, mit einem Ausruf der Freude von Juli begrüßt, welche herbeieilte und sich sorglich über ihn beugte.

„Wo bin ich denn?“ fragte er schwach.

„Fragt nicht, Vater,“ entgegnete Juli, „Ihr seid in guten Händen und seid bei mir; der Herr Doctor hat gesagt, Ihr sollt vor Allem ganz ruhig sein …“

„Sage mir nur Alles, wie es ist,“ sagte er, „ich kann Alles hören …“ Er machte keine Bewegung und lag mit geschlossenen Augen da, als Juli erzählte, wie Falkner ihn gerettet und in das Bergwirthshaus gebracht, wie sie ihn gesucht und wie er nun in dem alten gewohnten Zimmer ruhig seine Genesung abwarten könne. Er fragte nach Falkner und blickte dem Eintretenden erhellten Angesichts entgegen. „Ich kann Ihnen die Hand nicht geben,“ sagte er mit Anstrengung, „aber reden kann ich noch und kann Ihnen sagen … Sie haben mir das Leben retten wollen – ich danke Ihnen, weil ich nun doch noch Zeit habe, meine Rechnung zu machen. … Ich hab’ Ihnen Unrecht gethan; Sie sind ein Ehrenmann, Herr Falkner … bringen Sie das Bergwirthshaus wieder zu Ehren, und wenn Sie sich nicht daran stoßen, daß sie mich zum Vater hat, geben Sie meinem Mädel Ihren Namen statt des meinigen …“

Ueber den Leidenden hinweg bot Falkner schweigend seine Rechte, in welche Juli die ihre legte und schluchzend das Gesicht in dem Bette barg.

„Wenn Euer Segen dabei ist, Vater …“ rief sie mit erstickter Stimme.

„Der ist dabei! Sei so glücklich, als Du gut und lieb mit mir gewesen bist, da kann es Dir nit fehlen! … Vergiß mich nit ganz und trag’ mir nichts nach in die Ewigkeit …“

„Redet nit so, Vater, Ihr könnt wohl wieder aufkommen …“

„Nein, ich spür’, daß es zu End’ geht mit mir ... es ist auch besser so. … Ich hab’ mich in die neue Welt nit finden können … ich könnt’s wohl auch in Zukunft nit … also siehst Du wohl ein, daß ich fort muß. … Halt’ mich nit,“ rief er stärker als sie seine Hand drückte, während seine Augen unheimlich zu leuchten begannen und sich immer starrer auf die Flamme der Lampe hefteten. „Ich muß hinaus – muß den Beißwurm fangen! Dort ist er, dort in dem finstern Winkel … siehst Du, wie seine Augen glühn … sie werden immer größer – immer feuriger. … Er kommt … er kommt immer näher auf mich zu, immer geschwinder … Ah …“

Mit einem kreischenden Schrei wollte er sich aufrichten … er vermochte es nicht und sank in Betäubung zurück, um nicht wieder aus ihr zu erwachen.

Groß war das Aufsehen, welches das Ende des Bergwirths und seine Todesart in der Gegend verursachte; größer aber noch, als nach einigen Monaten im Bergwirthshause Hochzeit gehalten wurde, und Falkner seine schwergeprüfte Braut auf’s Neue in der alten Heimath einführte. Sie brachte die Zeit bis dahin im Bahnwärterhäuschen bei dem neuen Einsiedel zu, der auf ihren und Falkner’s Wunsch ihr das Ehrengeleit bei dem festlichen Einzug gab.

Mit dem Paare hatte auch das Glück seinen Einzug gehalten; das Bergwirthshaus war vergessen, aber der Berghof blühte und gedieh dauernd, wie im Herzen seiner Bewohner die Liebe heimisch blieb, die Treue und der Friede.

Bei der Hochzeit war kein fröhlicherer Gast, als der Postbartel; sein Hörnlein bekam weidlich zu thun, und Alle meinten, es habe noch nie so schön und hell geklungen, als wie er blies:

Ich will Dir etwas sagen,
     Herzliebstes Bräutelein –
Die Bäume thun ausschlagen
Und lauter Rosen tragen,
     D’raus soll Dein Kränzel sein!