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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 30.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.


In meiner Vaterstadt lebte am Ausgang des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit der französischen Revolution, ein Brüderpaar, dem das seltsamste Geschick widerfahren sollte, welches Brüdern von solcher Art und Gesinnung begegnen kann. Sie waren beide soeben erst zur Mündigkeit herangereift, sie hatten miteinander verschiedene deutsche Universitäten besucht, mehr um ihre allgemeine Bildung zu vollenden, als um fachmäßige Kenntnisse zu erwerben, und waren nun, durch den Tod des Vaters völlig verwaist, im Begriff, die von ihm ererbten Güter anzutreten. Man nannte sie in meiner Vaterstadt nur „die Brüder“ und kannte sie allgemein, denn ihr Reichthum, ihre jugendliche Anmuth und ihre Unzertrennlichkeit machten sie auffallend. Seit ihrer Wiegenzeit hatten sie Alles miteinander getheilt; sie waren von gleicher Größe, und man sah die beiden schlanken Gestalten stets nebeneinander, in gleicher Kleidung, durch die Straßen gehen. Und in ihren ständigen Begleitern, den beiden klügsten und gelehrigsten Windhunden der Stadt, schien sich derselbe Gedanke der Natur zu wiederholen: sie waren sich ebenso gleich und ebenso unzertrennlich, wie ihre Herren. Das Zusammenleben dieser zwei Paare schien für alle Zukunft fest bestimmt zu sein, denn die herrschaftlichen Güter der beiden Brüder lagen Scheide an Scheide, und wie sie schon als Kinder daran gewöhnt waren, auf ihren kleinen „Schweden“ von einem Hof zum anderen hinüberzureiten, so hatten sie auch ihre Hunde gelehrt, Zeitungen und Briefe in der Blechkapsel am Halse hin und her zu tragen. Indessen, ehe die jungen Männer sich entschlossen, aus ihrem ungebundenen Jugendleben sich in die ländliche Arbeitsamkeit zurückzuziehen, waren sie noch einmal in die Stadt gekommen, genossen hier unruhig gesellige Tage und Wochen, und die theilnehmende Neugier der Frauenwelt kam überein, daß der Zweck dieses Aufenthaltes sei, sich nach dem letzten Wunsch ihres Vaters schon jetzt, nach Ablauf der Trauerzeit, zu beweiben.

Diesem ehrwürdigen Wunsche (den die Mehrzahl der jungen Mädchen im Lande mit dem Verstorbenen theilte) stand nur ein seltsames Versprechen entgegen, das die Brüder sich gegenseitig gegeben hatten und das aus ihrer schwärmerischen Liebe zu einander entsprang: keine Verbindung einzugehen, die in irgend einer Weise ihr brüderliches Zusammenleben beeinträchtigen könnte. Sie nahmen dieses Versprechen, in ihrer jugendlichen Unerfahrenheit, im genauesten Sinne; sie begriffen noch nicht, daß irgend eine Macht über sie kommen könne, die der Ueberschwänglichkeit dieser Bruderliebe überlegen sei, und vor Allem hatten sie den Grundsatz aufgestellt, daß Keiner einen Herzensbund schließen dürfe, dem nicht die rückhaltloseste Zustimmung des Anderen gewiß sei. Indessen hatten sie bisher nur die sonderbare Erfahrung gemacht, daß sie sich Beide in dieselben Mädchen verliebten, ein Geschick, über welches sie miteinander lachten und dessen Folge beiderseitige Abkühlung und Erkältung gewesen war. Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich diese kleinen Romane gegenseitig geopfert hatten, machte sie zuversichtlich und erhöhte ihr brüderliches Gefühl, und unter ihren lustigen Cameraden war es eine ausgemachte Sache, daß den Unglücklichen nichts übrig bleiben werde, als in Gemeinschaft zu heirathen.

Gleichwohl waren die Brüder so verschiedene Menschen, wie Kinder desselben Blutes und derselben Erziehung nur immer sein können. Wilhelm, der ältere, blonde, hatte ein so rasches, zufahrendes Temperament, wie das des anderen innerlich und bedächtig war; seine Züge voll Offenheit, seine Geberden beredt, seine blauen Augen die zutraulichsten, die man sehen konnte. Der jüngere, Karl, verrieth durch nichts, daß er jünger war; im Gegentheil, man mußte ihn für den älteren halten. Er war etwa um ein Jahr hinter Wilhelm zurück, sein Gesicht wie sein Charakter um mehrere Jahre gereifter. Seine hellbraunen Augen, mehr nach innen gekehrt, übten eine stillschweigende Macht über den Anderen aus, die dieser fühlte und liebte: denn es war für Wilhelm’s weiblichere Seele ein Genuß, den angebeteten Bruder sich überlegen zu wissen. Er bewunderte ihn. Er war überzeugt, daß ihm keine menschliche Fähigkeit fehle. Seit ihren Knabenjahren hatte er sich gewöhnt, in allen wichtigen Dingen seiner Meinung zu folgen. Er hielt es für des Bruders Vorrecht, sehr viel weiser und demgemäß auch stiller und selbstbewußter zu sein, und für das seine, sich ohne alle Sorge gehen zu lassen und seinen thörichteren Wallungen zu folgen.

Beide waren wohlgestaltet und edle Erscheinungen, aber Wilhelm’s Züge regelmäßiger, schöner. Seine nordisch weiße Haut leuchtete in die Ferne. Er war immer um ein Weniges zierlicher in der Kleidung, als sein jüngerer Bruder. Er liebte es, die Haare noch nach alter Weise zu kräuseln und zu pudern, als der revolutionär gesinnte Karl schon zur vollen Natur zurückgekehrt war, und mit Widerstreben hatte er sich an dessen Beispiel angeschlossen und die Kniestrümpfe mit hohen Stiefeln vertauscht. Seine Handschrift war sauberer, eleganter. Er schien mehr den Mädchen, der Andere mehr den Frauen zu gefallen.

Die letzten Tage des Mai waren herangekommen, ihre Abreise nach den wenig entfernten Gütern stand bevor; man gab sich alle Mühe, ihnen diese Abreise sehr schwer und das Heimweh nach [466] der Stadt sehr lebendig zu machen. Das erste Landhaus vor dem Thor, von einem der reichsten und angesehensten Bürger erbaut, und für jene Zeit ein Ereignis, sollte eingeweiht werden; man lud auch die Bruder ein, das Fest verschönern zu helfen. Mit der sinkenden Sonne fuhr unter vielen anderen Carossen ihr wohlbekannter offener Wagen hinaus, von zwei isabellfarbenen Rossen gezogen; der Kutscher in höchster Gala, die Brüder in ihren schönsten Feierkleidern und in der heitersten Laune. Sie scherzten unterwegs über ihr Verhältniß zu der Tochter des Hauses, die bis vor Kurzem ihre letzte gemeinschaftliche Liebe gewesen war und die sie sich gegenseitig abgetreten hatten. Der Jüngere, Karl, versicherte wiederholt, daß er sie seinem Bruder lassen wolle, und Wilhelm erklärte lachend, er wolle von dieser Großmuth Gebrauch machen und sich noch heute auf’s Neue in sie verlieben. Ueber diesen Neckereien hatten sie das Haus erreicht, das auf’s Festlichste geschmückt und von der neugierigen Vorstadtjugend umstellt war; sie stiegen aus, traten in die saalähnliche Halle, in der soeben Hunderte von bunten Lampen angezündet wurden, und verloren sich bald in der geputzten, auf- und abrauschenden Menge. Während Wilhelm, seinem Vorhaben gemäß, sich sogleich der Tochter des Hauses näherte, trat Karl nach seiner Art in eine der tiefen, mit Guirlanden verhängten Nischen zurück, um die Vertheilung der Räume und die plaudernden Menschen ungestört zu betrachten. Er machte die Bemerkung, daß unter all’ den hochfrisirten, hochgestellten, fächerschwenkenden Mädchengestalten, die ihm im Vorüberschweben ihre lächelnden oder gleichgültigen Züge zeigten, nur eine seine Blicke an sich zog, deren Gesicht er nicht sah, die in einiger Entfernung, in ruhigem Gespräch mit der alten Demoiselle Merling ihm den Rücken zuwandte. Sie trug das einfachste weiße Kleid von der Welt und in ihrem Haar keinen anderen Schmuck, als das blaue Band, das es zusammenhielt; aber ihre zierliche ruhige Gestalt rief eine geheimnißvolle Begierde in ihm hervor, ihr in die Augen zu sehen. Er wettete mit sich selber, daß sie blau seien, und war eben im Begriff, sich davon Ueberzeugung zu verschaffen, als das Mädchen den Arm der alten Dame nahm und sie mit sich hinauszog. Dagegen näherte sich eine sehr lebhafte Gruppe junger Schönen seiner Nische, ohne ihn zu bemerken, und blieb vor den Blumengewinden und Oleanderbäumchen so zusammengedrängt stehen, daß sie ihm den Ausweg versperrte. Ein ganzer Wald von Federn erhob sich im Haarputz dieser drei Fräulein und entzog ihm jede Aussicht in den Saal; ihre Bänder und Schleifen spielten in den verschiedensten Farben. Karl mußte, wohl oder übel, das eifrig geführte Gespräch an sich heranrauschen lassen, er blieb in seiner Ecke stehen und horchte. Die Unterhaltung schien sich um eine Betschwester zu drehen und ihre unzähligen Fehler zu betreffen.

„Ich glaube, sie will sich lächerlich machen,“ sagte die Eine, „und ich wette, sie wird ihren Zweck erreichen.“

Mon dieu, was verlangt man von ihr!“ sagte die Zweite, eine sehr weiße Blondine, in mitleidigem Ton. „Ihre Education ist gerade nicht die feinste gewesen. Sie steht eben überhaupt eine Stufe tiefer.“

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als die Dritte, eine kleine Schwarze, lebhaft einfiel: „Meine Mama meinte, sie gehöre überhaupt nicht hierher. Sie hat ja nicht einmal etwas anzuziehen! In ihrem weißen Sterbekleid und im bloßen Haar sieht sie aus wie ein – Lamm; etwas Schlimmeres will ich nicht sagen.“

Karl horchte eifriger auf.

„Du bist etwas boshaft, Louise,“ fing die Mitleidige wieder an; „was kann die arme Annette dafür, daß ihre Eltern nicht reich sind! Ihr Vater hat eben einmal Bankerott gemacht – und wie man sagt, auf eine sehr curieuse Manier. Man spricht nicht gern davon. Ueberhaupt, die ganze Familie – –“

„Dann sollte sie bescheiden sein,“ fiel die Dritte wieder ein, indem sie ihren Fächer sein Pfauenrad schlagen ließ, „dann sollte sie nicht die kleine Hochmüthige spielen! Aber statt sich lieber gar nicht sehen zu lassen, zeigt sie uns, wo sie kann, daß sie anders ist als wir. Sie hält es für feiner - das weiß ich – wenn sie sich so recht simpel, so recht kindlich kleidet. Sie macht sich über all’ unseren ,Firlefanz’ lustig, wie das Gänschen es nennt. Wißt Ihr, was sie neulich gesagt hat? Ein kleines Gedicht von Goethe zu lesen, sei ihr lieber, als in sechs von unseren modischen Gesellschaften zu gehen; Gott, dieses – Lamm!“

„Sie will sich ridicule machen,“ wiederholte die Erste.

„Viele finden sie reizend!“ sagte die Zweite mit einem sanften, aber vernichtenden Lächeln. „Meine Tante hat einmal von ihr gesagt: ,sie ist zu gut für diese Welt;’ die ganze Gesellschaft lachte. Ich finde, das ist die richtigste Bezeichnung. Das arme Ding! Sie ist eben so gar nicht für die Welt gemacht, sie träumt vor sich hin, sie merkt es nicht einmal, wenn ein Mann sie ansieht.“

„Das ist unmöglich,“ fiel ihr die Dritte in’s Wort, „das ist nichts als die reine Heuchelei. O, ich traue ihr gar nicht. Sie thut, als wenn sie an die Lämmer auf der Weide dächte, und beobachtet dabei Alles! Sie kann einen durch und durch sehen.“

Die Zweite lächelte wieder und öffnete eben die schmalen Lippen, um etwas Neues zu sagen, als einige Musiktöne heranwehten und alle Drei wie elektrisch bewegt die Köpfe hoben und sich in den Saal zurückwandten. Sie hängten ihre Arme ineinander, und ein paar Augenblicke später waren sie aus Karl’s Gesichtskreis entschwunden. Indessen stand er noch eine Weile und regte sich nicht; er wünschte lebhaft, sie möchten noch lange so fortgeredet haben. „Annette heißt sie,“ dachte er und freute sich über den Namen. „Sie muß absonderlich, sie muß reizend sein. Ganz, wie ich sie möchte. Diese drei Grazien ahnen nicht, was sie angerichtet haben!“ Nun besann er sich und lachte über sich selbst, daß er drauf und dran sei, auf das Gerede dieser Lästerschule hin sich in ein Mädchen zu verlieben, dessen Rücken er einmal gesehen hatte. Die Musik, die unterdessen eine Weile präludierte, brach wieder ab und hob dann wieder an. Karl richtete den Kopf aus seinem Nachdenken auf und sah nun, daß die Tanzlust jener Schönen zu früh erwacht war; an dem Clavier ihm gegenüber stand Demoiselle Amalie, die Tochter des Hauses, mit einem Heft in der Hand, und eine andere Dame saß neben ihr, um ihren Gesang auf den Tasten zu begleiten.

In der ganzen Halle war es mittlerweile still geworden; die Gäste standen oder saßen zerstreut umher und schienen alle bereit, andächtig zu horchen. Demoiselle Amalie erröthete ein wenig und begann. Sie sang eine Arie mit italienischem Text, ihre Stimme zitterte von unten bis zu ihrer höchsten Höhe hinauf, dann blieb sie eine Weile oben in der Schwebe, und die himmelnden Augen schienen ihr auf ihrem Fluge zu folgen. Karl hatte diese Arie schon mehr als einmal aus ihrem Munde gehört; es wunderte ihn selbst, wie gleichgültig er ihr heut’ nur ein halbes Ohr lieh. Er meinte, den Klang einer kunstvollen Spieluhr zu hören. Ihre verzückten, hellen, farblosen Augen kamen ihm vor wie zwei sehende Wassertropfen, er verstand nicht mehr, daß sie ihm je etwas bedeutet hatten. Sein Blick glitt bald von ihr ab und blieb auf einmal auf einem blauen Haarbande hängen, das er schon gesehen zu haben meinte. Es gehörte der Dame, die am Clavier saß und spielte, für ihn unsichtbar, durch ihre Noten verdeckt. Nichts als ihr dunkelblondes Haar ragte darüber hervor, einfach zusammengefaßt, in leichten Wellen, die nach hinten flossen. Ihr Gesicht schien vornüber geneigt zu sein, es entzog sich ihm leider ganz. Nach einer Weile erst richtete sich der Kopf ein wenig auf, der Ansatz des Haares ward sichtbar, der sich in kleine, eigenwillige Löckchen löste. Dann verschwand er wieder, die Melodie ward lebhafter, die Clavierbegleitung wuchs zum Fortissimo heran, – und auf einmal erschien die ganze Stirn bis an die Augenbrauen und leuchtete hell herüber. Sie war nach den Schläfen zu sanft gewölbt, zwischen den Brauen sehr nachdenklich und vielleicht auch ein wenig eingesenkt, wenigstens erschien es ihm so; die Farbe aber war so licht und strahlend, daß der Kopf der daneben stehenden Amalie ganz in’s Grau versank. Darunter spannten sich die reizenden Brauen etwas hoch hinauf und führen dann wie dunkle Pfeile auf die Schläfen zu, bis sie sich in einer feinen, zarten Spitze verloren. Karl verfolgte sie mit aufgeregter, fast sehnsüchtiger Neugier, er hob sich auf den Zehen, um auch die Augen zu sehen. Aber in demselben Augenblick versank wieder die ganze Stirn, und statt der blauen Sterne, die er erwartet hatte, schien nur das blaue Band zu ihm herüber.

