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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[129] No. 9.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Getrennt.


Von Von F. L. Reimar.
(Fortsetzung.)


Wenn Feldern sich der lauten und bunten Genossenschaft entzog, so liebte er es dagegen sehr, einsame Spaziergänge zu machen. Meistens führte ihn dann der Weg in die benachbarten Berge, wo er häufig einen Steinbruch besuchte, der nicht allein ein äußerst pittoreskes Bild bot, sondern ihn auch dadurch anzog, daß darin gerade großartige Sprengungen vorgenommen wurden. Auch heute hatte er lange dem Werke zugeschaut und mit lebhaftem Interesse beobachtet, wie sich die mächtigen Steinmassen durch die Wirkung eines einzigen Funkens von ihrer granitnen Basis lösten, auf der sie Jahrtausende hindurch jeder Naturgewalt getrotzt hatten. Eben hatte er sich gewandt, um den Rückweg anzutreten, als lachende, fröhliche Stimmen an sein Ohr schlugen, und bei einer Biegung der Straße erblickte er einen ihm entgegenkommenden Zug von Reitern, Melanie an der Spitze derselben. Er wurde angehalten, begrüßt und es gab kurze Hin- und Widerreden, bei denen er der Sprengungen Erwähnung that und das imposante Schauspiel rühmte.

„Dem müssen wir auch beiwohnen; folgen Sie mir, meine Herren!“ rief Melanie in der Aufregung, die bei der unvermutheten Begegnung über sie gekommen war, hastig und wandte in demselben Augenblicke ihr Pferd nach der Seite des Steinbruchs zu.

„Nein, nein, nicht dorthinaus,“ rief Feldern, „die Richtung ist gefährlich! Es kann jeden Augenblick eine Explosion erfolgen!“

Aber sie hörte nicht oder schien nicht zu hören und war der übrigen Gesellschaft schon eine Strecke vorausgesprengt. Feldern eilte ihr erschrocken nach und hatte sie in wenigen Minuten erreicht.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, Melanie noch nicht Zeit zur Antwort gehabt, als mit donnerartigem Getöse die Explosion erfolgte. In demselben Augenblick sah sie, wie Feldern als ob vom Blitz getroffen zusammensank. Ein lauter Angstschrei rang sich aus ihrer Brust und ehe die übrigen Reiter herbeikommen konnten, war sie von ihrem Pferde herab und an der Seite des leblos Daliegenden, dem das Blut aus der Schläfe strömte. Ein Stein von der Größe einer welschen Nuß hatte ihn dort getroffen – ob zum Tode, ließ sich in diesem Augenblick noch nicht unterscheiden. Die Herren hielten eine kurze Berathung, was in dieser schwierigen Lage zu thun sei, und kamen überein, daß es gefährlich sein möchte, den Verwundeten auf der Stelle zu transportiren; sie beschlossen vielmehr, aus dem Badeorte ärztliche Hülfe herbeizuholen und dort zugleich das bequemste Mittel, das aufzutreiben war, zu requiriren, um ihn nach seiner Wohnung zu schaffen.

Während einige von ihnen den etwa eine halbe Stunde betragenden Weg zurücksprengten, blieben die anderen als Hüter an der Unglücksstätte zurück. Melanie kniete auf dem Boden; der Kopf des Verwundeten ruhte in ihrem Schoße und sie suchte mit ihrem Tuche das hervorquellende Blut zu stillen, indem sie in stummer Angst auf die bleichen Züge blickte, die immer noch kein Zeichen des Lebens verriethen, wenn der schwach klopfende Puls auch erkennen ließ, daß dasselbe noch nicht ganz entwichen war. – Endlich und endlich kam der Arzt. Melanie wagte kaum zu athmen, als er sich über den Verwundeten beugte, und als er sich dann mit den Worten von seiner Untersuchung erhob: „Es ist nur eine tiefe Ohnmacht – er wird wieder zu sich kommen,“ drohten ihre eigenen Kräfte sie zu verlassen. Die körperliche Schwäche dauerte jedoch nur einen Moment und in der nächsten Minute schon leistete sie dem Arzt thätigen Beistand bei der Behandlung des Verwundeten, welchem ein vorläufiger Verband angelegt werden sollte. Ihre Hand erwies sich als so leicht und geschickt, daß der Arzt ihre Hülfe gern annahm, und er wie die anderen Herren ließen es als beinahe selbstverständlich geschehen, daß sie an Feldern’s Seite Platz nahm, als der Wagen erschien, welcher den Kranken nach seiner Wohnung bringen sollte.

Aber auch hier verließ sie ihn nicht. „Glauben Sie, daß eine Schauspielerin nicht auch einmal barmherzige Schwester sein kann?“ fragte sie mit einem schwachen Lächeln, als der Arzt sich mit den Herren über die Einrichtung der Pflege Feldern’s berieth. „Lassen Sie mir meinen Posten.“

Man wagte nicht, ihr die Bitte abzuschlagen, um so weniger, als sie schon bewiesen hatte, daß sie die äußerste Sorgsamkeit für ihr Amt mitbringe, und diese hatte der Arzt für unbedingt nöthig erklärt, wenn das Leben des Kranken, das immer noch in großer Gefahr war, erhalten bleiben sollte. Doch müsse es sich, hatte er hinzugefügt, in sehr kurzer Zeit entscheiden, wie der Ausgang sein würde. Einer der Herren übernahm es, Feldern’s Gattin auf telegraphischem Wege von dem unglücklichen Ereigniß in Kenntniß zu setzen, da es als die natürlichste Pflicht erschien, sie an seine Seite zu rufen. –

Alma hatte mit voller Ueberzeugung gesprochen, als sie ihren Gatten vor ihrer Mutter vertheidigte. Es war nie ein Zweifel an Feldern’s lauterster Ehrenhaftigkeit in ihre Seele gekommen, und darum durfte sie stolz jede Verdächtigung von sich weisen. Aber Gift hat eine furchtbare Gewalt, die schon in dem kleinsten Tröpfchen enthalten ist, und ein solcher Tropfen war doch, ohne daß sie es wußte, daß sie es nur für möglich gehalten hätte, bei [130] den Mittheilungen der Mutter in Alma’s Seele gefallen. Anfangs konnte sie sich blos nicht enthalten, daran zu denken, um auf’s Neue empört zu werden über die Verleumdung. Dann sann sie nach, wie solch’ ein schmähliches Gerede habe entstehen können, und als sie nach seinem Grund und Boden forschte, fiel ihr ein, daß die Mutter jene Schauspielerin, in deren Netzen Feldern gefangen sein sollte, Melanie Wolde genannt hatte. Sie erinnerte sich des Namens sehr wohl und auch der Künstlerin, die ihn trug, als einer piquanten Erscheinung, welche sie auf der Bühne ihrer Vaterstadt oft und gern gesehen hatte. Die Schauspielerin war auch ein Liebling des Publicums gewesen und von der Kritik – Feldern schrieb damals häufig die Recensionen für’s Theater – freundlich behandelt worden. Sie wußte selbst nicht, warum diese Erinnerung sie jetzt unangenehm berührte; tief konnte das Interesse Feldern’s für die junge Künstlerin nicht gewesen sein, denn sie entsann sich nicht, daß er jemals mit ihr von derselben gesprochen, und gekannt hatte er sie doch zu gleicher Zeit. Fräulein Wolde war – sie wußte es jetzt genau – bis zur Zeit ihrer eigenen Verlobung an jener Bühne gewesen, und es war ihr noch gegenwärtig, daß ihr plötzlicher Contractbruch damals nicht geringe Sensation in der Stadt gemacht hatte. Was konnte sie zu demselben bewogen haben? und warum hatte Feldern, auf den die Sache doch Eindruck machen mußte, ihrer nie erwähnt? – Sie wußte selbst nicht, daß ihr Herz klopfte und ihre Wangen glühten, als sie über das Alles nachdachte. Dann spannen sich ihre Gedanken weiter und kehrten zu dem Moment ihrer Verlobung zurück. Sie sah sich wieder vor Feldern hintreten und ihm in der tiefen Ergriffenheit und dem hohen Aufschwung ihrer Seele ihre Hand darbieten, ihn selbst aber sah sie stocken und bleich werden. Heiliger Gott, war es das Erbeben vor einem ungeahnten, überschwänglichen Glück, war es nicht das Bewußtsein eines strafbaren Verhältnisses, das Gefühl seiner Schuld und Unwürdigkeit gewesen, was ihn stumm gemacht hatte? Ihre Gedanken wirbelten und einen Moment glaubte sie, wahnsinnig werden zu können. Dann aber trat Feldern’s Bild vor sie hin in seiner ganzen männlichen Festigkeit, seinem tiefen, sittlichen Ernst, und in dieser Minute hätte sie wieder wie damals zu ihrer Mutter sagen können: mein Glaube an Gott ist nicht fester, als der an die Reinheit meines Gatten! Und doch – in der nächsten rang sie wieder mit ihrem furchtbaren Zweifel!

