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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[113] No. 8.
1867.


Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.




Getrennt.
Von Von F. L. Reimar.
(Fortsetzung.)


Bei Alma’s Worten kam es wie eine Betäubung über Feldern’s Geist: das – das hatte er nicht gewollt, als er seinem Stolze jene Enthüllungen abgerungen, und daß sich vor seinen Augen eine ungeahnte, reiche Aussicht öffnete, vermochte er im ersten Moment kaum zu fassen. Sie erkannte, daß der Eindruck ihrer Worte nicht der war, den sie erwartet hatte; sie trat einen Schritt von ihm zurück und rief:

„Sprechen Sie ein Wort, Feldern, um Gotteswillen!“

„Alma, Sie wissen in diesem Augenblick nicht, was Sie thun!“ sprach er. Der weiche, innige Ton seiner Stimme gab ihr die volle Zuversicht wieder.

„Sie haben kein Recht, mir das zu sagen! Oder Sie müßten den Muth haben, mir zu sagen, daß Sie mich nicht lieben – können Sie das, Feldern?“

„Nein, bei Gott, Alma, das wäre eine Lüge, denn ich liebe Sie!“ sagte er fest.

Sie stieß keinen Laut des Entzückens aus, sie wußte es ja, daß er sie liebte, aber sie sah ihn mit leuchtenden Blicken an. „Vertragen sich denn Liebe und Kleinmuth?“ fragte sie.

„Nennen Sie Entsagen Kleinmuth, Alma?“

„Ich glaube nicht an Ihr Entsagen, Feldern! Wagen Sie es, das Geschenk zurückzuweisen, das ich Ihnen in dieser Stunde geboten habe?“

„Vielleicht doch,“ versetzte er leise, „Vielleicht führe ich Sie zur Erkenntniß, daß keine Bürgschaft künftigen Glücks darin liegt.“

„Für Sie oder für mich, Feldern?“ fragte sie gespannt und stolz.

„Könnte ich glücklich sein, wenn Sie es nicht sind, Alma? Und daß Sie in einen Zwiespalt mit Ihrem ganzen bisherigen Sein und Leben gerathen würden, wenn Sie mein Weib wären, das sehe und sage ich Ihnen in dieser Stunde voraus. Eine durch Rang und Reichthum glänzende Stellung, an deren Vortheilen Ihr Herz hängt, würden Sie mit einer bescheidenen vertauschen müssen, in der Ihnen selbst manche Entbehrungen nicht zu ersparen blieben; unsere Charaktere sind nicht die gleichen –“

„Aber meine Antwort ist auf Alles, was Sie mir noch sagen können und wollen, die gleiche, Feldern: ich liebe Sie! Ist Ihnen das nicht genug?“

Sie sah in diesem Augenblick so unbeschreiblich lieblich aus, daß er fühlte, wie ihn selbst die kühle Besonnenheit verließ und er nur noch das Weib vor sich sah, das er mit verzehrender Sehnsucht liebte und das sich ihm in dieser Stunde zu eigen gelobte für’s Leben. Einen Augenblick darauf ruhte sie an seinem Herzen und in einer kurzen, seligen Minute vergaß er alle Zweifel und Hindernisse, wodurch er selbst seiner Liebe den Weg zu versperren gesucht hatte. Dann aber trat der Gedanke an die Wirklichkeit um so viel herber an ihn heran.

„Deine Eltern, Alma – werden sie unserem Bunde ihren Segen geben?“ fragte er.

„Gewiß,“ sagte sie. „Der Vater kann seinem Lieblinge nichts abschlagen und ist mir im Nothfalle auch ein Bundesgenosse gegen die Vorurtheile der Mutter, die wir zu besiegen wissen werden.“

Ein Schatten glitt über Feldern’s Antlitz, doch sagte er nichts, und Alma sprach darauf wieder so innig und seelenvoll zu ihm, daß er sich von dem Zauber ihres Wesens gefangen fühlte.

Später, als er sie verlassen hatte, fand er sich als den Spielball der wechselndsten Empfindungen. Ein Glück war über ihn gekommen, um das ihn Hunderte beneiden würden, und er wußte, wie es seine Seele berauscht hatte; und doch wieder erinnerte er sich des Gefühls, welches ihn gewarnt, nach demselben zu ringen, ja, was ihn angetrieben hatte, die keimende Neigung auch im Herzen des jungen Mädchens zu ersticken. So wie er sie kannte, mußte eine Schilderung der Verhältnisse, der Makel, der an seinem Namen haftete, sie diese Neigung als einen Irrthum ihres Herzens, erkennen lassen, sie von ihm lösen. Er hatte sich verrechnet – und einen Moment jauchzte seine Seele auf bei dem Gedanken, daß ihre Liebe tiefer sei, als er geglaubt. In der nächsten Minute aber packte ihn wieder der Zweifel, ob er, ob nicht vielmehr sie sich dennoch täusche, indem es nicht Liebe, sondern ein aufwallendes Gefühl, das der Großmuth war, welches sie angetrieben hatte, ihm ihr Herz, ihre Hand zu bieten – und sein Inneres zuckte vor Qual bei dieser Vorstellung. Wie aber auch der Zusammenhang sein mochte, sein Weg war ihm jetzt vom Schicksal vorgezeichnet und die Ehre schon gebot, ihn zu verfolgen.

Noch an demselben Tage richtete er seine schriftliche Werbung um Alma’s Hand an deren Vater, in Worten, die sowohl seinem männlichen Selbstgefühl wie seiner aufrichtigen Liebe entsprachen, erregte aber damit eine unbeschreibliche Aufregung in der Büsching’schen Familie. Während die Eltern, namentlich die Mutter, seine Anmaßung und Dreistigkeit unbegreiflich, nahezu empörend fanden, erklärte Alma ganz entschieden, Feldern’s Hand annehmen zu wollen, und wußte so überredend zu wirken, die Waffen des Trotzes und der Schmeichelei so wohl zu gebrauchen, daß sich der überaus nachgiebige Vater bald ihrem Willen geneigt zeigte und es nur übrig blieb, den Widerstand der Mutter zu brechen, welche ihre [114] Einwilligung anfangs entschieden verweigerte. Sie erinnerte an das Aufsehen der Welt bei dieser Mesalliance: – Alma erklärte, sie sei zu stolz, um sich um das Gerede derselben zu kümmern; sie weissagte der Tochter künftige Enttäuschung und das Elend, welches aus einer so unnatürlichen Verbindung hervorgehen müsse: Alma erwiderte, sie fühle sich stark genug, um jedem Schicksal die Stirn bieten und sich für ihr eigenes wie für ihres Gatten Glück verbürgen zu können.

In ihrer Bedrängniß wandte sich die Mutter an den Schwager in der Residenz, dem sie alle Thatsachen mittheilte und an welchem sie einen mächtigen Bundesgenossen zu finden hoffte. Aber auch er schlug sich auf die Seite der Liebenden. Als Diplomat wußte er die Bedeutung des fait accompli zu würdigen und bat die Frau Schwägerin, mit ihrem Segen dem jungen Paare zugleich seinen Glückwunsch auszusprechen. Uebrigens erinnerte er an seine früher gegebene, aber nicht beachtete Warnung. Jedenfalls – das erkannte Alma – hatte sie durch die Aeußerungen des Ministers viel bei der Mutter gewonnen und wußte diesen Vortheil so geschickt zu benutzen, daß sie den Sieg bald völlig auf ihrer Seite sah und bereits nach wenigen Tagen zum zweiten Male, jetzt aber mit jubelndem Frohlocken, ihre Hand in die Feldern’s legen und als seine erklärte Braut die Glückwünsche der Welt in Empfang nehmen durfte.

Während der Tage des Zweifels und der Ungewißheit hatte Feldern es vermieden, Melanie, an die er bisweilen mit einem unruhigen Gefühl dachte, zu sehen. Sobald aber Alles entschieden war und er Alma die Seine nennen durfte, empfand er es als eine wenn auch schwere Pflicht, die junge Schauspielerin von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen. Er wurde aber nicht zu ihr gelassen; Melanie sei krank, hieß es. Am folgenden Tage empfing er dieselbe Antwort, und als er dann noch einen Versuch machte, sie zu sehen, fand er ihre Thür verschlossen und erfuhr von den Hausleuten, sie sei plötzlich abgereist. Wie er später hörte, hatte sie der Direction des Theaters eine bedeutende Summe gezahlt, um für den Bruch des Contractes zu entschädigen; wohin sie sich aber gewandt, konnte er nicht erfahren.




Etwa zwei Jahre später saß der Minister von Büsching in dem Besuchzimmer seiner Schwägerin, der verwittweten Oberforstmeisterin, die jetzt in der Residenz lebte. Er war gekommen, um sie nach der Rückkehr von einer längeren Reise zu begrüßen, und jetzt im eifrigen Gespräch mit ihr begriffen.

„Nach Allem, was Sie mir von Ihrem Besuch bei dem jungen Paare erzählen, liebe Frau Schwägerin,“ sagte er, „muß ich leider schließen, daß derselbe Sie nicht sehr befriedigt hat.“

„Wie konnte er das?“ entgegnete die Dame. „Er hat nur bestätigt, daß ich in meiner Voraussicht Recht hatte, als ich mich der Verbindung widersetzte. Alma ist nicht, kann nicht glücklich sein neben einem Mann wie Feldern.“

„Ihr Schwiegersohn gefällt Ihnen nicht?“ fragte er leichthin.

„Nein!“ sagte sie kurz.

„Das bedaure ich, denn die Welt rühmt den Professor Feldern nicht allein als einen tüchtigen Gelehrten, sondern auch als einen ausgezeichneten Charakter.“

„O ja! ich bestreite es nicht, in ihrem Sinne mag er Alles das sein; aber um eine Frau, eine Frau, die ihrer Geburt und Erziehung nach einer anderen Sphäre angehört, glücklich zu machen, genügt nicht der Ruf seiner Rechtschaffenheit und die Vergötterung seiner Studenten.“

„Was halten Sie für nothwendig, liebe Frau Schwägerin?“

Sie überhörte seinen sarkastischen Ton und fuhr eifrig fort: „Vor allen Dingen jenes je ne sais quoi des Wesens und Verhaltens, mit einem Wort den vornehmen Ton, der Feldern fehlt. Ich habe ihn in meiner Tochter herangebildet, sie dazu erzogen, von einer gewissen Höhe auf das allgemeine Treiben herabzusehen, und muß nun erleben, daß Feldern ihre Weise nicht selten tadelt und verlangt, daß sie ihre bisherigen ‚Allüren‘ ihrer gegenwärtigen Stellung opfern solle.“

„Und Alma, fügt sie sich dem?“ fragte der Minister gespannt.

„Wie kann sie ihre Natur verleugnen? Und thäte sie es, auf Dank und Anerkennung dürfte sie nicht einmal rechnen. Ich sage es mit Kummer, nie in meinem Leben ist mir ein egoistischerer Mensch vorgekommen als Feldern, und in diesem einen Punkte – ich gestehe es – habe ich mich in meiner Voraussicht getäuscht. Das Einzige, was mich mit der Verlobung aussöhnte, war die Hoffnung, daß Feldern mein Kind für die Opfer, die Alma ihm brachte, auf den Händen tragen, ihr durch’s ganze Leben dafür danken würde. Anstatt dessen that er vom ersten Tage an, als ob Alles nur so sein müsse, und als ich ihn einmal zur Erkenntniß zu führen suchte, was Alma seinetwegen verlassen und aufgegeben habe, antwortete er mir in einem Tone, von dem ich nicht wußte, ob er Scherz oder Ernst bedeuten solle: ‚Dafür ist sie eben meine Frau geworden!‘“

Der Minister konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, fragte aber nur: „Hat Alma Ihnen ihr Leid geklagt?“

„O nein, dazu ist sie zu stolz, aber ich müßte nicht die Mutter sein, wenn ich nicht sähe, wie bitter sie diese Rücksichtslosigkeit ihres Mannes empfindet.“

„Und sonst behandelt er sie gut?“ fragte Herr von Büsching.

„Ich weiß nicht, was Sie unter ‚behandeln‘ verstehen, Herr Schwager,“ entgegnete die Dame gereizt und stolz, „von Beleidigungen durch Worte oder Benehmen kann natürlich meiner Tochter gegenüber keine Rede sein.“

Der Minister ließ leise die Finger auf der Tischplatte spielen und richtete darauf noch einige Fragen an seine Schwägerin, die sich auf die angedeuteten Verhältnisse bezogen, sah dann nach seiner Uhr und empfahl sich mit der Bemerkung: „Wir wollen die Sache noch reiflich überlegen, liebe Frau Schwägerin, und dann sehen, wie wir Alma vor der Bedrückung ihres Tyrannen schützen!“

Ob seine Worte ernst oder ironisch gemeint waren, vermochte sie nicht zu unterscheiden.

Die Oberforstmeisterin hatte Recht, wenn sie Alma nicht glücklich nannte. Einst hatte diese die Hindeutung Feldern’s auf die Ungleichheit ihrer Charaktere mit der einfachen Antwort: „Ich liebe Sie!“ abgeschnitten und geglaubt, damit Alles gesagt zu haben. Und doch – wie kurze Zeit hatte hingereicht, um ihr diese Verschiedenheit klar zu machen, sie um einen Theil ihrer freudig-stolzen Hoffnungen zu betrügen! Als sie sich damals dem Manne ihrer Wahl zu eigen gab, hatte sie sich sehr glücklich gefühlt, aber sich zugleich – vielleicht halb unbewußt – in den Strahlen ihrer eigenen Großmuth gesonnt. Sie hatte etwas von dem Gefühl einer Göttin gehabt, die zu einem armen Sterblichen niedersteigt, um über den Erstaunten, Bewältigten das Füllhorn ihrer Huld auszuschütten; – Alles aber in der stillschweigenden Voraussetzung, daß er dagegen für immer anbetend zu ihr aufschauen würde. Und nun war es so ganz anders gekommen! Zwar an Feldern’s Liebe durfte sie nicht zweifeln, aber von der Schwärmerei eines Liebhabers zeigte er sich weit entfernt und statt des Weihrauchs, in den ihre früheren Verehrer sie gehüllt hatten, empfing sie nicht selten eine milde Zurechtweisung oder nur halb versteckte Ermahnung, die sie mit dem Trotz eines verzogenen Kindes aufnahm. Der Gedanke: „Er würdigt Dich und Dein Opfer nicht so, wie er sollte!“ griff mehr und mehr Platz in ihrem Herzen und trat auch in ihrem Benehmen immer deutlicher hervor. Sein verwundetes Gefühl hüllte sich dagegen in das Gewand äußerer Kälte; die Momente innerlicher Verständigung wurden immer seltner, und so kam es, daß nach kurzer Zeit Beide sich fast fremd gegenüberstanden, ohne daß sie doch dem Gefühl, welches sie zusammengeführt hatte, eigentlich ungetreu geworden wären. Wirklich schroff wurde aber das Verhältniß erst nach dem Tode von Feldern’s Mutter, der Alma sich in kindlicher Hingebung genähert hatte. Der alten Frau bewies sie das weichste Zartgefühl, und diese wiederum liebte die Schwiegertochter sehr und pries täglich das Glück ihres Sohnes, dessen Weib sie geworden war. Bezeigte Feldern aber in irgend einer Weise Alma seine Dankbarkeit, so war es für die Sorge, welche sie seiner Mutter widmete, und so lange Letztere lebte, war immer ein Boden da, auf dem die beiden Gatten Hand in Hand gingen, während ihr Tod eine stets größer werdende Kluft zwischen ihnen aufriß. –

Ein längeres Unwohlsein, das zwar nicht bedenklich war, dessen Beseitigung die Aerzte aber wünschten, hatte Feldern in das Bad … geführt. Währenddem war seine Frau zum Besuche ihrer Mutter nach der Residenz gereist. Feldern, dessen Stimmung in der letzten Zeit ernster gewesen als je, lebte sehr zurückgezogen in dem Badeorte. Er verschloß der Welt sorgfältig sein Inneres und galt darum für einen hypochondrischen Sonderling, [115] was aber nicht hinderte, daß die Herren seine gediegene Unterhaltung suchten und die Frauen, denen er übrigens wenig Aufmerksamkeit widmete, ihn interessant fanden, indem sie für seine noble Haltung, sein ausdrucksvolles Gesicht schwärmten. Und so war er bald, ohne es selbst zu wissen, einer der Hauptmittelpunkte der Gesellschaft.

Von einigen Freunden hatte er sich eines Abends zu einem Besuch des Schauspielhauses verleiten lassen, wo mit Emilie Galotti eine Reihe von Vorstellungen eröffnet werden sollte, zu denen die Hofschauspieler aus der Residenz des kleinen Landes nach dem vielbesuchten Badeort herübergekommen waren. – Während der Pause, die dem Beginn des Stücks voranging, musterte er den Theaterzettel, um die Namen der Darsteller kennen zu lernen, wenn auch nur mit halbem Interesse, denn er wußte, daß er hier keinen Koryphäen der Kunst begegnen würde. Mit einem Male aber blieben seine Blicke überrascht an einer Zeile hängen, welche als Inhaberin der Titelrolle Fräulein M. Wolde aufführte. War es möglich, sollte – konnte der Name die Schauspielerin bedeuten, zu der er selbst einst in näherer Beziehung gestanden hatte? Mit Ungeduld wartete er auf Emilia’s erstes Auftreten und beugte sich unwillkürlich aus seiner Loge vor, als sie erschien: es war wirklich Melanie. Er hatte sie seit jener heimlichen Abreise, die fast einer Flucht glich, nicht wiedergesehen, und obwohl ihn dieselbe anfangs erschütterte, so sagte er sich doch bald, daß es für beide Theile besser sein möchte, ein Wiedersehen zu vermeiden; denn was konnte er ihr noch sein, was ihr nur sagen, das sie zu trösten vermochte? Unter der Hand unterließ er jedoch nicht, Nachforschungen nach ihr anzustellen, und fühlte sich beruhigt, als er nach einiger Zeit erfuhr, sie sei bei einem süddeutschen Stadttheater angestellt und dort als tüchtige Schauspielerin beliebt. Sie selbst ließ ihm kein Lebenszeichen zukommen und so erfuhr er von ihren weiteren Schicksalen nichts, bis der Zufall hier diese unerwartete Begegnung herbeiführte.