Dieses neckisch Spiel, das Gespräch von vorhin, der erste Anblick der weißgekleideten, räthselhaften Gestalt, dies Alles hatte das Blut des einsamen Lauschers in eine wunderliche Wallung gebracht; seine Phantasie schlug mit den Flügeln und begann unruhig zu flattern. Die Musik dauerte noch eine Weile fort; er hörte nichts als ein allgemeines Klingen und beschäftigte sich mit dem sonderbaren Spiel, das irgend ein Kobold mit ihm zu verführen schien, um ihm dieses Mädchen auf jede Weise zu zeigen [467] und zu verhüllen. Ihm war, als sähe er sie dennoch schon in ganzer Gestalt, mit allen Gesichtszügen, vor seinem inneren Auge stehen; den feinen sprechenden Blick, längliche Wangen, einen etwas schwermüthigen Mund mit träumerisch aneinander geschmiegten Lippen. Er dachte sie sich unwillkürlich nach seiner eigenen Art. Ihm wurde sehr weich zu Muth; ohne es zu wissen, bewegte er die Lippen und flüsterte den Namen „Annette“ ganz gerührt vor sich hin. Auf einmal schreckten ihn lautes Klatschen und beifallrufende Stimmen auf. Er öffnete die eingedrückten Augen und starrte in den überhellen Raum hinein. Die Gesellschaft hatte sich zum Theil herzugedrängt und schlug die Hände eifrig zusammen; Demoiselle Amalie, mit niedergesenktem Notenblatt, verneigte sich lächelnd unter neuem Erröthen, neben ihr aber stand noch eine zweite Gestalt. Die junge Dame mit dem blauen Band hatte sich erhoben und hielt ihre Augen gerade auf den Träumer in der Nische geheftet. Sie hatte eine ihrer Hände auf das Clavier gelegt, die andere schien noch auf den Tasten zu ruhen, und mit ruhiger Neugier dämmerte ihr ernsthafter Blick zu ihm hinüber.

Bei diesem Anblick faßte ihn eine ganz unerwartete Verwirrung, denn er entdeckte, wie sehr seine Phantasie ihn irre geführt hatte. Das Gesicht, das er sah, war viel zierlicher und kindlicher, als er es sich vorgestellt, die Augen von einem sehr in’s Graue spielenden Blau, groß, aber schüchtern und ohne lebhafte Sprache, der Kopf mehr rund als oval, und die dunkelrothen Lippen von einer durchaus nicht melancholischen Holdseligkeit, vielmehr wie zum Lächeln bestimmt. Auch in der ganzen Gestalt lag ein Ausdruck sanfter Schüchternheit, der sich nirgend festhalten und doch nicht verkennen ließ. Sie schien so wenig dazu geschaffen, die Bosheit der Menschen zu erwecken. Der zierliche Hals, die etwas schmächtigen Arme, das zarte, rundliche Kinn, Alles schien noch an ihr zu knospen. Kaum bemerkte sie, daß seine geöffneten Augen sie anstarrten, als ihr Blick, in einer überaus reizenden Weise sich verschleiernd, seitwärts hinausglitt. Einige der Herren näherten sich ihr, um auch ihr über ihr Spiel etwas Angenehmes zu sagen; sie überhörte es eine Weile, bis sie auf einmal herumfuhr und im Vorbeifliegen ihr Blick sich an den glühenden Augen in der Nische gleichsam vorüberdrängte.

„Hier muß man Sie suchen, Charles!“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme neben ihm, und eine vertrauliche, magere Hand legte sich dem Träumer auf den Arm. „Wo starren Sie hin? Hat Demoiselle Amalie es Ihnen angethan? Sie sind sehr ingeniös, lieber Charles, sich hier im einsamen Hinterhalt aufzustellen.“

Die Demoiselle Merling hatte sich ihm unbemerkt genähert und sah ihm, während sie diese Anmerkung machte, spöttisch klug in’s Gesicht. Das alte Fräulein war in seinen Knabenjahren, nach dem frühen Tod seiner Mutter, als Hausdame an deren Stelle getreten und hatte sich aus jener Zeit die Rechte einer mütterlichen Freundin bewahrt, die sich noch immer zur Familie rechnen durfte. Sie war ein wenig verwachsen, aber ohne daß es sie eigentlich entstellte; ihre grauen, klugen Augen lagen wie in einem Ring von großen und kleinen Falten, die, wenn sie sprach, fast stets in Bewegung waren. Sie trug sehr kleine, aber sehr hohe Schuhe, um ihre allzu winzige Gestalt zu erhöhen. Sie galt, nach den Begriffen jener Zeit, für eine gelehrte Frau, und so viel war unzweifelhaft, daß sie von Allem wußte, was in der Stadt und in weitem Umkreise vorging.

„Tante Merling,“ erwiderte Karl, indem er sie sichtbar aufgeregt anstarrte, „wer ist diese andere junge Demoiselle da? Sie sprachen vorhin mit ihr, Sie kennen sie?“

Die alte Dame lächelte und klopfte mit ihren dünnen Fingern auf seinen Arm. „Also nicht Demoiselle Amalie!“ sagte sie. „Heut’ ist’s eine Andere. Sie sind mir der Rechte, Charles, Sie werden noch ganz und gar Franzose, mit Ihren emancipirten Ideen, Sie Revolutionär, Sie Mann der neuen Zeit’. Immer für das Neue –“

„Ich habe Sie nicht gefragt, Tante Merling, was Sie von mir denken, sondern wer diese junge Dame ist, die eben davongehen will.“

„Soll ich Sie etwa vorstellen?“ sagte die Alte mit ihrer listigsten Miene. „Ich dachte übrigens, Sie kennten unsere kleine Annette schon! Sie ist etwas unscheinbar, aber ein Mädchen comme il faut, lieber Charles, comme il faut. Ihre Mutter war beauté zu meiner Zeit.“

Karl sah wieder hinüber, aber seine aufgeregten Züge waren mittlerweile still geworden. „Sie haben Recht,“ erwiderte er mit scheinbarer Seelenruhe, „sie ist etwas unscheinbar. Aber sie sieht gutmüthig aus, freundlich. Wenn Sie es wünschen, nun ja, so stellen Sie mich ihr vor; ich sollte ihr wohl über ihr Clavierspiel etwas Artiges sagen.“

Die alte Dame betrachtete ihn mit ebenso verwunderten wie prüfenden Augen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er von diesem ihrem Clavierspiel nicht eine Note gehört hatte.

„Sie sind ein recht charmanter Heuchler, lieber Charles, Sie vergessen mir, wen Sie vor sich haben! Uebrigens habe ich die kleine Annette in meine besondere Protection genommen, merken Sie sich das! Ich will Sie vorstellen – Sie Beide. Kommen Sie, mein alter Wilhelm, kommen Sie“ – da dieser eben mit großen Schritten neugierig herantrat – „Sie sollen meine kleine Schwärmerin, die Elevin meiner Seele, kennen lernen und mir dann sagen, ob ich’s mit ihr verfehlt habe.“

Mit diesen etwas pomphaften Worten nahm sie die beiden jungen Männer bei der Hand und führte sie quer über den Saal auf das Mädchen zu, das jetzt in einer der offenen Thüren stand und in’s Nebenzimmer hineinsah. Es war ein drolliges Bild, die kleine, auf ihren hohen Absätzen trippelnde Dame zwischen den schlanken, vornehm jugendlichen Gestalten zu sehen, die in ihren braunen Sammetröcken und goldgestickten Westen hoch über sie emporragten. „Annette!“ rief sie eifrig, und das Mädchen wandte sich herum. Es wird nun endlich Zeit, daß Sie mit meinen ehemaligen Söhnen Bekanntschaft machen; kommen Sie, mon enfant!“ Sie sprudelte die beiderseitigen Namen hervor und nahm dabei Annettens Hand in die ihre, um sie ein Mal über das andere zu streicheln. „Mon dieu, wie sie roth wird!“ sagte sie und lachte mit etwas süßlicher Heiterkeit. „Wir führen sie heut’ zum ersten Mal in die große Welt, man sieht’s ihr an! Und nun denken Sie, mein alter Wilhelm, sie wird heute nicht einmal tanzen, sie hat Kopfweh, das böse Kind. Mon dieu, als ich noch so ein Ding war, da gab’s keine Kopfschmerzen! Da gab es Education, und weiter nichts! Aber die junge Welt von heute – und das Träumen, das Schwärmen, das Gedichtelesen –“

In diesem Augenblick trat Amalie hastig in eine andere Thür und rief ihren Namen, und Demoiselle Merling, eifrig wie immer, nickte ihr zu und rauschte mit ihrer seidenen, grauen Schleppe hinaus.

Annette blieb stehen und sah den schönen blonden Wilhelm, der ihr in seiner raschen Weise näher trat, mit dem arglosen Blick eines Vogels, den Andern mit unsicheren, schüchternen Augen an. Das erste Erröthen war von ihr gewichen, aber eine reizende Unruhe flog von Zeit zu Zeit über ihr Gesicht. Wilhelm fing eilfertig an mit ihr zu reden. Worte flossen ihm wie immer leicht über die Lippen; seine Augen waren voll des liebenswürdigsten Feuers und sagten sehr deutlich, daß er sie reizend finde.

Unterdessen stand Karl in der tiefsten Zerstreuung, in das liebliche Bild vor ihm versunken, da. Es that ihm wohl, daß er ihr nichts zu sagen brauchte, daß Wilhelm sprach. Seine ganze Seele war beschäftigt, die erste falsche Vorstellung seiner Phantasie und diese sichtbar vor ihm lebende Gestalt zu verschmelzen. Er sah wieder auf ihre leuchtende Stirn, hinter der sich die Gedanken durchsichtig zu bewegen schienen, fühlte wieder denselben seltsamen Trieb, der ihm vorhin die ganze Wahlverwandtschaft ihrer Seelen, die träumerische Schwermuth ihrer Lippen vorgemalt hatte, – und ward dann von Neuem durch diesen blühenden, kindlichen Mund enttäuscht, der noch nicht zu ahnen schien, was eine Menschenseele von der andern begehren mag.

Endlich fühlte er die Verpflichtung, auch seinerseits ein Wort zu dem Mädchen zu sagen; aber eben fingen einige Geigen in einem der Nebenzimmer zu spielen an, Wilhelm brach mitten im Satze ab, um zu seiner Tänzerin zu eilen, und die ersten Paare tanzten über die Schwelle herein, gerade auf Karl und Annette zu. Er mußte zurücktreten, um Platz zu machen. Ein Paar über das andere walzte in den Saal, der Raum füllte sich schnell, und er verlor Annette aus den Augen. Nun fiel ihm erst ein, daß er noch gar nicht an eine Tänzerin gedacht hatte. Er stand allein mitten im Saal, wie die Wendesäule in der Rennbahn; bald rauschte ein Rockschooß, bald ein luftiges Kleid gegen seine Kniee. Der Träumer raffte sich auf, schob sich durch die Kette der Tänzer hindurch und fand sich wieder bei den Oleanderbäumen in seiner Nische. Hier leuchtete ihm Annette’s weißes Kleid aus dem Grün entgegen. Sie hatte sich ebenfalls in diese Ecke geflüchtet, kümmerte [468] sich um die Tanzenden nicht und schien in ernsten Gedanken vor sich nieder zu starren.

Seltsam aufgeregt trat er auf sie zu, und in dem Augenblick begegnete ihm das Sonderbare, was er schon in seinen Knabenjahren zuweilen erlebt hatte: er glaubte etwas zu thun, was er ganz ebenso schon einmal gethan. Es war ihm, als habe er sich – er konnte nicht sagen, wo und wann – mit ganz denselben Empfindungen, in derselben langsamen, fast stockenden Bewegung, derselben Gestalt genähert und sie ihn mit denselben eingeschüchterten Augen betrachtet. Ganz verwirrt blieb er stehen und suchte sich erst zu fassen. Das Mädchen bemerkte seine plötzliche Verstörung, oder wie man es nennen will, und mit einer sehr wohltönenden, freundlichen, noch etwas traurigen Stimme fragte es: „Was ist Ihnen? Ich glaube, Sie werden blaß; sind Sie nicht wohl?“

Karl schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin ganz wohl, Mademoiselle,“ sagte er schnell beruhigt und in leichtem Ton. „Es war mir ein Augenblick – – Sie würden lachen, oder mich nicht verstehen, wenn ich Ihnen sagen wollte, was über mich kam.“

„Sagen Sie es mir dennoch,“ erwiderte sie mit einer gewissen verlegenen Heiterkeit. „Ich möchte wissen, ob ich es nicht verstände.“

„Kennen Sie das Gefühl, Mademoiselle, etwas zu erleben, was man schon einmal erlebt zu haben glaubt? ganz ebenso? Sehen Sie, so war mir jetzt, als ich auf Sie zu trat.“

Annette nickte. „Ich habe einmal gelesen,“ sagte sie lächelnd, „aber ich weiß nicht mehr, wo – daß dies Erinnerungen aus der Seelenwanderung seien, aus einem früheren Leben.“

„Das könnte wohl sein,“ entgegnete er überrascht und starrte in ihr kindlich kluges Gesicht. „Wo haben Sie das gelesen? – Es giebt so seltsame Traumzustände, für die man nach irgend einer Erklärung sucht. Mir war in dem Augenblick, als kennte ich Sie schon längst; als müßten auch Sie es wissen, daß ich Sie kenne.“

„So war mir auch,“ fiel sie ihm scherzend in’s Wort; „aber bei mir erklärt es sich besser. Ich habe Sie oft an unserem Hause vorbeireiten sehen –“ und unwillkürlich stieg ihr eine Röthe in die Wangen hinauf. „Die beiden Herren kennt ja Jedermann,“ setzte sie mit hastiger Heiterkeit hinzu. „Und obgleich ich mich nicht erinnere, Sie schon in einem früheren Leben gesehen zu haben, weiß ich doch mehr von Ihnen, als Sie denken; denn Demoiselle Merling spricht alle Tage von Monsieur Wilhelm und Ihnen.“

„So muß ich Ihnen sagen, daß ich auch über Sie schon stark unterrichtet bin – Sie werden es nicht errathen, in welcher Weise! Doch Sie leiden, liebe Mademoiselle. Es ist ein trauriges Schicksal, bei dem ersten Fest, auf dem man Tanzschuhe trägt, mit Kopfweh geplagt zu sein.“

„Nicht so traurig,“ erwiderte sie und schüttelte mit einem überaus reizenden Lächeln ihre kleinen Stirnlocken. „Denn wenn ich Kopfweh habe, bin ich nachdenklich und sogar etwas verständig, und habe gute Gedanken; und wenn ich ganz wohl bin, so hab’ ich nichts als Kindereien im Kopfe. Meine Mutter, die das ganze Haus voll Kinder hat, war zuweilen recht glücklich, wenn ich mit Kopfschmerzen versorgt war; dann hatte sie eine Hausplage weniger und eine recht gesetzte Pflegerin für die Kleinen.“

„Aber eine grausame Mutter, liebe Mademoiselle! – Und doch könnte ich selber fast so abscheulich sein, mir Glück zu wünschen, daß Sie – nachdenklich geworden sind, statt zu tanzen.“

„Warum tanzen Sie nicht?“ fiel sie auf einmal ein und sah ihm ganz befremdet in’s Gesicht.

„Warum sollte ich tanzen? Sehen Sie, ich interessire mich mehr für die Köpfe der Menschen, als für ihre Füße. Der schönste Atlasschuh ersetzt mir nicht einen – liebenswürdigen Mund, mit dem ich mich aussprechen kann. O Mademoiselle! Ich habe vorhin ein Wort über Sie gehört, das mich sehr glücklich gemacht hat. Sie lieben Goethe’s Gedichte. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen dafür die Hand drücke.“

Er hatte eine ihrer zierlichen Hände ergriffen, die eben in einiger Verlegenheit an den Oleanderblättern zupfte, und drückte sie mit jugendlicher, begeisterter Wärme. „Ich bin ein Goethe-Anbeter,“ setzte er hinzu. „Hier zu Lande lacht man über solche Menschen; man hält sie für Schwärmer. Lassen Sie die Menschen lachen, Mademoiselle! Sie haben die Augen, mit denen man Goethe liebt.“

Er sah dabei in ihre bläulichen Sterne hinein, so tief er konnte; sie schienen sich in der That mit Seele, mit Schwärmerei zu füllen. Annette zog ihre sanfte Hand leise zurück und senkte die Wimpern.

„Es ist wahr, ich lese Goethe gern,“ sing sie nach einer Weile etwas leise an, „und am liebsten im Freien. Wenn ich irgendwo im Garten oder im Walde sitzen kann, recht in der Stille, – da liest er sich so gut. Alles fängt an zu klingen und zu singen, und es wird Einem so wohl. Ich habe einen Lieblingsplatz – eine kleine Stunde von hier; Demoiselle Merling und ich, wir wandern mit einander oft hinaus – dahin geh’ ich nie ohne das Büchlein in der Tasche, und doch weiß ich’s fast auswendig.“

Sie stockte auf einmal und erröthete; sie schämte sich, von ihren kleinen Schwärmereien so viel verrathen zu haben. Ihre Finger spielten wieder an den Zweigen. „Sehen Sie, der Tanz ist aus!“ setzte sie plötzlich hinzu und schien ihn verlassen zu wollen.