In dieser Gemüthsstimmung traf sie die Nachricht von dem Unfall Feldern’s, die ihr in dem kurzen Stil der Depesche die „zufällige Verwundung“ mittheilte. Der Zusatz lautete: „Gefahr – aber Hoffnung. Eile wünschenswerth.“ Alle ihre Zweifel, ihre Beängstigungen sanken zusammen vor diesen wenigen Worten. Sie dachte kaum noch an die Hirngespinnste ihrer kranken Phantasie; sie wußte, sie fühlte nur das Eine: der Mann, den du liebst, dessen Weib du bist, ist krank, vielleicht sterbend! und all’ ihr Wollen concentrirte sich in das eine Verlangen: Zu ihm, zu ihm!

Wenige Stunden später ging ein Zug ab, der sie nach dem Badeort bringen konnte, und als sie auf dem Wege war, athmete sie etwas leichter. Die Zeit schien sich ihr aber in’s Grenzenlose zu dehnen; ihre fieberhafte Spannung wuchs von Minute zu Minute und wurde immer unerträglicher, je näher man dem Ziele der Reise kam. Endlich war die Station erreicht, und flüchtigen Fußes eilte Alma nach dem Hotel, wo Feldern wohnte. Der Besitzer desselben kam ihr auf dem Flur entgegen und ein Blick auf ihr leichenblasses, verstörtes Gesicht verrieth ihm, daß sie die Dame sei, deren Ankunft man erwartete, noch ehe sie ihren Namen genannt hatte. Mit ehrerbietiger Freundlichkeit näherte er sich ihr und drückte seine Freude aus, die Frau Professorin mit einer guten Nachricht willkommen heißen zu dürfen: der Arzt, welcher so eben fortgegangen, habe den Kranken außer Gefahr erklärt. Alma’s Kräfte verließen sie; sie lehnte sich an die Wand, um Athem zu schöpfen; hätte ihr die Gegenwart des Wirths nicht Zwang aufgelegt, wäre sie in Thränen ausgebrochen.

Als sie sich einigermaßen gesammelt hatte – es war vom Arzt verboten worden, den Patienten aufzuregen – bat sie, ihr den Weg in das Krankenzimmer zu zeigen, und auf dem Gange dahin erzählte ihr der Wirth in Kürze den Hergang des bedauerlichen Mißgeschicks und erwähnte schließlich, daß eine Pflegerin bei dem Verwundeten sei. Sie achtete nicht sehr auf die letzte Bemerkung, die sie auf eine gemiethete Wärterin bezog, um so weniger, als sie in diesem Augenblick das zu der Krankenstube führende Vorzimmer erreicht hatte, an dessen Thür der Wirth sich verabschiedete. Bei ihrem Eintritt erhob sich vor dem Lager des Verwundeten eine Gestalt und kam ihr mit leisem, doch raschem Schritt entgegen, um sie vor jedem Geräusch zu warnen, da der Kranke entschlummert sei. Alma war einen Augenblick fast starr vor Schrecken, denn auf der Stelle hatte sie das junge Mädchen erkannt, an welches sie seit jener verhängnißvollen Nachricht kaum wieder gedacht hatte. Ihre Zähne schlugen aufeinander und mehr stammelnd als sprechend stieß sie die Worte hervor: „Fräulein Wolde – wie kommen Sie hieher?“

„Er – der Kranke hatte Beistand nöthig,“ entgegnete die Schauspielerin, mit dem Versuch, vor den drohend auf sie gerichteten Blicken Stand zu halten, und wollte fortfahren, in leisem Tone eine Erklärung zu geben, aber Alma schnitt ihr dieselbe mit den kurzen Worten ab: „Diesen Beistand werde jetzt ich, seine Gattin, leisten und ich bitte, daß Sie mir den Platz einräumen.“

Dann schritt sie mit einer stolzen Bewegung des Hauptes an Melanie vorüber und zog die Thür, welche sie noch von Feldern’s Zimmer trennte, nach sich. Die Röthe der Scham und Entrüstung flammte in den Wangen der jungen Schauspielerin auf; ihre Hände ballten sich krampfhaft, und hätte ihr die Nähe des Verwundeten nicht Zwang auferlegt, so würde sie ihrer Gegnerin nachgeeilt sein und sie zur Rechenschaft für ihre Härte gezogen haben. In der nächsten Minute hatte indeß ihre Aufwallung einem anderen Gefühle Platz gemacht; wie gebrochen sank sie in sich zusammen und verließ in beinahe scheuer Haltung das Gemach und gleich darauf die Schwelle des Hauses.

Es war Alma lieb, daß Feldern schlief, als sie ihn wiedersah, daß sein Schlummer noch eine geraume Zeit fortwährte. Schweigend und sinnend saß sie unterdessen an seinem Lager, die Augen unverwandt auf die vor ihr ruhende Gestalt gerichtet, während in ihrem Herzen Gefühle tobten, die sie noch nie gekannt hatte. Endlich schlug Feldern die Augen auf und „Alma!“ war der erste freudig ausgestoßene Laut, mit dem er sich emporrichten wollte.

„Ruhig, Feldern!“ bat sie. „Der Arzt hat jede Aufregung verboten, und nur unter der Bedingung, daß Du nicht sprichst, darf ich an Deiner Seite bleiben.“

Vergebens sehnte er sich nach einer Umarmung, einer Liebkosung – blos die Blässe ihres Gesichts konnte ihm ihre Theilnahme verrathen. Zugleich aber klang ihre Rede so bestimmt, daß er sich zur Folgsamkeit gezwungen sah und sich mit dem Bewußtsein begnügen mußte, daß sie in seiner Nähe war und über ihn wachte.

Seiner Pflege widmete sie sich von diesem Augenblick an mit äußerster Sorgfalt, und wie sie mit weicher Hand die Verbände um den kranken Kopf legte, beobachtete sie mit fast scrupulöser Gewissenhaftigkeit jede Vorschrift des Arztes. Nicht Tag noch Nacht wich sie von seinem Bette, und es war, als bedürfe sie für sich selbst weder Nahrung noch Ruhe. Nur die Unterhaltung mit ihm beschränkte sie nach wie vor auf die allernöthigste; selbst als der Arzt erklärte, Feldern, dessen Genesung unter ihrer Pflege rasche Fortschritte machte, bald von der Krankenliste streichen zu können, setzte sie die anfängliche Schweigsamkeit fort, und es konnte scheinen, als sei ein eigener Geist von Unempfindlichkeit über sie gekommen. Auf Feldern, den die Krankheit anfangs sehr weich gemacht hatte, wirkte ihr Benehmen verstimmend, und nebenbei fiel es ihm auf, daß sie nicht ein einziges Mal von dem Unfall sprach, sich nie nach den näheren Umständen desselben erkundigte, ja sogar jede Erwähnung, die sich darauf bezog, abschnitt.

Um so mehr überraschte es ihn daher, als sie eines Tages, da der Arzt ihr seine völlige Herstellung notificirt hatte, zu ihm in’s Zimmer trat und kalt und ernst zu ihm sagte: „Ich darf mir jetzt erlauben, Feldern, Dich nach Einigem zu fragen, was mit Deinem Unglück zusammenhängt.“

Der Ton, in welchem sie sprach, fiel ihm kaum noch auf, und halb scherzend entgegnete er: „Ich habe mich schon gewundert, daß Du so wenig neugierig warst.“

„Neugierig?“ wiederholte sie, „das Wort paßt nicht, Feldern, und es war nur die Rücksicht, welche ich Deinem leidenden Zustand schuldig war, die mich bisher schweigen ließ.“

„Aber Alma, ich verstehe Dich nicht!“ rief er verwundert.

Sie fuhr fort: „Als ich hieher kam – ich sage nicht, mit [131] welchen Empfindungen! – fand ich eine Andere, eine Fremde, an Deinem Lager und ich wies sie von dem Platze; von Dir aber verlange ich die Erklärung, wie sie wagen durfte, hier zu sein!“

Die anfängliche scheinbare Ruhe Alma’s war bereits gewichen und sie hatte die letzten Worte in großer Erregung gesprochen.