Mit großem Interesse wohnte er Melanie’s Leistung bei und der Kritiker in ihm fühlte sich befriedigt durch den großen Fortschritt, den sie in ihrer Kunst gemacht hatte. Ihr Spiel war ohne Frage reifer, vollendeter als damals, wo er sie zuletzt als Prinzessin Eboli gesehen; ihre Auffassung erschien ihm edler, und mit aufrichtiger Freude sagte er sich, daß vielleicht ihre ganze Persönlichkeit eine ähnliche Umwandlung erfahren habe. In der letzten Scene, wo sie den Vater zwang, ihr den Dolch in’s Herz zu stoßen, das sich wohl stark genug fühlte, zu sterben, nicht aber, der Liebe des Prinzen zu widerstehen, war ihr Spiel von erschütternder Wahrheit und zugleich so hinreißendem Feuer, daß sie sich den einstimmigen Hervorruf des Publicums errang, dessen Beifall sie vom ersten Augenblick an begleitet hatte. Als sie sich dankend verneigte und ihre dunklen Augen über das Publicum schweifen ließ, wurden ihre Blicke für einen Moment starr, denn sie hatten Feldern’s Loge getroffen; die Schminke ließ aber nicht erkennen, daß ihre Wangen bleich wurden, und ebenso verrieth kein weiteres Zeichen ihre innere Bewegung. Feldern wußte indessen, daß sie ihn erkannt, und es wäre ihm als ungerechtfertigte Härte erschienen, wenn er sie ignorirt hätte. Schon am folgenden Tage, als er erfahren hatte, wo sie wohnte, ging er zu ihr. Wenn er aber bei der leidenschaftlichen Natur der Schauspielerin gefürchtet hatte, daß sie ihm bei dem Wiedersehen eine Scene bereiten würde, so hatte er sich getäuscht. Melanie empfing ihn zu seiner Ueberraschung in vollkommener Haltung und schien sich über das Zusammentreffen mit dem alten Freunde herzlich zu freuen. Sie überging es leicht, daß sie sich vor Jahren ohne Abschied von ihm getrennt hatte, und ebenso erwähnte sie mit keiner Silbe der Veranlassung, welche einen Abbruch der früheren Beziehungen zwischen ihnen herbeigeführt hatte. Feldern war dies sehr lieb; es wäre ihm unsäglich schwer gewesen, mit der Schauspielerin von Alma zu sprechen, und er empfand es mit einer Art von Dankbarkeit, daß sie selbst Alles, was die Unterhaltung peinlich machen konnte, vermied. Dafür wurde sein warmes Interesse wieder rege, als sie ihm die Einzelnheiten ihres bisherigen Lebens enthüllte, und mit herzlicher Freude erkannte er, daß ihre Schicksale sie allmählich zu einer äußerlich angenehmen Lebensstellung geführt hatten. Noch mehr aber freute er sich der Ruhe, mit der sie jetzt das Verhältniß zu ihm aufzufassen schien, und als er ihr beim Abschiede die Hand reichte und sie den Wunsch aussprach, daß es nicht bei dieser einen Begegnung bleiben möge, glaubte er ihr ohne Bedenken eine Wiederholung seines Besuches zusichern zu dürfen. Hätte er jedoch gesehen, wie Melanie nach seiner Entfernung in leidenschaftliches Weinen ausbrach und sich dann wieder der ganzen Heftigkeit ihrer Natur überließ – er würde nicht gewagt haben, zum zweiten Male ihre Schwelle zu überschreiten.

Das bunte Leben des Badeorts hatte außer den Curgästen eine Menge andere Besucher herbeigezogen, die sich auf kürzere oder längere Zeit von der Gesellschaft, nach Umständen auch von dem Reiz der Spielbank fesseln ließen. Unter den letzteren war der Baron Alfred von Wertach, Officier in **schen Diensten, aus einer hocharistokratischen, der Büsching’schen nahe verwandten Familie. Er hatte vor Zeiten zu den Bewunderern seiner schönen Cousine gehört, und wäre Alma ihm nur im Geringsten entgegengekommen, so hätte seine Neigung ohne Zweifel zu einer Bewerbung geführt. Sie hatte aber eine entschiedene Abneigung gegen den Cousin, dessen hochfahrendes, rücksichtsloses Wesen sie verletzte, und ließ ihn dieselbe sehr deutlich merken, so daß er sich bald mit innerem Verdruß zurückzog. Mit wahrem Grimm erfüllte es ihn aber, als Alma bald darauf einem bürgerlichen, obscuren Menschen ihre Hand reichte, und er ließ von dieser Zeit an alle Verbindung mit der Familie fallen. Dennoch hatte er zu tief in die schönen Augen der Cousine geblickt, um die Erinnerung daran los werden zu können, und eine Art von eifersüchtigem Haß fühlte er in sich aufflammen, als er hier zum ersten Mal mit Feldern zusammentraf, den er bis dahin nicht persönlich gekannt hatte. Es war daher nicht zu verwundern, daß er jeder näheren Berührung mit ihm auswich, und wenn er sich trotzdem nicht versagen konnte, ihn insgeheim zu beobachten, so hatte Feldern keine Ahnung davon, daß in dem ihm völlig Unbekannten ein Feind auf ihn laure. Auf dem Rückwege nach seiner Garnison machte Wertach einen Abstecher nach der Residenz, wo seine Tante, die Oberforstmeisterin von Büsching lebte, weil er zufällig gehört hatte, daß Alma sich bei derselben aushielt und er es daher passend fand, sich nach langer Zeit einmal wieder der Verwandtschaft zu erinnern.

Zu seinem großen Verdruß fand er Alma nicht daheim und da seine Weiterreise keinen Aufschub litt, durfte er nicht auf ihre Rückkehr warten, sondern mußte sich mit der Gesellschaft der alten Dame begnügen. Vielleicht hatte er nun aber aus der Noth eine Tugend gemacht, denn er ließ sich in eine langdauernde, eifrige Unterhaltung mit ihr ein, die wenigstens einen der beiden Theile auf’s Aeußerste erregte.

„Wie schade, Alma, daß Du nicht zu Hause warst!“ rief die alte Dame ihrer Tochter bei der Heimkehr entgegen, „Du würdest Dich sicher gefreut haben, einen alten Bekannten wiederzusehen, der sehr unglücklich war, Dich nicht zu treffen.“

„Du machst mich neugierig, Mama,“ entgegnete Alma, ohne daß aber ihr Ton dieser Versicherung entsprach. – Die Mutter nannte den Namen Alfred, war jedoch sehr unangenehm berührt, als Alma mit einem verächtlichen Lächeln und den Worten: „Leider bedaure ich sehr wenig, ihn verfehlt zu haben,“ antwortete.

„Du verkennst Deine Freunde, Alma,“ rief sie gereizt. „Er sprach mit der größten Hochachtung, dem wärmsten Attachement von Dir und es rührte mich tief, als er sich gar nicht wieder von dem Anschauen Deines Bildes, das ich ihm zeigen mußte, losreißen konnte. Ich hätte gewünscht, daß in die Seele eines Andern etwas von den Empfindungen, die ihn so bewegten, übergehen könnte.“

„Mama!“ warnte Alma.

„Ja, Alma, ich sage, ich wiederhole es,“ brach die erregte Frau hervor: „Feldern ist unfähig, den Werth seines Besitzes zu würdigen; er verdient –“

„Was, Mama?“ fragte Alma ruhig.

„Daß ihm dieser Besitz genommen wird, denn er ist Deiner unwürdig.“

Alma stand auf: „Wenn ich Dich länger hören soll, Mama,“ sagte sie ernst, „so mäßige Deine Angriffe auf meinen Gatten; ich darf nicht dulden, daß man ihn beleidigt.“

„Nein, Alma, nein! Du sollst und mußt mich hören!“ rief die Mutter. „Weißt Du, daß Feldern Dich betrügt, daß er seine und Deine Ehre verräth, indem er einem anderen Weibe huldigt?“

„Halt’ ein, Mama!“ unterbrach Alma sie kalt und stolz, „und laß Dich warnen vor dem, der gewagt hat, diese Ehre, Feldern’s und meine Ehre, mit einer Lüge anzutasten.“

[116] „Es ist keine Lüge, Alma! Alfred hat mir geschworen, daß Alles, was er mir von Feldern gesagt hat, Wahrheit ist.“

„Also von ihm kommt das Gift?“ murmelte Alma, während in ihre bisher bleichen Wangen die Röthe des Zornes stieg. „Was sagte Dir denn Alfred?“ fragte sie bebend.

„Er erzählte mir von dem Aufsehen, welches es in … mache, daß Feldern in intimen Beziehungen zu einer Schauspielerin stehe, die er häufig mit seinen Besuchen beehre, während er sich sonst fern von dem weiblichen Theil der Badegesellschaft halte. Man nehme allgemein an, daß die Person – es ist eine gewisse Melanie Wolde – ihn gänzlich in ihren Netzen habe. Er fügte hinzu, daß er selbst sich empört fühle über Feldern, den er immerhin als seinen Verwandten ansehen müsse, namentlich seit den Erkundigungen, die er in der Hoffnung, ihn rechtfertigen zu können, nach seinem früheren Leben eingezogen habe. Er hat daraus leider die Beweise sammeln müssen, daß das Verhältniß bereits ein altes ist, daß es schon vor Eurer Verlobung bestanden hat und damals nur auf eine Weile unterbrochen worden ist.“

„Und das wagte er Dir zu sagen, Mama, und erlebte nicht, daß Du ihm die Thür wiesest für seine schändliche Verleumdung?“ rief Alma, außer sich vor Entrüstung.

Die Mutter fühlte sich bei der Erinnerung verwirrt, daß sie nur zu gern diesen Enthüllungen gelauscht, nur zu bereitwillig auf Alfred’s hingeworfenes Wort, daß die Thatsachen mehr als genügend sein würden, um eine Trennung von „dem Menschen“ herbeizuführen, eingegangen war und daran schon eine Hoffnung auf eine spätere Möglichkeit in Betreff Alfred’s selbst geknüpft hatte. „Aber, Alma, ich begreife Dich nicht,“ stotterte sie verlegen.

„Ich aber begreife,“ unterbrach die Tochter sie stolz, „daß es an mir ist, die Ehre und die Rechte meines Gatten zu wahren, und Niemand soll sie antasten, so lange sein Weib neben ihm steht, denn so gewiß ich an meinen Gott glaube, so gewiß, Mama, glaube ich an die Reinheit meines Gatten!“

Es mischte sich eine Innigkeit in ihren Ton, wie sie lange nicht mehr mit dem Gedanken an Feldern verbunden gewesen war, und diese ließ sie jetzt auch weicher gegen die Mutter sprechen, die bereute, daß sie zu weit gegangen war, und seufzend erkannte, daß das Herz der Tochter fester an dem Gatten hing, als sie für möglich gehalten hatte.

Alfred hatte sich einer starken Uebertreibung schuldig gemacht, wenn er das Aufsehen, welches der Verkehr Feldern’s mit der Schauspielerin mache, ein scandalöses genannt hatte. Allerdings hatte es einiges Befremden erregt, daß der ernste Professor, der sich so zurückgezogen hielt, dem jungen Mädchen gewisse Aufmerksamkeiten bewies, aber man fand doch bald die in ruhigem Ton abgegebene Erklärung, daß er sie bereits als angehende Künstlerin gekannt und bisweilen mit seinem kritischen Rath unterstützt habe, genügend, um sein Interesse zu begreifen. In der Meinung der älteren Herren stand sein Charakter überdies zu hoch, als daß ihm von dieser Seite unlautere Motive untergelegt worden wären, und die jüngere Herrenwelt, die sich für die piquante junge Schauspielerin enthusiasmirte, sah in ihm keinen Gegenstand ihrer Eifersucht, denn er mischte sich nie in den Kreis, der sich bei ihrem Erscheinen auf der Promenade oder in öffentlichen Localen um sie sammelte. Ebenso wenig fiel es ihm ein, sich den Cavalcaden anzuschließen, die häufig Ausflüge nach näheren oder entfernteren Punkten der Umgegend machten und an deren Spitze Melanie – in der Regel die einzige Dame dieser Gesellschaft – als gewandte und kühne Reiterin der Schaar der Herren voranflog. Ihre Laune, ihr Witz waren bei allen solchen Gelegenheiten unerschöpflich und es schien, als ob sie von allen Wesen unter der Sonne das fröhlichste sei, ohne daß man ihr indessen irgend eine Unziemlichkeit des Benehmens hätte vorwerfen können, wenn sie schon von der Frauenwelt ziemlich gehaßt war.

(Fortsetzung folgt.)




Das Tusculum eines amerikanischen Dichters.


Unter der großen Zahl fremder Schriftsteller unserer Zeit sind wenige in Deutschland besser bekannt und höher geschätzt, wie der Amerikaner Washington Irving, und er ist in der That der Anerkennung würdig, die ihm dort gezollt wird. Eine leichte,

Sunnyside, Washington Irving’s Landsitz.

gefällige und doch abgerundete Schreibart, reges Phantasiespiel, ausgezeichnete Gabe der Darstellung und ein Humor, der lebhaft an Walter Scott erinnert, sind die Vorzüge, welche Irving den Beifall aller gebildeten Völker erworben haben; den deutschen Leser aber zieht besonders die Gemüthlichkeit an, die sich in seinen Schriften, namentlich denen leichteren Inhalts, ausspricht. Man kann Irving’s Werke nicht lesen, ohne seine Persönlichkeit lieb zu gewinnen und sich zu ihm hingezogen zu fühlen, wie zu einem Freunde; und wie er sich dem Leser in seinen Schriften darstellt, so war er auch wirklich im Leben: einfach, wahr, bescheiden, wohlwollend, milde in der Beurtheilung Anderer und voll hohen Sinnes für das Recht. Nicht der leiseste Makel haftet an seinem Namen. Sein vor einigen Jahren erfolgter Tod erregte überall in den Vereinigten Staaten das größte Bedauern, und hier in New-York, seiner Geburtsstadt, fanden öffentliche Demonstrationen statt, um sein Andenken zu ehren. Es ist nicht meine Absicht, in diesem Aufsatze auf Irving’s literarisches Wirken im Einzelnen einzugehen; seine anmuthigen kürzeren Schilderungen sowohl, wie seine wichtigeren Werke geschichtlichen Inhalts werden ja im Originale oder in der Uebersetzung von allen Gebildeten in Deutschland gelesen, und das „Skizzenbuch“, die „Erzählungen eines Reisenden“, „Bracebridge-Hall“, die „Alhambra“, das „Leben des Columbus“ etc. sind dort kaum minder einheimisch, wie hier in seinem Geburtslande.

Irving hat fast den dritten Theil seines langen, thätigen Lebens in Europa zugebracht. Meistens in England verweilend, machte er von dort aus Reisen nach den Niederlanden, Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien, und in letzterem Lande sammelte er den Stoff für seinen „Columbus“ und andere auf Spanien bezügliche Schriften. Als er nach seinem zweiten siebenzehnjährigen Aufenthalte in Europa in gereiftem Alter in sein Vaterland zurückgekehrt war, erwarb er sich an den Ufern des Hudson, jenes Stromes, den er so trefflich beschrieben und mit dem Zauber der Romantik umkleidet hat, einen Landsitz, wo er, fern vom Getümmel der großen Metropole, in ländlicher Zurückgezogenheit [117] seinem literarischen Berufe oblag. Dieses Landhaus, von Irving „Sunnyside“„(sonnige Seite) getauft, hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, sowohl wegen der Erinnerungen, die sich an seinen ehemaligen Bewohner knüpfen, als auch wegen seiner merkwürdigen alterthümlichen Bauart und reizenden Lage, und es wird daher von Fremden und Einheimischen häufig besucht.

An einem Sonntage im October des vorigen Jahres unternahm ich meinen lange beabsichtigten Ausflug nach Sunnyside, wobei ich zwei junge mir befreundete Amerikaner zu Begleitern hatte. Eine einstündige Fahrt auf der Hudson-River-Eisenbahn brachte uns, dicht am linken Ufer des schönen Stromes hin, zur Station Irvington, wo wir den Zug verließen. Nach kurzer Wanderung

Die Kirche im „schläfrigen Thale“.

sahen wir auf einer niedrigen, aber steilen Anhöhe zu unserer Rechten die Giebel von Sunnyside über Baumwipfeln hervorragen. Einige Augenblicke später standen wir vor dem Gebäude. Das Haus unterscheidet sich in Art und Form von allen den stattlichen, die verschiedensten Baustyle vertretenden Landhäusern, mit welchen die Ufer des Hudson besät sind; obwohl von sehr bescheidener Größe, hat es ein solides, dauerhaftes Ansehen und ist holländischen Ursprungs, wie die mit Wetterhähnen gekrönten Treppengiebel auf den ersten Blick zeigen. Das rothe Dach bildet einen angenehmen Gegensatz zum weißen Anstriche, obwohl von letzterem nicht viel gesehen werden kann, da das Gebäude fast ganz in Grün gehüllt ist; Geisblatt, wilde Rosen, Epheu und andere Rankengewächse wuchern an den Wänden mit solcher Ueppigkeit empor, daß sie beinahe die Fenster verbergen und dem Hause ein laubenartiges Ansehen verleihen. Der Epheu von Sunnyside stammt von einer Ranke, die einst die Mauern von Melrose-Abbey in Schottland, unweit von Abbotsford, dem bekannten Wohnsitze Walter Scott’s, zierte. Ganz dem ländlichen, idyllischen Charakter des Hauses entsprechend sind die malerischen Gruppen von stattlichen Bäumen und Gebüschen, welche auf rasigem Grunde dessen nächste Umgebung bilden; ein Bach fließt murmelnd in steinigem Bette durch die Besitzung und speist einen kleinen Weiher, in welchem sich Enten lustig herumtummeln.