Karl blieb vor ihr stehen. „Sie sagen da eben von einem Lieblingsplatz, eine kleine Stunde von hier; darf ich fragen, Mademoiselle, ob ich ihn kenne?“

„Nun? – Wie verstehen Sie das?“

„Vor dem Wasserthor etwa?“

Sie nickte.

„Die hohe Straße entlang, an den Windmühlen vorbei, bis der große Wald kommt?“

„Ganz recht.“

„Und dann links ab, zum Vorwerk, das mitten im Walde liegt? Und dort zu der großen Eichengruppe am Saum, von wo man so versteckt in das weite hügelige Land und über den Fluß hinaussieht?“

Annette nickte von Neuem mit den heitersten Augen. „Das ist der Platz. Dort sitz’ ich unter der großen Eiche, welche die schönste ist, und höre zu, wie die Blumen rauschen und die Eichkätzchen spielen, oder lese still für mich hin, oder spiele mit den Vorwerkskindern, während Demoiselle Merling an ihren religiösen Liedern dichtet. Aber woher wissen Sie, daß diese Stelle es ist? Warum sehen Sie so ernst, so nachdenklich in die Ecke?“

Er sah sie an. „Ja, ich bin heute nachdenklich,“ erwiderte er. „Der Mensch wundert sich so oft über nichts, auch über das Seltsamste nicht, und ich wundere mich heute über Alles. Wie kommt es, daß ich diesen Ihren Lieblingsplatz errathen habe und daß es auch der meinige ist? – Nichts hab’ ich davon gewußt. Sehen Sie wohl, daß wir uns schon einmal gekannt haben müssen, daß wir uns auf unserer Seelenwanderung zum zweiten Male begegnen? Jetzt verstehe ich auch,“ fuhr er mit scherzender Miene fort, „warum ich vorhin gleich so betroffen ward, als ich nur erst Ihren Rücken gewahr wurde. Ich wußte ja auf der Stelle, wer Sie seien. Natürlich! – Ich erinnere mich im Augenblick nicht, welcher Mann es war, der sich von einer Frau so wunderbar beherrscht und gefesselt sah, daß er schrieb: ,Wir müssen einmal in einem früheren Leben Mann und Frau gewesen sein; sonst verstehe ich es nicht’ –“

Er verstummte plötzlich, ohne den Satz zu vollenden, von der Beziehung getroffen, die für ihn selbst darin lag. Annette sah auf den Boden. Sie schwiegen Beide eine Weile und suchten nach Worten. Auf einmal trat wieder Demoiselle Merling heran, ließ ihre eingefalteten klugen Augen von Einem zum Andern gehen und sagte mit ihrer Falsett-Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich störe! Denken Sie sich, meine theure Annette, daß einer der Musikanten plötzlich unwohl geworden ist, der Einzige, der was taugt; die Andern sind geradezu abominables. Wir wollen seinen Bruder holen lassen; aber unterdessen –? Da Sie ja doch nicht tanzen, ma chère infante wollen Sie nicht eine Weile mit Ihrem Clavierspiel aushelfen?“

Indem sie das sagte, betrachtete sie Karl von der Seite, was für ein Gesicht er dazu machen würde. Allein er bemerkte es und hielt seine Züge in Ruhe, während er einen Verdruß empfand, der ihm durch die Seele schnitt. Annette verrieth einen Augenblick, wie ungern sie sich dem Gespräch entrissen sah; dann faßte sie sich geschwind, und die holdseligste, natürlichste Freundlichkeit ging über ihre Züge.

„Ich helfe gern, wenn ich kann,“ sagte sie mit ihrer weichen Stimme und ging hinaus an’s Clavier.

Karl sah ihr mit warmen Augen nach, gerührt durch das liebreich Fügsame so einer Mädchenseele. „Sie ist das gutherzigste Kind!“ sagte die alte Dame und rauschte wieder hinaus. Er nickte still vor sich hin.

(Fortsetzung folgt.)
[469]
Auch eine Ehrengabe zum dritten deutschen Bundesschießen.

Scheibenbild.
Originalzeichnung von Moritz von Schwind.

Die großen Tage des dritten deutschen Bundesschießens nahen heran, und noch scheint die bedeutsamste der brennenden Festfragen nicht gelöst zu sein, die Frage von den verschiedenen Scheibengattungen, an denen der deutsche Schütze seine Kunst und Wehrhaftigkeit erproben soll; noch sitzen und schwitzen, noch debattiren und argumentiren Comités und Subcomités in permanenten Berathungen über Feld- und Standscheibe, Schnellfeuer- und Wehrmanns-, über Standindustrie- und Mannesscheibe und wie alle diese geheimnißvollen und vielversprechenden Kunstbezeichnungen lauten. Die Gartenlaube glaubt daher nur einem allgemein gefühlten Bedürfnisse zu begegnen, wenn sie ihrerseits zur Lösung der hochwichtigen Frage beizutragen sucht und dem verehrlichen Festcomité, insonderheit dem viel geplagten Schießausschusse ein von bewährter Künstlerhand gezeichnetes Scheibenbild darbietet. Ob der auf demselben verewigte deutsche Schützenbruder, den offenbar schon die Natur auf die Linke gewiesen hat, die Krone des ersten und obersten Schützenkönigs davontragen wird – scheint der Gartenlaube allerdings noch zu den bestreitbaren Behauptungen zu gehören. – Natürlich wird das Fest selbst in ihren Spalten durch Bild und Wort seine Schilderung finden.



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Protestantische Charakterköpfe.

Erinnerungen aus der letzten Bremer Versammlung.
Bluntschli. – Zittel. – Schellenberg. – Schenkel. – Heinrich Krause. – Holtzendorff. –Baumgarten. – Karl Schwarz.

Vom Protestantentage? Hier in der Gartenlaube? Du hast Recht, lieber Freund, mit dieser verwunderten Frage. Denn es ist lange, lange Zeit her, über zwanzig Jahre, daß das öffentliche Interesse sich auf die Vorgänge innerhalb der Kirchen gar nicht hingewendet hat. Es gab Wichtigeres zu thun – und zu leiden, als die religiösen Anfechtungen und Bestrebungen sind. Man mußte das eigene Haus erst unter Dach haben. So meinten Alle, die nicht der Ansicht waren, religiöse Dinge seien überhaupt ein für allemal aus dem Kreise allgemeiner Bildung verschwunden.

Indessen liegt in den menschlichen Verhältnissen eine unabweisbare Naturnothwendigkeit, die ihre Entwickelungen im Stillen früh beginnt, um dann, wenn die Zeit erfüllt ist, hervorzutreten mit gebieterischen Forderungen. Bei aller Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung hat im Stillen sich eine religiös-volksthümliche Entwickelung zunächst auf dem Boden der deutsch-protestantischen Gemeinden angesponnen, welcher menschlicher Berechnung nach die Zukunft gehört: das ist der deutsche allgemeine Protestantenverein.

Seine Entstehungsgeschichte ist einfach, er verdankt den Anlaß seines Lebens dem römischen Concordate mit Baden. Die Schwarzen hatten zur Blüthezeit der Reaction, wie allbekannt, durch die Angst der Regierenden begünstigt, ein Netz von Concordaten über Süddeutschland ausgebreitet, um so die künftigen Generationen desto gründlicher dem neunzehnten Jahrhundert zu entfremden. Es ist ein vergebliches Beginnen gewesen, der liebe Gott läßt sich sogar von Päpsten und Priestern nicht mehr vorschreiben, welche Wege er seine Völker führen soll, und aus jedem Giftkorn, welches diese säen, keimt eine Gährung, die heilsam wirkt für des Volkes wahres Wohl. So hat die beabsichtigte Fesselung des badischen Volksgeistes durch das Concordat nur das zur Folge gehabt, daß alle Vertreter der wirklichen Volkswohlfahrt sich wie ein Mann gegen das reactionäre Concordatsministerium erhoben und in den Durlacher Conferenzen des Jahres 1860 so laut zu dem Herzen des Fürsten sprachen, daß seitdem in Baden die Freiheit und der gute Wille mit klarer Einsicht und weitschauender Weisheit vereint das Scepter führen.

Dabei war den Männern, die in Durlach zusammentraten, die gewaltige Macht der Vereinigung klar geworden. Warum lag in ganz Deutschland das religiöse Leben so arg darnieder? Warum darf der Ultramontanismus auf der einen Seite und eine geschichtswidrige, reactionäre Orthodoxie auf der anderen das Volk der Reformation irreführen und mißhandeln? Darum, weil der Mittelpunkt fehlt, um den sich alle Die schaaren können, die mit schlichtem, einfachem Gottvertrauen zugleich die Liebe zu ihrem Volke und die Thatkraft heutiger Bildung vereinigen. Das große liberale Bürgerthum, der Kern des Staates, warum ist es nicht zu spüren in der Kirche? Weil es nicht gemeinsam sich ausspricht in religiösen Angelegenheiten, weil ein Organ fehlt, durch das es rede; weil eine lange Zeit schlaffe, gedankenlose Entwöhnung von oben her in kirchlichen Dingen gepflegt worden ist und mit Ueberdruß Tausende an die Kirche denken, in der sie nichts mehr zu erkennen vermögen, als eine Polizeianstalt der Geister.

Die Form der meisten protestantischen Kirchen ist freilich nicht sehr geeignet, dem strebenden und innerlich gesundesten Theile des Volkes jene durchaus nothwendige Einigung zu bieten. Für das allgemeine Verständniß scheint die Kirche nur aus Pastoren und Beamten zu bestehen, die der übrigen Volksmenge die kirchlichen Lehren vorglauben und vorbeten. Fast ganz scheint die Ahnung geschwunden zu sein, daß die Kirche im Grunde von Jesus als eine Volksgemeinschaft gedacht und angelegt ist. Deshalb hat man sich um die Lehren der Kirche nicht viel mehr gekümmert, sie lagen ja ohnedies so fern dem gewöhnlichen Fühlen und Denken, sie galten so sehr als überschwängliche Geheimnisse (oder sollten wenigstens so gelten), daß man es nicht der Mühe für werth hielt, nach ihnen hinzuschauen.

So ist die fast unglaubliche Thatsache möglich geworden, daß eine aller freien Wissenschaft und Bildung grundsätzlich feindselige Orthodoxie oder eine noch ungesundere pietistische Halborthodoxie in den Ministerien und Consistorien, auf den Kathedern der Universitäten, auf den Kanzeln fast ganz Deutschlands zur Herrschaft gelangt ist, die heut’ zu Tage mit grenzenlosem Hochmuthe jeden freisinnigen Theologen aus der Kirche hinauszudrängen sucht und offen die besten Bildungsschätze unseres Volkes verhöhnt.

Diese Art von Kirchenregierung und Pastorenthum wird uns im Kampfe gegen den Jesuitismus nicht schützen. Im Gegentheil, man wird sich, wie es in Baden noch jüngst bei den Parlamentswahlen geschehen, mit dem Jesuitenthum gegen das liberale Bürgerthum verbinden. Viele protestantische Regierungen haben bei aller Orthodoxie mit den Jesuiten seit 1848 geliebäugelt und ihnen die Wege geebnet. Das blendende, schlangenkluge Wort, daß der Altar den Thron schützen müsse, hat auch besseres Wissen oft zum Schweigen gebracht.

Eine nachhaltige Schutzmauer gegen den Ultramontanismus bietet dem Volke nur eine erneuerte Kirche! Nicht Pastorenkirche, sondern Gemeindekirche! Denn Unfreiheit, Geistessclaverei und Herrschsucht lassen sich nicht bekämpfen durch ihres Gleichen, wohl aber durch Freiheit und Gerechtigkeit! Heuchelei sinkt nicht in Staub durch Heuchelei, sondern durch die Begeisterung für Wahrheit!

Der Protestantenverein ist nun der großartige Versuch, das Volk aufzurütteln aus seinem gedankenlosen Schlaf, daß es sehe, wie es um seine eigenthümlichste Eigenschaft, um seine deutsche freie Frömmigkeit gebracht wird. Die Männer, die diesen Verein gründeten, die im Herbste 1863 in Frankfurt zusammentraten, sie trugen alle das Weh im Herzen über den religiösen Verfall Deutschlands, sie haben Ernst gemacht mit dem Eingeständnis;: die Kirche muß anfangen sich zu verneuern aus dem volkstümlichen Geiste der christlichen Freiheit heraus!

Durch den Protestantenverein tritt ein Grundsatz in das kirchliche Leben ein, der noch niemals in demselben vereinigend thätig gewesen ist: nicht der Inhalt des Glaubensbekenntnisses macht zum Christen, sondern der Wille und die Gesinnung. Sind diese letzteren entsprechend dem hohen Bilde Jesu, so ist der Mensch ein Christ, ein vollberechtigtes Mitglied der christlichen Kirche, gleichviel, ob er an die Wundergeschichten der heiligen Schrift glaubt oder nicht, gleichviel, welche Vorstellung er sich von dem Wesen Jesu macht, gleichviel, ob er die Lehren des Mittelalters über Versöhnungstod und stellvertretende Genugthuung annimmt oder nicht. Demnach muß in der Kirche gelten: völlige religiöse Lehrfreiheit, Berechtigung der Gemeinden in allen kirchlichen Angelegenheiten, Anerkennung jedes gewissenhaften sittlich-religiösen Strebens, völlige Vereinsfreiheit, Wetteifer nicht im Verdammen, sondern in den Werken der Liebe. Die Kirche muß werden ein Bündniß aller religiösen Menschen aller Richtungen, die überhaupt Christen sich nennen. Keiner soll in ihr nur geduldet, jeder soll berechtigt sein, der sich zur Kirche bekennt.

Natürlich hat der Protestantenverein eine Fluth von Haß und Verleumdung gegen sich wachgerufen. Generalsuperintendenten wetteifern mit den schmutzigen Winkelblättchen der Pietisten, ihn anzugeifern. Er ist indeß ruhig vorwärts gegangen. Wie er erwuchs aus Baden, hat er zuerst in Süd- und Mitteldeutschland einen fruchtbaren Boden gefunden, dann ist er weitergegangen nach dem Norden. Frankfurt, Eisenach, Neustadt an der Haardt, Bremen bezeichnen die Stationen seiner jungen, kräftigen Wanderung durch Deutschland. Ueberall hat er laut angeklopft an die verschlossenen Thore gleichgültiger deutscher Bürger: macht auf, es beginnt Tag zu werden! Und schon hat sich’s gewaltig geregt, – auch der Krug der herrschenden und verfolgenden Orthodoxie geht so lange zum Wasser, bis er bricht.

Und wer sind die Männer, die aus der Mitte des Vereins als Führer hervorragen?

Gern würden wir zwei Namen an die Spitze stellen, deren Verdienst um die Gründung und Belebung des Vereins unvergeßlich ist, aber sie sind nicht mehr unter den Lebenden: der eine war Häusser, der deutsche Geschichtsschreiber, und der andere R. Rothe, der wundersam innige und tiefe Theolog. Jener hat vom Standpunkte [471] der Geschichte aus dem Protestantenverein bei seiner Gründung 1863 den Pathenbrief ausgestellt, indem er ihn willkommen hieß als den ersten Zeugen davon, daß das liberale Bürgerthum die ungeheure Wichtigkeit der Religion für das Gesammtleben des Volkes zu begreifen beginne. Rothe aber, „der Heilige des Protestantenvereins“, war einer jener seltenen Geister, in denen sich Kindergemüth mit der durchdringendsten, schöpferischsten Denkkraft, hingebende Frömmigkeit mit einer Freiheitsliebe und einer rücksichtslosen Willenskraft vereinigte, die wir sonst nur an den radicalen Vorkämpfern zu sehen gewohnt waren. Mit aufrichtigster Begeisterung hat er den Gedanken eines großen freien Volksvereins zur Erneuerung der evangelischen Kirche erfaßt und ihm die Ruhe seines Alters, den Frieden einer hochgeachteten Stellung geopfert. Denn viele seiner Freunde haben ihn deshalb verlassen, ja gehaßt und geschmäht. Sein Geist lebt im Verein fort, obwohl sein Tod demselben die edelste Führerkraft raubte.