„Wenn Du es der Mühe werth gefunden hättest, Dich mit den Einzelheiten jenes Vorgangs bekannt zu machen, so würdest Du Dir die Frage haben ersparen können,“ versetzte er kalt. „Meinen eigenen unklaren Erinnerungen hat der Arzt nachgeholfen, und durch ihn weiß ich, daß das junge Mädchen, von dem Du sprichst, sich meiner Pflege angenommen hat, bevor Du hier warst, während mir nur war, als hätte ich sie im Traum an meinem Lager gesehen.“

„Sonst aber kanntest Du die Schauspielerin nicht?“ fragte sie, und es war, als mische sich ein Anflug von Hohn in ihre Worte.

„O ja, ich kannte sie – seit längeren Jahren.“

„Ich weiß es und weiß auch, es war nicht die barmherzige Liebe der Samariterin, welche sie hierher zog; sie kam, weil –“

Er sagte kein Wort, aber er warf ihr einen Blick zu, der sie warnen sollte. Sie achtete jedoch nicht darauf, ja seine ruhige Kälte brachte sie nur um so mehr auf, und leidenschaftlich fuhr sie fort: „Weil hier ein Verhältniß besteht, das sich vor mir verbirgt, weil ich verrathen und hintergangen bin!“

„Wiederhole die Worte nicht, Alma!“ rief er. „Ich möchte sonst nicht vergeben können, daß Du sie gesprochen hast.“

„Vergeben? Wer braucht Vergebung, Feldern?“

„Du, Alma, weil Du in dieser Stunde nicht an mich glaubst!“ sagte er ernst, aber mit wiederkehrender Milde.

„Sage vielmehr, weil ich an Dich geglaubt habe Jahre lang, weil ich an Dich geglaubt habe in einer anderen Stunde, an die ich jetzt nur zu denken vermag in bitterer Reue!“

„Alma!“ rief er leichenblaß.

Durch den Ton klang ein so schneidender Schmerz und zugleich ein so tiefer Vorwurf, daß sie sich selbst in diesem Augenblick erschüttert fühlte.

„Friedrich, bei Allem, was Dir heilig ist, beschwöre ich Dich, sage mir, was ist zwischen Dir und jenem Mädchen?“

„Sie hat unter meinem Schutz gestanden, Alma, und ihr dankbares Herz hängt an mir, genügt Dir das nicht?“

„Nein, es genügt mir nicht! Schwöre mir bei Allem, was Dir selbst heilig ist, daß Dich kein geheimes Band an sie fesselt, daß Eure Beziehungen klar und lauter sind wie der Tag! Schwöre mir das, Friedrich, und ich will Dir glauben, ja, ich will Dir auf meinen Knieen dafür danken!“

„Nein, Alma, ich schwöre das nicht. Es ist ein Geheimniß zwischen uns, das meine Lippen nicht verrathen können, wenigstens nicht in dieser Stunde. Aber so wahr mir Gott helfe, meine Ehre ist rein dabei!“

Alma wandte sich ab. Statt der Wahrheit, um die sie gebeten, gab er ihr ein Räthsel, statt des Brodes, um das sie gefleht, bot er ihr einen Stein! Ihre Bitterkeit preßte ihr die Worte aus: „Ich weiß nicht mehr, was ich mir bei Deiner Ehre zu denken habe, Feldern.“

Er stand starr – dahin war es also gekommen! Es währte einige Augenblicke, ehe er zu reden vermochte, dann sagte er – Alma wußte nicht, ob er zu ihr oder zu sich selbst sprach –: „Ich wüßte es auch nicht, wenn ich dies länger ertrüge.“

Darauf versank er in Schweigen, das Alma allmählich unheimlich wurde; dennoch wagte sie nicht, das Wort zu nehmen. Endlich sagte er mit vollkommen ruhiger, aber tonloser Stimme: „Es wird nach dieser Stunde am besten sein, Alma, daß wir uns für eine Weile trennen, damit wir Beide in Ruhe und Stille einsehen und beschließen, was für unsere Zukunft noth thut. Ich selbst betrachte meine hiesige Badezeit als beendet und werde heute noch abreisen, um nach E. zurückzukehren, und für Dich möchte es das Natürlichste sein, daß Du den unterbrochenen Besuch bei Deiner Mutter wieder aufnimmst. Bist Du mit meinem Vorschlage einverstanden?“

Sie nickte. „Dann lebe wohl, Alma, bis wir wieder von einander hören!“

Er reichte ihr die Hand, welche ihre glühendheiße eiskalt berührte; dann verließ er das Gemach. Eine Stunde später war er abgereist, nachdem er noch zuvor den Arzt besucht und ihn gebeten hatte, Melanie seinen Dank zu bringen, da ihn zufällige Ereignisse zur schleunigen Abreise nöthigten.

Am selben Tage verließ Alma den Badeort, um zu ihrer Mutter zurückzukehren; mit tieferem Weh im Herzen, als bei ihrem Kommen.

Alma wählte sich keinen Vertrauten für ihren Kummer, selbst die Mutter nicht, der sie nur von der Herstellung ihres Mannes berichtete, die ihre weitere Pflege überflüssig gemacht und ihm die Rückkehr in seinen Beruf gestattet habe, und Letztere fand es natürlich, daß Alma sie für die ihr geraubte Zeit durch ein längeres Bleiben entschädigen wolle. Es fiel ihr wohl auf, daß die Wangen der Tochter bleicher waren, als bisher, daß ihre frühere heitere Laune einer ernsten, selbst trüben Stimmung Platz gemacht hatte, doch schrieb sie dies den Anstrengungen der Krankenpflege zu und war um so mehr bemüht, sie mit Zerstreuungen aller Art zu umgeben, die Alma jedoch entschieden von sich abwies, indem sie dafür so viel wie möglich die Einsamkeit ihres Zimmers suchte. Dort wurde ihr eines Tages – sie mochte etwa eine Woche wieder in der Residenz sein – der Besuch einer unbekannten Dame gemeldet, welche die Nennung ihres Namens mit den Worten verweigert habe: „Wenn die Frau Professorin mich sieht, wird sie mich zu sprechen wünschen.“

Etwas überrascht, befahl Alma, die Fremde zu ihr zu führen, hätte aber fast einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen, als dieselbe nach einer Minute in’s Zimmer trat – es war Melanie. Unwillkürlich hob sie die Hand mit einer abwehrenden Bewegung, als wollte sie ihr verbieten, die Schwelle zu überschreiten.

„Ich verstehe Sie,“ sagte die Schauspielerin mit einem bitteren Lächeln, „Sie wollen mich von sich weisen, wie Sie es schon einmal thaten. Jetzt aber gehorche ich Ihnen nicht; wenn ich es thäte, würde es schlimmer sein für Sie, als für mich selbst.“

Es lag in ihrer Weise etwas, das Alma wider ihren Willen frappirte, und ohne daß sie es wußte, klang ihr Ton ziemlich mild, als sie entgegnete: „Ich leugne nicht, daß Ihr Erscheinen mich befremdet, aber dennoch weise ich Sie nicht fort, ehe ich weiß, was Sie zu mir führt. Was haben Sie mir zu sagen?“

„Vieles,“ entgegnete Melanie. „Vieles, worüber Sie jauchzen werden in Ihrem Herzen, während es das meinige Qual kostet, es zu sagen. Daß ich es aber dennoch sage, das – hören Sie wohl zu – verdanken Sie dem Manne, den Sie Ihren Gatten nennen!“

„Sie wagen es, seinen Namen vor mir zu nennen?“ rief Alma zitternd.

„Ja,“ entgegnete die Schauspielerin ruhig, „und Sie selbst werden nicht wagen, Ihr Ohr diesem Namen zu verschließen.“

Wieder fühlte Alma sich befangen von der Sicherheit ihrer Gegnerin. „So sprechen Sie,“ sagte sie, „und ich will versuchen, ruhig zu sein.“

„So frage ich Sie denn und beschwöre Sie bei Ihrer Seele Seligkeit, mir wahr zu antworten: lieben Sie Feldern so, daß Sie sich Ihr höchstes Glück nur an seiner Seite denken können?“

Das Wort genügte, um Alma ihren Vorsatz, gelassen die Worte der Schauspielerin anzuhören, vergessen zu lassen. „Empörend!“ rief sie aus, während ihr ganzer Körper vor Entrüstung bebte.