Sunnyside hat Irving von 1836 bis zu seinem im Jahre 1859 erfolgten Tode zum Wohnsitze gedient; von diesem Zeitraume sind jedoch vier Jahre abzurechnen, welche er in der ehrenvollen Stellung eines Gesandten der Vereinigten Staaten am spanischen Hofe zubrachte. Irving war bekanntlich nie verheirathet; seinem Haushalte in Sunnyside standen einige Nichten, die Töchter eines älteren Bruders, vor, die noch jetzt das Haus bewohnen. Lange bevor Irving Sunnyside zu seinem Aufenthalte auserkor, war es sein Wunsch gewesen, in der Nähe des Hudson einen Ruheplatz zu finden, „um dort,“ wie er sich ausdrückte, „fern von den Zerstreuungen der Welt, den Rest eines bewegten Lebens in Frieden zu verträumen.“ Dieses Verlangen ist vollständig erfüllt worden. In unabhängigen äußern Verhältnissen lebend, von theilnehmenden Verwandten umgeben und inmitten der Scenen, denen er seine ersten Eingebungen verdankte, hat er sich viele Jahre der ersehnten Ruhe erfreut, ohne jedoch immer zu „träumen“, wie seine späteren Schriften, aber namentlich die Bände beweisen, in denen er das Leben Washington’s beschrieben hat.

Wir verweilten lange in der anmuthigen Nähe von Sunnyside, Alles in Augenschein nehmend, was uns bemerkenswerth erschien; unser letzter Besuch galt der zwischen Bäumen versteckten niedlichen Gärtnerwohnung, welche nach einem von Irving selbst entworfenen Plane erbaut worden ist. Dann nahmen wir Abschied von dem Tusculum des amerikanischen Dichters und zogen weiter. Das nächste Ziel unserer Wanderung war Tarrytown, wenige Meilen weiter am Hudson hinauf gelegen. Dies ist der Ort, dessen Umgebung Irving zur Scene einer seiner reizendsten kleinen Erzählungen, der Sage vom „schläfrigen Thale“ gemacht hat, und ganz in der Nähe, ja jetzt im Orte selbst, befindet sich die Stelle, wo Major André gefangen genommen wurde. Bekanntlich war es André, englischer Major und Adjutant General Clinton’s, gewesen, der im Auftrag seiner Regierung mit dem Verräther Arnold unterhandelte welcher sich erboten, gegen einen Judaslohn von dreißigtausend Pfund Sterling den Engländern den wichtigen Punkt Westpoint am Hudson zu übergeben, dessen Befehlshaber er war. Der Anschlag mißglückte; André ward ergriffen und als Spion aufgeknüpft.

Die Amerikaner haben André stets milde beurtheilt und ihm diejenige Achtung und Sympathie gewidmet, welche seine männlichen Eigenschaften und sein trauriges Loos verdienen. Er handelte lediglich im Interesse des Monarchen, in dessen Diensten er stand, indem er sich in jenes gewagte Unternehmen einließ, und als es fehlgeschlagen war und er keinen Ausweg vor sich sah, ergab er sich mit Würde in sein Schicksal und ging kaltblütig und entschlossen einem schimpflichen Tode entgegen. Jung, schön und talentvoll, fiel er der eisernen Regel des Krieges zum Opfer, während Arnold, der Schuldige, zeitig von ihm gewarnt, sich durch die Flucht rettete und seinem verdienten Schicksale entging. André’s Hinrichtung fand zu Tappan, auf der andern Seite des Hudson, statt, wo er auch begraben wurde; später jedoch brachte man seine Ueberreste nach England und setzte sie in der Westminsterkirche bei, woselbst ihm Georg der Dritte ein Denkmal errichten ließ. Seit 1853 bezeichnet auch in Tarrytown ein Denkmal den Ort seiner Gefangennehmung. Dieses nahmen wir zunächst in Augenschein.

Eine etwas steile Straße zwischen vereinzelten Häusern hinansteigend, gelangten wir bald zu der nach New-York führenden Landstraße, an welcher uns das Denkmal sogleich in die Augen fiel. Hier war es, wo André am 23. September 1780, als er sich in bürgerlicher Kleidung zu Pferde nach New-York begeben wollte, von drei bewaffneten Männern der Umgegend angehalten und gezwungen wurde, vom Pferde zu steigen. Seine Kleider wurden untersucht, und die verhängnißvollen Papiere kamen zum Vorscheine, die sein Schicksal besiegelten. Vergebens bot er eine bedeutende Summe, um seine Freiheit zu erkaufen: die Landleute wiesen alle Anerbietungen zurück und blieben unbestechlich. Er befand sich ganz nahe bei den englischen Vorposten und hielt in der That jene Personen für solche, wie aus dem Umstande hervorgeht, daß er sich ihnen unvorsichtiger Weise als Royalisten zu erkennen gab. Das Denkmal ist ein einfacher steinerner Obelisk von etwa zwanzig Fuß Höhe. Eine Inschrift auf der Seite, welche der Landstraße zugekehrt ist, belehrt uns, daß hier Major André, „der Spion“, an dem bereits erwähnten Tage von John Paulding, David Williams und Isaac van Wart zum Gefangenen gemacht worden sei, und preist die Uneigennützigkeit und Vaterlandsliebe der Genannten. Dieser Obelisk und André’s Monument in der Westminsterkirche! Ist wohl ein größerer Gegensatz denkbar? Zu André’s Zeit war dieser Platz ohne Zweifel noch wild und einsam; jetzt aber hat sich Tarrytown gegen die Anhöhe [118] hin ausgedehnt, und Landhäuser und Gärten bilden die Umgebung des Denkmals.

Nachdem wir darauf eine kurze Strecke nordwärts auf der Landstraße vorangeschritten waren, kamen wir zu einer links ablenkenden Biegung derselben, die uns bald in den Bereich von Sleepy Hollow (schläfriges Thal) brachte. Zu beiden Seiten des Weges erblickt man jetzt ländliche Wohnungen und Gärten, welche dieser überaus schönen und mit Vorliebe besiedelten Gegend den Charakter der Einsamkeit und Stille benehmen, weshalb auch die Bezeichnung „Sleepy Hollow“ heut zu Tage weniger passend erscheint, als zur Zeit, in welcher Irving seine Erzählung schrieb. Ganz in der Nähe auf einem kleinen Hügel, rechts vom Wege, steht die alte Kirche, deren Lage im „schläfrigen Thale“ so anmuthig geschildert wird. Sie ist von geringem Umfange und schmucklos und erinnert mit ihrem kleinen Glockenthürmchen an jene größeren Capellen, die man in den katholischen Theilen Deutschlands häufig antrifft. Hier zu Lande, wo fast alle Gebäude neuen Ursprunges sind, gilt diese Kirche für alt, weil sie, wie eine Inschrift an der Vorderseite anzeigt, im letzten Jahre des siebenzehnten Jahrhunderts erbaut wurde. Schon von Weitem hörten wir die Glocke zum Nachmittagsgottesdienste läuten und sahen die Kirchengänger in ihrer sonntäglichen Kleidung von allen Seiten herbeikommen. Die Gemeinde gehört, wie ehemals, der holländischen reformirten Kirche (Dutch reformed Church) an. Dicht an die Kirche stößt der geräumige, mit Grabsteinen ganz bedeckte Kirchhof, „auf dem die Sonnenstrahlen so ruhig zu schlummern scheinen.“ Hier und da eine alte Grabschrift lesend, durchwanderten wir denselben und gelangten an die nördliche Grenze, woselbst ein zweiter neuerer Kirchhof an den alten stößt. Ein schmaler, von lebendigen Hecken eingefaßter Pfad trennt beide. Auf diesem neuen Kirchhofe schläft Irving den langen Schlaf. Eine eiserne unverschlossene Gitterthür mit der Inschrift „Irving“ führt zu einem eingehegten Platze, wo die Angehörigen Irving’s in langer Reihe schlummern. Sein Grab befindet sich in der Reihe und ist nicht von den übrigen verschieden: ein einfacher Rasenhügel – am Kopfende ragt eine schmucklose weiße Marmortafel hervor, welche seinen Namen, den Tag seiner Geburt (3. April 1783) und seines Todes (28. Novbr. 1859) anzeigt. Auf dem Grabhügel lag ein verwelktes Blumenkreuz. –

Einfach, wie des Mannes Leben war, ist sein Grab, und so ist es gut! Ein kostbares Denkmal aus Marmor oder Erz könnte seinen Ruhm nicht vermehren und würde einen schroffen Gegensatz zu der Anspruchslosigkeit bilden, welche Irving im Leben kundgab. Jene prunklose Grabstätte dagegen steht ganz im Einklange mit dem Charakter des Mannes, dessen Staub sie bedeckt. Die rauhen Stürme des Lebens haben längst alle überflüssige Empfindsamkeit von mir abgestreift, aber dennoch konnte ich mich einer tiefen Bewegung nicht erwehren, als ich am Grabe dieses trefflichen Mannes weilte, den ich schon in früher Jugend verehrt habe. Ebenso erging es meinen Begleitern. Schweigend verließen wir den Ort und begaben uns wieder nach Tarrytown, von wo aus uns der Abendzug nach der Metropole zurücktrug.
Karl Rau in New-York.




Von den Geheimnissen der Vogelstellerei.
Von Gebrüder Karl und Adolph Müller.
1. Auf der Tränke.


Die Erinnerungen aus der Jugend sind die lebhaftesten im Menschenleben. Vornehmlich bleiben die Eindrücke unverlöschlich, welche wir im unmittelbaren Verkehr mit der Natur und ihren Gebilden empfangen. Der Vogelfang und die Liebe zu den fröhlichsten Wesen der Fluren und Wälder bilden einen Mittelpunkt dieser Romantik und Naturpoesie des Volkes und der Jugend, und selbst der im Ernste des Lebens Stehende kann sich dem Zauber nicht verschließen, welchen die Erinnerung an die Beschäftigung jener Naturkinder auf unsere Seele ausübt. So steht noch jetzt, nach dreißig Jahren, die Gestalt des alten Fink, eines Vogelfängers unserer Vaterstadt, lebhaft vor unseren Seelen an jenem Tage, wo wir als Knaben ihn zum ersten Male auf den Finkenfang begleiten durften.

Der Eine von uns trug in drei niedrigen „Transportirkäfigen“ von Holz die „Lockvögel“, prächtige Distelfinken, einen Hänfling und einen Edelfinken; dem Andern hing Fink ein ziemlich umfangreiches Säckchen an, über dessen geheimnißvollen Inhalt er uns in spannender Neugierde und Erwartung ließ. Nach einem rüstigen Gang in der Septembersonne auf die benachbarten Ausläufer des Taunusgebirgs machte unser Führer plötzlich Halt in einem heimlichen Thälchen, durch das ein krystallheller Bach murmelte. Ihn umstanden Erlen und Ulmen auf einer Wiese, die an Felder mit Baumstöcken grenzte, durch welche im fernen Hintergrunde ein Dörfchen freundlich hervorblickte; von der Wiese ab dehnte sich einer jener freien Waldplätze, die der Forstmann als Blößen bezeichnet. Auf dieser mit Disteln über und über bewachsenen Steppe tummelten sich Gruppen Distelfinken herum. Ein Theil der Rührigen saß auf den Distelköpfen, ein anderer hing daran; hier kletterten von Stengel zu Stengel, von Kopf zu Kopf Ewigbewegliche, dort stritten sich Hähne mit dem hellen, zerrenden Kampfgeschrei um eine besonders reife, Samen versprechende Distelstaude herum und stiegen wohl auch manchmal, sich raufend, vor einander in die Höhe. Von den nahen Baumstöcken bis zur Distelsteppe hin flogen quälende ausgeflogene Junge um emsige Stieglitzenmütter mit ihrem unaufhörlichen „Zibet!“ – Töne, die von dem allen Fink mit dem Ueberschnappen der sich brechenden Stimme von Jüngling-Knaben verglichen wurden. Plötzlich rauschte, wie von einem unsichtbaren Ungefähr aufgeschreckt, der ganze Vogelschwarm von den Distelstauden, einen herrlichen Anblick von Gelb und Schwarz der ausgebreiteten Flügel darbietend, und nach einem Bogengang in den Lüften wieder in leisen Absätzen noch bunter als zuvor auf den Distelwald sich niederlassend. Uns ganz in das Treiben der Prachtvögel Versunkenen brachte Meister Fink zu einer etwas besonneneren Haltung mit der halblauten Mahnung: „Ihr Tausendsassa! mit Gucken und Lugen kriegt man keinen Vogel!“

Dabei schritt er auf eine breitere Stelle des Baches zu. Hier wurde das Bett desselben ganz seicht, so daß die weißen Kieselsteine überall heraussahen. Dieser Platz war eine sogenannte „Tränke“, eine Stelle, wo die Vögel an heißen Tagen besonders gern einfielen, um zu trinken und sich zu baden. Alle anderen seichten Stellen des Baches in der Nähe hatte der kluge Vogelsteller dicht mit Dornen belegt, um hier den Vögeln das Bad zu verwehren. An der Tränke bemerkten wir kleine Pfählchen, theils in das Ufer, theils in das Bachbett eingeschlagen. Sogleich schickte sich der Alte an, das Bündel auszukramen. Es enthüllte sich ein Netz von der Form eines länglichen Vierecks, aus viereckigen Maschen von feinem, aber starkem Bindgarn gestrickt, durch welche man knapp einen Finger durchstecken konnte.

Das Netz – „Garn“ genannt – mochte fünf bis sechs Fuß in die Breite und deren zehn bis zwölf in die Länge messen. Mittels starker Schleifen an den zwei Enden der Langseite wurde dasselbe in die zwei genau nach seiner ausgespannten Länge eingerammelten Pflöcke (aa) längs des Bachufers geschlungen und in eine schon vorhandene künstliche Erdrinne versenkt.

Die andere Langseite des Garnes (a’a’) – die sogenannte „Schlagwand“, lief an ihren beiden Ecken in zwei etwa acht Fuß messende „Leinen“ (a’b) aus; die ebenfalls in Schleifen endigten, um diese an die im Bachbette befindlichen, oben mit Haken oder Knöpfen versehenen Pflöcke (bb) zu schlingen – was Meister Fink das „Einbinden des Garnes“ nannte. Als dies geschehen war, holte dieser aus dem Säckchen zwei Stäbe von drei Fuß Länge (ss), die „Sprenkel“. Sie waren am einen Ende oben auf der Querschnittfläche mit einer Rinne versehen, welche in die Leine [119] der neben die erste Seite (aa) des Garnes angelegten und zusammengefalteten Schlagwand (a’a’) beiderseits rechtswinkelig eingeklemmt und mit dem andern Ende an die kaum über den Boden ragenden Pflöcken (cc) angestemmt wurden. Hierdurch war auf beiden Seiten die Leine mit der Schlagwand des Garnes äußerst stramm angespannt. Die Transportirkäfige mit den Lockvögeln wurden am Ufer gegenüber unter dem maserigen Wurzelstock einer Erle mit Zweigen sorgfältig bedeckt, was Fink in der Vogelstellersprache als „verblenden“ bezeichnete.

Die Lockvögel, bedeutete uns ferner der Alte, dienen dazu, die vorüberstreichenden Vögel durch Lockrufe heran und unter die Schlagweite des Garns zu locken. Inzwischen rollte unser Lehrmeister langsam ein Seil auf und führte dasselbe etwa sechszig Schritte weit in einem Winkel von ungefähr dreißig Graden schief zu den Garnwänden über den Bach hinüber zu einem dichten Erlengebüsch, wobei einer von uns dasselbe in der Nähe des Garns an einem Ende festhalten mußte, während Fink, rückwärts schreitend, es abwickelte. Indem der Alte nun vollends bei z das etwa halbfingerdicke Seil, die „Zugleine“ genannt, befestigte, ging uns Lehrlingen über die ganze Einrichtung des sogenannten „Zuggarns“ ein Licht auf. Als wir in dem Eifer unseres Verständnisses durch eine Bewegung mit der Hand uns unter einander zu verstehen gaben, daß hier ein Zug bewirkt würde, der durch rasche Hebung bei z die beiden Sprenkel um die Pflöcke (cc) wie um eine Achse schwinge und zugleich das ganze Garn in einem Bogen blitzschnell über das Bachbett hinziehe – da bedachte uns der Alte mit kurzen: „Habt’s verstanden, Pfifficusse!“ Wir begaben uns mit dem Vogelfänger nun in das Erlengebüsch, woselbst die Zugleine an einem Busche festgebunden wurde. Etwa zwölf Fuß von dem Garn entfernt, war sie durch eine in den Boden gesteckte Holzgabel gezogen, damit sie, hierdurch anderthalb Schuh über der Erde gehalten, beim Zuge die Schlagwand des Garns nicht allzu dicht über der Erde hinschnellte. Auch hatte Fink schließlich noch das Garn in der Rinne sorgfältig mit aufgestreuter Erde bedeckt, um es den Blicken der auf die Tränke einfallenden Vögel zu entziehen.