Sollen wir aber die thatsächlichen Führer aufzählen, so gebührt in erster Reihe die Huldigung dem Präsidenten des Vereins, der auch zugleich den Vorsitz an den drei allgemeinen Protestantentagen in Eisenach, Neustadt und Bremen innegehabt hat, dem ersten Staatsrechtslehrer Deutschlands, Dr. Johann Kaspar Bluntschli in Heidelberg. Das ist eine prächtige Natur! Ein stattlicher Mann im Anfang der Sechsziger, mit hoher Stirn und großen Augen, einen überaus freundlichen Zug um den Mund, betritt er die Rednerbühne und indem er nun in freier, sprachgewaltiger Rede die ernsten Gegenstände der Vereinsthätigkeit bespricht, mischt er mit dem ihm eigenen gutmüthigen Humor hie und da ein schlagendes, zündendes, witziges Wort ein, so daß dem Laien mit einem Male klar wird, wie religiöse Dinge ernst und frei in der Weise jeder öffentlichen Discussion besprochen werden können, ohne daß einestheils ein salbungsvoller Kanzelton, noch anderntheils Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit dabei hervortreten. Er redet gerade heraus und sagt in derbem deutschen Laienmund manchmal Dinge, die sonst nur vorsichtig in den Schulausdrücken bezeichnet werden. Da athmet denn jedesmal die Versammlung freudig auf. Bluntschli ist ein zündender Redner, nicht sowohl schwunghaft, als klar und deutlich; in jedem Satze leuchten Geistestiefe und Bildungsreichthum hindurch. So war seine Eröffnungsrede des ersten Protestantentages 1865 in Eisenach ein Meisterstück ergreifender, klarer Darlegung von der Nothwendigkeit einer Vereinigung aller freien religiösen Kräfte. So war seine Schlußrede auf dem dritten Protestantentage in diesem Jahre zu Bremen ein kühner, starker Fehdebrief an alle Dunkelmänner, getragen von dem Bewußtsein, daß die Sache des Vereins die beste und gerechteste ist.

Was ihn so sehr geeignet macht, Präsident einer kirchenpolitischen Versammlung zu sein, ist die durch seinen ganzen Bildungsgang bedingte Vereinigung der staatsmännischen und der theologisch-philosophischen Studien in ihm. Er hat, seitdem er, von den Universitäten heimkehrend, selbst zuerst in seiner Vaterstadt Zürich lehrend auftrat, an allen kirchlichen und politischen Kämpfen der Schweiz thätigen Antheil, zumeist als lenkender Führer, genommen, hat dabei aber nie den theologischen und philosophischen Studien sich entfremdet, sondern in enger Freundschaft mit den bekannten eigenartigen Denkern, den Brüdern Rohmer in Zürich, die großen Räthsel Gottes und der Welt eifrig und rastlos durchforscht. Aus der Mitte der Züricher Regierung und vom Präsidentenstuhle des Großen Rathes rief ihn König Ludwig von Baiern nach München an die Universität, und auch hier alsbald sehen wir Bluntschli in unverhüllter Gegnerschaft gegen die ultramontane Reaction, eine Gegnerschaft, die ihm, wie allen „Fremden“ in der Gelehrtenrepublik Münchens, viele gehässige Angriffe zuzog. Besonders, als sich nun immer mehr herausstellte, daß im politischen Leben Deutschlands die Führerschaft Preußens das einzige Rettungsmittel vor gänzlichem Verfalle sein müsse, wandte sich Bluntschli ohne Rückhalt und mit kühnem Mannesmuthe der national-liberalen Parteibildung zu. Als die politischen Gegensätze in Baiern auf’s Schärfste sich zuspitzten, mußte ihm ein Ruf nach Heidelberg eine willkommene Erlösung aus dem undankbaren Kampfe in München bringen. Seit 1861 ist er nun alsbald auch in dem politischen wie in dem kirchlichen Leben Badens anerkannter Führer geworden. Er präsidirte der badischen ersten Kammer, der badischen evangelischen Generalsynode, dem Juristentage, dem Abgeordnetentage, kurz, die eminente Geistesklarheit, der die Lage stets von Neuem beherrschende Scharfblick, sowie die gutmüthige, milde Art, Persönlichkeiten zu behandeln, machen ihn, der in Freiheitsliebe und Gewissenstreue ein echter Protestant ist, zu einem geborenen Präsidenten großer Versammlungen.

Stellt Bluntschli nun die Einheit von lebendiger Religion und wissenschaftlicher Größe ersten Ranges dar, so tritt uns in dem Heidelberger Dekan Dr. Karl Zittel ein anderer Charakterkopf deutschen Volkslebens entgegen: der freisinnige, protestantische Pfarrer, der unter vielen Leiden und Anfechtungen Stand gehalten hat bei der freien innigen Frömmigkeit, welche er aus der Schule der rationalen Jenenser Theologie in seine seelsorgerische Laufbahn mitgebracht. Es giebt nicht mehr Viele seines Gleichen. Mit ihm haben Tausende einst den großen rationalen Grundsätzen des deutschen Protestantismus sich geweiht, mit ihm haben Tausende in den burschenschaftlichen Idealen für deutsche Einheit und Freiheit geschwärmt, aber wie Viele haben in Amt und Würde dann dem reactionären Eifer Widerstand geleistet? Wie Viele sind den alten guten Grundsätzen treu geblieben und haben für ihre Ideale nicht nur geschwärmt, sondern gelebt? Zittel ist einer von diesen Wenigen, denen zum Grundzuge des Charakters die Treue gegen die Wahrheit geworden ist. So hat er schon als Diakonus von Lörrach in Baden der politischen Sehnsucht des Volkes nach Freiheit und vernünftiger Staatsbildung lebhaften Ausdruck gegeben. Er stand dem Kerne des Volkes und dessen Herzen nahe als Berather und Leiter. Die Regierung suchte ihn durch Strafversetzung unschädlich zu machen, die Antwort des Volkes war, daß man Zittel in die Kammer wählte. Diese Periode seiner politischen Thätigkeit fällt zusammen mit den religiösen Bewegungen der vierziger Jahre. Er war das anerkannte Haupt der kirchlich freien Richtung in Baden; alle Schritte, die in dieser Beziehung geschahen, sind von seinem Einflüsse mitbestimmt worden. Es war schwer in jenem Jahrzehnt, zu klaren, deutlichen Resultaten zu gelangen. Verworren gingen die Ansichten und Hoffnungen durcheinander, eine deutliche Scheidung politischer und religiöser Bestrebungen war unmöglich, Eines hinderte das Andere. Da war auch solch’ klaren Köpfen und warmen Herzen, wie Karl Zittel, unmöglich, Vieles zu erreichen. Aber ganz Deutschland richtete damals seine Augen auf die badische Kammer, wo der Pfarrer Zittel den Antrag stellte auf Gewährung unbedingter Gewissensfreiheit den Freigemeindlern und Deutschkatholiken gegenüber. Es war der Hahnruf eines schöneren Morgens, der im März des Jahres 1848 erst anbrechen sollte. Dieses Jahr sah Zittel unter den Vertretern des badischen Volkes in der Paulskirche zu Frankfurt a. M.; auch als nach Erfurt noch einmal das Parlament berufen wurde, war er dessen Mitglied.

Seit diesem Jahre des Erwachens war Zittel Pfarrer von Heidelberg geworden. Rastlos hat er an dem Volke und für das Volk gearbeitet, als Pfarrer, als Armenpfleger, als Schriftsteller. Nacheinander hat er drei volkstümliche religiöse Blätter gegründet, redigirt und mit bestem Erfolge so dem erfreulichen Umschwunge in der Kirchenleitung Badens vorgearbeitet. Mitglied der Generalsynoden war er drei Mal, nur in der reactionären des Jahres 1855 hat er nicht gesessen. Als der sogenannte „Agendenstreit“ losbrach und die Durlacher Conferenzen den Kampf gegen das römische Concordat eröffneten, stand Zittel natürlich in erster Reihe der Kämpfer. Er ist bei weitem der populärste kirchliche Führer in Baden, denn makellos ist sein ganzer öffentlicher Charakter, ehrlich und treu ist er allenthalben befunden worden. Und diese Ehrlichkeit und hohe sittliche Würde des Mannes sind es auch, die mit aller Wärme des frommen freien Gefühls aus ihm heraussprechen und ihn nicht nur zu einem vortrefflichen Prediger, sondern überhaupt zu einem ergreifenden Redner machen.

Zittel’s jüngerer Genosse und Mitstreiter ist Otto Schellenberg, jetzt Dekan von Mannheim. Auch er nöthigt jedem Achtung ab, auch er ist eine durch unbedingte Wahrheitsliebe, Ueberzeugungstreue und tiefe geistige Bildung ergreifende Persönlichkeit, die, wo immer sie sich zeige, unbedingtes Vertrauen wachruft. Beweis für diese seine Lauterkeit ist das Verhältniß, in welchem er zu seiner großen Gemeinde in Mannheim steht – es wird wenig ähnliche, gleich edle und auf so persönliche Hochachtung gegründete Beispiele von Verehrung einer Gemeinde für ihren Pfarrer geben.

Zittel’s und Schellenberg’s Beredsamkeit wirkt hauptsächlich durch die Charakterklarheit, durch die ruhige energische Ueberzeugungswärme unwiderstehlich. Der größte Redner aber unter den Führern des Vereins ist ohne Zweifel Schenkel. Sie haben in Ihrem Blatte schon im Jahre 1865 ein kurzes Charakterbild [472] dieses hervorragenden, eigenthümlichen Mannes gebracht. Dr. Daniel Schenkel ist eine Quecksilbernatur, er macht den Eindruck, als ob er unter dem Einfluß einer ununterbrochenen Aufregung stände. Aus den kleinen Augen leuchtet hinter der Brille eine stets bereite Elasticität hervor. Jeden Gegenstand erfaßt er mit Lebendigkeit, in Scherz wie in Ernst geht er ein mit einem Feuer, das den Fremden überrascht. So ist auch seine Beredsamkeit stürmisch, fortreißend, er läßt nicht viel Zeit zum Besinnen; seine Schlagworte, seine kurzgefaßten Schlüsse, seine Ironie, mit raschen faßbaren Behauptungen den Gegner angreifend, versetzen den Hörer alsbald dramatisch mitten in den Gegenstand hinein. Er gönnt sich und den Hörern dabei wenig Ruhe, wie er denn auch in seiner amtlichen und gelehrten schriftstellerischen Thätigkeit diese Rastlosigkeit des Arbeitens, diese stets frische Lust, neue Aufgaben zu übernehmen, und diese Zähigkeit, dieselben mit Eifer zu lösen, an den Tag legt. Schenkel’s theologische Vergangenheit gehörte bis zum Jahre 1855 der Richtung einer sogenannten Vermittelungstheologie an, die mit der Orthodoxie den Geist der Verfolgung und Unduldsamkeit gemeinsam hat, und im Banne dieser falschen Richtung ist auch Schenkel zu manchen Schritten verleitet worden, die wenig Heil gebracht haben. Als aber im obengenannten Jahre die orthodoxe Reaction in stolzem Uebermuthe aller Vermittelung den Credit aufkündigte und Stahl die Umkehr der Wissenschaft frivol verlangte, da entschied sich Schenkel mit aller Lebhaftigkeit für die Sache der Freiheit. Sein Buch „Für Bunsen wider Stahl“ bezeichnet den Wendepunkt seiner Parteistellung. Von da an ist er der Feueranzünder geworden in den kirchlichen Bewegungen. In den Durlacher Conferenzen, in der Reformsynode von 1861 erscheint er als der unwiderstehliche Anwalt der Freiheit, seine Kraft als Volksredner, die von ihm mit größtem Erfolge in das praktische Leben eingeführten Forderungen: die Kirche muß Gemeindekirche werden und die Theologie muß vom Gewissen ausgehen, – ferner seine unermüdliche Arbeitsfähigkeit haben den größten Antheil an der Umgestaltung der Landeskirche in Baden, deren neue Verfassung von seinen Gedanken Zeugniß giebt. Auch Schenkel ist, wie sein College Bluntschli, ein Züricher von Geburt; auch er hat gleichzeitig an den politischen und kirchlichen Kämpfen der dreißiger und vierziger Jahre in der Schweiz Theil genommen, auch ihm kommt diese Vereinigung nun in den heutigen kirchenpolitischen Wirren gut zu Statten. Durch sein vielverbreitetes, berühmtes Buch „Charakterbild Jesu“ ist sein Name bei den Orthodoxen und den regierenden Halb-Orthodoxen ein Fluch und ein Gräuel geworden.

Diesen vier Süddeutschen reihen wir die Norddeutschen unter den Führern des Protestantenvereins an. Auch hier haben wir mit einer Todtenklage zu beginnen. In Berlin, dem Heerde der lutherischen Orthodoxie wie der verfolgungsfreudigen Bastardorthodoxie, hat sich mitten unter diesem Graus ein Häuflein guter liberaler Theologen erhalten, geschaart um des großen Schleiermacher’s treueste Schüler Jonas und Sydow. Aus diesem Häuflein, das jahrelangem Drucke nicht gewichen ist, ragte Dr. Heinrich Krause, der Redacteur der Protestantischen Kirchenzeitung, hervor durch seinen treuen Muth, mit dem er nicht abließ vom Kampfe für die Freiheit der Wissenschaft und für die Aufrechthaltung der Union. In denselben Tagen, wo sein Freund, Prediger Lisco, mit sammt der ganzen freisinnigen Theologie von der Friedrichswerder’schen Synode excommunicirt wurde, hat man Krause begraben. Ueber seinem Grabe aber leuchtet der Stern der mannhaften Treue und ehrlichen Wahrheitsliebe fort, der ihn geleitet hat sein Lebenlang. Krause’s Verdienst um den Protestantenverein bestand darin, daß er den Eintritt der preußischen Unionsvereine in den allgemeinen deutschen Protestantenverein ermöglicht hat; leider hat ihn die letzte langwierige Krankheit von thätiger Mitarbeit an den Protestantentagen abgehalten.

Dafür ist aber aus dem Kreise der Berliner Freunde eine hervorragende Gestalt mit an die Spitze des Vereins getreten, die weithin bekannt ist im Volke, ein Mann der Wissenschaft, der aber gleichzeitig ein Herz hat für die großen Fragen der Volkswohlfahrt, dem also der scharfsinnige Blick auch längst des deutschen Volkes kirchliche Noth offenbarte. Das ist Professor Franz von Holtzendorff. Er gilt als einer der Haupturheber des deutschen Juristentages, er ist mit Professor Virchow vereinigt zur Herausgabe der gemeinverständlichen wissenschaftlichen Vorträge, er hat vom juristischen Standpunkte aus die Gefängnißverwaltung der Brüder vom Rauhen Hause angegriffen – und wie klar er kirchliche Fragen zu behandeln weiß, wie beredt seine Darlegung und Beweisführung die Hörer überführen kann, das hat die glänzende Vertheidigung seiner Thesen über die gemischten Ehen auf dem ersten Protestantentage in Eisenach bewiesen. Der dritte Protestantentag in Bremen wählte ihn zu seinem Vicepräsidenten.

Ganz aus anderem Stoffe gebildet ist die hohe Prophetengestalt des Märtyrers von Rostock, Dr. Michael Baumgarten, dessen Lebensgeschichte die belehrendsten Illustrationen darbietet zu dem Heil und Segen, den die Orthodoxie über das Volk und seine besten Männer zu bringen pflegt, wenn es ihr, wie in dem unglückseligen Mecklenburg, gelingt, Jahrzehnte lang die Herrschergeißel zu schwingen. Baumgarten ist ein Holsteiner, ein Bauernsohn aus der Elbmarsch, also eine zähe, kraftvolle, verständige Natur. In ihm glüht aber die mächtige Flamme der frömmsten Begeisterung, genährt am Studium vorzüglich der alttestamentlichen Propheten, aus denen er das Mark seiner Theologie gesogen hat. Wie diese Propheten Volksmänner waren im höchsten Sinne des Wortes und nur in diesem Sinne Gottesmänner, so ist auch in Baumgarten die Liebe zum Volke verwachsen mit seinem religiösen Gefühl. Seiner theologischen Auffassung liegt der Gedanke zu Grunde, daß die Offenbarung Gottes des Volkes wegen da ist, nicht das Volk der Offenbarung wegen, und darum scheut er sich nicht, der Kirche, das heißt den Pastoren und Consistorien, Buße zu predigen, deren Schuld es sei, daß das Volk nichts mehr von der Predigt wissen wolle. Aus dem Munde eines Professors der Theologie diese Bußpredigt zu hören, hat um so größere Bedeutung, wenn dieser Professor, wie es bei Baumgarten der Fall ist, nicht der rationalen Seite der Theologie, sondern der bekenntnißgläubigen Seite angehört. Baumgarten vertritt mit Eifer und Geist den alten Wunderglauben, die Autorität der Bibel, die überlieferte Erlösungslehre, kurz die Hauptmasse der altgläubigen Dogmatik. Alles Das ist aber auf’s Innigste mit seinem ganz eigenthümlich freien und frischen Gemüthsleben verwoben, ist eingegangen in sein Denksystem und hat nicht vermocht, diese selbständige Holstennatur in inneren Widerspruch mit sich zu setzen. Er sagt: „Ich habe das Alles erlebt.“ Und das Gleiche verlangt er von Jedem. Man sieht, der Grund seiner Orthodoxie ist doch der der eigenen Denkarbeit und Gewissensüberzeugung, nicht, wie das System es eigentlich fordert, der Gehorsam unter die alleinseligmachende Kirchenlehre. Darum, weil er in dem Sinne der sonst landläufigen Orthodoxie kein Mann des gesetzlichen Buchstabens, der blinden Unterwerfung ist, kein Reactionär, kein „Conservativer“ nach Stahl’s Schablone, ist er zum Gegenstande der gehässigsten Verfolgung geworden. In Holstein war er zur Zeit des „offenen Briefes“ Christian des Achten ein thatkräftiger Vorkämpfer der nationalen Sache.