Melanie hielt ihr die gefalteten Hände entgegen. „Ich flehe Sie an, weigern Sie mir nicht die Antwort! Mein – Ihr eigenes Leben und Schicksal hängt an dieser Frage.“

„Sie fragen mich, ob ich ihn liebe?“ sagte Alma endlich; „fragen Sie sich selbst, warum ich Sie – hassen muß!“

Ein trauriges Lächeln glitt über die Züge der Schauspielerin. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie, „damit ist der Würfel geworfen! So hören Sie denn: auch ich liebe den Mann, der Ihr Gatte ist, liebe ihn leidenschaftlich und grenzenlos! so grenzenlos, daß ich jetzt das eigene Herz zertreten, daß ich mich selbst von Ihnen zertreten lassen will, wie einen Wurm, den Sie nicht allein hassen, den Sie auch verachten dürfen!“

Alma trat einen Schritt zurück. „Halten Sie ein!“ rief sie, „ich kann aus Ihrem Munde nicht die Schuld meines Gatten hören.“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen, reden Sie nicht so! Friedrich hat keinen Theil an meiner Schuld, wie ich nie einen [132] Theil an seinem Herzen hatte. Seine Liebe zu Ihnen ist so rein wie seine Seele.“

Alma blickte die Sprecherin stolz an. „Und wie lernten Sie seine Seele und seine Liebe kennen?“

„Durch die Geschichte meines eigenen Lebens! Wollen Sie diese hören, gnädige Frau?“

„Wenn es sein muß, so reden Sie,“ sagte Alma.

„Ich will kurz sein, so kurz wie möglich,“ fuhr die Schauspielerin fort, „aber damit Sie Alles verstehen, muß ich damit anfangen, Ihnen zu sagen, daß ich nicht immer meinem gegenwärtigen Stande angehört habe: ich stand höher oder tiefer – wie Sie es nennen wollen. Mein Vater war Subalternbeamter in einer mittleren Stadt, starb aber, als ich kaum das dreizehnte Jahr zurückgelegt hatte, und kurz darauf – ich war eben eingesegnet – verlor ich die Mutter. Andere Verwandte hatte ich nicht, deshalb bestellte mir das Gericht einen Vormund, der aber erklärte, da ich nicht das geringste Vermögen besäße, müsse ich selbst für meine Existenz sorgen. Er brachte mich bei einer Putzmacherin unter, um deren Geschäft zu erlernen, und hier blieb ich mehrere Jahre. Es war im Ganzen eine glückliche Zeit, denn ich war hier mit mehreren anderen jungen Mädchen zusammen, die mit mir fast in gleichem Alter standen, und wir Alle waren fröhlich und unschuldig. An Neckereien und Schelmenstreichen, wenn wir allein waren, fehlte es nicht, und manchmal mußten uns die schönen Coiffuren und anderen Putzsachen, welche wir für die reichen und vornehmen Damen arbeiten mußten, zu allerlei phantastischen Verkleidungen dienen, wie wir dieselben aus dem Theater kannten, das wir bisweilen besuchen durften, und wir sagten einander lachende Complimente über unser Aussehen.

Einmal waren wir besonders ausgelassen. Meine Gefährtinnen hatten mir das Haar mit dunkelrothen Korallen durchflochten und mich mit einem prächtigen Shawltuch drapirt, um mich zur ‚schönen Rebecca‘ – wir hatten kurz vorher den Templer und die Jüdin gesehen – zu machen. Kaum war die Costumirung beendet, da klingelte die Hausthür und meine Gefährtinnen liefen behend in ein anderes Zimmer, indem sie die Thür hinter sich abschlossen und mich damit zwangen, in dem Laden zu bleiben. Ich glaubte wie sie, daß es ein Dienstmädchen aus einem benachbarten Hause sei, welches zum Abholen eines Putzstücks erwartet wurde und mit dem wir auf freundlichem Fuße standen; aber trotzdem ärgerte ich mich über meinen Anzug und wollte rasch den Schmuck aus meinen Haaren lösen, allein in demselben Augenblick schon ging die Thür auf und statt des Dienstmädchens trat ein Herr in das Zimmer. Ich hätte in die Erde sinken mögen. Der Fremde sah verwundert auf meine abenteuerliche Kleidung, mußte aber zugleich meine Verwirrung bemerken, denn er lächelte und nannte dann gleich darauf die Ursache seines Kommens. Er sagte mir, daß er ein Maler sei und zur Ausführung eines Gemäldes besonderer Stoffe für die richtige Drapirung bedürfe, die er hier zu finden hoffe. Sein Ton klang freundlich, so daß ich allmählich Muth gewann, ihn genauer anzusehen, und da sah ich, daß es ein junger und schöner Mann war, der zu mir sprach, mit prächtigen blonden Locken und feurigen, blauen Augen. Während ich ihm die verlangten Stoffe vorlegte, fühlte ich wieder, daß er mich prüfend anblickte, und dann that er einzelne Fragen nach meiner Herkunft, meiner Stellung hier im Hause und sprach etwas von dem Wunsch, mich zu einem Studienkopf zu benutzen. Ich war auf’s Neue verwirrt und wußte nicht Ja noch Nein zu sagen, daher verwies ich ihn an meine Principalin. Mit dieser redete er dann später die Sache ab, und wenige Tage später saß ich dem Maler zu seinem Bilde.“

(Schluß folgt.)




Deutschlands große Industriewerkstätten.
3. Die Griesheimer Klenger.


Der hercynische Wald, der sonst ganz Germanien bedeckte, ist längst in viele einzelne Wälder zerschlagen, wie auch der Reichsforst Karl’s des Großen um Frankfurt am Main, der Forehahi, längst gelichtet ist. Urwälder, die sich selbst fortpflanzen, giebt es nur noch in Amerika. Die Erhaltung und Fortpflanzung der Wälder der Culturvölker ist längst dem forstwissenschaftlichen Waldbaue anheimgefallen und selbst in der neuen Welt muß da, wo das Feuer die Urwälder vernichtet hat, Wald bald wieder künstlich angebaut werden. In dem forstwissenschaftlichen Betriebe, im Aushauen und Abholzen der Waldbestände und in den neuen Anpflanzungen, in diesem richtigen Wechsel beruht die Bedeutung und der Segen der Forstcultur und der durch sie erzielte volkswirthschaftliche Reichthum. Aber wenn man neue Wälder anpflanzen will, muß man auch Samen haben und ihn ausstreuen. Diese Forstcultur macht die Hauptaufgabe der Forstleute aus.

Anderthalb Stunden von Darmstadt, nicht weit von der Hauptlandstraße nach Mainz, liegt das große und reinliche lutherische Pfarrdorf Griesheim, das etwa vierhundert Häuser und an dreitausend Einwohner zählt. Die rührigen Bewohner waren von jeher durch ihre großen Kiefernwaldungen und ihre ausgedehnten Wiesen auf Einsammeln von Waldsamen und Arznei-Kräutern von der Natur hingewiesen und entwickelten nach und nach eine Thätigkeit und einen Gewerbfleiß, der einzig in seiner Art ist. Namentlich sammelten sie während des Winters die Kiefernzapfen ihrer Wälder und selbst die ärmeren Leute nahmen in ihren gutgeheizten Stuben das Ausklengen der Kiefernzapfen vor, und so wurde jeder Einzelne ein Samenhändler im Kleinen. Im Besitze praktischer Kenntnisse, lieferten sie nicht allein den Apotheken weithin Arzneikräuter, sondern warfen sich auch hauptsächlich auf das Sammeln von Grassamen, mit welchem ihr Handel, wie der mit Waldsamen, immer ausgedehnter wurde. Sie versorgten mit ihren Felderzeugnissen nicht blos die Nähe und die weitere Umgegend, sondern trieben auch mit ihren deutschen Gewürzen, namentlich mit Zwiebeln, ihren Großhandel bis nach London auf den Coventgardenmarkt, wo ihnen der Verfasser schon vor vielen Jahren häufig begegnet ist. Sie bilden in der Weltstadt London einen wohlthätigen und erfreulichen Gegensatz zu den armseligen und unglücklichen Fliegenwedel- und Besenmädchen Oberhessens. Die Frauen wie die Männer zeichnen sich durch gesunden Menschenverstand, scharfen Mutterwitz und Schlagfertigkeit der Rede aus, wie sie auch schon im Aeußern durch ihre rührige Beweglichkeit und namentlich die Frauen durch die kleine, runde Form ihrer Strohhüte sich bemerkbar machen.