Der Alte lehnte inzwischen behaglich wider einen Erlenstock im Grase. Es war bereits sehr schwül geworden. Plötzlich ließ sich der lebhafte Ruf der Lockvögel vernehmen, dem aus der Luft herab sofort das helle, flinke „Stieglit“ und kurze Sätze aus dem schmetternden Distelfinkenschlage, sowie das muntere Krähen von Hänflingshähnen und das „Ju“ und „Fink“ der Edelfinken folgte. Augenblicks darauf fielen schon einige Flüge Distelfinken, Hänflinge und Edelfinken in kühnem Bogenschwung auf die Erlen ein. Erstere drehten sich mit gefächerten Schwänzen unter ihrem hellen Rufen auf den Zweigen und die Hänflinge mit den Buchfinken sträubten die Kopffedern unter beständigem, lustigem Krähen und Rufen. Der Alte ermahnte uns flüsternd, mausestill und regungslos zu sein. Wir lagen so unbeweglich auf der Erde hinter einem Erlenstrauch, wie das Garn am Bache, verloren aber keinen der Vögel aus den Augen. Aber die Finken mochten nicht zur Tränke herunter. Einige Stieglitze flogen wohl manchmal in kleinen Ansätzen nach der Tränke zu, allein sogleich in kurzen Wendungen unter ihrem eigenthümlich tiefen Warnpfiffe aus die Erlen zurück. Ebenso machten es unter Sträuben der Kopffedern die Buchfinken und Hänflinge, jene mit oft wiederholtem „Fink“, diese mit Krähen und Locken ihr Zögern verkündend.

Eben kam ein neuer Flug von Stieglitzen, Hänflingen, Finken, Zeisigen und sogar Goldammern mit Feldsperlingen auf den Erlen an.

„Wenn’s jetzt nicht geht, haben nie böse Beispiele und Gesellschaften gute Sitten verdorben,“ lautete das Selbstgespräch hinter dem Erlenstocke. Kaum waren die Worte geflüstert, als die Ammern mit den Sperlingen täppisch auf die Tränke einfielen und sich sogleich darauf breit machten; nun folgte ein Flug junger Zeisige, einiger unerfahrener Stieglitze, zu denen sich junge Hänflinge gesellten. So sehr die Sippschaft sich’s auf der Tränke wohl sein ließ – noch immer regte sich die Zugleine nicht. Wir schielten nach dem alten Finkler hin, aber der saß ruhig hinter dem Erlenstumpf und schaute, sein irdenes Pfeifchen rauchend, ganz gleichgültig von Zeit zu Zeit auf die Tränke, sogleich aber wieder mit prüfendem Blicke zu den Vögeln oben. Endlich waren die Gelbschnäbel und das Ammern- und Spatzenvolk des Trinkens und Badens satt und flogen schwerfällig mit durchnäßten Federn einer nach dem andern auf die niedrigen Aeste der Erlen, im Sonnenschein die Federn schüttelnd und ordnend. Doch kaum war der letzte nasse Ammer unbeholfen dem Bade zum nächsten überhängenden Zweige entflattert, da regte sich’s mit neuem Leben oben auf den Bäumen. Jetzt flog ein alter Distelfink nach dem Bachufer, gerade in die Schlagweite des Garns. Ihm folgte unter Anschluß der Hänflinge und Edelfinken ein Vogel hinter dem andern, so daß der Zug nach dem Garne bunten Fäden glich. Endlich, als der letzte Vogel auf der Tränke einfiel, schnurrte die Zugleine und wie der Blitz schnellte die Schlagwand über den Bach hin. Wie besessen fuhren wir hinzu, der Alte nach. Da zappelten, flatterten und steckten die Stieglitze mit dem ängstlichen Feuer in den Augen und mitten darunter ein Dutzend Hänflinge, Zeisige und Buchfinken, ihrer zusammen achtundvierzig Vögel. Behutsam holte der Meister einen um den andern der meist durchnäßten Gefangenen unter dem Garn hervor und barg sie in mehrere oben luftig gestrickte Beutelchen.

„Jetzt ist’s hier Feierabend,“ sprach der Alte vergnügt und setzte hinzu: „Gut’ Ding will Weile, aber auch sein Ende haben.“ Hurtig ging’s nun an das „Ausbinden“ des Garns, das, tüchtig ausgerungen, mit den Sprenkeln und der auf eine Holzgabel gewickelten Zugleine in das Bündel kam.

Auf dem Heimweg öffnete uns der Alte den Schatz seiner Erfahrungen über das Verhalten unseres Distelfinken und Hänflings in der Freiheit und dem Käfig. „Beide,“ sprach er mit Wohlbehagen, „sind vornehme Vögel, obgleich man sie fast allenthalben antrifft. Aber habt Ihr jemals einen Stieglitz oder Hänfling sich unter Spatzen und Gelbhasen“ – so taufte er die Goldammern – „auf dem Mist und der Straße herumtreiben sehen? Niemals. So war unser alter Hauptmann, der immer zu uns sprach: ‚Jeder brave Bursche meidet gemeine Kneipen und rohe Gesellschaft.‘ Ich hab’s auch meine Lebtage so gehalten, und wenn ich auch ein armer Vogelsteller bin, so hab’ ich doch meinen Sinn und meinen Kopf, den ich nicht für des Bürgermeisters und des ganzen Stadtraths seinen vertausche. Man ist eben gern, was man ist. Gerade so geht es unserm Distelfink und Hänfling. Beide nehmen nichts von andern Vögeln an, sie bleiben immer Stieglitze mit dem kecken gewandten Wesen, dem schönen Gefieder, der schlanken Gestalt und dem schmetternden, schwungvollen Gesang, der sich wie eine Reitermusik anhört; und die Hänflinge bleiben Hänflinge, die munteren, allerliebsten Himmelshähnchen mit ihrem weckenden, krähenden Schmettern, dem gelehrigen Wesen und den niedlichen Manieren. Wenn Ihr sie im Käfig lange gesund erhalten wollt, dürft Ihr ihnen nur mäßig Hanf geben, sonst werden’s Feinschmecker und faule Bäuche. Je nach der Jahreszeit reicht man ihnen Wegerich, Salatsamen, Mohn und geschälten Hafer, zuweilen auch Grünes. Dann ist Reinlichkeit und frische Luft, wie Sonne ebenfalls Bedürfniß. Vieler und freundlicher Umgang macht sie ebenso zahm wie gelehrig. Beide lernen vom Käfig aus- und einfliegen, wenn man ihnen außen nichts reicht, damit sie der Hunger und irgend ein Leckerbissen wieder in’s Gebauer bringt. Zu Hause hab’ ich einen Stieglitz, der sich sein Wasser und Futter in Eimerchen an Kettchen mit Schnabel und Beinen recht artig in die Höhe zieht, und einen Hänfling, der das ‚Wenn in die Ferne‘ von Eurem Vater gar schön pfeift. Der ist aber ein aufgezogener, den ich zu meinem eigenen Plaisir halte.“

Hier setzte unser väterlicher Freund noch die Ermahnung hinzu, bei Leibe keine Nester der „vornehmen Vögel“ auszuheben. „Ich könnte Nester voll Distelfinken die schwere Menge haben. Sie bauen mir ja alljährlich vor mein Haus, bald auf den großen Birnbaum, bald auf die andern Obstbäume und selbst auf die kleinen Stämmchen der Baumschule in meiner Nähe. Aber ich lasse sie gewähren. Hab’ ich doch viel mehr Freude an ihrem Treiben in der freien Natur, als wenn ich den armen Alten die Jungen nehme oder sie quäle, die Kleinen im Käfig vor dem Fenster aufzufüttern. Schon drei Jahre hintereinander ist so mein stilles Vergnügen die Brut eines Stieglitzenpaars vor meiner Wohnung. Meist auf dem überhängenden dünnen Gezweig des Birnbaums steht sein Nest. Da sollt ihr das Weibchen sehen, was das für ein Baukünstler ist. Wie das feinste Polster stickt und klebt es mit seinem spitzen Elfenbeinschnabel die Außenwand seines Nestchens von Moos und Flechten zurecht und rundet es inwendig mit Flügeln, Brust und Hals durch Anschmiegen, [120] Drehen und Wenden und durch Glätten mit dem Schnabel so nett aus Thier- und Pflanzenwolle und Roßhaaren, wie es keine Menschenhand kann. Dann legt das Weibchen fünf gar niedliche Eier mit hellrothen Pünktchen in das Nest und brütet sie in vierzehn Tagen aus. Getreulich wird es vom Hähnchen aus dem Kropfe gefüttert, so wie es die Tauben thun. Die niedlichsten Geschöpfe aber sind die Jungen. Sie wachsen wie das Gras und sind schon frühe rüstig und entschlossen wie die Alten, so daß sie bei der geringsten Störung aus dem Nest huschen. Bis zur Mauser im Herbst sehen sie auf dem ganzen Körper etwa so wie eine Lerche grau, mit Ausnahme der schwarzbraunen Flügel mit dem gelben Spiegel in der Mitte und der schwarzen Schwänzchen mit weißgetupften Enden. Auf den ersten Blick erkenn’ ich schon im Nest die Männchen: das sind die helleren mit den bleich graugelben Mäntelchen und wenigen Punkten auf der Brust; die mit der schwarzgrauen Färbung sind regelmäßig die Weibchen.

Die Hänflinge nisten weniger in der Nähe der Menschen. Das sind echte Waldvögel. Mit Ausnahme von manchen bebuschten Rainen, wählen sie immer am liebsten junge Fichten- und Tannendickichte zu ihrem Nistplatz. Da stehen gar oft die Nester dutzendweis. Sie sind zwar einfacher und nicht so schön gefilzt wie die Stieglitznester, aber immer niedlich und sauber, inwendig aus Roßhaaren oder Wolle, auswendig aus Würzelchen, Moos und Grashalmen geflochten. Die fünf bis sechs Jungen füttern die Alten wie die Stieglitze mit Sämereien aus dem Kropf und führen sie nach kurzer Zeit in die Felder, besonders an Rübsamen und Mohn. Gewöhnlich nisten sie, wie ihre Vettern Distelfinken, zwei Mal des Sommers. Die Schreier heute an der Tränke waren Junge von der zweiten Brut. So vermehren sich diese Vögel alljährlich nicht unbedeutend und thun manchen Schaden. Die Hänflinge sind die wahren Vögel im Hanfsamen, die Distelfinken besonders die Mohndiebe, welche mit ihren Schnäbeln die Mohnköpfe von unten anbohren, so daß aller Samen daraus zu Boden fällt. Aber diesen Schaden gleichen sie auch zum Theil wieder aus durch Verzehren von Unkrautsamen, und hundertfältig machen sie ihn wieder gut durch ihren Gesang, den die ‚Gabelschwänze‘“ – so nannte Fink die großen Exemplare unter den Stieglitzen – „fast das ganze Jahr über hören lassen.

Es giebt nämlich, müßt Ihr wissen, große und kleinere unter den Stieglitzen einer und derselben Gegend. Vornehmlich sind die großen, schöngefärbten Vögel auch die guten Schläger, während die trüberen kleinen meist einen stümperhaften Schlag führen, wie die Girlitze und Zeisige. Das sind Schwächlinge und meist Vögel von der zweiten Brut; aber keine besondere Art: denn ich habe gesehen, daß aus einem und demselben Neste Hähne von der großen und von der kleinen Sorte hervorgingen.“

„Auch von den Hänflingen,“ fuhr unser Naturweiser fort, „glauben die Leute gar oft Märchen. Sie meinen, die grauen, im ersten Jahr noch nicht ausgefärbten, oder die in den Stuben erzogenen, den Weibchen ähnlichen, seien eben graue Hänflinge, während die mit den blutrothen Brüsten und Scheiteln eine besondere Art, die Bluthänflinge, wären. Beide sind aber nichts anders als unser Hänfling, der sich allerdings in der Stube nie roth färbt, wie in der Freiheit. Da zieht er im zweiten und besonders im dritten Frühjahr ein wunderschönes blutroth gestreiftes Westchen über die beiden Seiten der Brust und eben solche Binde über den Scheitel und ein gelbes Halstuch um die Kehle und den Hals; da hat er eine rothbraune Capuze auf dem niedlichen Köpfchen über den Nacken herunter, die wie mit Reif überlaufen ist. Wird er gar im Freien ein altes Männchen, wie ich bin, so bekommt er statt des Blutroth ein Gelb, und dann nennen wir Vogelsteller unsern Liebling Steinhänfling. Ich muß gestehen, ich habe den Hänfling gar lieb, denn er ist eine heitere und dankbare Natur, die sich von augenblicklicher Noth nicht gleich einschüchtern läßt.“

Wir waren jetzt vor der Hütte Fink’s angekommen. Dankbar nahmen wir von dem erfahrenen Vogelsteller Abschied, der uns einen ebenso genuß- wie lehrreichen Tag verschafft hatte, an den wir uns noch heute mit innigem Vergnügen erinnern.[1]




Aus der Briefmappe des Weisen von der Blumenhalde.
I.

Die Gartenlaube theilte im Herbst 1865 ihren Lesern ein Lebensbild Heinrich Zschokke’s von der Hand seines Schwagers Friedrich Nüsperli und dazu eine Illustration mit, welche den Verfasser der „Stunden der Andacht“ im Garten seines Landsitzes „Blumenhalde“ bei Aarau darstellt. Wäre es nöthig gewesen, für einen Zschokke das allgemeine Interesse durch Wort und Bild besonders anzuregen, so konnte es durch Beides in der Gartenlaube im vollkommensten Maße geschehen. Indeß hat Zschokke selbst durch seine Schriften und sein Wirken als Staats- und Weltbürger dafür so genügend gesorgt, daß Nüsperli’s Aufgabe keine andere sein durfte, als den zahllosen Verehrern des seltenen Mannes einen Blick in die geweihte Stätte seines Lebensglücks und die Werkstätte seines Geistes, in sein Herz und sein Haus zu eröffnen. Was wir dort sahen und freudig bewunderten und was in seiner „Selbstschau“ seine eigene Hand uns zeigt, läßt uns in Heinrich Zschokke einen durch schwer errungene Willenskraft so bestimmt und fest ausgebauten Charakter, einen Mann mit so sorgsam erhaltener Gesundheit des Geistes, Herzens und Körpers erkennen, daß wir gern jede Gelegenheit ergreifen, die uns näher zu ihm hin und bis in den Kreis seiner Freunde führt. Eine solche Gelegenheit bietet sich uns in einer Reihe von Briefen Zschokke’s, welche er, und zwar erst von jener Zeit seines Lebens an, schrieb, welche er als seine „Sabbathsjahre“ bezeichnet, die er der „Welt- und Gottesanschauung“ als einem zweiten Theil seiner „Selbstschau“ widmete, Sie sind an Herrn Heinrich Ney in Hamburg gerichtet, und diesem verdanken wir die Erlaubniß, sie unserem Leserkreise im Auszug und mit den Bemerkungen mitzutheilen, welche derselbe hier und da ihnen beizufügen für nothwendig fand. Mit Recht sagt Herr Ney von diesen Briefen: „Sie werden Zeugniß von dem edlen Herzen und den liebevollen Gesinnungen des Dahingeschiedenen ablegen, und gar Mancher, der von den Zeitverhältnissen und andern Sorgen sich gedrückt fühlt, dürfte Ermuthigung darin finden und die Ueberzeugung gewinnen, daß es fast immer in unserer eigenen Macht steht, uns das getrübte Leben wieder heller und freundlicher zu gestalten.“




Aarau, den 22. März 1832.[2]

Unter andern Freundesbriefen spart’ ich mir auch den Ihrigen als den eines unbekannten Freundes für den heutigen Morgen zur Beantwortung auf.

Sie haben durch die Güte, mit der Sie mir schrieben, einen angenehmen Augenblick in mein Leben gelegt. Nicht das schöne Bild, welches vielleicht in Ihrer Vorstellung von mir schweben mag – gerade das ist das Demüthigende und Bittere für mein Selbstbewußtsein – nicht Beifall oder Dank sogar für den Schriftsteller erquickte mich, denn was uns in einem Schriftsteller Gutes anspricht, ist zuletzt immer nur das Gute in unserm eignen Selbst, welches widertönt, und der Schriftsteller, welcher nicht an unsere Person dachte, doch nur das Instrument, mit. dem uns eine unsichtbare Hand weckt; sondern die Ueberraschung ist das Angenehme, unerwartet in der göttlichen Geisterfamilie unterm Himmel einen neuen Wink, einen neuen Brudergruß zu empfangen.

Alles, was Sie mir sagen, verräth den edeln, tieffühlenden Mann, vielleicht zu tief fühlenden, und eben dadurch nicht glücklichen Mann. Wäre dies so, würd’ es mich schmerzen. Denn ein Herz, wie das Ihrige, verdient immer froh zu schlagen. Und [121] warum wollten Sie das nicht wollen? Aber mich dünkt, Sie haben es vielleicht noch nicht ernsthaft gewollt, weil etwa bei reizbaren Nerven, getäuschten Hoffnungen, vielfach zerrissenen Plänen die Willensstärke den Aufwallungen Ihres Gemüths nicht gewachsen zu schein schien. – Aber glauben Sie mir, es schien Ihnen nur so.