In der traurigen Thatsache, daß je nach Laune und Bedürfniß von Seiten der Staatsbehörden die evangelische Kirche als ein Zweig der Polizei ausgebeutet und dem Volke verhaßt gemacht worden ist, erkennt Baumgarten mit Recht einen Hauptgrund des kirchlichen Verfalls und der allgemeinen Gleichgültigkeit gegen Religion und Kirche. Von dieser Erkenntniß aus mußte er mit den kirchlichen Tyrannen Mecklenburgs in Zusammenstoß gerathen. Eine Aufgabe, welche er in seiner Eigenschaft als Mitglied der Prüfungscommission den Candidaten gestellt hatte „über die Berechtigung der Revolution nach der heiligen Schrift“, bot die ersehnte Handhabe, um Baumgarten erst aus jener Commission zu verstoßen, dann seines Amtes zu entsetzen, darauf mit Hülfe mecklenburgischer Justiz in Preßprocesse zu verwickeln, die ihm manchen Monat Gefängniß und viele Geldverluste eingetragen haben. Es half nichts, daß ganze Facultäten sich öffentlich gegen diese schamlose Mißhandlung eines Ehrenmannes erklärten, es half nichts, daß Hunderte von Rostocker Bürgern in öffentlichen Adressen, in Petitionen an den Fürsten sich für Baumgarten verwendeten, – die orthodoxe Coterie hat ihr Werk nicht aufgegeben. Baumgarten bleibt nach wie vor abgesetzt, bewacht von gunstgierigen Denuncianten, isolirt – und das Alles, weil Kliefoth, Krabbe und wie die Pharisäer des Sanhedrin von Schwerin noch heißen mögen, ihn hassen. Was Wunder, daß Baumgarten ein Feuerzeichen des bösen Gewissens für alle herrschenden Orthodoxien ist? Er hat alle Consequenzen des hierarchischen Systems durchgekostet, und sein Leben gehört dem Kampfe für die Freiheit, wie ihn der Protestantenverein kämpft.

[473] Wir machen den Schluß unserer Auszählung der protestantischen Führer – 1ast, not least – mit Dr. Karl Schwarz, sicher einem der am reichten Begabten und am tüchtigsten Bewährten. Auch er ist einer jener klaren, arbeitstreuen, geistvollen norddeutschen Charaktere, die nicht durch sprudelnde oder stürmische Beredsamkeit wirken, sondern vielmehr durch Wucht der Ueberzeugung, Sicherheit und unverhüllte Schärfe der Untersuchung. Karl Schwarz ist einer der gedankenreichsten Redner; in schönem, am Studium der Classiker gesättigtem Styl leitet er den Hörer von einer Höhe der Gedanken zur andern, leicht verständlich und klar auch die verwinkeltsten Gegenstände vorführend. So kennen ihn die Gebildeten Deutschlands in seinen „Predigten aus der Gegenwart“, so steht unübertroffen in der Kunst plastischer Schilderung seine „Geschichte der neuesten Theologie“ da. Voll Kraft des Urtheils, ohne Hinterhalt zur freiesten rationalen Kritik sich bekennend, legt er doch in Wort und That, in Amt und Schrift Zeugnis; ab von einer mächtigen sittlichen Wärme, wie sie zum Predigten gehört.

Nach langer Zeit der Hintansetzung und kleinlichen Bedrückung in seiner früheren Professur zu Halle hat ihn mitten im Zeitalter der Reaction Herzog Ernst von Gotha an seine Hofkirche und an die Spitze seiner Landeskirche berufen, wo er seitdem in reichem Segen wirkt. Er präsidirte mit Bluntschli dem ersten Protestantentage in Eisenach und hielt dort auch seine berühmt gewordene, viel geschmähte, glänzende Rede für die Lehrfreiheit in der evangelischen Kirche. Er ist vielleicht derjenige unter den von uns genannten Männern, welcher bei einer hervorragend praktischen Begabung auf die Neugestaltung der evangelischen Kirche am thatkräftigsten einzuwirken berufen ist. Wenigstens hat er in seinem „Grundriß der christlichen Lehre“ ein klares Verständniß von dem wirklich im Volke lebendigen Christenthum dargethan. Denn so schlicht und einfach zurückgehend auf Jesu eigene Gedanken, ohne alle spätere Zuthaten, wie in diesem Büchlein, ist der Kern der volksthümlichen Religion lange nicht dargestellt worden. Wer aber einen Blick hat für diese Einfachheit durch alle theologischen, schulmeisterlichen Nebel hindurch – der ist ein praktischer Geistlicher in des Wortes bestem Sinne.

Wir schließen unsere Umschau im Protestantenverein. Der letzte Tag des Vereins in Bremen hat von Neuem das einmüthige Zusammenstehen aller in demselben vereinigten verschiedenartigen Kräfte bewiesen. In dieser Einigkeit liegt die Macht des Vereins. Er wird fortfahren, das Gewissen der besten Männer unseres Volkes wachzurufen. Schon beginnen die Zeichen sich zu mehren, daß der Morgen anbricht. Nach langer Zeit einmal hat das liberale Bürgerthum Berlins seine Stimme gegen die dreiste Orthodoxie erhoben; es ist zu hoffen, daß man nicht auf halbem Wege stehen bleiben und energisch eine Freigebung der evangelischen Kirche vom Staate fordern wird. Man gebe eine Repräsentativverfassung mit freien Wahlen, und im Handumdrehen wird der pharisäischen Herrschaft der Orthodoxie und Halborthodoxie ein Ende gemacht, damit aber auch den sittlichen Mächten des Christenthums wieder ein freierer Zugang zum Herzen des Volkes geschaffen sein.





Gruß an Oesterreich.

Zum dritten deutschen Bundesschießen in Wien.

In Nacht versank des Thales Grund,
In Nacht versank sein Hoffen,
Umgähnt vom finstern Schreckensschlund,
Blieb ihm kein Rückweg offen,

5
Einsam im Todeskampfe stand

Auf ödem Felsensplitter
Der keckste Schütz’ im ganzen Land,
Der letzte deutsche Ritter.

So warst in Deiner höchsten Noth,

10
Mein Oestreich, Du verlassen,

Sahst schon im blut’gen Abendroth
Den letzten Tag erblassen;
Da naht’ auch Dir mit einem Mal,
Von Himmelsglanz umgeben,

15
Ein Engel, der Dich in das Thal

Geführt zu neuem Leben.

Erfaßt hast Du die treue Hand
Und läß’st sie nimmer wieder,
Dein Kaiser von der Martinswand

20
Blickt segnend auf Dich nieder:

Der Engel, den er einst geschaut,
Mit seinem Volk verbündet,
Nun sich’s der Freiheit anvertraut,
Sein Oestreich neubegründet!

25
Die Fahne wallt, die Glocke schallt,

Der Jubel steigt zum Himmel,
Auf allen Straßen wogend ballt
Sich fröhliches Gewimmel;
Ein heller Klang, ein frischer Sang,

30
Der Freiheit wack’re Stützen,

So ziehen sie mit stolzem Gang
Einher, die deutschen Schützen.

Die Herzen und die Arme auf,
Der Bruderkuß verkündigt:

35
Vergessen, was der Zeiten Lauf

Hier hat wie dort gesündigt;
Es soll in unsrer Herzen Bund
Kein schnöder Grenzpfahl ragen,
Allüberall ist deutscher Grund,

40
Wo deutsche Herzen schlagen!


Hat uns getrennt des Schicksals Bann,
Nicht soll’s der Fremde nutzen,
Einhellig schlagen auf ihn an
Die Büchse und der Stutzen;

45
Und wo der Freiheit Feinde droh’n,

Kein Posten stehe einsam,
Ihr schwerer Dienst, doch auch ihr Lohn
Sei Allen uns gemeinsam!

So kämpfe fort an seinem Ort

50
Ein Jeder denn für Alle,

Ein Deutschland! sei das Losungswort,
Das durch die Reihen halle;
Die Herzen glüh’n, die Augen sprüh’n,
Hell strahlt’s aus diesen Flammen:

55
Die Freiheit führt nach harten Müh’n

Auf ewig uns zusammen!

Albert Traeger.




Der Wanderredner in Amerika.

Weit, weit draußen ist’s, im „fernen Westen“ auf den amerikanischen Prairien, hundert deutsche Meilen westlich vom Missouri und etwa halbwegs zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ocean. Auf Hunderte von Stunden ist ringsum kein Haus, keine Spur von der Existenz des Menschen, da plötzlich kommt zum ersten Male der Dampfzug angebraust, der die beiden Küsten des amerikanischen Continents verbinden soll, und nicht lange währt es, so folgen ihm alle Zeichen und Leistungen des transatlantischen [474] Lebens: die Farm, der Werkschuppen, das Dorf, die Kirche, das Schulhaus, die Zeitungspresse und als das specifischst Amerikanische von Allem das wohlgeordnete und wohlgegliederte System der öffentlichen populären Vortrage.

Kaum sehen wir den neuen Ort im Westen zu ein paar hundert primitiven Wohnstätten angewachsen, so muß nach dem Gaukler, dem wandernden Circus und den „äthiopischen Minstrels“ sicher auch schon der „Lecturer“ herbei, welcher den Geistern in der Wildniß draußen die Civilisation von jenseit der Alleghanyberge vermittelt; man will ihn sehen, den Redner, den Dichter, den Philosophen, und ob man ihn auch Tausende von englischen Meilen aus den Städten Neu-Englands verschreiben muß. Rasch werden die Vorbereitungen zu einem besonderen Cursus von öffentlichen Vorträgen getroffen, in den man höchstens ein paar Concerte mit aufnimmt. Man beruft eine Versammlung, bestimmt meist einen Theil des vom Unternehmen erhofften pecuniären Gewinnes zu irgend einem Wohlthätigkeitszwecke, sichert sich durch die Subscriptionen gemeinnütziger Männer vor allfälligem Deficit und ernennt das „Lecture-Committee“, aus dessen Mitgliedern der die Redner einladende Secretär, der Schatzmeister des Vereins und der Präsident, welcher die Vortragenden bei dem Publicum einzuführen hat, erwählt werden. Die Vorlesung ist nun das wöchentliche Ereigniß des Ortes; alle anderen Localveranstaltungen und Ereignisse müssen ihm weichen, und es zieht aus weiter Entfernung Zuhörer herbei, d. h. falls dieselben neuenglischer Abkunft sind, denn über einen bestimmten Breitengrad hinaus findet das Institut keinen gedeihlichen Boden, wie sich ihm im Allgemeinen auch die fremden Einwanderer fern zu halten pflegen, welche es gleich anderen Nationalgerichten höchstens höflich kosten, doch nur selten ihm Geschmack abgewinnen können.

Ein halb Dutzend bis zwanzig machen den Wintercyklus dieser Vortrage aus, die ursprünglich die verschiedensten Disciplinen, Religion, Naturwissenschaft, Technik, Geschichte, Philosophie und Poesie in ihren Bereich zogen. Zunächst besteht jede einzelne Localorganisation für sich, bald jedoch thun sich einige benachbarte Städte zusammen, um das Unternehmen gemeinschaftlich zu fördern und so gewissen Lieblingslecturern in derselben Reiserichtung eine ganze Reihe von Engagements darbieten zu können. Auf diese Weise ist nach und nach ein sehr ausgebildetes und weitverzweigtes System von „Literarischen Vereinen im Westen“ entstanden, dessen Gebiet von Pittsburg in Pennsylvanien sich bis nach Laurence in Kansas erstreckt. Der Agent dieser Associationen, ein Herr Torbert in Dubuque, Iowa, hat im verflossenen Winter zwischen fünfunddreißig Lecturern und einhundertundzehn litterarischen Vereinen abgeschlossen und dadurch jeder einzelnen Stadt einen nennenswerthen Cursus regelmäßiger Vortrage, jedem Lecturer eine ansehnliche Folge von Engagements verschafft.

Allemal im Herbst veröffentlicht er sein Verzeichniß von Vorlesern mit ihren verschiedenen Thematen und Preisen und überläßt dann jedem Verein, aus dieser Liste seine Auswahl zu treffen. Sobald der Lecturer sich einen Ruf zu gründen verstanden, hat er weiter keine Mühe bei der Sache. Er stellt nur seine Forderungen – alles Andere besorgt der Agent – und begiebt sich darauf mit einem gedruckten Circular in der Tasche, aus welchem der Reihe nach sein Dutzend oder sein Hundert Engagements, wie es gerade der Fall ist, gedruckt stehen, auf die Fahrt gen Westen. Vielleicht hat er die Namen von manchen der Städte, wo er Vortrage zu halten hat, noch niemals gehört, allein das thut nichts, ist er doch sicher, daß er überall sein Publicum findet und seine Dollars einstreicht.

In jedem Orte erwartet ihn bei seiner Ankunft sicher ein Mann des Vorlesungs-Comités, und der Eine erkennt sofort den Anderen durch eine gewisse Freimaurerei der Augen, die selten fehl geht. Mit einem Worte, die Maschinerie des Ganzen greift so wohl ineinander und arbeitet so glatt und ruhig, daß eine Unterbrechung ihres Ganges kaum zu fürchten ist, wenn nicht etwa einmal ein großer Schneesturm zwanzig Lecturer zugleich auf ebenso vielen Eisenbahnen blockirt und derart das Publicum von zwanzig einzelnen Orten vergeblich warten läßt, denn keine Vorlesung, die aus irgend welchen Gründen vereitelt worden ist, kann nachgeholt werden; der Wanderleser muß ja nach der nächsten Stadt auf seiner Route eilen und dort am bestimmten Tage eintreffen.

Ein aufregendes Leben ist es, was diese Vorleser führen! Wäre auch das Publicum noch so langweilig und gleichgültig, schon der Hinblick auf die materiellen Erfolge seiner Wirksamkeit müßte das Interesse des Lecturers wecken und erhalten. Allein das Publicum ist selten langweilig und gleichgültig, und es verlohnt schon der Mühe, ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Freilich muß er Nacht für Nacht auf der Eisenbahn zubringen und in einem „Schlafcoupé“, so gut es gehen will, zu ruhen suchen, während sein Schaukelbett Meile um Meile weiter gerüttelt wird. Kaum graut der Tag, so hat er sich vielleicht aus seinem Schlummer zu reißen, um ein anderes trostloses Vehikel zu besteigen oder, mitten in der Wildniß, fröstelnd ein wenig erquickliches Frühstück hinabzujagen, und so geht es weiter und weiter, bis er bei sinkender Nacht an seinem Bestimmungsorte anlangt und, im höchsten Stadium menschlicher Abgespanntheit und Erschöpfung nach dem Saale eilen muß, wo das Publicum schon ungeduldig seiner harrt. Hier aber ändert sich mit Einem Male die Scene. Mit dem Glanz der strahlenden Gaslampen kehren ihm Kraft, Spannung, Begeisterung zurück, gerade wie die Fußlichter den abgehetzten Schauspieler neu beleben. Der helle Saal grüßt ihn wie ein alter Bekannter, die Gesichter erscheinen ihm wie die vertrauter Freunde und das Publicum kommt ihm vor, als sei es mit ihm von den östlichen Gestaden gen Westen gefahren. Unter allen Umständen werden diese Männer und Frauen da lachen, wo ihre Vorgänger gelacht, an den Stellen Beifall klatschen, wo diese Letzteren Beifall geklatscht haben, und wenn es auch schwer sein mag, in einen Einleitungssatz neues Leben und neue Kraft zu gießen, der schon volle vier Wochen und genau zur selben Stunde hat seine Schuldigkeit thun müssen, so ist es doch möglich. Die Begeisterung, eine neue Anspielung, ein neues Bild stellen sich ein, mit jeder Minute fließt der Strom seiner Beredsamkeit voller, bis er mit einem wohlgelungenen „Abgang“ demüthig die Tribüne verläßt und mit geziemender Bescheidenheit die Complimente des Präsidenten entgegennimmt. Zur Erwiderung dieser Artigkeiten lobt er die Bildung seiner Zuhörerschaft so wie Architektur und Akustik des Stadthaussaales und schüttelt dann sämmtlichen Mitgliedern des Comites und anderen tonangebenden Notabilitäten die Hand. Jetzt ist Alles Friede in ihm, und mit dem Bewußtsein wohlerfüllter Pflicht zieht er sich in sein Hotel zurück oder erfreut sich der Gastfreundschaft eines kleinen westlichen Hauswesens, wo er sich mit Güte und Freundlichkeit überschüttet findet, für die man keine andere Gegenleistung von ihm erwartet, als die jüngsten Neuigkeiten aus den Städten des Ostens. Hinweg ist jetzt alle Abspannung und Erschöpfung, mit der leicht errungenen Popularität gewinnt sein Geist neue Schwungkraft und Elasticität, und sein Lecturerleben dünkt ihm eine köstliche Existenz.