Es giebt wohl wenige Dörfer in Deutschland, die sich einer größeren und ausgedehnteren bäuerlichen Volkswirthschaft erfreuen, wie die Griesheimer, denen man gerade deshalb in der Umgegend durch allerlei Nachreden etwas anzuhängen gesucht hat, unter andern den Schimpfnamen „Kukuk“, mit dem sie spottweise gerufen werden. Das soll sich davon herschreiben. Die Griesheimer hatten einmal einen Kukuk gefangen und hielten den für eine so große Naturmerkwürdigkeit, nämlich für einen Papagei, daß sie ihn durch eine Deputation feierlich dem Landgrafen überbringen ließen. Der Landgraf that, als ob er das Thier sehr bewunderte, und sprach: „Ihr könntet mir noch eine Freude machen, wenn Ihr mir auch noch das Nest des raren Vogels bringen und mir zum Geschenk machen wolltet.“ „Das müssen wir erst mit unseren Mitbürgern berathschlagen,“ sprachen die Deputirten und gingen nach Griesheim zurück. Dort wurde sogleich der Gemeinderath zusammenberufen und ihm die Frage vorgelegt. Sprach der Bürgermeister: „Das Nest des raren Vogels ist das ganze Eichenwäldchen drüben, wie sollen wir dies nun nach Darmstadt bringen?“ Sie beriethen drei Tage hierüber, machten an Ort und Stelle selbst Pläne, aber es wollte nicht gehen. Da schickten sie die Deputation wieder zum Landgrafen und ließen ihm sagen, das Nest gäben sie ihm gerne, aber er müsse es sich selbst holen. Nachdem der Landgraf herausgebracht, was sie unter dem Neste verstanden, sprach er: Er danke für das schöne Geschenk, aber er wolle der Merkwürdigkeit willen das Nest da lassen, wo es Gott hingesetzt habe. So verloren die Griesheimer den schönen Eichenwald und erwarben sich als Ersatz dafür den Namen „Kukuk“.

Es konnte mit der Zeit gar nicht ausbleiben, daß die einzelnen Griesheimer Tannenzapfenbrecher in Genossenschaften und geschäftlichen

[133]

Griesheimer Tannenzapfenbrecher.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[134] Verkehr zusammentraten, nach und nach größere Consortien bildeten, von denen Einzelne als Geschäftsführer von der Gemeinde- oder Domanialverwaltung bestimmte Walddistricte in Pacht nahmen, die Arbeit des Tannenzapfenbrechens bezirksweise verrichteten und dann dem Staate oder größeren Händlern die eingesammelten Zapfen für gemeinsame Rechnung verkauften.

Vor etwa sechszig Jahren hatte im Orte Heinrich Keller, durch seine Kenntnisse in der Botanik und Technik, wie durch seine praktischen Erfahrungen im Samenhandel unterstützt, sich über alle übrigen Bewohner emporgeschwungen. Des Geschäftsbetriebs wegen verlegte er seine Samenhandlung nach Darmstadt, kaufte sich vor der Stadt ein so umfangreiches Besitzthum an, daß er die Reinigungsanstalten von Stufe zu Stufe verbessern und erweitern konnte, scheute weder Opfer noch Mühe und verwandte insbesondere den größten Fleiß und die unerschütterlichste Ausdauer auf die Verbesserung der sehr umfangreichen Feuerungsanlagen und auf die Erfindung solcher Maschinen, welche den Geschäftsbetrieb vereinfachten und erleichterten und so die Production steigerten.

Die großartigen Klenganstalten, welche von dem jetzigen Eigenthümer, Heinrich Keller, dem Sohne des Gründers, im Jahre 1861, nach den neuesten Erfahrungen und Verbesserungen in angemessenem und schönem Baustile umgebaut und bedeutend vergrößert wurden, bilden mit den neuesten Einrichtungen, namentlich der Dampfdarre, in diesem Geschäftszweige nicht allein die größte Fabrikanlage Deutschlands, sondern auch neben Lawson in Edinburg und Villemorin-Andrieux in Paris die größte der Welt. Das Wort „Kleng“ kommt von klingen; ausklengen bedeutet in der forstwissenschaftlichen Sprache, die Nadelholzsamen durch Wärme und nachfolgendes Dreschen aus den Zapfen bringen, klingend herausspringen machen. Wenn man das Ohr an die geschlossenen Räume in der Fabrik legt, worin auf Horden die Samenzapfen der Nadelhölzer eingeschlossen sind, so könnte man beinahe sagen, daß sich bei der Geschwindigkeit und den Veränderungen der Dichtigkeit der Wärme, durch die sich die Samenkapseln unter verschiedenen Klängen öffnen, eine „eigenthümliche Musik“ hören lasse. Keller’s Anstalt befaßt sich hauptsächlich mit dem Ausklengen von Kiefern-, Fichten- und Lärchenzapfen. Diese werden im Herbste und Winter von dem weniger bemittelten Theile der Landbevölkerung, namentlich Griesheims, in den umfangreichen Nadelholzwaldungen gebrochen und zum Verkaufe in die Fabrik gebracht. Zu diesem Zwecke beschäftigt dieselbe während der Wintermonate bei einer vollkommenen Ernte nahezu eintausend Menschen, welche sich über das ganze Großherzogthum Hessen und einen Theil der angrenzenden Länder verbreiten und dabei einen willkommenen und lohnenden Verdienst finden. Mit der Klenganstalt sind mehrere Zweiggeschäfte verbunden, welche für deren Rechnung arbeiten. Diese befinden sich zu Nieder-Ingelheim und Manbach in Rheinhessen, zu Iggelheim und Sand in Rheinbaiern und Lützelwiebelsbach im hessischen Odenwald.

Die Tannenzapfenbrecher, namentlich die Griesheims, die sich in größere und kleinere Genossenschaften in den Kiefernwaldungen zwischen Rhein, Main und Neckar vertheilen, sind in grobe Leinwand gekleidet. Wollene Kleidung würde ihnen bei Besteigung von oft hundert Fuß hohen Bäumen hinderlich sein. Bei rauher und regnerischer Witterung schützt ein ausgetragener Soldatenmantel die Glieder und eine leichte Mütze den Kopf. Mit den an kernhaften Stiefeln oder Gamaschenschuhen angebrachten Steigeisen klettern diese „Tannenvögel“, an Kühnheit, Gewandtheit und Sicherheit mit Eichhörnchen und Spechten wetteifernd, mit kräftigen, weithin hörbaren Tritten pfeilschnell zu den Kronen der Bäume, bis zu den schlankesten Wipfeln empor und das Knicken der Zweige, an welchen die Zapfen sich befinden, verkündet die rege Arbeit. In einem leinenen, über die Schulter geworfenen Sack sammeln sie die Zapfen und die, welche sie mit ihren Armen und Händen nicht erreichen können, werden mit ihrem einzigen Werkzeuge, einer Stange, die einen Zoll dick und acht bis zehn Fuß lang, an einem Ende mit einem Haken versehen ist und beim Steigen im Knopfloch getragen wird, von den schwankendsten und höchsten Zweigen „heruntergeangelt“. Hat der fleißige Arbeiter mit den harzduftenden Tannenzapfen seinen Sack gefüllt, so fährt er von seinem luftigen Throne eben so schnell und sicher wieder zur Erde herab und schüttet seinen Sack voll auf Haufen, wärmt sich an dem mit Tannenzapfen unterhaltenen Feuer, und so geht die Arbeit bis zur einbrechenden Abenddämmerung fort.

Auch in Thüringen wird dieses Klengen emsig betrieben. „Oftmals rauscht es,“ erzählt Schacht in seinem berühmten Buche ‚der Baum‘, „in der Tanne höchsten Wipfeln (auf dem sogenannten höhern Thüringer Walde, bei Katzhütte, Neuhaus, Igelshieb etc.), man glaubt ein Eichhörnchen dort beschäftigt und sieht statt dessen einen Menschen in schwindelnder Höhe. Es ist ein ‚Kustelnsteiger‘, der mit bewunderungswürdiger Gewandtheit von Zweig zu Zweig, von Baum zu Baum klettert, um Kusteln (Tannenzapfen) zu sammeln. Die Kühnheit dieser Leute geht so weit, daß sie, auf dem Wipfel einer hohen Tanne sitzend, den Baum des dicht geschlossenen Bestandes zum Schwanken bringen und, wenn seine Aeste sich der Krone einer andern Tanne nähern, mit einem schnellen Satz hinüberspringen.“

Der Reiz der Arbeit beruht im freien Leben der Natur, in der Cameradschaftlichkeit, in dem Wechsel von Gefahr, die oft groß, und der Sicherheit der Gewohnheit; dann auch im Lohn, der von einem Gulden bis zu zwei sich steigert. Dieselben Brecher sind auch wieder die Verkäufer der leeren und dürren Tannenzapfen, welche als vorzügliches Mittel zum Feueranmachen in hoch aufgeschichteten Maltersäcken auf Karren in allen Straßen der umliegenden Städte unter dem langgezogenen Ruf „Dannebbel“ (in Mainz „Hackeln“) feilgeboten werden.