Ich fühlte mich einst wie Sie sich, und zwar manches Jahr. Ich war unglücklich bei reinem Gewissen und gesundem Körper. Ich sah mehr Leiden im Leben, als Lust. Lange glaubt’ ich, die Schuld liege an meinem Schicksal, nicht an mir. Es kam mir vor, als hänge sich ein Verderben an Alles, was ich mit Vorliebe umfaßte. Hintennach kam mir der Gedanke, die Schuld könne auch wohl an meinem Eigensinn, an meiner sittlichen Selbstverzärtelung, an meinem kindischen Unmuth liegen, daß Welt und Leben sich nicht nach meiner Individualität richten mochten. Ich ward argwöhnisch gegen mich. Ich war inmitten meiner zwanziger Jahre. In wahrhafter Verzweiflung beschloß ich, es koste was es wolle, eine stoische Apathie in mir zu erzwingen; von Menschen keine Liebe, vom Glück keine Gunst, von der Welt keine Anerkennung zu hoffen, vom Schicksal aber auch keine Schläge, auch den härtesten nicht, zu fürchten. In diesem Sinn übt’ ich mich auf alle Weise Jahre lang. Ich suchte meine Freude gerade in der Verarmung an den Freuden; ich nahm die Blume, die mir der Tag zuwarf, stillgenießend, aber sagte mir: sie welkt bald; ich ließ mich von den Dornen des Tages verwunden und sagte mir: gleichviel, die Wunde heilt bald. Ich hing mich an nichts mit zu großer Innigkeit; wollte meine Gleichmüthigkeit für nichts hinopfern; wollte nur leiblich gesund, geistig hell, persönlich von allen Menschen und ihrem Urtheil unabhängig sein, zufrieden, wenn ich das Nothdürftigste hätte.

Es gelang mir. Siehe da, statt von den vermeinten Leiden des Lebens besiegt zu sein, war ich der Sieger über Welt und Schicksal geworden; ich ward es noch mehr, als ich mir Alles im Leben dadurch vergoldete, daß ich nur an Tugend glaubte, daß ich die Sünde, wie bei mir, so bei Allen, für Verirrung erkannte, daß ich jedem Uebel eine schöne Seite abgewann, selbst mit Gefahr, mich zu täuschen, daß ich Andre nicht mehr nach ihren Fehlern, sondern nach ihren möglichen guten Eigenschaften behandelte.

Von da an ward ich ein glücklicher Mensch; mir ward mehr Freude, als ich verdiente. Ich fühlte weniger Schmerzen, weil, bei meiner Resignation, ich nicht mehr sehr zu verwunden war.

Sehen Sie, Lieber, ich spreche zu Ihnen, wie ein Bruder. Ich bin glücklich, heut noch; werden Sie es auch. Es kann kein Mensch elend sein, wenn er es nicht sein will. Jetzt werden Sie auch mein Bild vom Alamontade verstehen, das ich wie aus meinem Innersten hinstellte, als ich in meiner heiligen Apathie schon einige Festigkeit gewonnen hatte.

Behalten Sie mich lieb. Empfangen Sie noch einmal meinen Dank für Ihre Güte. Wenn ich noch einmal einen Ausflug bis Hamburg mache, was wohl möglich ist, denn jährlich mach’ ich solchen meiner Gesundheit willen, so such’ ich Sie gewiß in Ihrer Wohnung auf.

Leben Sie wohl. Ich bin und bleibe von ganzem Herzem etc.


Aarau, d. 13. Juni 1832.

Ihr lieber Brief mit den Beilagen kam vorgestern zu mir. Am meisten freut’ ich mich von Ihnen zu lesen, daß Sie die Ruhe und Freudigkeit Ihres Herzens wieder erobert haben. Mein Antheil an dieser Eroberung mag geringer für Sie gewesen sein, als sich Ihr Wohlwollen für mich glauben machen will. Aber dem sei, wie ihm wolle, ich preise Sie glücklich, wenn Sie, durch bloße Macht des Willens, Meister Ihrer reizbaren Gefühle geworden sind. Es wird nicht an Aufruhr der Unterjochten fehlen, um die alte Gewalt, wenn auch nur vorübergehend, wieder zu erringen. Aber Sie haben für das ganze Leben ein stillheitres Leben gewonnen, wenn Sie nicht zwar die stete Freudigkeit des Gemüths, aber eine immerwährende an Resignation grenzende Gelassenheit des Gemüths unter allen Schicksalen behaupten können.

Ihr Brief kam in einem nicht gewöhnlichen Lebensaugenblick zu mir. Ich hatte ihn eben geöffnet. Ich blätterte in dem kleinen rothen Festbüchlein[3] mit der Einzeichnung „eines der Freude wiedergegebenen Herzens.“ Da trat mein ältester Sohn herein, an seiner Hand ein treffliches Mädchen (Nichte des Deputirten Köchlin in Paris), um sie, die ihn schon lange schweigend und hoffnungslos liebte, als seine Verlobte mir vorzustellen. Ich umarmte sie schweigend. Es war ihr zuviel. Erst am Tag vorher hatte ihr mein Sohn sein Herz geöffnet. Sie war der Ohnmacht nahe. Erschrocken wollt’ ich sie zerstreuen und gab ihr das rothe Büchlein mit dem „der Freude wiedergegebenen Herzen“ zum Geschenk, bis endlich auch ein Glas Wasser herbeigebracht ward. Sie hielt das Buch noch immer an ihr Herz gedrückt. Es wird ihr ein bleibendes Denkmal der schmerzhaften Seligkeit dieser Minute sein, schmerzhaft bis die Thränen flossen. – Das war also das Schicksal Ihres Festtagsbüchleins in der Stunde seiner Ankunft bei mir. Es war ein zu schönes, als daß ich’s dem Verfasser nicht erzählen und damit zugleich Verzeihung für die Weggabe seines Geschenks erhalten sollte.

Ihr etc.     


Vom Rigi d. 28. Juni 1834.

Dank Ihnen, mein theuerster Herr, für Ihren lieben Brief vom 22. März, den ich erst jetzt beantworte, da ich mir selber in der Alpenstille ungestörter angehören kann. Er begleitete mich hierher neben andern Freundesbriefen, um mein Wohlleben in der Einsamkeit zu vermehren, zumal an düstern Regentagen. Ich sitze da zwischen Wolken, die sich umherjagen und mir von Zeit zu Zeit einen Blick in die Unterwelt gönnen, oder auf die vor meinem Fenster schwebenden Gebirge und Gletscher.

Am meisten freute mich in Ihrem Briefe die Ruhe Ihres Gemüthes. Sie sind auf dem Wege des wahren Glückes. Was die Scrupel wegen der Willensfreiheit betrifft, lassen Sie sich von denselben nicht bedrängen. Wer mit seinem grübelnden Verstande diese Freiheit verleugnet, dem widerspricht das Innerste seines Bewußtseins gradezu. Wer sie schlechthin behauptet, dem widerspricht gradezu die Beobachtung täglicher Erfahrungen; daher nothwendig, durch die zwei unleugbaren Fälle, Zweifel.

Das Thier, ohne denkenden Geist, ohne Idee des Heiligen, Wahren und Schönen, hat nur ein Gesetz der Natur. Es wird von seinen Trieben getrieben. Es kann nicht anders als es muß. Der Mensch ist auch Thier, und als solches dem Naturgesetz unterthan, gleich jedem andern Thiere. Er hat sogar das Wissen davon; denn er ist ein in der Thierheit eingekleideter Geist, dadurch Bürger einer andern Region des göttlichen All’s; in der Natur zwar, aber erhaben über sie, und einem andern, höhern Gesetz untergeben, welches er Vernunft nennt, im Einklang mit der Natur, und so allgemein, wie sie, und so gleichförmig und unwandelbar wie das Naturgesetz. – So tragen wir ein doppeltes Gesetz in uns, das Thier nur ein einziges. Daher ist für uns in Collisionsfällen eine Wahl zwischen beiden möglich. Wir werden äußerlich durch Umstände, Erfahrungen und Talente in der Welt gelenkt und gedrängt; aber über die innere Welt, dem Drang der Schicksale sogar entgegen, bestimmt sich der Geist zum Handeln und zu dem, was recht und heilig, was wahr und ewig sicher ist. Das Thier und der Mensch als Thier strebt nur sinnlich dem zu, was ihm leiblich oder gefühlsweise behaglich oder reizend ist. Wo sich im Gemüth Geist und Sinnlichkeit berühren, offenbart sich der Sinn des Schönen, der allen Thieren abgeht, weil sie geistlos sind, gleich wie die Pflanzen seellos. Daher ist alles Schöne eine Vermählung des Ewigen, Wahren, Gerechten und Heiligen mit dem Anmuthigen für die Sinnlichkeit, – eine angenehme Verkörperung der Ideale, die in der Natur nicht leben; eine Verklärung der irdischen Annehmlichkeit durch das Göttlichere im Geiste.

Doch still mit meiner Wolken-Philosophie! Aber Ihr Brief verführte mich und ich wollte Ihnen nur Andeutung geben, wie ich über das denke, woran Sie noch irre zu sein scheinen. Vielleicht verführen diese paar Zeilen auch zu andern Betrachtungen und Sie hören auf, an der Wahlfreiheit des Mannes zu zweifeln, der vom Hohenfelde[4] nach Hamburg geht, um seiner Ueberzeugung gemäß eine gute That zu thun, aber nicht den kürzesten Weg dahin nehmen kann, weil er naturgemäß weder über Wall und Graben fliegen, noch durch Mauern der Häuser und Kirchen dringen [122] kann, sondern im Zickzack durch viele Straßenkrümmungen gehen muß.

Ich lebte fünf Wochen lang als Regierungscommissär in der beinah tausendjährigen Benedictiner-Abtei Muri, um ein genaues Inventarium vom irdischen Gut der gottgeweihten Männer aufnehmen zu helfen. Und künftige Woche geh’ ich nach Zürich, als Mitglied der eidsgen. Tagsatzung, wo es an Arbeit nicht fehlen wird, die diplomatischen Händel mit den übelunterrichteten deutschen Höfen zu beseitigen, die uns Schweizer für gar böse Leute und unruhige Köpfe halten.

Leben Sie wohl. Die Molkencur und das Herumklettern im Gebirg machen mich matt, die Finger zum Schreiben ungelenk, den Geist ruhelustig, nur das Herz bleibt frisch, und mit diesem bin und bleib’ ich

Ihr etc.     


Aarau, den 27. September 1838.

Ihren lieben Augustbrief beantwort’ ich ziemlich spät. Er kam, als ich abwesend war und zu meiner Sommerlust im südlichen Deutschland umherschwärmte. Heimgekommen, war unser großer Rath wegen der scandalösen Zumuthung der französischen Regierung in Betreff des Louis Napoleon versammelt (dessen Ausweisung damals Louis Philipp verlangte, deren Verweigerung fast einen Conflict zwischen der Schweiz und Frankreich herbeigeführt hätte, wenn nicht Louis Napoleon freiwillig nach England gegangen wäre). Dann mußte ich nach Bern, wo sich die schweizerische gemeinnützige Gesellschaft vereinigte, dann noch zu ähnlichen andern Festtagen ähnlicher nützlicher Vereine in andern Städten unsers schönen Vaterlandes, und das Schwärmen hat noch kein Ende. Aber damit Sie mich nicht für undankbar halten, beantwort’ ich vor vielen Briefen den Ihrigen zuerst. Denn Sie haben mich durch Ihre Güte gegen meinen Julius zu Ihrem großen Schuldner gemacht. Ich hatte ihm allerdings aufgetragen, bei seiner Durchreise in Hamburg sich nach Ihnen zu erkundigen und mir Nachrichten von Ihnen zu geben. Er hat Letzteres mit aller Schwärmerei eines glücklichen Jünglings gethan, und Sie haben eine schöne Erinnerung in seine Wanderjahre gelegt.

Sie sind also, wie Ihr Brief sagt, ein rüstiger Volksschriftsteller geworden. Der Himmel segne Ihren Boten![5] Von meinem Schweizerboten hab’ ich mich schon seit Jahr und Tag zurückgezogen. Er ward mir zu lästig, sobald ich mich hatte bereden lassen, ihn wöchentlich zweimal erscheinen zu lassen, statt sonst nur einmal, da er sich aus den vielen eingesandten Beiträgen ganz von selbst schrieb. Gegenwärtig tritt er sogar allwöchentlich dreimal auf.

Wer die Wissenschaft mit neuen Schätzen bereichert, wer die Domaine des Guten, Wahren und Schönen besser anbaut, oder durch neue Eroberungen erweitert, ist mir ein ehrwürdiger Mann, aber nicht minder ehrwürdig schien mir von Jugend auf Derjenige, welcher die in den Schatzkammern der Schule verschlossenen Kleinodien zum Gemeingut alles Volks zu machen weiß und dem Himmel das Feuer des Prometheus stiehlt, um es den armen Sterblichen zu bringen. Danach hab’ ich unter allerlei Formen getrachtet. Ob mir’s gelang, ob nicht, zu erwirken, was ich wollte, hing nicht von meiner Macht ab. Nur der gute Wille entschuldigt oder adelt die That, unabhängig von ihrem Erfolg. Und so begrüß’ ich auch Sie nun als meinen Collegen. Werden Sie nicht müde! Es ist ein köstliches Ding um das Bewußtsein, nicht ganz vergeblich gelebt zu haben.

Ihr etc.     




Ein russisches Findelhaus.


„Heut’ Morgen, mein Herr, Wospitatelnoi-Dom! Machen Sie sich fertig auf zehn Uhr; wir müssen die Kinder in die Kirche ziehen sehen. Jeder Fremde, der nach Moskau kommt, sieht sich das Schauspiel an.“

So dictirte eines schönen Sonntagsmorgens mein deutscher Lohndiener in Moskau. Er war ein Prachtexemplar seiner Art, in allen Winkeln der ungeheuern Czarenstadt zu Hause wie in seiner Tasche, aber Widerspruch ertrug er nicht. Schon vierzehn Tage, die ich mich seiner Führung übergeben, verfügte er über mich, als wäre ich ein willenloses Stück Waare. Ich mußte also auch heute gehorchen und mit ihm nach dem großen kaiserlichen Findel- und Waisenhause fahren, – denn das will Wospitatelnoi-Dom besagen.

Eine mildthätige Stiftung, welche unter ihrem Dache über fünfundzwanzigtausend Kinder und ein Heer von mehr als zweitausend Aufsehern, Aufseherinnen, Ammen, Lehrern, Beamten beherbergt, die jährlich über sieben Millionen Rubel verausgabt und Jahr aus Jahr ein mehr als siebentausend Säuglinge und kleine Kinder aufnimmt, darf sich dreist zu den Wundern der Welt zählen. In Rußland hat Alles einen Gigantenmaßstab, nur die Freiheit nicht; ich nahte mich denn dieser gewaltigen Verkörperung und Vereinigung von Glaube, Liebe und Hoffnung mit ehrfurchtsvoller Erwartung.

Durch eine unabsehbare schnurgerade Lindenallee fuhren wir der Anstalt zu; nach einer halben Stunde hielten wir vor der breiten steinernen Freitreppe des säulengeschmückten Hauptportales. In dem großen Wartesaale begrüßte uns mit gemessener Verneigung ein martialisch aussehender Herr in blauer Uniform mit dem Degen an der Seite, bedeutete meinen getreuen und gestrengen Cicerone zurückzubleiben und machte mir durch Zeichen verständlich, daß keine Minute mehr zu verlieren sei, wollte ich rechtzeitig zur Ceremonie kommen. Der Mann hatte etwas so Gehaltenes und Würdevolles, daß ich ihn für den Director der Anstalt hielt und mich pflichtschuldig tief verbeugte. Bald erfuhr ich jedoch, daß er nur der Oberpolizeimeister sei, nichts mehr und nichts weniger als ein militärischer Büttel, der Schrecken und Wehrwolf für zwanzigtausend arme Kinder, in dessen Händen die in einer so weitläufigen Anstalt sehr wichtige und umfängliche Strafexecution ruht. Dennoch schien er mir ein gutmüthiger Herr zu sein; ich sah es an dem wohlwollenden Lächeln, mit dem er den Kindern zunickte, denen wir auf unserm Wege zur Kirche begegneten, und an der gelassenen Manier, mit welcher er die verschiedenen Anliegen einer Reihe von Ammen anhörte, von denen in einem einzigen Saale die nennenswerthe Kleinigkeit von Fünfhundert und einigen zusammen war. In der That, dies sei gleich hier erwähnt, habe ich in dem ganzen ungeheueren Etablissement auch nicht ein trauriges oder mürrisches Gesicht bemerkt, keines, das auf Kummer oder Unglück deutete, aus allen sprachen Zufriedenheit, unschuldiger Frieden und ruhiges Behagen, und dieser Umstand erzählte mir besser, wie die Anstalt organisirt und geleitet ist, als es Tausende von statistischen Notizen und sämmtliche Blau- oder Grünbücher der Welt hätten thun können.

Wer von meinen Lesern in beängstigendem Traume jemals eine ganze Nacht lang ohne Unterlaß Trepp auf Trepp ab gestiegen, durch endlose Galerien gewandert, in Zimmer auf Zimmer getreten und Hof auf Hof durchgangen ist, der hat einen ungefähren Begriff der Empfindung, mit welcher ich meinem freundlichen Polizeimeister durch das Labyrinth des Riesenbaus folgte. Endlich, nach einer halbstündigen Reise, verkündigten uns Weihrauchduft, Gesang wie von tausend zarten Engelstimmen und der tiefe Baß des Priesters, welcher die Gebete intonirte, daß wir die Vorhalle der Kirche erreicht hatten. Auf den Zehen wandelten wir an einem Heere von knieenden Weibern, Ammen, Aufseherinnen und Beschützerinnen der Kinder vorüber und standen im Dome.

Die Kirche war gedrängt voll, Kopf an Kopf saßen Tausende von Kindern jeden Alters, doch, zu meiner Verwunderung, fast ausschließlich Mädchen. Knaben nahm ich nur sehr einzeln wahr; ich erfuhr später den Grund dieser auffälligen Erscheinung. Die Kinder in hellgelben Kleidern auf den Emporkirchen wurden zu Hebammen erzogen, jene andern in Grün, welche die Seitenschiffe füllten, waren zu Dienstboten bestimmt, so berichtete mir mein Begleiter. Die ältern Classen saßen reihenweise nach dem Altare zu. Sie trugen dunkelblaue Kleider und verwandten in ihrer [123] Andacht kein Auge von dem in Roth und Gold erglänzenden Priester mit langherniederwallendem blonden Haar, der hinter der durchbrochenen Metallthür des Altarschreines in einer bläulichen Weihrauchwolke sichtbar war.