Auch am anderen Morgen, während er, um hundert Dollars reicher, in der kühlen Frühluft neuen Feldern und Weidegründen entgegendampft, bleibt seine Stimmung gehoben, und nur erst, wenn der Tag sinkt, überkommt ihn wieder das ganze Gefühl seiner trostlosen Einsamkeit und des Tretradwerkes, welches er treibt, erhöht durch den unerquicklichen Aufenthalt in den amerikanischen Hotels und den schlechten Stationsrestaurationen mit ihrer schweren, unverdaulichen Speise, da wo der Zug hält. In seinem Reisecostum meist unerkannt seine Straße ziehend, muß er vielleicht dem Coupénachbar seine eigene äußere Erscheinung beschreiben, sich den Besuch seiner eigenen Vorträge anrathen oder, nach Befinden, auch davon abrathen lassen, also lebendig der Bestattung seines Namens und Ruhmes beiwohnen. Desgleichen macht er manchmal die Erfahrung, wie das Interesse, welches er zu seiner Freude das Publicum an den Tag legen sieht und das, je näher er seinem Ziele kommt, je allgemeiner und lauter wird, auf ganz andere Gründe zurückzuführen ist, als auf seine persönlichen Leistungen und Verdienste.

So erinnert sich der amerikanische Lecturer, dessen Aufzeichnungen wir im Wesentlichen gefolgt sind, einer Eisenbahnfahrt, auf welcher die Passagiere nicht nur, sondern selbst Schaffner und Bahnbeamte sich fast ausschließlich von dem am Abend zu erwartenden Vortrag unterhielten und versicherten, daß nichts in der Welt sie von der Theilnahme an demselben abhalten würde.

Ein solches auffälliges Interesse schien ihm weder seinem Rufe im Allgemeinen noch der besonderen Vorlesung zu entsprechen, um die es sich handelte; er konnte sich in der That die Ursache dieser ungewöhnlichen Sympathie nicht erklären, nahm sie indeß als das angenehmste Omen mit auf den Weg. Als er sich auf der kleinen Zweigbahn, in welche man eingelenkt war, seinem Ziele näherte, [475] wandte der Oberschaffner kein Auge mehr von ihm; er war ja noch der einzige Fremde im Zuge, mithin zweifelsohne der Redner und Held des Abends. Endlich näherte sich ihm der Beamte. „Calculire,“ begann er, „Sie sind der Lecturer? Sie wissen wahrscheinlich nicht,“ fuhr er mit Würde fort, „daß der Präsident des Literarischen Vereins, der Sie eigentlich heut’ Abend dem Publicum vorführen sollte, zufällig in Geschäften abwesend ist; Sie werden also vom Vicepräsidenten vorgestellt werden, und dieser ist der Locomotivführer unseres Zuges.“ Jetzt war die Sache klar! All’ das geistige Interesse, welches das Zugpublicum zu bethätigen schien, es war nichts als Esprit du corps! Und richtig, als die Stunde des Vortrags kam, führte der Maschinist, sehr anständig und gemessen, den Lecturer der harrenden Menge vor, in seiner eleganten Abendtoilette selbst wie ein Professor aussehend, um anderen Tages wieder die Locomotive zu dirigiren, welche den Vorleser der nächsten Vortragsstation entgegentrug.

Wir haben bisher blos von dem Lecturesystem im Westen der Vereinigten Staaten gesprochen, weil es hier nach allen Seiten hin am besten organisirt ist und zugleich das charakteristischste Gepräge trägt. In den civilisirteren Staaten des Ostens theilt es seine Bedeutung mit vielen anderen geistigen Einflüssen und bedarf auch der bestimmten centralisirenden Organisation nicht so sehr. Die Lecturer sind hier leichter zugänglich und im Stande, die nöthigen Anordnungen für ihre Vorträge selbst in die Hand zu nehmen. Indeß hat eine Gesellschaft in New-York, „das Amerikanisch-Literarische Bureau“, begonnen, die Praxis des Westens auch in die Vorlesungscyklen der atlantischen Staaten einzuführen. Im letzten Winter hatte sie bereits für acht verschiedene Staaten mit dreißig Lecturern abgeschlossen, um sich für die nächste Saison jedenfalls noch weiter auszudehnen. Wie groß die Gesammtzahl dieser in Nordamerika bestehenden „Literarischen Vereine“ ist, läßt sich nicht ganz genau ermitteln; doch dürfte man eher zu niedrig als zu hoch greifen, wenn man ihre Ziffer westlich des Alleghanygebirges etwa auf zweihundert und östlich des letzteren auf fünf- bis sechshundert veranschlagt.

Heerd und Hort der ganzen Institution ist Massachusetts, speciell Boston, das überhaupt als die amerikanische Metropole der Intelligenz bezeichnet werden muß. In New-York dagegen hat das System, ebenso wie in allen mittleren Staaten der Union, nur wenig Wurzel geschlagen, in den Sclavenstaaten ist es gar nicht in’s Leben getreten. Ungefähr vierzig Jahre alt, verdankt es dem großen amerikanischen Schulreformator, Horace Mann, seine Entstehung. Damals gab es noch keine Lecturer von Profession; Advocaten, Aerzte und Geistliche des Ortes und der Umgegend waren die Vortragenden und hielten ihre Vorlesungen lediglich aus Liebe zur Sache, im Interesse der Volksbildung. Als einige dieser Männer sich zu einer gewissen Popularität gelangt sahen, erweiterten sie den Kreis ihrer Vorlesungen und nahmen ein Eintrittsgeld. Anfangs galten fünfzehn Dollars als hoher Preis für einen dergleichen Vortrag, gewöhnlich forderte man nur acht bis zehn Dollars für den Abend, und es verstrich manches Jahr, ehe fünfundzwanzig bis fünfzig Dollars der übliche Satz für jeden einzelnen Vortrag wurden. Selbst heute noch werden im Osten der Vereinigten Staaten die Lecturer weit geringer bezahlt als im Westen; einmal, weil dieselben nicht aus so weiter Ferne herbeigeschafft werden müssen, und sodann, weil eine Menge anderer Unterhaltungen und Ergötzlichkeiten den Vorlesungen Concurrenz machen.

Mit dem Lecturer von Profession ist aber der Charakter dieser öffentlichen Vortrage überhaupt ein anderer geworden; ursprünglich waren Wissenschaft und Poesie Gegenstand derselben, jetzt bildet die Politik fast ihr ausschließliches Thema; die Lecturer sind in der Regel nur noch „Stumpredner“, wenn auch meist geistreicher und gebildeter als die eigentlich sogenannten. Seit der Antisclavereiagitation und dem ihr folgenden großen Kriege hat die Politik alles andere Interesse überwuchert. Das Publicum will jetzt jeden öffentlichen Mann, namentlich jeden hervorragenden Reformer von Angesicht zu Angesicht sehen und die volle Wucht seiner Rede empfinden.

Unstreitig hat diese Tendenz des Publicums ihre gute Wirkung gehabt. Alle großen öffentlichen Fragen sind auf diese Art discutirt worden und werden es noch, wie z. B. augenblicklich die brennende Frage vom Stimmrecht der Frauen, und können natürlich nirgends ruhiger und angemessener beleuchtet und erläutert werden als von dem Katheder des Vorlesungssaals aus, wo der Staatsmann allein spricht, mir seine eigene Meinung äußert und Niemanden und keine Partei compromittirt.

Diese großen Vortheile werden indeß durch ebenso große Nachtheile aufgewogen. Was die politische Bildung gewonnen, das haben Kunst und Wissenschaft verloren; der leidenschaftliche Redner hat den ruhig erörternden Gelehrten verdrängt. Wenn Sumner das göttliche Strafgericht auf einen verbrecherischen Präsidenten herabdonnert oder Anna Dickinson für die Befreiung ihres Geschlechtes plaidirt, da findet Longfellow für seine Dante-, oder Lowell für seine Hamlet Erklärungen kein Publicum mehr. Nur Agassiz als naturwissenschaftlicher und Emerson als philosophischer und literarischer Lecturer behaupten auch heute noch ihre alte Popularität und machen volle Säle, wann immer sie auftreten. Sehen wir derart Kunst und Wissenschaft aus den gewöhnlichen Vorlesungscyklen leider fast ganz verbannt, so finden wir sie in einigen größeren Städten unter dem Schirme bestimmter Gesellschaften, wie des Cooper-Instituts in New-York und der Lowell-Lectures in Boston, doch noch eifrigst gepflegt und müssen namentlich diesen beiden Vereinen die wesentlichsten Verdienste um die allgemeine Volksbildung vindiciren.

Der „Preis“ der einzelnen Lecturer ist selbstverständlich je nach ihrer Popularität und Bedeutung sehr verschieden. Die populärsten derselben, darunter in erster Linie die oben schon genannte Dame, Miß Anna Dickinson, erhalten für einen einzigen Vortrag zweihundert und mehr Dollars von den Vereinen, die mit ihnen abgeschlossen haben. Man kann sich daher leicht vorstellen, welch’ einträgliches Geschäft ein solches Lecturerthum ist. Ein einziger Winter schafft dem Redner nicht selten ein ganz erhebliches Vermögen; so ist zum Beispiel die große und höchst werthvolle Bibliothek, welche der unvergeßliche Theodor Parker seiner Vaterstadt hinterlassen hat, lediglich die Frucht seiner Vorlesungen gewesen. Ein anderer berühmter Lecturer, Theodor Tilton, ist zugleich Herausgeber eines ungemein verbreiteten und einflußreichen religiösen Wochenblattes, des „New-York-Independent“. Nun wurden ihm von den Eigenthümern der Zeitschrift für dieses Jahr zwölftausend Dollars als Redactionsgehalt geboten, unter der Bedingung jedoch, daß er seine Wintervorträge einstellte. Er ging jedoch auf diesen Vorschlag nicht ein, sondern begnügte sich mit siebentausend Dollars Jahresgehalt, um dabei nach Belieben Vorlesungen halten zu können, welche ihm die Differenz doppelt und dreifach einbringen. Daß Dickens während seiner unlängst vollendeten Vorlesungsreise in Amerika Abend für Abend Tausende von Dollars geerntet hat, darf unter solchen Umständen, bei der Vorliebe des amerikanischen Publicums für dergleichen Unterhaltungen und bei seiner Vergötterung Alles dessen, was der Tag eben zur Mode und Berühmtheit erhebt, nicht Wunder nehmen; aus denselben Gründen wird auch erklärlich, daß trotz der oft fabelhaften Einnahmen mancher Lecturer die literarischen Vereine selbst, die sich ihrer bedienten, meistens auch vortreffliche Geschäfte machen. Die öffentlichen populären Vorlesungen gehören dem Nordamerikaner nun einmal zu dem unentbehrlichen Schmuck des Lebens und ersetzen in einem Lande, das sich zum Theil erst aus den Urzuständen der Wildniß herausarbeitet, einigermaßen die Fülle von Bildungsmitteln, wie sie uns in den civilisirten Staaten Europas eine tausendjährige Cultur an die Hand giebt.

Uebrigens hat das Lecturesystem seinen Höhepunkt noch nicht erreicht; vielmehr ist es hinsichtlich Organisation und Methode noch in stetiger Entwickelung begriffen, wie auch die Vorträge selbst nach Gegenstand und Darstellung ihre endgültige Form noch nicht gefunden haben. Weil die Politik augenblicklich alles öffentliche Interesse absorbirt, so folgt daraus noch nicht, daß dies immer der Fall sein wird. So lange die Aufregung der Gemüther währt, welche die Sclavenfrage hervorgerufen hat, und ehe die Südstaaten nicht auf allgemein befriedigenden Grundlagen „reconstruirt“ sind, so lange wird freilich die Richtung der Geister keine andere werden. Ist aber erst die bevorstehende Präsidentenwahl vorüber, alsdann ist alle Aussicht zu einer Periode verhältnißmäßiger politischer Ruhe vorhanden, und mit ihr werden Kunst und Wissenschaft, die Kinder des Friedens, auch in den Vereinigten Staaten und in deren öffentlichen Vorlesungen die Stelle wieder einnehmen, welche ihnen gebührt.



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Bilder aus den Alpen.

Nr. 3. Die Bittgänge im bairischen Hochlande.

Der katholische Cultus, wenn man ihn von der menschlichen Seite betrachtet, hat ein sehr großes Verdienst. Dies liegt darin, daß er zu einer Zeit der Barbarei mit wahrem Genie die Bedürfnisse des Gemüths erkannt und auf ihnen die Entwickelung seiner gottesdienstlichen Formen begründet hat. Darauf, auf ihrem Sinn, beruht die Macht der Form, ob wir derselben im Tempel oder auf freiem Feld begegnen. Wirkt im ersteren die Macht auf uns ein, welche die Geschichte aus jedes Menschenherz ihm unbewußt ausübt, so auf letzterem die Macht der Natur, die jener andern völlig ebenbürtig ist. Das haben die geistlichen Führer des Volkes wohl begriffen, und die Einrichtung der sogenannten Bittgänge, der Processionen, ist aus diesem Grundgedanken erwachsen. Unwillkürlich öffnet sich das Herz, wenn Berg und Thal vor unserem Blick sich öffnen, unwillkürlich wachen Hoffnung und Glaube in unserm Herzen auf, wenn so die Wunder der Natur vor unseren Augen liegen. Die Psychologie der Religionen ist ihre Stärke, und darum finden wir auch diese Bittgänge nirgends so sehr verbreitet wie gerade in schönen Gegenden und in der schönsten Jahreszeit.

Einen weiteren Antheil daran hat ein anderer Zug, der nun einmal aus der Menschennatur nicht herauszubringen ist.

Wir sind geborene „Malcontents“ und haben die fixe Idee, daß draußen Alles besser zu erhalten ist, als daheim – auch der Segen, auch die Gnade. In den höchsten Schichten und in den niedersten begegnen wir diesem Hang; er schuf die Sehnsucht der Kaiserin Eugenie nach Rom, er beseelt die kleine Landgemeinde, die aus ihrem Bauerndörflein fort und zur Kirche des nächsten Bauerndörfleins hinzieht.

Am weitesten verbreitet und gewöhnlich auch die erste von allen Processionen des Jahres ist jene am Frohnleichnamstag, der im Gebirge ausschließlich als Antlaß bezeichnet wird. Wenn auch schon Pfingsten vorüberging, ist’s doch noch Frühling in den Bergen. Zwischen hohen, schwankenden Halmen wandert der bunte Zug hindurch; wie die rothen Wimpel der Fähnlein wehen, wie das goldene Kreuz im Sonnenlichte glitzert! Und dazwischen der Kindergesang und die feinen Glöcklein, die den Baldachin begleiten, wo die blauen Weihrauchwölkchen gen Himmel fliegen.

Drüben vom spitzen Kirchthurm schallt das Läuten herüber, so klar, so melodisch, jeder Ton ein Friedensgedanke.

Und über dem Allen glänzt die Morgensonne, glänzt dies Himmelsblau, das so siegreich in unsere Seele dringt. Da sinkt das Mütterlein in’s Knie, das auf dem Wege wartet, und segnet das Leben, ihr müdes Leben. Ja, eine solche Stunde ist allmächtig; da muß man an die Zukunft glauben und von allen Worten, die den Frühling preisen, ist keines tiefer gedacht, als das Wort Frühlingsglaube.

Auch ich stand am Wege, an einer alten Linde, wo das Sonnenlicht mit den Blättern spielte. Ein Lebensdrang lag in den Zweigen und in der Erde, es war, als tönte durch alle Lüfte das selige Lied:

„Nun muß sich Alles, Alles wenden!“

Hinter dem Himmel, wo das Sanctissimum getragen wird, schreiten die Würdenträger des Dorfes. Kein Hofmarschall mit goldenen Tressen, kein Ceremonienmeister ordnet ihre Reihe, denn manchmal treffen Alpha und Omega derselben in Einer Person zusammen. Auch die landesüblichen Heiligen und die Standbilder der Ortskirche begleiten den Zug, vor Allem das Marienbild, das von Mädchen getragen wird, ganz so wie es unser wackerer Künstler gezeichnet hat. Doppelt so schön, wie sonst, glänzt heute das silberne Geschnür am Mieder und die goldene Schnur am spitzen Hut – aber schöner als Alles wär’ wohl der Jungfernkranz! An vier Stellen des Weges sind Altäre aufgerichtet für die Evangelien, einer steht auch am Feldkreuz, wo die dichten Buchenzweige den Waldesrand bekränzen. Dort wird der Segen gegeben mit der leuchtenden Monstranz; die Gebirgsschützen aber mit blankem Stutzen und grünem Federhut bilden die Ehrenwache und von den Bergeswänden hallt das Echo der Freudenschüsse hinein in’s Alleluja.