Der Ausklengproceß geht auf folgende Weise vor sich. Die Fabrik enthält drei große Luftheizungsöfen; an die Stelle des vierten trat im vorigen Jahre ein Dampfheizapparat, welcher hauptsächlich den Zweck hat, die Feuergefährlichkeit zu beseitigen oder doch zu vermindern und die Keimfähigkeit und Güte des gewonnenen Samens zu erhöhen. Siebenzehn Schichten von Hürden werden durch den ungefähr eintausend vierhundert Quadratfuß Oberfläche haltenden Heizapparat dergestalt durchwärmt und durchtrocknet, daß die Zeit, binnen deren der Klengproceß sich abschließt, d. h. die Kiefernzapfen aufspringen und den Samen fallen lassen, um ungefähr ein Viertel abgekürzt wird, obgleich der verwendete Hitzgrad erheblich niedriger ist, mithin der producirte Samen ungleich mehr Keimkraft erhält, weil der ganze künstliche Klengproceß dem naturgemäßen weit mehr entspricht. Feuer- und Dampfofen nämlich, mit Zapfen von einem und demselben Haufen gleichzeitig gefüllt, ergaben für gleichzeitig entnommenen, sofort in gleichmäßig behandelte Keimprobe eingelegten Samen innerhalb acht Tagen ersterer einundachtzig, letzterer dreiundneunzig Procent keimfähige Körner. Ueberall haben die mit dem von Keller bezogenen Samen angestellten Keimproben das zugesicherte Procentverhältniß übertroffen, ein Umstand, der nach und nach die Geschäftsthätigkeit dieses Hauses bis in die entferntesten Gegenden erweitert hat. Die Schnelligkeit, mit welcher der Hürdenraum in der Dampfdarre sich erwärmt, ist überraschend. In einer Stunde ist derselbe Hitzgrad erzielt, welcher nach dem seitherigen Princip mit geheizter Luft erst nach drei bis vier Stunden sich einstellte. Außerdem ist die Leichtigkeit, mit welcher die Temperatur und der Luftdurchzug jederzeit regulirt werden können, nicht hoch genug anzuschlagen; dazu kommt noch, daß die große Feuergefährlichkeit der seitherigen Einrichtung gänzlich beseitigt ist. Man kann wohl sagen, daß die Wissenschaft auch hier von ihrem Fortschritt Zeugniß abgelegt hat.

Die Zapfen werden, nachdem sie von den Nadeln gereinigt, auf Hürden ausgebreitet, welche über den Oefen und dem Dampfheizapparate angebracht sind. Nach Beendigung des Ausklengprocesses, also etwa nach Verlauf von zwanzig bis vierundzwanzig Stunden, gelangen die Zapfen in die bei den Oefen befindlichen drahtumflochtenen Triller, und hier scheidet sich durch die rotirende Bewegung der Samen aus den Zapfen. Dieser muß nun durch die Manipulation des Abflügelns, Entfernung der Flügel von dem Samen, zur Reinigung vorbereitet werden, welche mit Hülfe von Sieben und Fegmühle bewerkstelligt wird.

Die Ausklengung der Lärchenzapfen ist hiervon etwas abweichend; dieselben kommen von der Darre in eigens erfundene Maschinen, durch welche sie zerrissen werden. Der sehr mit Schuppentheilchen und Holzstückchen untermischte Samen gelangt sodann in Reinigungsmaschinen und wird durch ein Stampfwerk, welches die Holztheilchen zermalmt, vollständig präparirt. Eine Dampfmaschine setzt den ganzen Mechanismus der Anstalt in Bewegung. Im Durchschnitt werden täglich hundertundsechszig hessische [135] Malter Kiefern- und dreißig Malter Lärchenzapfen ausgeklengt, welche ein Samenergebniß von fünfhundert und dreihundert Pfund liefern.

An zwölfhundert Centner Kiefern-, Fichten- und Lärchensamen sendet die Anstalt alljährlich in die verschiedensten Theile der Erde. Die meisten deutschen Regierungen, dann Belgien, Holland, England, Dänemark, Schweden und Rußland, viele Theile Afrikas, in der neueren Zeit besonders auch Amerika, beziehen für das Anpflanzen neuer Wälder ihren Samen von dieser Handlung. Namentlich aber ist es Frankreich, welches ihn von da für die Wiederbewaldung seiner Gebirge erhält und verwendet. In Frankreich ist die Waldcultur wegen der jährlich eintretenden Ueberschwemmungen eine der brennendsten Fragen geworden. Die Revolution übte bekanntlich keine Schonung gegen Gemeinde- und Staatswälder aus, alle Höhen wurden unbarmherzig abgeholzt und bewaldeten sich nicht mehr von selbst. Würde dies jetzt durch die Forstcultur nachzuholen nicht mehr möglich, so wäre der wirthschaftliche Ruin eines Theils des Landes in der Zukunft ausgesprochen.

Nach Kiefernsamen findet die größte Nachfrage statt; aber auch außer dem schon genannten Lärchen- und Fichtensamen wird der Samen von Schwarzkiefern, von Ahorn, Eschen, Ulmen, von Linden und Akazien, von Weißtannen und Weymouthskiefern (pinus strobus) ebenfalls gesammelt und präparirt, doch nicht in so großen Massen. Die Versendung vertheilt sich im Verlaufe des Jahres bei dem Laubholzsamen, mit Ausnahme des Ulmensamens, auf Ende October oder Anfang Novembers; bei Weißtannensamen auf den Anfang Decembers; bei den übrigen Nadelholzsamen auf Mitte bis Ende März, beim Ulmensamen auf Ende Mai oder Anfang Juni.

Die mit der Holzsamenhandlung verbundene Grassamenhandlung ist gleichfalls bedeutend und viele Hunderte von Menschen sind während des Sommers und Herbstes mit dem Einsammeln und Reinigen beschäftigt. Die Fabrik setzt einige hunderttausend Gulden jährlich in Umlauf und der Reingewinn soll nicht unter dreißigtausend Gulden betragen. Neben dieser älteren Fabrik hat sich noch eine zweite, deren Besitzer ebenfalls von Griesheim nach Darmstadt übergesiedelt sind, durch die Vortheile, welche die Umgegend zwischen Rhein, Main und Neckar darbietet, hier rasch emporgearbeitet.

So sehen wir, wie in der heutigen Zeit selbst die Romantik des Waldes, welche durch die Waldcultur uns erhalten wird, Hand in Hand mit der Industrie geht, deren Fortschritt auf der Anwendung der Wissenschaft und auf der Praxis der Verwendung großer Capitalien beruht. Schließlich wollen wir noch erwähnen, daß Herrn Keller, einem durch Intelligenz, Humanität und Unabhängigkeitssinn ausgezeichneten Manne, auf den bedeutendsten land- und forstwissenschaftlichen Ausstellungen die volle Anerkennung seiner Verdienste um den in die Volkswirthschaft so tief eingreifenden Geschäftszweig durch Ertheilung von Medaillen und Ehrendiplomen nicht gefehlt hat. Auf der großen Weltausstellung des Jahres 1867 zu Paris wird ein großes Modell der Fabrikanlagen des Herrn Keller den bis jetzt vollständigsten und besten Klengproceß zur allgemeinen Anschauung bringen.
H. Künzel.




Rom am Rhein.
III.
Die Jesuiten. – Der schwarze Papst. – Jesuiten-Etablissements am Rhein. – Die Jesuiten als Kaufleute und Bankiers. – Ihr Weltbürgerthum und blinder Gehorsam. – Die Jesuitenmissionen. – Pater Klinkowström und die Bibel. – Die Jesuiten in kurzen Röcken. – Der rheinisch-westphälische Adel und seine nahe Verwandtschaft mit den Jesuiten. – Die Priester vor und in dem letzten Kriege.


Was wir über die Wirksamkeit der geistlichen Orden sagten, findet vorzugsweise seine Anwendung auf den Orden der Jesuiten.