Aufmerksam ließ ich meine Blicke von Reihe zu Reihe der meist frischen, doch im Allgemeinen wenig schönen Gesichter streifen, und tiefes Mitleid erfaßte mich bei dem Gedanken, daß alle die Tausende von Kleinen heimathlos sind, die meisten nie Vater und Muter, niemals Elternliebe und Elternsorge gekannt haben und wenige sie jemals kennen lernen werden.

„Die armen Kinder!“ sagte ich zu dem Polizeimeister.

„Wohl arm,“ entgegnete er, „aber doch vornehm. Sehen Sie alle die Mädchen da auf den vordern Bänken, sechszehn-, siebenzehn- und achtzehnjährig, sind Waisen, indeß sämmtlich adeliger Abstammung. Bemerken Sie nicht einen gewissen Aplomb, einen gewissen Tact in ihrer Art und Haltung? Sie werden hier völlig standesgemäß, ganz so erzogen, wie es ihrem Range gebührt. Wir haben hier in unserm Hause mehr als fünfhundert Lehrer und Lehrerinnen für alle Fächer weiblicher Bildung und der Unterricht ist mindestens eben so gut, wie in den vornehmsten Erziehungspensionaten in St. Petersburg, wenn nicht besser.“

Auf einmal brauste es wie Waldesrauschen im Winde, erst in den Ecken der Kirche, dann bis zu uns nach der Mitte des Hauptschiffs herein; der Gottesdienst war beendet und die Kinder schickten sich zum Aufbruche an. In Divisionen, Regimentern, Bataillonen, Compagnien und Zügen marschirten sie Classe für Classe unter Anführung von Lehrern und Lehrerinnen an uns vorüber; zuerst die Gelben, dann die Grünen, darauf die Blauen, zuletzt die vordern Reihen der halb und ganz Erwachsenen. Stramm und mit der mechanischen Regelmäßigkeit gutgedrillter Soldaten schritten sie, die Augen rechts, in gleichmäßigem Tritte näher; kein Lachen, kein Necken, kein Drängen, nichts von Allotrien und Lustausbrüchen, wie man es, selbst bei dieser Gelegenheit, wohl an andern Kindern findet, nein alle mit einer merkwürdigen Ruhe und Gelassenheit.

Der Gouverneur eines Etablissements, wie es Wospitatelnoi-Dom mit seiner manche ansehnliche Mittelstadt hinter sich lassenden Bevölkerung ist, steht natürlich hochoben aus der Scala des vielsprossigen russischen Beamtenthums und rangirt mit den Generälen. Ich machte mich daher auf eine gewisse militärische Kürze und Barschheit gefaßt, war aber auf das Angenehmste überrascht, in dem reich uniformirten Herrn, dem ich mich vorzustellen hatte, um mir die Besichtigung der eigentlichen Anstalt zu erwirken, einen Mann von fast sanftem Wesen und gewinnendster Freundlichkeit zu finden. Mit der größten Artigkeit erhob er sich bei meinem Eintritt in sein Arbeitscabinet von dem Schreibtische, an dem er unter Papieren und Actenstößen gearbeitet hatte, ging mir entgegen und erbot sich, so wie er einen Blick in die ihm überreichten Empfehlungsbriefe geworfen, nun selbst meinen Geleiter durch das Etablissement machen zu wollen.

Zuerst führte er mich nach der Station der Säuglinge, einer langen Reihe von hellen freundlichen Zimmern. In jedem standen vierzig bis fünfzig Wiegen, die mit ihren schmucken Gazebehängen für Königskinder nicht zu schlecht gewesen wären. Achthundert bis tausend Säuglinge mit ebenso vielen Ammen ist die Durchschnittszahl, welche die Anstalt gleichzeitig enthält. An der Thür von jedem dieser Zimmer empfingen uns mit tiefen Knixen die Aufseherinnen derselben, lauter gutgekleidete, freundlich aussehende alte Frauen; die Ammen selbst stellten sich jede an der betreffenden Wiege auf und schulterten, um mich so auszudrücken, ihre Säuglinge – auch hier ging Alles in militärischer Art und Präcision vor sich.

Eine Ammenstelle in Wospitatelnoi-Dom gilt für ein Glück, das von den russischen Bauernmädchen eifrig angestrebt wird. Schönheiten freilich bemerkte ich unter den Hunderten von Ammen nicht, die sich uns präsentirten. Die Mehrzahl waren kurze, schlecht gewachsene Gestalten mit ausdruckslosen, breiten, gelben Gesichtern, alle aber nahmen sich in ihren rothen und gelben Kattunkleidern und dem nationalen bunten Kopftuche ganz respectabel und sauber aus. Bei einer Wiege blieb der Gouverneur stehen und beugte sich auf das darin liegende Kindchen nieder. Es war ein allerliebstes, dickes, frisches, schwarzhaariges Mädchen, voller Lust und Leben, welches den Gouverneur wohl zu kennen schien, denn es zappelte vor Vergnügen, als er sich näherte und die kleinen Händchen ergriff.

„Das da ist mein Pathchen. Etwa zweimalhundertausend Kinder,“ sagte er, als wir weiter schritten, „habe ich hier nach und nach aus der Taufe gehoben; davon ist freilich ein gut Theil nicht mehr am Leben, immer könnte ich jedoch mit meinen sämmtlichen Pathen eine Armee ins Feld führen, die manchen Mittelstaat in Schrecken jagen dürfte. Aber kommen Sie, der große Moment des Tages, unser Diner, naht; dabei darf ich nicht fehlen und Ihnen ist’s gewiß ein interessanter Anblick, jedenfalls kein alltäglicher, sich einmal eine Table d’hôte mit anzusehen, an welcher die Gedecke nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen und vom sechsten bis zum sechszigsten Jahre alle Lebensalter vertreten sind.“

Wiederum Galerie auf Galerie, Corridor nach Corridor, ehe wir zur Thür des Speisesaals gelangten. Eben verkündete eine sonore Glocke den Beginn des Mittagsmahles und mit dem letzten ihrer Schläge quoll aus allen den zahllosen Zimmern und Zellen rechts und links ein Menschengewimmel hervor, als setze sich eine Völkerwanderung in Bewegung. Aber welche Ordnung in dem Gewühl! Paarweise traten die Zöglinge heraus, formirten sich, ohne daß nur eine Minute lang Hemmung und Wirrwarr entstand, in langen Colonnen und marschirten ebenso gesetzt und ruhig, wie sie aus der Kirche gezogen waren, dem für die Meisten jedenfalls wichtigsten Abschnitte ihrer Tagesordnung entgegen. Wohl las man auf den jungen Gesichtern die Aufregung der Erwartung, doch nirgends kam die Freude zu lautem Ausdruck.

Länger als eine Viertelstunde hatten wir zu warten, ehe es uns gelang, zwischen einer Section Kinder uns zum Speisesaal hindurch zu arbeiten, und noch endlos strömte es hinter uns ein. Speisesaal – was sage ich? Speisedom, so groß wie die allergrößte Kirche, leider aber so niedrig, daß mir’s anfangs wie ein Alp die Brust beklemmte. Unabsehbar dehnten sich hier Tisch an Tisch; der Raum zwischen den einzelnen Tafelreihen war nicht breiter, als es die unumgängliche Nothwendigkeit erfordert, dennoch ging auch hier Alles am Schnürchen. Von Gedränge und Unordnung war keine Spur, die Disciplin vollkommen; in wenigen Minuten hatten Alle an ihren speciellen Tischen Platz gefunden.

In der Mitte des Tafeloceans erhob sich eine Estrade, von welcher aus man den weiten Saal mit seiner Kinderwelt überschauen konnte. Dahin führte mich der Gouverneur.

„Hier ist mein Platz,“ sagte er, nachdem er mir von einer der vielen emsig hin und hereilenden Aufseherinnen einen Stuhl hatte herbeischaffen lassen. „Ich speise alle Tage inmitten meiner Kinder und nichts Anderes, als was ihnen gereicht wird. Darf ich Sie einladen, unsere Küche zu probiren?“

Das Essen ließ nichts zu wünschen übrig; es war natürlich einfach, doch kräftig und vortrefflich zubereitet, dabei mit solcher Sauberkeit, ja Gefälligkeit angerichtet und aufgetragen, daß schon das Zusehen Appetit machte. Nur daß die ganze Mahlzeit unter einem Grabesschweigen abgethan wurde, hatte etwas Unheimliches. Das schien mir der Disciplin denn doch allzuviel zu sein. Arme, arme Kleinen! mußte ich wieder denken. Wo bleibt euere wahre Kinderlust? Wo euer freies Tummeln und Bewegen, ohne die Fesseln von Zucht und Dressur?

„Wo ist der Speisesaal Ihrer Knaben?“ frug ich den Gouverneur, als er mich darauf von Tisch zu Tisch geleitete und mich dabei auf seine tüchtigsten Zöglinge aufmerksam machte. „Auch in der Kirche habe ich ja fast nur Mädchen bemerkt.“

„Der größte Theil unserer Knaben,“ ward mir zur Erwiderung, „ist augenblicklich nicht in unserer hiesigen Anstalt. Sie müssen nämlich wissen, daß wir auf dem Lande noch verschiedene recht ansehnliche Zweiginstitute und Meiereien besitzen; dort hausen jetzt die Jungen, die älteren zum Theil mit landwirthschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Außerdem haben wir rund um Moskau und tiefer in’s Land hinein in allen Dörfern noch Ammen und Ziehmütter für unsere Kleinsten, von denen mehr als fünftausend auf diese Weise versorgt sind. Selbstverständlich vertrauen wir die Kinder nur ganz zuverlässigen Personen an und überwachen diese beständig. Auch dürfen Sie nicht denken, daß dies hier unsere einzige Table d’hôte im Hause ist; wir haben noch ein halb Dutzend Speisesäle, keinen freilich so groß wie den, wo ich präsidire.“

Von Neuem hatte ich Gelegenheit, die außerordentliche Freundlichkeit [124] zu bewundern, mit welcher der Gouverneur mit den Kindern verkehrte, und die große Liebe, mit der diese sammt und sonders an ihm zu hängen schienen. Wie strahlten die Augen der Kinder, wenn er ihnen mit väterlichem Blicke zunickte, da und dort einen besondern Lobspruch spendete und eines und das[WS 1] andere Mädchen zärtlich auf die Wangen klopfte! Mich selbst interessirten die älteren Pfleglinge, die jungen Damen der ersten Classe, am meisten; ihre elegante Haltung und die Selbstachtung, die aus ihrem Thun und Reden sprach, waren wirklich überraschend. Keine erröthete oder zeigte sonst Verlegenheit, wenn man das Wort an sie richtete. Natürlich und anmuthig, mit vollkommener Unbefangenheit und Ruhe antworteten sie auf alle Fragen, die ich ihnen stellte, von Affectation und falscher Scham ließ sich keine Spur wahrnehmen. Die Damen aus den ersten Kreisen von London und Paris, von Berlin und Wien hätten sich der feinen gesellschaftlichen Tournüre und der vornehmen Natürlichkeit dieser russischen Waisenmädchen nicht zu schämen gebraucht.

„Wir Russen,“ bemerkte der Gouverneur, indem wir unsere Promenade durch den Saal fortsetzten, „haben ein eigenthümliches Talent zum Erlernen fremder Sprachen. Auch unter meinen Kindern hier habe ich wackere Linguisten; sehr viele sprechen und schreiben neben ihrem Mutteridiom geläufig Deutsch und Französisch. Ebenso treiben die meisten Musik und Zeichnen, und viele als wahre Künstlerinnen. Wir lassen ihnen in diesen höheren Studien ganz freie Wahl, je nach Anlage und Neigung.“

Mittlerweile hatten die Kinder die Schüsseln geleert, ein frommes Lied schloß das Mahl, wie es dasselbe eröffnet hatte, und mit derselben Ordnung, wie sie gekommen, defilirten sie an uns vorüber den Thüren zu; keines aber ging hinaus, ohne


Glückliche Menschen.
1. Im Schloß.
Nach einem Oelgemälde von C. E. Böttcher

[125] mit einem gefälligen Knix dem Gouverneur sein „Guten Tag, Papa,“ zu sagen.

„Alle unsere lieben Kinder,“ hob mein Begleiter wieder an, während auch wir den Saal verließen, „fühlen sich hier sehr glücklich. Wer einmal bei uns in Wospitatelnoi gewesen, wer jemals unter dem großen Steinpelikane über dem Portale die Schwelle des Hauses überschritten, hat das Recht, jederzeit wieder bei uns einzusprechen, wenn ihn Armuth oder Krankheit, Kummer und Sorgen unsere Hülfe suchen lassen.“

„Aus was für Fonds ist Ihre Anstalt gegründet und aus welchen Mitteln wird sie unterhalten?“ frug ich. „Das Petersburger Findelhaus bezieht, so viel ich weiß, seine Einkünfte aus dem auf die Spielkarten gelegten Stempel und aus den Erträgnissen des Lombard-Leihamtes.“

„Die Kaiserin Maria Feodorowna, Gemahlin Paul’s, ist die Stifterin unseres Findelhauses,“ antwortete der Gouverneur. „Außerdem fließen auch uns die Einkünfte der Moskauer Lombard-Anstalt zu. Ferner hat uns die reiche Familie Demidoff beträchtliche Güter und Capitalien vermacht, und endlich müssen alle öffentlichen Lustbarkeiten, Theater, Bälle, Concerte etc. zehn Procent ihrer Einnahmen an uns abgeben; das wirft bei dem im Allgemeinen sehr vergnügungssüchtigen Russen ein gut Stück Geld ab. Aber,“ setzte er hinzu, an eines der Fenster des Corridors tretend, den wir eben durchschritten, „da haben Sie unsern Garten.“

Ich sah hinaus und was ich bemerkte, war ein ungeheuerer grüner Rasenplatz und darauf ein Leben wie auf einer Messe. Die Kinder genossen ihre Sonntagsfreiheit und wandelten, spielten, ergötzten sich im Freien, allerdings auch nur unter der Obhut einer Schaar von Aufsehern und Aufseherinnen. Der Platz entbehrte jedes eigentlichen Gartenschmuckes, hatte nur wenig Buschwerk und Blumen, doch einen Umfang, daß [126] ein Armeecorps darauf hätte manövriren können. Auffällig waren mir die Hunderte kleiner hölzerner Sommerhäuschen, die sich, eines dicht am andern, rings um die unendliche Rasenfläche zogen.

„In diese Häuschen,“ sagte der Gouverneur, der die Frage in meinem Blick gelesen haben mochte, „pflegen wir in der schönen Jahreszeit diejenigen unserer kleinen Zöglinge zu quartiren, für welche ein möglichst ungehinderter Genuß der frischen Luft gerathen scheint. Es sind Luftbuden im Kleinen, und die Kinder lieben dieses Zelt- und Bivouacleben so sehr, daß sich immer eine Menge Candidatinnen dafür melden, die freilich nur zum kleineren Theile erhört werden können. In die Schulzimmer,“ fuhr er fort, „führe ich Sie nicht, sie sind heute zum Festtag sämmtlich leer und öd. Und so wie das hier,“ bemerkte er weiter, indem er eine Thür der Galerie öffnete, „sehen sie alle aus. Dahinein aber werfen Sie einen Blick.“ Er that eine andere Thür auf, die uns ein großes viereckiges Gemach erschloß, dessen vier Wände hohe Glasschränke garnirten, welche von oben bis unten mit Puppen aller Art und Größe gefüllt waren. Eine Puppenversammlung, zahlreicher als die der größten Nürnberger Spielwaarenhandlung.

„In diesem Saale,“ erklärte mir der Gouverneur, „verwahren wir das Spielzeug für die kleineren unserer fünfundzwanzigtausend Kinder, und hier,“ er zog ein Schubfach in einem der Schränke auf, „finden Sie Modelle der verschiedenartigsten Geräthe und Werkzeuge. Auf der Tafel dort haben Sie unsere bekanntesten Säugethiere, Vögel, Fische in genauen plastischen Nachbildungen; unsere Kinder lernen daraus besser, als aus Büchern, und jubeln immer, wenn sie classenweise in den Saal geführt werden und jedes sich sein Lieblingsspielzeug selbst aussuchen darf. – Doch es ist Zeit, daß Sie ein Glas Thee mit mir trinken, auf russische Manier, wissen Sie, mit Citrone. Auch müssen Sie unsere Hausmutter, die Mutter unserer gesammten Kinderwelt, die erste Matrone, wie wir sie officiell tituliren, kennen lernen. Kommen Sie mit zu ihr; dort können wir noch ein Stündchen ungestört plaudern und Sie sich über unsere Anstalt Alles aufzeichnen, was Ihnen bemerkenswerth erscheint. Fragen Sie nach Herzenslust; wir freuen uns nur zu sehr, wenn wir von unserm Wospitatelnoi-Dom erzählen können.“

Gern folgte ich der freundlichen Einladung. Das Zimmer der Hausmutter war ein höchst elegant meublirter Salon und die Hausmutter selbst eine stattliche alte Dame von vollendeter Weltbildung, die mit der liebenswürdigsten Grazie die Honneurs machte.