Wenn die Frohnleichnamszeit vorüber ist, beginnen die sogenannten Kreuzgänge zu allen möglichen Zwecken. In Tirol werden sie insbesondere zu Ehren des heiligen Isidor und der heiligen Nothburga gehalten, welche die Schutzpatrone der Dienstboten sind; bei uns in Baiern sind die Ernteprocessionen geläufig, um den Schutz der Früchte gegen Hagelschlag zu erflehen. Darauf halten die Bauern auch heutzutage noch immer viel und die Hauptfrage wenn ein neuer Pfarrer kommt, ist, ob er auch „wettergerecht“ sei. Das heißt etwa so viel: ob er ein drohendes Gewitter von der Gemeinde wegbeten und der Nachbargemeinde auf den Hals laden kann. Auch das „Schaueramt“ (ein Hochamt zur Abwendung des Hagelschauers) wird in den meisten Gemeinden alljährlich gehalten. Die geistlichen Herren hüten selber diesen Rest ihrer Prophetenwürde sehr eifersüchtig, und man hat es einem alten Heißsporn nicht wenig verübelt, als er einst in der Gemeindeversammlung mit der Faust auf den Tisch schlug und ausrief: „Mein Herrgott, für dös Fach ist der Hagelverein.“

Ganz besonders verbreitet in den Bergen ist auch der Mariencultus; sechszig Procent aller Mädchen heißen Midei (Maria), wenn sie schon in der Regel nichts, als den Namen (und hie und da das Kind) mit der Jungfrau gemein haben. Der Maria sind auch die meisten wunderthätigen Stätten geweiht, und unter diese zählt in erster Reihe Birkenstein. Weit und breit bekannt ist die kleine Capelle am Fuße des Wendelstein, und man könnte einen ganzen Menschen zusammensetzen aus all’ den Gliedmaßen, die dort in Wachs gegossen aufbewahrt werden zum Andenken an wunderbare Errettungen. Decken und Wände sind mit Votivtafeln tapezirt, welche in geheimnißvoller Bilderschrift und in verwegenen Hieroglyphen „viel wundersame Mähr“ berichten. Man kommt in wahren Schrecken, wenn man da erst sieht, was einem Alles passiren kann! Damit dies nicht geschehe, gehen alljährlich zahlreiche Bittgänge aus den Gemeinden des Osterlandes zwischen Isar und Inn nach Birkenstein, und wenn der geneigte Leser etwas auf dem Herzen hat, dann braucht er sich nur anzuschließen. Er braucht nicht zu befürchten, daß allzuviel gebetet wird, denn der bunte Tumult eines solchen Kreuzgangs stellt kein Bild der Andacht dar. Der Weg über die Berge ist viel zu weit und mühsam, und eine gewisse Feierlichkeit hält der Mensch nicht lange aus.

Wann es dämmert, zwischen zwei und drei Uhr Morgens, dann versammeln sich die frommen Pilgrime in der Mitte des Dorfes. Das alte Mütterlein trippelt herbei mit dem Rosenkranz zwischen den dürren Fingern, die schmucken Mädchen drehen und wenden sich, um zu sehen, ob sie (Gott) wohlgefällig seien. Wie ein Wespenschwarm schwirren die Buben, welche überall sind, wo „etwas los“ ist, durch die versammelte Menge. Der echte Bauer hat seinen rothen Regenschirm unterm Arm, so oft er auf die Reise geht, und wenn’s auch nicht regnet, so sieht man wenigstens, daß er einen hat. Das Regendach gehört nun einmal zur vollständigen Ausstaffirung und wird mit seinem deutschen Namen Parapluie oder Parasol genannt. Auch der griechisch-germanische Bastard „Paradachl“ hat im oberbaierischen Dialekte das Bürgerrecht. Wer den Bittgang ganz besonders feierlich nimmt, der erscheint im Mantel, denn dieser ist das wahre Festtagskleid der Männer. Daß es Juli ist, thut nichts zur Sache, in der Physik des Bauern heißt es: was gegen die Kälte gut ist, ist auch gut wider die Hitze.

Endlich kommt der Herr Beneficiat im Chorrock, das Brevier in den Händen. Mit dem ganzen Gewicht seiner Erscheinung (einhundertundsiebenzig Pfund) tritt er unter die Menge und ordnet seine frommen Schäflein. Auch die Knaben, die ihm ministriren, machen sich wichtig, denn sie hüten gewöhnlich die Ziegen und heute sind sie Adjutanten des Himmels! Fahnen und Bilder bleiben bei diesem Gang zu Hause, nur ein schlichtes Kreuz wird vorangetragen; ein Vorbeter ist ernannt und beginnt die Litanei zu Ehren der allerseligsten Jungfrau. Im Anfang ist wohl noch innere Sammlung da, und wer dem Zuge begegnet, der bleibt mit entblößtem Haupte stehen. An jedem Hause drängen sich die kleinen goldköpfigen Kinder im Hemdlein an’s Fenster, und die Mutter zeigt ihnen mit der Hand hinauf zum „Himmelvater“. Das sind Augenblicke der Weihe, aber es sind nur Augenblicke. – Wie der Zug bergan von der Straße abgeht, lockert sich die Disciplin; das Beten wird nun programmmäßig eingestellt und beginnt erst, wo die Häuser wieder beginnen. Unwillkürlich erinnert

[477]

Erntebittgang.
Nach der Natur aufgenommen von Ph. Sporrer.

[478] dies an die Truppenmärsche, auf denen auch die Musik nur spielt, wenn sie durch Dörfer zieht.

Je höher der Zug auf den waldigen Bergrücken emporsteigt, die von drei Seiten das Leizachthal abschließen, desto mehr steigt jetzt die allgemeine Heiterkeit.

Die Buben machen athletische Uebungen und fangen an, sich durchzuprügeln, denn das ist von Alters her die Form, in welcher Buben ihrer Begeisterung Luft machen. Burschen und Mädchen, welche anfangs so prüde thaten, werden galant, weil die Hindernisse des Weges sie herausfordern. Mancher Seufzer quillt aus der Brust der alten Mantelträger, auf deren Glatze der neckische Sonnenstrahl herumgaukelt.

Wenn der Zug über den „Kühzagelberg“ thalabwärts geht, dann bietet sich auf halber Höhe ein reizender Ruhepunkt. Dort öffnet sich unvermerkt der Wald, und durch’s schimmernde Buchengehäng schauen Wendelstein und Breitenstein herüber. An ihrem Fuße aber leuchtet ein weißes Thürmlein, das gehört der kleinen Marienkirche, dem gebenedeiten Ziel unseres Weges.

Hier dacht’ ich oft, wenn ich als Knabe den Zug begleitete, an die Pilger vor Jerusalem, von denen der Lehrer in den Geschichtsstunden erzählt hatte, wie sie auf’s gelobte Land hinunterschauten. Ich sah es nicht im Eifer der Begeisterung, daß die unsrigen Nagelschuhe statt der Sandalen trugen und Haselstöcke statt der Ritterschwerter; ich glaubte nicht, daß die Kuppel des heiligen Grabes schöner glänzen könne, als das stille Kirchlein am Birkenstein.

Was doch die Phantasie nicht thut, wenn sie einen besessen hat! „Paris en Amérique“ – Jerusalem in Birkenstein!

An dem Sträßchen, das in’s Fischbachauer Thal führt, steht eine einsame Wirthschaft, „zum Neuhaus“ geheißen. Dort führte lange Zeit der „Bocksteffel“ das Regiment, der seinen Namen von dem Thiere trug, welches er so gern mit dem Wildpret verwechselte, wenn seine Gäste solches bestellten.

Dort hielten die Kreuzfahrer zum ersten Male Einkehr.

Wie die Heuschrecken über Aegypten, fielen sie über die Küche her; umsonst waren Schürhaken und Feuerzange, mit welchen die resolute Köchin das Hausrecht vertheidigte; Jeder nahm, was er erwischen konnte.

Auch des „Springquells flüssige Säule“ stieg aus den braunen Fässern auf, und da war bald die Mühe vergessen, die man erlebt hatte und noch erleben sollte. Der gewichtige Beneficiat ging mit gutem Beispiel voran und bewährte eine unermeßliche Langmuth, ehe er die erfrischten Himmelsbürger zum Weitermarsche in die Höhe trieb.

Nun mußte wieder gebetet werden, und auf dem kleinen Sträßchen, das sich von Neuhaus nach Birkenstein schlängelt, schlängelten sich die frommen Wünsche der Wallfahrer empor. Ob es wirklich lauter fromme waren? Nach der Ankunft, die noch zeitig genug statt hat, wird das Amt in der kleinen Kirche gehalten, und diesem folgt, was man in höheren Sphären ein „Festdiner“ zu nennen pflegt.

Es fehlt zwar Manches an der vollen Feinheit des Begriffs, zum Beispiel Messer und Gabeln, Tische und Bänke, Toaste auf die deutsche Einheit und Aehnliches. Aber die Hauptsache ist doch da und das ist – die Begeisterung. Wer sie bezweifeln wollte, der müßte sie auf dem Heimweg gewahren, welcher von Sachverständigen als die Krone des Tages bezeichnet wird.

Die volkswirthschaftliche Agitation, welche gegen die vielen Feiertage eifert, richtet sich auch gegen diese Buß- und Kreuzgänge, und zwar mit vollem Rechte. Ein eigentliches Interesse daran hat ja nur der Klerus.

Es ist zwar die gemeine Meinung, daß unser Volk mit diesem unbedingt sympathisire; allein gerade für das bairische Gebirg läßt sich dies keineswegs so allgemein behaupten. Den Schild der Pietät, hinter dem sich so viel Wust und Wüstlinge verbargen, haben die letzten Decennien zertrümmert. Der scharfe Luftzug der Kritik, der durch unsere Zeit geht, ist auch in die Thäler gedrungen, von denen wir sprechen, und hat den Leuten Muth zum „Schimpfen“ eingeblasen. Eine angeborene Dialektik kommt zur Gelegenheit hinzu und richtet sich in erster Reihe gegen den Klerus. Der Pfarrer ist nicht mehr exlex, wie er war, seine Predigt wird nicht mehr nacherzählt, sondern kritisirt und ist vor dem Volkswitz keineswegs sicher.

Mit dem Respect vor den Personen ist selbst der Respect vor der Sache ein wenig geschwunden, und auch der Boden der Berge spürt, wenn freilich in kleinerem Maße, die Procente der Frivolität, welche im Boden der Städte wuchert. Die junge Generation ist besonders gelehrig für solche Traditionen, die reiferen Männer aber merken, daß hinter der religiösen Stellung der Priester die politische allzu dreist sich breit macht. Unbedingten fanatischen Respect vor der körperlichen Erscheinung des Klerikers haben fast nur noch die alten Weiber. Da kann es wohl passiren, daß der begeisterte Regenschirm einer solchen bäuerlichen Matrone mit dem interconfessionellen Cylinder des harmlosen Fremdlings zusammentrifft, der am Wege steht und meint, man schaue einen Bittgang etwa gerade so an wie ein Regiment Soldaten.

Carl Stieler.




Der Teufel
1.

In den schönen Promenaden der Stadt N. machte ein einzelner Herr seinen Nachmittagsspaziergang. Es war ein warmer Octobertag, die Sonne stand schon nicht mehr hoch am Himmel und die Promenaden waren nur noch schwach besucht. Für die eigentlichen gewohnheitsmäßigen Spaziergänger war die Stunde ihres regelmäßigen Ausganges schon vorüber, und der einzelne Herr gehörte wohl auch nicht zu ihnen. Von den wenigen Personen, die ihm begegneten, sahen die meisten ihn fremd an und zugleich neugierig, wer der Fremdling sein möge. Andere, die ihn kannten, grüßten ihn dann freilich mit einer fast an Ehrerbietung grenzenden Förmlichkeit.

Die Stadt war die Hauptstadt der Provinz, groß, mit nahe an hunderttausend Einwohnern, der Sitz der Civil- und Militärbehörden der Provinz. Der einzelne Herr, ein hoher, schlanker Mann, vielleicht im Anfange der vierziger Jahre, hatte ein vornehmes Wesen; mit diesem und zugleich mit einer verbindlichen Herablassung erwiderte er die ehrerbietigen Grüße, die ihm gebracht wurden. Er hatte das Ende einer Allee erreicht und wollte in ein kleines Bosket einbiegen, als er plötzlich erschrak, als wenn er auf eine Viper getreten hätte. In dem Bosket stand, zwanzig Schritte von ihm, ein buckliges Männchen. Er wollte im ersten Augenblick umkehren, aber der kleine Bucklige hatte ihn gesehen und mit dem ersten Blicke seiner klugen, stechenden, grauen Augen erkannt und war nun auch schon mit behenden Füßen auf dem Wege zu ihm, ihn zu begrüßen; freilich nicht förmlich oder gar ehrerbietig, wie die anderen Spaziergänger gethan hatten. Vielmehr ging das Männchen sehr ungenirt und sehr zutraulich auf ihn zu, wie auf einen alten Bekannten und genauen Freund. Er sah übrigens sehr reputirlich aus, der kleine, buckelige Mann; er war elegant, nach der neuesten Mode gekleidet, trug über der Brust ein paar schwere, goldene Ketten für Uhr und Lorgnette, und auf dem Kopf einen hohen Cylinder, um größer zu erscheinen, als er war.

„Ei der Tausend, Herr von Römer!“ rief er. „Wahrhaftig, Römer, Du bist es!“

Herr von Römer hatte nicht mehr umkehren können, er mußte Stand halten und auch diesen Gruß erwidern; mit jener leichten, verbindlichen Herablassung geschah es allerdings nicht.

„Ah, Brand, Du hier?“ sagte er steif und zugleich sauersüß genug.

Er hatte es auch wohl vornehm sagen wollen, aber wie er sich dazu aufrichtete, sah der Buckelige mit seinen grauen, stechenden Augen ihn so eigenthümlich, so listig, so höhnisch und zugleich so blitzend an, daß der vornehme Herr von Römer sichtlich erschrak und sich einer Gewalt und einem Zwange hingab oder unterwarf, denen er sich nicht entziehen zu können schien.

„Ja wohl bin ich es,“ erwiderte ihm lächelnd der Kleine. „Sebastian Brand! Wer ihn einmal gesehen hat, behält ihn für immer im Gedächtniß, und nicht blos um seinen Buckel und hohen Cylinder. Und wir Beiden waren sogar Freunde, intime Freunde. Ich denke, Römer, wir sind es noch.“

[479] Mit den Worten reichte er dem Herrn von Römer die Hand hin. Der vornehme Herr mußte sie nehmen; freilich legte er nur seine Fingerspitzen hinein, und auch das mit einem Ausdruck des Gesichtes, als wenn er einen Frosch oder gar eine Kröte berühre, Sebastian Brand aber faßte mit seinen langen Fingern voll die zarten des Herrn von Römer und drückte und schüttelte sie, als wenn er vor Freude, einen alten Freund wiedergefunden zu haben, ganz außer sich sei, und lächelte dabei so listig und so höhnisch und so boshaft, wie eine Kreuzspinne, wenn sie lachen könnte, über einen recht fetten Fang in ihrem Netze lachen würde.

„Und nun vor allen Dingen,“ sagte er dann zu dem wiedergefundenen Freunde, „sei mir willkommen in meiner Vaterstadt. Du weißt doch, daß ich hier zu Hause bin?“

„Ich glaube mich zu erinnern,“ erwiderte der Herr von Römer.

„Ah, Du glaubst nur! Dann ist Dir auch wohl meine Carrière nicht mehr genau erinnerlich, und Du erlaubst wohl, daß ich Dich näher damit bekannt mache, da wir doch nun einmal längere Zeit werden zusammenleben müssen.“

Den Herrn von Römer durchzuckte es, als wenn er etwa von der Viper, auf die sein Fuß vorhin getreten habe, gestochen sei.

Der Buckelige fuhr fort: „So müssen wir doch gegenseitig wissen, was aus den alten Universitätsfreunden geworden ist. Ganz haben wir uns zwar seit den Universitätsjahren nicht aus den Augen verloren, indeß –“

Er brach ab, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf den wiedergefundenen Freund machten.