Es kann nicht unsere Absicht sein, hier eine Geschichte dieses weltbekannten Ordens und seiner Tendenzen, seiner Aufhebung durch Papst Clemens den Vierzehnten im Jahre 1773 und seiner Wiederherstellung durch Pius den Siebenten 1814 zu schreiben. Wir wollen nur kurz andeuten, daß derselbe, von eben so befähigten wie fanatisch erregten Männern gegründet, seine ganze Kraft, nachdem das erste Ziel auf das gelobte Land gescheitert war, gegen die gleichzeitige Reformation richtete, als eine stets gerüstete Miliz, allezeit zu kämpfen bereit für Gottes Statthalter, den heiligen Vater zu Rom und die alleinseligmachende Kirche, – daß in diesem Sinne der Orden große Macht über alle politischen Ereignisse entfaltete, Kaiser und Könige maßgebend beeinflußte und zuletzt sogar sich als Selbstzweck über die Kirche und diese beherrschend hinstellte, so daß man in Rom dem Jesuiten-General, dem schwarzen Papst, mehr Gewalt zuschreibt, als dem weißen, dem heiligen Vater.

Der Orden ist jetzt, so viel wir wissen, in einundzwanzig Provinzen vertheilt, Davon kommen vier auf Frankreich, fünf auf Deutschland (Holland mit Belgien einbegriffen), zwei auf Spanien, fünf auf Italien, eine auf Mexico und vier auf England, Irland und die Vereinigten Staaten. Es ist indessen schwer für den Uneingeweihten, darüber sowie über die Zahl der Mitglieder und deren Vertheilung in die einzelnen Provinzen Gewißheit zu erlangen. Sehen wir aber auf Preußens westliche Provinzen, so können wir schon ermessen, wie groß die Zunahme und die Verbreitung ist. In Paderborn, in Münster, in Köln, Aachen, Bonn, Coblenz haben sie sich festgesetzt und theilweise große Gebäude und im Widersprüche mit den früher berührten organischen Artikeln, aber unter Connivenz der Staatsregierung große Kirchen für den öffentlichen Gottesdienst erbaut. In der ehemaligen Benedictiner-Abtei Laach am Laacher See bei Andernach haben sie ein Scholastikat errichtet, welches über zweihundert Köpfe und darunter über ein Viertheil Priester zählt. – In dem angrenzenden Mainz hat ihnen sogar ihr zelotischer Beschützer, der Bischof von Ketteler, im Widerspruche mit den auch dort geltenden französischen Gesetzen, wie mit dem Magistrat und den großherzoglich hessischen Ständen, die Pfarrkirche St. Christoph und die dazu gehörige Pfarrerwohnung überwiesen.

Die Personen aber in diesen Anstalten wechseln fortwährend. Bald sind es Franzosen bald Belgier, bald Schweizer, bald Deutsche, und wir wissen nicht, ob bei den noch bestehenden Nationalitäts- und Freizügigkeits-Beschränkungen der Staat irgend eine Controle darüber führt. Von Erwerbung des Bürgerrechts ist keine Rede. Der Wille ihres Ordens-Generals und ihrer Provinzialen ist der Rechtstitel für ihr Eindringen.

Woher sie die Mittel zu solchen großartigen Anlagen und zu ihrer Subsistenz nehmen, haben wir oben schon angedeutet. Freilich besitzt der Orden im Großen und Ganzen großartige Hülfsquellen. Ungeachtet schon Papst Benedict der Vierzehnte allen Geistlichen, womit vorzüglich die Jesuiten gemeint waren, jede Art von Handelsgeschäften verbot, treiben sie den Handel in großem Maße. Es ist bekannt, daß fast der ganze Handel mit Cocosöl aus der Südsee in ihren Händen ist. In Frankreich und Belgien betreiben sie in der Form von Commandit-Gesellschaften Bankgeschäfte. Dabei besteht aber das Princip bei ihnen, daß jede einzelne Anstalt vorzugsweise für sich selbst sorgen muß, und das muß dann erworben werden.

Daß bei dieser Weltstellung eines nach Weltherrschaft strebenden Ordens von Liebe zum Vaterlande, von staatlichen und nationalen Interessen keine Rede sein kann, leuchtet ein. Wer dem Orden angehören will, der muß alle natürlichen und menschlichen Regungen in sich ersticken, der muß Eltern, Geschwister und Freunde aus seinem Herzen reißen, der muß in blindem Gehorsam seinen Obern folgen, denn „wer im Gehorsam lebt“ sagen die Constitutionen des Ordens, „läßt sich von der göttlichen Vorsehung durch seine Obern leiten und regieren, wie wenn er ein Leichnam wäre (perinde ac cadaver) oder ein Stab, welcher dem Träger auf jede beliebige Weise dient.“

Sind nun die Interessen des Staates dem Orden fremd, steht er zufolge der ihm schon im Jahre 1549 durch den Papst Paulus den Dritten ertheilten Privilegien nicht unter der Diöcesangewalt [136] der Landesbischöfe, so darf er auch nicht öffentlich lehren, predigen und nicht in den Organismus der kirchlichen und Unterrichtsanstalten des Staates eingreifen, nicht den Frieden der Confessionen stören, wie solches durch die öffentlich verkündete Lehre eines seiner berühmtesten Kanzelredner unserer Zeit, des päpstlichen Theologen Perrone, geschieht: „Der Protestantismus und seine Verbreiter sind in religiöser Hinsicht das, was in natürlicher Hinsicht die Pest ist.“

Eine hauptsächliche Wirksamkeit suchen und finden die Jesuiten in ihren Missionen. Mit Genehmigung der Bischöfe, von deren Disciplin sie doch durch päpstliche Privilegien eximirt sind, durchziehen ihre begabtesten Redner das Land, um allerwärts ihre einstudirten, anfangs zahmen, später aber polemischen Reden zu halten und dadurch das Volk für ihre Zwecke zu bearbeiten. Da wird denn großes Gepränge gemacht, gepredigt, Beichte gehört, da werden zum Andenken an die Mission in dem und dem Jahre – Steinkreuze auf öffentlichen Plätzen errichtet, vor welchen noch nach Jahren die Gläubigen knieend mit aufgehobenen Händen beten. Selbst in fast durchaus protestantische Gegenden, wie vor einigen Jahren nach Halle (wo ihre Polemik eine entgegengesetzte Polemik weckte), tragen sie den religiösen Hader ihrer exclusiven Lehren und suchen dadurch Terrain zu gewinnen.

Als im Juli 1864 im Dom zu Köln das Jubelfest der vor siebenhundert Jahren erfolgten Einbringung der Reliquien der heiligen drei Könige aus Mailand gefeiert werden sollte, hatte der Erzbischof von Köln mit Umgehung der Diöcesan-Geistlichkeit Jesuiten berufen, um in der Octave jeden Vor- und Nachmittag im Dome zu predigen. Mit Recht wurde es damals in den Zeitungen gerügt, daß durch die Thore des Doms, von denen Friedrich Wilhelm der Vierte am 4. September 1842 an dem Feste der Grundsteinlegung gesagt hatte: „Hier, wo der Grundstein liegt, sollen sich die schönsten Thore der Welt erheben. Nie finde diesen Weg … das Rütteln an dem Frieden der Confessionen,“ die Jesuiten einziehen sollten, welche den Protestantismus als eine Pest bezeichnen.

In solchen Predigten pflegen sie denn auch der historischen Wahrheit geradezu in’s Gesicht zu schlagen. So erzählen die Wiener Blätter von dem als Kanzelredner berühmten Jesuiten Pater Klinkowström, der längere Zeit auch am Rhein missionirend wirkte, er habe in einer zu Wien gehaltenen Bußpredigt die Männer angegriffen, welche in der Wissenschaft Lehren aufstellten, die denen der heiligen Schrift widersprächen, und sich dabei in folgenden Worten auf Galilei bezogen: „Jener verwegene florentinische Professor wagte es, gestützt auf das Resultat seiner Forschungen, die Schrift eines Irrthums zu zeihen; aber die Kirche zog den Verwegenen zur Verantwortung, er mußte widerrufen und die späteren Ergebnisse der Wissenschaft haben bewiesen, daß es kein Irrthum sei, wenn die heilige Schrift den Satz ausgesprochen hat, die Sonne stehe unbeweglich und die Erde drehe sich.“ Und doch heißt es im Buche Josua, Cap. 10, v. 12: Sonne, stehe still zu Gibeon … Da stund die Sonne etc. Hiernach soll ja die Sonne in ihrem Laufe um die Erde gehemmt worden sein, und gerade weil Galilei behauptet hatte, die Erde laufe um die Sonne, wurde er zur Verantwortung gezogen. Das ist denn doch stark!