„Streng genommen,“ begann sie, nachdem ich mich ihr gegenüber in einem bequemen Fauteuil niedergelassen hatte, während ein reichgalonnirter Lakai den Thee präsentirte, „können wir unser Wospitatelnoi-Dom kein Findelhaus nennen; denn wir nehmen, ohne weiter nach dem Woher zu forschen, alle Kinder auf, die uns gebracht werden, vorausgesetzt, daß sie ein bestimmtes Alter noch nicht überschritten haben. Sommer und Winter, Tag und Nacht steht die Pforte der kleinen Loge unten in der Halle offen, wo wir die Kinder empfangen. Im Durchschnitt kommen auf jeden Tag dreißig Kinder, für die man bei uns Herberge und Pflege sucht. Niemand ist gezwungen, uns den Namen der Mutter oder der Eltern zu sagen; ebenso braucht Niemand auch nur eine Kopeke für Unterhalt und Erziehung der uns übergebenen Kinder zu bezahlen. Wer aber jährlich dreißig Rubel entrichtet, kann verlangen, daß sein Kind nicht aus dem Hause zu einer unserer Landammen gegeben, sondern lediglich in der Anstalt selbst verpflegt wird. Wer von den Knaben die Summe von zweihundert und fünfzig Rubeln mitbringt, wird zum Officier, Ingenieur u. dergl. ausgebildet; die ganz mittellosen werden später fast ohne Ausnahme gemeine Soldaten. Unsere befähigtsten Schüler bereiten wir auf eine spätere Universitätsbildung vor; mehrere der ausgezeichnetsten Aerzte Moskaus z. B. sind aus unserer Anstalt hervorgegangen. Zunächst wird jedes Kind numerirt, registrirt und getauft – was immer alsbald nach der Aufnahme geschieht – darauf ihm eine Marke mit Namen und Nummer um den Hals gehangen, ein Duplicat dieses Zeichens aber der Person eingehändigt, welche es uns gebracht hat, damit es eventuell reclamirt werden kann, wenn es einmal einundzwanzig Jahre alt geworden ist. Aus den entlegensten Theilen Sibiriens, aus Bessarabien, aus dem Kaukasus und aus der Krim haben wir Kinder im Hause. Leider stirbt uns ein Viertel davon in den ersten sechs Wochen, und mehr als die Hälfte überhaupt in den ersten sechs Jahren. In Petersburg, dessen von Katharina der Zweiten 1770 gegründetes Findelhaus dem unserigen nur wenig nachgiebt, ist das Verhältniß noch ungünstiger, denn dort fehlt es unter der meist sehr dürftigen Landbevölkerung an kräftigen, gesunden Ammen, an denen wir im Allgemeinen keinen Mangel haben.“

Es war inzwischen spät geworden und, obschon ich der Anstalt und ihren Einrichtungen nur eine sehr flüchtige Besichtigung hatte widmen können, über dieser doch eine Zeit von fünf Stunden verflossen. Ich durfte meinen freundlichen Cicerone nicht länger bemühen; überdies decretirte mein unerbittlicher deutscher Lohndiener noch einen Besuch im großen Simonoffkloster, das ebenfalls viel Interessantes bieten sollte. Mit herzlichem Dank schied ich denn von Gouverneur und Hausmutter, zugleich mit der aufrichtigen Versicherung, daß mir Wospitatelnoi-Dom nicht blos als ein staunenswerther Koloß, sondern als eines der bestorganisirten und verwalteten philanthropischen Institute erschienen, die ich je gesehen hatte, als ein Institut, das seine Aufgabe nach allen Seiten bin vortrefflich erfüllt, womit freilich die Bedenken, die sich aus Gründen der Moral und der Volkswirthschaft gegen das ganze System der Findelhäuser erheben lassen, nicht beseitigt werden.




Blätter und Blüthen.


Eine Wolfsjagd in Siebenbürgen. Sie haben (so schreibt uns ein Freund der Gartenlaube aus Siebenbürgen) diesen Winter auch in Deutschland, an der rheinisch-belgischen Grenze von zeitweiligen Besuchen hungriger Wölfe zu leiden und so Gelegenheit zu einer seltenen Jagd gehabt; es interessirt daher wohl Sie und die Leser Ihres Blattes, wenn ich Ihnen in den nachstehenden Zeilen eine Wolfsjagd schildere, wie ich ihr unlängst in unsern transylvanischen Bergen beigewohnt habe.

Die ersten Tage des letzten November waren überaus freundlich und warm, plötzlich aber schlug das Wetter um und in wenigen Stunden hatte sich eine dichten weiße Schneedecke an die kalte Mutter Erde geschmiegt. Bald jedoch schmolz der Schnee wieder und blieb nur auf den Gebirgen, in versteckten Schluchten und in den Wäldern liegen. Durch diesen Schneefall gezwungen, mußte meine Heerde Zigaischafe, welche in den höheren Gebirgsgegenden auf der Weide war, herabgetrieben werden und weidete nun – da es der in Folge von Ueberschwemmungen karge Heuvorrath gebot – an einer sonnigen Berglehne, Vurfu genannt, den spärlichen Graswuchs ab.

Ich saß eben in meinem Arbeitscabinet, als mir mein erster Schafhirt gemeldet wurde, welcher mich allsogleich zu sprechen verlangte. Sofort trat er auch in seinem großen Schafpelze, die Mütze aus schwarzem Lammfell in der Hand, ein, begrüßte mich und senkte dann den Kopf.

„Was giebt es denn Wichtiges?“ fragte ich den Mann, denn aus dem Senken seines Kopfes und dem Stillschweigen schloß ich, daß seine Nachricht eine angenehme eben nicht sein müsse.

„Wie der Herr weiß, so weiden unsere Schafe oben am Vurfu – und da ist denn – da haben wir denn – der Herr weiß ja, der Wald ist da gar nahe.“

„Jawohl, und –“

„Da ist denn ein riesiger Wolf herausgebrochen, hat den besten Hund todtgebissen und, bis wir herangeeilt, das schönste Mutterschaf aus der Heerde herausgeholt. Bevor wir demselben noch recht nachsetzen konnten, war er schon im Walde verschwunden!“

Als der Schafhirt seinen Bericht geendet, ließ er den Kopf abermals sinken und seufzte, als ob ihm eine schwere Last vom Herzen genommen worden sei.

„Ist dies denn das ganze Unglück, Basil?“ fragte ich ihn lächelnd.

„Ach, Herr, ich gäbe viel darum, wenn es nicht geschehen wäre. Die Schuld daran trage ich bei allen Heiligen nicht; ich konnte es unmöglich verhindern. Doch,“ fügte er nach einer Pause hinzu, „der Wolf könnte bald wiederkommen, deshalb bitte ich den Herrn, mir ein Gewehr verabreichen zu lassen.“

„Um den Wolf zu erlegen?“

„Jawohl, Herr, ich fürchte auch, daß dieser nicht der einzige ist, der im Vurfu steckt!“

„Wie lange können die Heerden noch am Berge Futter finden?“ fragte ich den Hirten rasch.

„Etwa zwölf Tage, falls das Wetter nicht umschlägt, Herr.“

„Gut. Dafür, daß die Heerde weiter keiner Gefahr ausgesetzt sei, werde ich noch heute Sorge tragen. Um welche Zeit erscheint das Raubthier?“

„Zwei Stunden vor Mitternacht etwa, Herr.“

„Ganz recht, so erwartet mich diesen Abend in Eurer Lagerhütte; ich werde in Begleitung der Schützen aus dem Dorfe hinaufkommen. Zugleich soll morgen der Vurfu durch eine Treibjagd gesäubert werden.“

„Wie Du befiehlst, Herr! Habe ich sonst nichts zu bestellen?“

„Nein, Basil.“

[127] „Dann erhalte Gott den Herrn gesund!“

Hiermit verneigte er sich und schob sich zur Thür hinaus. Die Schützen aus dem Dorfe, neun an der Zahl, hatten sich auf meine Einladung etwa um sieben einhalb Uhr Abends eingefunden. Da ich nun durch meinen Hofrichter Alles, was zum Treiben am folgenden Tage nöthig war, bestellt hatte und uns sonst nichts im Wege stand, so machten wir uns auf den Weg zur Heerde.

Den Vurfu, dessen Gipfel ein mächtiger Buchenwald bedeckt, erreichten wir bald. Sogleich spürten uns die wachsamen, weißen, zottigen Hirtenhunde und kamen uns mit wüthendem Gebell entgegengerannt. Gleich darauf eilten auch die Hirten heran, und ihrem Rufe gehorsam kehrten die treuen Hunde knurrend zu der Heerde zurück. Die Hirten, welchen unsere Ankunft äußerst erwünscht war, führten uns sogleich an das flammende Lagerfeuer, dessen feurige Lohe funkensprühend weithin die Umgebung erhellte. Wir setzten uns Alle auf Holzklötze um das Feuer herum und erwärmten unsere von der grimmen Kälte erstarrten Glieder an der wohlthuenden Flamme.

„Glaubst Du, der Wolf werde diese Nacht die Heerde wieder besuchen, Basil?“ fragte ein Jäger, indem er sich zu dem neben ihm stehenden Hirten wandte, der eben eine glühende Kohle in seine Tabakspfeife legte.

„Möglich und auch nicht!“ erwiderte dieser lakonisch. „Wenn er das Pulver gerochen hat, trägt er seinen Pelz sicher nicht zu Markte.“

„Nun, dann wird er doch beim morgigen Treiben herhalten müssen, wenn wir ihn nicht schon bis Tagesanbruch auf dem Anstande erlegt haben.“

In diesem Augenblicke schlugen die Hunde laut an, verstummten jedoch gleich wieder. Wir erhoben uns rasch und eilten zur Heerde hin. Wieder erscholl nun das weithin hallende, geltende Heulen der Hunde.

„Diesmal ist der Wolf da!“ flüsterte mir ein Jäger zu; „eilen wir rasch hinauf!“

Als wir jedoch am Gipfel des Berges anlangten, war das Raubthier, welches einen Einbruch in die wohlbewachte Heerde nicht gewagt hatte, schon im nahen Walde verschwunden. Einige Zeit blieben wir rathlos stehen.

„Zögern wir nicht lange!“ rief Andre, der beste Schütze. „Ihr Andern geht, bis die Treiber erscheinen, zur Heerde hinab, indeß ich versuchen will in der Zeit das Raubthier durch den Lockruf dem Herrn zum Schusse zu bringen.“

Der Weisung gemäß gingen die übrigen Jäger zurück; Andre aber und ich eilten mit raschen Schritten in den Wald hinein. Hier lag noch der Schnee, der auf dem offenen Lande geschmolzen war, und knarrte unter unseren Fußtritten. Die mächtigen kahlen Buchenstämme waren mit dünnem, durchsichtigem Reife überzogen, welcher, von dem mit falbem Glanze durch die Zweige schimmernden Monde beleuchtet, wie Milliarden von Diamanten flimmerte und glänzte. Auch der Schnee am Boden glitzerte so sehr, daß mir die Augen feucht wurden. Alles im Walde war still und ruhig, nur das Aechzen einiger vom Winde gebeugten Aeste und das Knistern des Schnees unter unseren Fußtritten war vernehmbar.

Wir mochten etwa eine Viertelstunde vorwärtsgeschritten sein, als mein Begleiter plötzlich lauschend still stand. „Ich irre nicht! Ich habe des Wolfes Ruf gehört! Wir wollen nun nicht weiter vordringen, sondern uns hier postiren. Bergt Euch rasch hinter jener dicken Buche dort und haltet die Büchse zur Hand.“

Ich folgte der Weisung. Andre eilte weiter hinauf und stellte sich gleichfalls hinter einer dicken, mächtigen Buche auf, lehnte aber, was mich in Erstaunen setzte, seine Büchse an den Stamm des Baumes. Hierauf legte er beide Hände zusammen, so daß sie eine eiförmige Höhlung bildeten, und brachte sie an den Mund. Der täuschend nachgeahmte dumpfe Ruf des Wolfes, das weithin schallende Hu–u–u–u–u–u–u–u, nach der Tonleiter steigend und fallend, erscholl. Nicht lange darauf antwortete ein ähnlicher langgedehnter Ruf, jedoch, wie es schien, aus weiter Ferne. Nach verschiedenen Pausen, je nachdem Andre im Lockrufe anhielt, erschallte das Geheul des Wolfes, und zwar immer näher und näher, bis es plötzlich verstummte. Nun stieß Andre den Ruf in dumpfen, knurrenden Tönen heraus, ließ die Hände rasch vom Munde sinken und erfaßte die Büchse. Plötzlich erdröhnte das markerschütternde Hu–u–u–u–u–u kaum hundert Schritte oberhalb unserer Standplätze. In solcher Nähe hatte ich die Stimme des Wolfes noch nie vernommen, sie machte mich in meinem Innern erbeben. Etwa siebenzig Schritte oberhalb Andre’s erschien zwischen den Stämmen ein hohes, schlankes Thier, von der Größe eines Schäferhundes, braun, mit dickem Kopfe, spitzer Schnauze, schmalem Leibe, langen Füßen und buschigem Schwanze – der Wolf. Er schaute mit aufgeworfenem Kopfe spähend umher, als suche er den Gegner, auf dessen aufforderndes Geheul er sich herangenaht, um sich mit demselben zu messen. Dann senkte er den Kopf und stieß nochmals auffordernd sein markerschütterndes Geheul aus, indem er sich Andre näherte. Doch dies sollte zugleich sein Schwanengesang sein, denn in diesem Augenblicke blitzte es aus Andre’s Büchse. Ein dumpfer Knall ertönte, hierauf ein heiseres Geheul, dem eines geschlagenen Hundes nicht unähnlich. Im nächsten Augenblicke sprang der Wolf in großen Sätzen an mir vorüber. Meine Kugel flog ihm pfeifend nach.

Als sich der Pulverdampf verzogen, wälzte der Wolf sich in den letzten Zuckungen auf dem von seinem Blute gerötheten Schnee und einige Augenblicke später war er verendet.

„Den hätten wir!“ meinte Andre, indem er mit mir zum erlegten Raubthiere herantrat, „doch haben wir weiter keine Zeit zu verlieren, denn der Morgen dämmert bald. Ich werde also das Wild, ohne ihm vorher den Pelz abzustreifen, in Sicherheit bringen.“

Er beugte sich über den erlegten Wolf und löste ihm rasch durch den Schnitt seines Messers die Sehnen der Hinterfüße von den Knochen, hob ihn hierauf mit meiner Hülfe in die Höhe und befestigte die Füße an einen Ast. Kaum war dieses geschehen, als auch vom Saume des Waldes her ein greller Pfiff ertönte; es war dies das Zeichen, daß sich alle Jäger eingefunden und daß die Treiber den Wald umstellt hatten.

Wir eilten rasch zur Lichtung des Gehölzes zurück und fanden die Schützen daselbst versammelt.

„Nun rasch die Linie gebildet!“ gebot Andre.

Wir leisteten Folge, schritten in den Wald hinein und nahmen Jeder, in gehöriger Distanz, den Stand ein. Bald darauf ertönte das laute Geschrei der sich nahenden Treiber, das im mächtigen Walde ein entsetzliches Getöse verursachte. Schon war die heranrückende Linie der Treiber kaum tausend Schritte von uns entfernt und noch immer zeigte sich kein Wolf. Bereits glaubten wir, daß der erlegte der einzige in diesem Reviere gewesen sei, als plötzlich eine große Wölfin hinter einer Buche aufsprang und in wilden Sprüngen in den Wald hineinstürmte. Sie that dies so blitzesschnell, daß kein Schütze Feuer gegeben hatte. Auf ein gegebenes Zeichen verdoppelte sich das Geschrei und der Lärm der sich langsam nahenden Treiber. Durch dies Getöse erschreckt, kehrte sich die Wölfin abermals zu unserer Linie und näherte sich uns, durch die Buchenstämme gedeckt, sehr vorsichtig. Nunmehr stieß sie ein wildes Geheul aus und wollte in jähem Sprunge unsere Linie durchbrechen. Doch mitten im Sprunge durchbohrten sie die sichertreffenden Kugeln der Schützen, und dicke Blutströme vergießend stürzte sie röchelnd zu Boden.

Eben zeigte die Sonne den Mittag an, als wir in das Dorf zurückkehrten. Wie im Triumphe wurden die beiden erlegten Raubthiere auf geflochtenen, mit Immergrün und Moos geschmückten Tragbahren dem stattlichen Zuge der Jäger vorangetragen, umschwärmt von den fröhlichen, jubelnden Dörflern, die sich über den Tod der Räuber nicht genug freuen konnten.
Albert Amlacher.




Der Pelz des Starosten. Canon[WS 2] ist ein genialer Maler, aber ein lustiges Haus, wie so manche Künstlernatur. Castelli war eine literarische und journalistische Biene, auch ein lebenslustiger, pudelnärrischer Kauz mit allerlei Schnurren und schnackischen Einfällen, ein lebendiges Anekdotenbüchlein, aber ein Oekonom, der pedantisch seine Silberlinge sammelte, während Canon die seinigen in alle Welt springen läßt. Beide aber waren echte Wiener.

Wir sagten, Canon ist und Castelli war, denn jener gehört noch der Sterblichkeit, dieser schon der Unsterblichkeit an. Beide waren Lebemänner, nur lebte der Dichter besonnen, der Maler ein wenig unbesonnen in den Tag und die Nacht hinein. Castelli war rangirt, er hatte Orden, unzählige Schnupftabaksdosen, Münzen, Gemälde, Staatspapiere, ja sogar ein kleines Landgütchen, groß genug für einen alten Junggesellen, und allenfalls für einen Hahn mit seiner ganzen Familie auch noch dazu. Canon besaß nichts dergleichen, er verschmähte solchen irdischen Tand. Sein ganzes Vermögen bestand in seinem Genie und in einigen Wechselbriefen, die ihn im Jahre dreihundert und fünfundsechszig Mal die Adresse zu wechseln zwangen. Wir fügen noch hinzu, daß der lustige Castelli fast um ein halbes Jahrhundert älter als der lustige Canon war.