Herr von Römer schlug mit einer Resignation, der man fast eine Angst seines Innern ansah, die Augen gen Himmel, niederschlagen konnte er sie nicht; sein Blick hätte gerade in den des Kleinen treffen müssen, der da unten vor dem hohen, vornehmen Herrn stand.

„Daß ich die Rechte studiren mußte,“ fuhr der Buckelige wieder fort, „wirst Du Dich noch erinnern. Es war, weil ich Sebastian Brand hieß, und daher den Namen des berühmten Klagespieglers führte, der sich freilich mit dt schrieb. Nun, nach vollendeten Studien machte ich meine drei Examina – dafür studirt man ja bei uns drei Jahre – dann arbeitete ich eine Zeit lang bei den Gerichten in der Residenz. Dort fanden wir uns ja wieder, Freund Römer!“

Herrn von Römer durchzuckte es wieder. Der Kleine sprach weiter:

„Darauf kehrte ich in meine Vaterstadt zurück, wo ich mich als Advocat niederließ. Als solcher lebe ich hier noch. Das Geschäft geht gut; ich bin wohl situirt, habe nicht Kind und nicht Kegel, wie man zu sagen pflegt, das heißt: nicht Frau und nicht Kind, und lebe fort in meiner alten Weise, die Du kennst, zur Freude und zum Aerger der Menschen, einer Weise, für die der Advocatenstand eigens geschaffen zu sein scheint. Und damit genug von mir, alter Freund. Laß uns jetzt von Dir und Deinen brillanteren Schicksalen sprechen, eigentlich ist es nur eins. Aber bleiben wir hier nicht stehen. Du warst auf Deiner Promenade und bist es noch; ich war und bin es auch. Gehen wir also weiter, und dabei ein Vorschlag. Du bist erst seit kurzer Zeit hier; früher warst Du nie hier. Da sind Dir die Dinge bei uns noch unbekannt, namentlich auch die Schönheiten unserer Gegend. Erlaube, daß ich für den Rest Deiner heutigen Promenade Deinen Führer mache.“

Herr von Römer wurde verlegen. Sein leichtes, glattes, vornehmes Wesen konnte er dem buckeligen Männchen gegenüber noch immer nicht wieder gewinnen.

„Ich danke Dir,“ sagte er, „aber –“

„Aber?“ sah ihn der Kleine funkelnd an.

„Ich habe in der That keine Zeit.“

„Keine Zeit, wo es Naturschönheiten giebt? Du schwärmtest doch sonst für alles Schöne, sogar für jede Schöne. Bah, wir gehen, ich bitte Dich.“

Die Bitte des Kleinen war ein Befehl für den Herrn von Römer, der ihr nur jene ängstliche Resignation entgegenzusetzen hatte.

„So gehen wir denn. Es wird doch nicht weit sein?“

„Sieh’, das Schöne liegt so nahe!“ recitirte Sebastian Brand mit seinem höhnischen lächeln und führte den Freund tiefer in das Bosket, in dem sie standen, aus diesem dann in eine Kastanienallee, welche sich eine Anhöhe hinanzog. Die Stadt hatte in der That eine überaus reizende Lage. Am Fuße eines Berges, aber noch immer auf einer Hochebene gelegen, schaute sie weit in das Land vor sich hinein; auf ihrer Rückseite war sie mit Palästen und Villen, mit Parkanlagen, Gärten und Waldungen bekränzt, die bis fast an die Mitte des hohen Berges auf jedem seiner vielen Vorsprünge hervortraten, aus jeder seiner Schluchten herausblickten. Den Berg hinauf führte der Buckelige den Herrn von Römer, eigentlich nur einen mäßigen Seitenabhang desselben hinauf, hinter welchem, wie es schien, ein reizendes Thal sich öffnen, oder eine jener anmuthigen Schluchten sich verbergen mußte.

„Also nun von Dir, Freund Römer,“ sagte der Buckelige im Gehen, und es war, als wenn der Herr von Römer bei den Worten einen schweren Seufzer unterdrücken müßte. „Du bist hier Consistorialpräsident geworden?“

„Ja.“

„Eine hübsche und rasche Carrière. Ich sehe Dich schon als Minister.“

Der Consistorialpräsident schwieg. Der Andere fuhr fort: „Nun, das Verdienst muß belohnt werden. Du arbeitetest bisher im Polizeiministerium?“

„Ja.“

„Von der Polizei zur Kirche! Hast Du Deine Familie schon hier?“

„Sie kam mit mir.“

„Deine Frau lebt noch?“

„Gewiß.“

„Ist sie noch immer leidend?“

„Sie hat sich in neuerer Zeit erholt.“

„Du hast eine brave Frau, und sie war Dir auch immer eine treue Frau, wenngleich sie Dich eigentlich nie liebte.“

„Brand!“ fuhr Herr von Römer auf.

Der Buckelige lachte.

„Ah, verzeihe! Sie liebte Dich also?“

„Sprechen wir von etwas Anderem.“

„Von den Todten?“ fragte der Kleine.

Der Präsident von Römer schwieg. Er war etwas blaß geworden.

Qui tacet, consentire videtur (Wer schweigt, ist einverstanden),“ sagte der Buckelige. „Also von meiner armen Cousine, die Du betrogst, schändlich betrogst, um ihre Ehre, um ihr Leben.“

Herr von Römer hatte sich aufgerafft, die Gewalt, die der Buckelige über ihn ausübte, von sich zu schütteln. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er um; er wollte den Gefährten verlassen und allein zur Stadt zurückgehen. Der Kleine stellte sich vor ihn.

„Du gehst nicht,“ sagte er ruhig befehlend, aber indem seine grauen Augen zornig funkelten. „Du bleibst, ich habe noch viel mit Dir zu sprechen. Ich habe lange auf diesen Augenblick geharrt. Ich hatte auch da hinten in dem Bosket auf Dich gewartet. Ich wußte den Tag, die Stunde Deiner Ankunft hier in der Stadt. Ich war von da an der Spion, der Dir auf Schritt und Tritt folgte, ohne daß Du es ahntest. Ich mußte Dich einmal allein haben. Seit Jahren hatte ich darauf gewartet; seitdem Du Dich nicht mit mir schießen wolltest, die Polizei, Deine Polizei gegen mich ausriefest. Jetzt endlich habe ich Dich. Ich lasse Dich nicht wieder los. Du bist vollständig, ganz und gar in meiner Gewalt. Als Polizeimann warst Du es nicht so. Die Polizei muß Menschen mit eiserner Stirn haben, auch Geheimeräthe. Aber als Präsident des Consistoriums! Zumal in dieser frommen Provinz! Das war ein dummer Streich, daß Du zur Kirche übergingst, und noch dümmer war es, daß Du an mich nicht dachtest. Ich habe alle Beweise Deiner Schlechtigkeit in Händen, die von Deiner Hand gefälschten Documente. Sie müssen Dich in’s Zuchthaus bringen. Geschah es bisher nicht, so war es zugleich um Deiner armen Frau willen. Auf die nehme ich auch jetzt noch Rücksicht, Du möchtest mich denn mit Gewalt herausfordern. Und das, alter Freund Römer,“ setzte der Buckelige wieder mit seinem ganzen verzweifelten Humor hinzu, „das thätest Du, wenn Du jetzt allein, ohne mich, nach Hause gingest. Setzen wir unsere Promenade fort.“

Der Consistorialpräsident wischte sich den Schweiß von der Stirn.

[480] „Was willst Du von mir?“ fragte er.

„Mit Dir von vergangenen Zeiten sprechen. Weiter nichts.“

„Kannst Du es nicht auf dem Rückwege zur Stadt?“

„Nicht eigentlich!“

„Wohin führst Du mich denn?“

„Spazieren.“

Herr von Römer hatte sich etwas besorgt umgesehen. Sie hatten den Kamm der Anhöhe schon vor einiger Zeit erreicht und gingen jetzt auf deren anderer Seite in eine enge Schlucht hinunter. Der Bucklige hatte mit seinem Begleiter einen schmalen Fußpfad eingeschlagen, der in gerader Richtung in die Tiefe der Schlucht führte, in welcher es schon zu dunkeln begonnen hatte. Die Sonne war untergegangen, als die beiden Spaziergänger noch nicht den Kamm der Anhöhe erreicht hatten.

In die dunkele Tiefe der Schlucht schaute bedenklich der Consistorialpräsident, aber er folgte schweigend seinem Führer; er wollte oder durfte keine Furcht zeigen. Der Kleine schritt ruhig in dem schmalen Pfade der Tiefe zu, im Gehen wieder sprechend:

„Also zurück zu den vergangenen Zeiten! Erinnerst Du Dich noch des Lieutenant Hille?“

Herr von Römer schwieg.

„Du mußt Dich seiner erinnern,“ fuhr der Bucklige fort. „Er stand bei den braunen Husaren. Er war der große, schöne blasse, melancholische junge Mann, der wildeste Reiter im Regiment, der tapferste Officier in der Armee und der Geliebte Deiner Frau.“

Der Präsident fuhr nicht wieder auf; in seinem Inneren mochte, mußte es wüthen, rasen, wohl schon lange. Aeußerlich war er vollkommen ruhig geworden, denn ein Mann wie er mußte sein Aeußeres beherrschen können und kann es. Mit dieser Selbstbeherrschung sagte er:

„Mensch, Du bist der größte Bösewicht, den die Sonne bescheint.“

Der Bucklige sagte mit derselben Ruhe, mit der sein Begleiter gesprochen hatte:

„Ihr nanntet mich ja schon auf der Universität den Teufel, und Dein Teufel will ich werden, bin ich schon.“ Dann fuhr er fort: „Er, nämlich der Lieutenant Hille, war der Liebling aller Damen, und es war kein Frauenherz, das nicht rascher, nicht höher geschlagen hätte, wenn er auf seinem schlanken, langgestreckten, stolzen und wilden braunen Araber vorüberflog, oder wenn das Pferd sich bäumte, fast kerzengerade auf den Hinterfüßen stand, den Leib schüttelte, den schnaubenden Kopf und den Nacken zurückwarf, um den Reiter herabzuschleudern, und der blasse stolze Officier so ruhig da saß, als wenn er irgendwo angenehm geschaukelt werde. Er hörte nicht das Schnauben, fühlte nicht das Schütteln, das Stoßen, das Herumwerfen, wußte von keiner Gefahr, er schaute mit den melancholischen Augen nur in sein Inneres, in das wunde Herz in der mit Narben bedeckten Brust. Sie mußten sich dann erzählen, wie er als Knabe von vierzehn Jahren sich bei dem nächsten Officier seines Heimathdorfes gemeldet und gebeten hatte, den Krieg gegen die Franzosen mitmachen zu dürfen. Es war im Jahre 1813. Die Franzosen waren aus Rußland verjagt und die Deutschen wollten sie auch aus Deutschland hinausjagen. Der Knabe wurde angenommen; es war unmöglich, ihn mit seinen dringenden Bitten zurückzuweisen. Schon in der Schlacht bei Leipzig erwarb er sich das eiserne Kreuz, bei Laon ernannte ihn Blücher auf dem Schlachtfelde zum Officier, und bei Waterloo erhielt er den Orden pour le mérite. Und er war nicht einmal von Adel. Aber er war, wo es Muth und Unerschrockenheit galt, immer der Erste und der Kaltblütigste gewesen, und sein Körper trug fast unzählige Wunden, die das bezeugten. Und für Wunden, für Muth, für Orden und Uniformen und wilde Pferde und unerschrockene Reiter haben Frauenherzen ein Faible. Und dabei erzählten sie sich denn gar weiter, wie ihm auch das Herz so wund sei, ein paar glühende, dunkelschwarze französische Augen hätten es ihm angethan.

Bei Waterloo war er verwundet worden. Er hatte nicht darauf geachtet, und war mit der Armee weiter gezogen auf Paris zu. An der Seine hatte es ihn aber niedergeworfen, und man hatte ihn zurücklassen müssen, in einem stolzen alten Schlosse, wo eine mitleidige junge Dame den Kranken gepflegt hatte, um ihn mit ihren Augen und ihrer Liebe auf den Tod zu verwunden. Die stolzen Eltern hatten sie entfernt, aber sein Regiment gehörte zu denen, die noch ein paar Jahre in dem besiegten Frankreich Quartier machen mußten. Im Jahre 1817 führte ein Zufall ihn mit der Geliebten wieder zusammen; sie lebten Beide wieder auf, um nach wenigen Tagen in den Herzenstod der ewigen Trennung zu gehen. Er mußte mit seinem Regiment nach der deutschen Heimath zurückkehren; sie mußte in Paris irgend einem Marquis oder Vicomte ihre Hand reichen. Das war seine Herzenswunde, seine Melancholie, sein Schmerz. Und wo wäre eine Frau, die sich nicht berufen fühlte, eine solche Herzenswunde zu heilen, den Schmerz in laute, helle Liebeswonne umzuwandeln? Freilich kann es nur ein Engel. Aber ein Engel war Franziska von Wangen, und er erkannte den Engel mit dem reinsten, dem edelsten Herzen, und sie heilte sein verwundetes, und wenn er Rittmeister wurde, wollten sie heirathen. Premierlieutenant war er schon lange, der älteste im Regiment, allein er war bürgerlich, gar eines Bauern Sohn und nur auf dem Schlachtfelde zum Officier gemacht. Da konnte er kein Rittmeister im Regimente werden, überhaupt nicht in der Armee. In der Gensd’armerie boten sie es ihm an, aber das wollte er nicht, denn Gensd’arm ist nicht Jedermann gern. Als Lieutenant konnte er nicht heirathen; er war arm, hatte nur seine Lieutenants-Gage und Franziska von Wangen war arm wie er; ihr Vater, allerdings ein höherer Beamter, hatte gleichfalls nur seinen Gehalt und viele Kinder. Auf Eins rechneten sie noch. Der alte Blücher war zwar todt, aber Gneisenau lebte noch und Nostiz, und sie kannten den Muth und die Verdienste des Lieutenants Hille. Sie verwendeten sich auch für ihn, allein an maßgebender Stelle zuckte man über die alten Herren die Achseln und sprach mit Friedrich dem Großen: ,Ces anciens militaires finissent par radoter! (Diese alten Militärs werden schließlich albern.) Sind die Herren verrückt? Sprechen von Dankbarkeit für in schweren Zeiten geleistete Dienste! Von Pflichten! Wollen gar verlangen, daß in einem Husarenregimente ein bürgerlicher Campagne-Officier eine Schwadron bekomme, in der nur adelige Lieutenants stehen!‘

So standen die Sachen zu der Zeit, da mein braver Freund Georg von Römer als Regierungsrath in die Stadt versetzt wurde, in welcher das Regiment Hille’s in Garnison lag. Seine lebhaften, für alles Schöne empfänglichen Augen sahen Franziska von Wangen, das schönste Mädchen, das sie je erschaut hatten. Sein Herz, oder was man so nennt, war voll Gluth und Verlangen, sie mußte sein werden. Er machte ihr den Hof; er schmeichelte ihrem Vater und wußte sich Eingang in das Haus zu verschaffen. Er wurde ihr Anbeter, ohne den man sie nicht mehr sah. Er konnte es so werden, da Hille und Franziska, denen jede Aussicht zum baldigen Heirathen fehlte, nur heimlich verlobt waren, sich öffentlich nur selten und nur als fremde Personen sahen. Das Fräulein wies den überflüssigen Anbeter zwar zurück, kalt, frostig, stolz, doch es half nichts. Sie behandelten ihn dann mit der übermüthigsten Laune, und er kam immer wieder, nach den schwersten Demüthigungen. Er war reich, aus vornehmer Familie, sich der höchsten Laufbahn im Staatsdienste bewußt, und er hatte die Gunst des Vaters. Mein Freund Georg von Römer kam zu seinem Ziele. ‚Geht’s mit dem Himmel nicht, geht’s mit der Hölle!‘ sprach er mit dem Dichter.“


(Fortsetzung folgt.)


F. Stolle’s Frühling auf dem Lande. Dieses von der Kritik einstimmig mit großem Beifall begrüßte und auch von uns warm empfohlene reizende Idyll, „ein vom Dufte und Hauche des Lenzes umsponnenes Frühlingsgedicht, so rein und thaufrisch einer seelenvollen Innerlichkeit entsprossen, in welches das deutsche Gemüth und deutscher Humor eine köstliche Landpartie unternehmen, ein echt deutsches Buch“, hat in dem Feuilleton der Essener Zeitung einen anderweiten Abdruck gefunden. Selbstverständlich, daß Herr Bädeker, der Herausgeber der genannten Zeitung, sich zuvor mit Verfasser und Verleger über den Abdruck geeinigt.


Kleiner Briefkasten.


M. S… . r in Reichenberg. Wir bedauern, wenn Sie sich um Ihre Gedichte so große Sorgen machen; dieselben liegen „in guter Ruh“ – im Papierkorbe.