Der Schwank, den wir hier mitzutheilen uns erlauben, spielt in einem etwas strengen Winter, und Castelli trug einen stattlichen russischen Pelz, an welchem sein junger Freund Canon ein besonderes Wohlgefallen fand. Castelli nannte seinen Pelz seinen wandernden Ofen, von dem er sich um keinen Preis zu trennen entschließen könnte, aber dennoch wollte ihn sich Canon annectiren, wie man in neuester Zeit zu sagen pflegt.

„Da soll ich einen Starosten malen, in Lebensgröße malen,“ sagte er eines Abends verdrießlich, als sie wie gewöhnlich beisammen saßen, „aber er hat mir nichts als sein dummes Gesicht aus Petersburg geschickt.“

„Das ist eine schwierige Aufgabe.“

„Er hat mir freilich das Maß seiner Länge und Breite beigeschlossen, aber ich weiß nicht, in welchen Rock ich den Kerl stecken soll.“

„Das ist ja Nebensache. Ich würde ihm einen schwarzen Frack anziehen.“

„Wo denkst Du hin! Ein Starost im Frack sähe wie ein Bacchus im Flügelkleide aus. Das Kleid macht den Mann, und beide müssen harmoniren, wenn ich was Tüchtiges schaffen soll.“

„So ziehe ihm eine Kosaken-Uniform –“

„Ja, wenn er ein Hauptmann wäre, aber mein Starost ist nichts als ein alter Philister, der nur seine Millionen zu commandiren und seine Leibeigenen zu knuten hat.“

„Teufel, da wird man Dir zu einer artigen Rolle Ducaten gratuliren können.“

„Ja wohl, darum will ich nichts Gewöhnliches zu Tage fördern. Tausendsapperment, da fällt mir etwas ein. Unbegreiflich, daß ich nicht gleich auf den Gedanken gekommen bin. Man ist rein vernagelt zuweilen.“

„Nun? Hast Du einen Rock für Deinen Starosten gefunden?“

„Keinen Rock, aber einen famosen russischen Pelz, lieber Freund.“

„Einen Pelz?“

„Ja, Deinen Pelz, mein guter Castelli. Du mußt so gefällig sein, ihn mir auf einige Stunden zu leihen.“

„Leihen?“ fragte Castelli die Nase rümpfend, denn der alte Herr war kein besonderer Freund von Leihen und Borgen.

„Das wird Dich doch nicht geniren? Du hast ja Kleidungsstücke genug, um Deinen Pelz ein paar Stunden entbehren zu können.“

„Wirklich ein paar Stunden nur?“

„Nicht länger, als ich brauche, die Skizze auf die Leinwand zu werfen.“

„Nun, gut, begleite mich nach Hause. Du kannst den Pelz gleich mitnehmen, aber morgen, spätestens um zehn Uhr, stellst Du mir ihn zurück.“

„O, viel, viel früher! Du hilfst mir da aus einer peinlichen Verlegenheit und sollst dafür meinen Starosten en miniature für eine Dose haben.“

Die beiden Freunde verließen die Kneipe, und eine halbe Stunde später schritt Canon wie ein Magnat in dem schönen russischen Pelz seiner Wohnung zu.

Am andern Tage wartete Castelli vergebens auf seinen Pelz. Auch der dritte Tag verging, und weder Canon noch der Pelz ließ sich sehen. Castelli schickte in die Wohnung des Malers, aber dieser war ausgezogen [128] und hatte vergessen, seine neue Adresse zurückzulassen. Als Castelli dieses dennoch erforschte, war er abermals ausgezogen, und so ging es fort. So oft der Dichter hoffte, Maler und Pelz zu erwischen, schlüpften ihm Maler und Pelz, so zu sagen, durch die Finger.

Endlich lächelte dem armen Castelli das süße Glück des Wiedersehens! Canon stand eines Morgens am Fenster seiner fünfzigtausendsten Wohnung, als er seinen Freund Castelli in’s Haus treten sah. Zu entwischen war nicht mehr möglich, also hilf, was helfen kann!

Als Castelli die Zimmerthür öffnete, fand er seinen Freund Canon bis über die Ohren in den Pelz gewickelt, jämmerlich stöhnend und der ganzen Länge nach ausgestreckt im Bette.

„Guten Morgen!“ rief der Dichter barsch.

„Guten Morgen!“ hauchte kläglich der Maler, von welchem nichts als die Nasenspitze sichtbar war.

„Was hat das zu bedeuten? bist Du krank?“

„Sterbenskrank! Es freut mich, Dich zu sehen, mein guter ehrlicher Castelli, – aber komm’ mir nur ja nicht zu nahe, ich bitte Dich!“

„Warum denn nicht?“

„Ich habe die schwarzen Blattern, lieber Freund.“

Castelli, dem das Leben der Güter höchstes war, fürchtete nichts so sehr, als ansteckende Krankheiten.

„Die schwarzen Blattern!“ schrie er entsetzt, und wäre in Todesangst fast zum Fenster, statt zur Thür, hinausgesprungen.

„Deinen Pelz! Deinen Pelz!“ rief Canon ihm nach, nachdem er endlich das rechte Loch gefunden, „Deinen Pelz!“

„Verbrenne ihn!“ brüllte der Flüchtling schon auf der Treppe. „Der Teufel hole den verdammten Pelz! Ich mag von ihm nichts mehr wissen!“

Canon sprang lachend aus dem Bette.

Er war und blieb Besitzer des schönen russischen Pelzes, denn Castelli hätte ihn um alle Schätze der Erde nicht mehr zurückgenommen.

Später beichtete der Maler dem Dichter den losen Streich, den er ihm gespielt, aber das gefährdete den Bund der Freundschaft nicht, und der gutmüthige Castelli lachte oft noch recht herzlich über den lustigen Schwank.




Glückliche Menschen. (Mit Abbildung.)

An den Rhein, an den Rhein, zieh’ nicht an den Rhein,
Mein Sohn, ich rathe Dir gut:
Da geht Dir das Leben zu lieblich ein,
Da blüht Dir zu freudig der Muth.

Siehst die Mädchen so frank und die Männer so frei,
Als wär’ es ein ander Geschlecht;
Gleich bist Du mit glühender Seele dabei:
So dünkt es Dich billig und recht.

Oder gäbe es wirklich Menschen mit so gesättigten Augen, daß der Blick auf unser Bild nicht die Sehnsucht nach wahrem Menschenglück in ihnen erweckte? In der Ruhe der Sicherheit wohlthuend-mild strahlendes Glück – das ist der seltene Inhalt dieses Blattes! Ein Mann voll Lebensfrohmuth zwischen Gattin und Sohn, des Herzens Liebstes mit beiden Händen festhaltend, ein Weib im Hochgefühl der Liebestreue ihm angeschmiegt, glücklich in des Gatten Glück, und das Kind glücklich für sich, das ist ein Anblick, der auch ohne den Rhein die Herzen packte. Wer aber kann ihm gar dort widerstehen, wenn die scheidende Sonne solchen Glücklichen eine gute Nacht zustrahlt?

Man möchte schier zürnen, daß es nicht möglich ist, dem Holzschnitte Farbengluth einzuhauchen. Wie viel verliert unser Herz dadurch, daß die Lust des Auges von der Abendpracht, in welche der Maler diese Glücklichen am Rhein gestellt hat, nicht mit erregt werden kann! Ist doch sonst Alles, Thal und Himmel und Geschöpfe Gottes, dazu angethan, uns in die selige Stimmung neidlosen Mitempfindens einer ungewöhnlichen Glückseligkeit zu versetzen, deren Augenblicksbild uns belehrt, daß der Friede trauter, sorgenloser Liebe hier heimisch ist.

Freilich – am Rhein, und von Böttcher! – Als ob es da anders sein könnte! Wir haben unsern Lesern diesen „Volksmaler“ schon zweimal vorgeführt: im Jahre 1861 (Nr. 41 der Gartenlaube), wo wir den harten Lebensgang dieses armen Buben aus dem Dorfe Imgenbroich auf der hohen Veen im Regierungsbezirk Aachen erzählten, der erst mit dem sechsundzwanzigsten Jahre die Akademie (in Düsseldorf) beziehen konnte und schon drei Jahre später (1847) in der Meisterclasse saß. Wir wissen, wie heiß er sein Rheinland liebt, wie er die Verherrlichung der Natur und des Volks am alten Strom unverlöschlicher, urgermanischer Begeisterung fast zur Hauptaufgabe seines Lebens erhoben hat. Er allein hat Stoff genug für ein ganzes Rheinlands-Album aufgehäuft. Ein zweites Bild theilte die Gartenlaube 1865 (Nr. 23) mit, seine „Heuernte am Rhein“, deren Original (Oelgemälde) die Bürger von Köln ihrem Classen-Kappelmann zum Dank dargebracht hatten. Ihm gab man den ehrenvollen Auftrag, den Dank der Kölner zu malen, weil er die Rheinlandherzen eben dazumal mit einer „rheinischen Sommernacht“ überglücklich gemacht hatte. Und heute bringt er uns wieder einen rheinischen Sonnenuntergang, von dem wir freilich leider nichts auf unserem Holzschnitt sehen, als den Widerschein des stillen Entzückens auf den beiden lieben Menschengesichtern, die ihm auf unserem Bilde zugewandt sind. Zu diesen „Glücklichen im Schloß“, die leider nach England verkauft worden sind, vollendete Böttcher ein ebenbürtiges Seitenstück, „die Glücklichen in der Hütte“, welches wir nach einer auch unter der speciellen Ueberwachung des Künstlers gemachten Zeichnung nächstens ebenfalls mittheilen. Ueber das vorliegende Bild schreibt uns der Künstler selbst: „Der landschaftliche Hintergrund zeigt die Aussicht, welche man auf der Terrasse der Burg Klopp bei Bingen hat. Die Häuser nebst der Kirche im Hintergrund gehören dem Theile der Stadt Bingen an, welcher der Mündung der Nahe in den Rhein zunächst liegt. Oberhalb der Kirche sehen wir den Mäusethurm auf seiner Rheininsel und rechts von ihm am Bergabhangs die Burg Ehrenfels, an dessen Fuße rechts bis Rüdesheim der edle Rüdesheimer Berg wächst. Hoch oben auf dem Berge, rechts, ist die Ruine Rossel, der schönste Punkt des Niederwaldes. Die Figuren schauen hinaus in der Richtung zur Drususbrücke über die Nahe, wohin besonders am Abend die Fernsicht so reizend ist. Sie sehen, es ist kein schlechtes Stückchen Erde, auf das diese Menschen ihre Villa hingebaut haben.“

Man muß ihm darin vollkommen Recht geben. Er selbst bedauert, „daß die feierliche Farbenstimmung, wie sie der Sonnenuntergang mit sich bringt, in der Zeichnung sich nicht wiedergeben läßt, denn,“ sagt er, „diese stille, sonnige Ruhe in der Landschaft ist doch eigentlich das erläuternde Motiv für die Stimmung der Figuren, die sich dieser feierlichen Naturstimmung bis zu seligem Selbstvergessen hingeben.“

Ja, es ist jenes gefährliche Selbstvergessen, zu dem der Rhein so verführt und vor dem nur die unschuldige Kindheit bewahrt ist, wie wir genau auf unserm Bilde sehen: nur dem Knaben und dem Pudel hat der Zaubersang der Abendgeister des Rheins nichts an; Beide spielen so harmlos, als wenn dort die Sonne den ganzen Tag so unterginge. Aber für Leute, wie der schöne sinnende Mann und die anmuthig an ihn geschmiegte Frau, hat Carl Simrock ganz gewiß seine dringende „Warnung vor dem Rhein“ bestimmt, in welcher der Dichter ohne Zweifel aus eigener heftiger Erfahrung spricht. Und ergeht es uns denn nicht gerade so, denen die Erinnerung an eine wonnige Rheinreise die Farben auf dieses Bild überträgt? Wenn wir den Zauberspiegel des Stroms und sein Felsgestade, seine stolzen Burgen und noch stolzeren Menschen im Geiste wiedersehen, – so bricht die älteste Sehnsucht nach diesen Herrlichkeiten wieder frisch auf, und jeder gewissenhafte Vater stimmt mit ein in Simrock’s Befürchtung:

Zu Schiffe, wie grüßen die Burgen so schön
Und die Stadt mit dem ewigen Dom!
In den Bergen, wie klimmst Du zu schwindelnden Höh’n
Und blickst hinab in den Strom!

Und im Strome, da taucht die Nix aus dem Grund,
Und hast Du ihr Lächeln geseh’n,
Und sang Dir die Lurlei mit bleichem Mund,
Mein Sohn, so ist es gescheh’n:

Dich bezaubert, der Laut, Dich bethört der Schein,
Entzücken faßt Dich und Graus;
Nun singst Du immer: Am Rhein, am Rhein,
Und kehrst nicht wieder nach Haus.




Friedrich Rückert’s Leben und dichterisches und wissenschaftliches Wirken hat trotz der fleißigen Forschungen des Dr. C. Beyer (Fr. Rückert’s Leben und Dichtungen. Zweite Auflage. Coburg bei G. Sendelbach) noch manche dunkle Partien, die selbst durch die Mittheilungen seiner nächsten Angehörigen schwer zu erhellen sind, so daß auf die Correspondenz des rastlosen Dichters und Gelehrten mit den hervorragendsten seiner Zeit- und Strebegenossen, denen er über sein stilles Schaffen in der Studirstube fast allein bisweilen Einblicke eröffnete, großer Werth gelegt werden muß. Sollten solche Rückert-Briefe nicht von ihren dermaligen Besitzern der Familie (und geschähe dies auch nur in möglichst guten Abschriften) zur entsprechenden Benutzung mitgetheilt werden? Unter den nachgelassenen Schriftschätzen Rückert’s vermißt ferner dessen Sohn, Professor Heinrich Rückert in Breslau, sämmtliche Briefe Platen’s an Rückert, die offenbar einmal entliehen und nicht zurückgegeben worden sind. Heinrich Rückert ersucht den unbekannten Inhaber derselben, diese für ihn und alle Verehrer Rückert’s unschätzbare Briefsammlung ihm direct oder Herrn Dr. Beyer in Coburg zur Weiterbeförderung baldigst zusenden zu wollen.




Kleiner Briefkasten.


W. Z. in Z–u. Nein! was wir schon früher erklärt, wiederholen wir auch Ihnen: die Gartenlaube kann sich ihren Abonnenten gegenüber auf keinerlei sogenannte Prämien einlassen, weder auf Stahlstiche, noch Lithographien, noch gar auf Lotterieloose. Erhalten Abonnenten der Gartenlaube hier und da Prämien, so gehen diese niemals von der Verlagshandlung unseres Blattes, sondern von einzelnen Sortimentsbuchhandlungen und Großcolporteuren aus. Die Thatsache der ungeheuern Auflage unserer Zeitschrift beweist zur Genüge, daß diese keines solchen Lock- und Zugmittels bedarf.
D. Red.




Inhalt: Getrennt. Novelle von F. L. Reimar. (Fortsetzung.) – Das Tusculum eines amerikanischen Dichters. Von Karl Rau in New-York. Mit Abbildungen. – Von den Geheimnissen der Vogelstellerei. Von Gebrüder Karl und Adolph Müller. 1. Auf der Tränke. Mit Abbildung. – Aus der Briefmappe des Weisen von der Blumenhalde. I. – Ein russisches Findelhaus. – Blätter und Blüthen: Wolfsjagd in Siebenbürgen. Von Albert Amlacher. – Der Pelz des Starosten. – Glückliche Menschen. Mit Illustration. – Friedrich Rückert. – Kleiner Briefkasten.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 7 enthalten: Die beleidigte Erdgöttin Indiens. – Umschau: Die Pariser Singspielhallen. – Gerichtsscene in Texas. – Salomon Munk. – Ein Club der Feinschmecker. – Modernes Studententhum. – Die Balltoiletten der Damen. – Der Bauer als Romandichter. – Der Tunnel in Chicago. – Neue Ausgaben.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Fürsprecher oder gar Verherrlicher des handwerksmäßigen, leidenschaftlichen Vogelfangs zu sein, kann dem wahren Freunde der Natur, folglich auch uns, niemals in den Sinn kommen. Wir schildern in diesen und einigen weiteren Mittheilungen Erlebnisse, geben Bilder aus dem Leben und Weben der Vogelwelt, unbekümmert um pedantische Schranken engherziger Pädagogen oder um allzu zarte ängstliche Gemüther. Manchen interessanten Charakterzug, manches kluge, menschliche List geradezu überbietende und vereitelnde Benehmen und Verhalten lernen wir erst an dem Vogel in der Lage der Versuchung oder Bedrängniß kennen. Und eben die genaue Kenntniß seines Wesens nöthigt uns Achtung vor Seelenäußerungen ab, die dem vorurtheilsfreien Beobachter mehr sind, als der oft verächtlich gebrauchte Begriff „Instinct“ besagen will.
  2. Zschokke’s einundsechzigster Geburtstag.
  3. Es war dies ein von mir damals eben herausgegebenes Bändchen Gedichte, das sich, roth gebunden, dem verehrten Manne zugeschickt hatte.
    H. N.
  4. Hohenfelde, wo ich damals wohnte und Vorsteher eines Pensions- und Erziehungs-Instituts war, liegt ganz in Hamburgs Nähe und wird jetzt, wo mit jedem Jahr die Baulust sich steigert, schon ganz als Vorstadt Hamburgs betrachtet.
    H. N.
  5. Ich gab damals ein Volksblatt unter dem Titel: „Der Hamburger Bote“ anonym heraus, das freundliche Aufnahme fand. Nach dreijährigem Bestehen veranlaßte der große Brand Hamburgs (1842), welcher nicht nur die Druckerei, sondern auch viel Manuscript vernichtete, das Eingehen dieser Zeitschrift.
    H. N.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: dsa
  2. Hans Canon (1829–1885)