Die Jesuiten mischen sich allerwärts in die durch die Pfarrgeistlichkeit geordnete Seelsorge und die Bischöfe lassen es ungeachtet der eben erwähnten Exemtion von ihrer Diöcesangewalt, – sei es aus Uebereinstimmung mit ihnen, sei es aus Furcht vor ihren Denunciationen in Rom – nicht nur geschehen, sondern unterstützen und beleben sie noch in ihrer Thätigkeit. –

So ertheilt ihnen der jüngst verstorbene Cardinal-Erzbischof von Köln in einem Hirtenbriefe vom 6. Januar 1864 das höchste Lob, rechtfertigt sie gegen jeglichen Vorwurf und erklärt, daß sie nur den faulen Frieden, den Frieden des sittlichen Todes störten. – So verlangte der verstorbene Bischof Arnoldi zu Trier für sie die dem Staate gehörige und von dem Könige Friedrich Wilhelm dem Vierten zum Simultan-Gottesdienste bestimmte prächtige Kirche zu Laach, indem es seine Absicht sei, seine Diöcesan-Geistlichkeit dort ihre geistlichen Erercitien abhalten zu lassen, – die Erercitien des heiligen Ignatius von Loyola, – wo der Mensch durch wochenlanges Beten und Kasteien, durch phantastische Betrachtungen von Himmel, Hölle und Fegefeuer so von den Glaubenslehren der Jesuiten erfüllt, so morsch und mürbe gemacht wird, daß er einem Leichnam gleich, perinde ac cadaver, unter ihren Händen bleibt.

Vor diesem Schicksal der Trierschen Diöcesangeistlichkeit hat sie vorläufig der abschlägige Bescheid der Regierung gerettet. –

Ein Beispiel, wie die Jesuiten, wenn sie sich stark genug fühlen, ihre Exemtion von der Diöcesangewalt geltend machen, liefert uns Frankreich, wo man sie in der trüben Zeit der Restauration factisch hat erstehen lassen. Im Februar 1864 wollten sie es nicht zugeben, daß ein Abgesandter des Erzbischofs ihre Kirche inspicire, und erklärten das Thor derselben vor ihm verschließen zu wollen. Der Erzbischof soll die Unterstützung des Präfecten angerufen, die Jesuiten aber sich beschwerend an den Papst gewendet haben. Welchen Ausgang dieser Streit gehabt hat, wissen wir nicht.

Es kann nicht fehlen, daß sich die Jesuiten durch alle dergleichen Mittel Partei schaffen, und dazu wirken denn noch, außer den oben berührten mit ihnen zusammenhängenden Sodalitäten und Congregationen, die Affiliationen. Außer den verschiedenen Classen der Mitglieder des Ordens gehören nämlich noch dazu die Affiliirten, Adjuncten oder sogenannte Jesuiten in kurzen Röcken, Laien aus allen Ständen, welche dem Orden Gehorsam geloben und unerkannt für seine Zwecke wirken. Solche Affiliirte sucht sich nun der Orden gern auch unter den höhern einflußreichen Ständen. Es ist behauptet und nicht widersprochen worden, daß der größte Theil des katholischen sogenannten autonomischen Adels in Rheinland-Westphalen dazu gehöre, und die ultramontane Richtung dieses Adels redet dieser Behauptung das Wort. Man erinnert sich, wie die katholische Geistlichkeit und der katholische Adel Belgiens ein Hauptfactor der belgischen Revolution war und mit welcher lebhaften Parteinahme auch der diesseitige katholische Adel ihre Erfolge begleitete. Man erinnert sich ferner des Auftretens des letzteren bei der Ernennung des Erzbischofs Clemens August und bei dem Conflict mit demselben, wie bei der in neuer Zeit mit den drei Grafen Schmiesing-Kerssenbroeck gemachten Demonstration. Man weiß es, wie Brautpaare aus dieser Genossenschaft sich zur Eingehung des Ehestandes durch die Exercitien des heiligen Ignatius vorbereiten. Aber Beweise für jene Behauptung lassen sich nicht wohl beibringen, weil die Thatsachen sich der Oeffentlichkeit entziehen. An Vermuthungen fehlt es indessen nicht.

Als, wenn wir nicht irren im Jahre 1855, beim Zusammentritte des Preußischen Landtags sich die katholische Fraction reconstituirte, leitete der Freiherr v. Walbott-Bassenheim-Bornheim die eingeladene Versammlung mit einer feurigen Lobrede auf die Jesuiten ein und verflocht sie dadurch als maßgebend in die Politik, den Beruf des Landtags. Unglücklicher Weise hatte man aber auch irrthümlich einen Protestanten geladen, welcher, sei es unkundig, sei es nicht, der Einladung gefolgt war. Man kann denken, welchen Schrecken es erregte, als dieser den Irrthum aufklärte und die Sache nun durch ihn bekannt wurde.

Auch bei dem Ankaufe der oben erwähnten Abtei Laach war ein Graf v. Schaesberg neben mehreren Jesuiten der Haupt-Ankäufer. –

Diese Blätter wurden schon vor mehreren Monaten geschrieben. Seitdem hat sich das, was über die politischen Tendenzen des Ultramontanismus darin gesagt wurde, an den jüngsten Ereignissen vollkommen bewährt.

Die ultramontanen Kölner Blätter haben zwar, was Treitschke im letzten Juliheft der Preußischen Jahrbücher behauptet: „daß noch während des Krieges ultramontane Prediger am Rhein von der Kanzel und dem Lehrstuhle herab die Gläubigen und die Kinder ermahnten, für den Sieg Oesterreichs zu beten, sonst werde das Rheinland lutherisch gemacht,“ einfach mit dem Worte „Lüge“ bezeichnet, aber die Sache ist dennoch wahr. Die Kölner Blätter sind selbst noch wegen gehässig zu Gunsten Oesterreichs gegen Preußen aufregender Artikel, welche von einem katholischen Pfarrer auf dem Hundsrück herrühren, mit diesem in gerichtlicher Untersuchung.

Als der Bundesbeschluß vom 14. Juni v. J. bekannt wurde, da entstand eine unverhohlene Freude im ultramontanen Lager am Rhein. Die Sorge der Freunde Preußens über dessen isolirte Stellung gegen Oesterreich und die Mehrzahl der Bundesstaaten hielt gleichen Schritt mit den Hoffnungen der Ultramontanen auf die Demüthigung Preußens unter das katholische Oesterreich. Zu den Landtagswahlen adoptirten sie überall ein ähnliches Programm, [137] wie die bis dahin heftig von ihnen angefeindete Fortschrittspartei, und suchten sich dieser anzuschließen. Wenn diese auf ihre Fahnen schrieb: Keinen Pfennig dieser Regierung oder diesem Systeme! – so lautete die Inschrift Jener: Keinen Pfennig zu diesem Bruderkriege! Offenbar hatte die Bruderliebe daran den geringsten Theil.

Während in Wien der Jesuitenpater Klinkowström von den Kanzeln gegen die „preußischen Teufel“ donnerte, ergriff auch am Rhein fast die ganze katholische Geistlichkeit heftig Partei gegen Preußen und wirkte in diesem Sinne. So beispielsweise ein sonst milder Pfarrer in einer kleinen Stadt am Rhein, welcher, als er um eine Gabe für die Verwundeten angesprochen wurde, erklärte: er gebe nichts für die Preußen. Ueberall hörte man, daß die Geistlichen die zum Heere Berufenen ermahnten, nicht auf die Oesterreicher zu schießen, sondern die Gewehre hoch zu halten oder wegzuwerfen, wenn sie diesen gegenüberständen; und ein Geistlicher, welchem genossener Wein das Herz und den Mund zu sehr geöffnet hatte, entging, nachdem er Aehnliches öffentlich zu mehreren Einberufenen gesagt, mit genauer Noth dem Strafgesetze. Ein Landwehr-Unterofficier erzählte, daß sein Seelsorger ihn in der Beichte, die er vor dem Ausmarsch abgelegt, gefragt habe: was er thun würde, wenn er den Oesterreichern gegenüberstände? und als er darauf erwidert: er werde, getreu seinem Eide, als Soldat seine Schuldigkeit thun, da habe ihn Jener belehrt, das sei ein erzwungener Eid, den er nicht halten dürfe. Ein Anderer erklärte: sein Beichtvater habe ihm die Absolution verweigert, wenn er sich nicht verpflichte, nicht auf die Oesterreicher zu schießen. So versuchte man überall die Treue zu lösen und die Interessen des Staates unter die Tendenzen der römischen Kirche zu knebeln. Ein königlicher Landrath, welcher einer der ersten sogenannten autonomischen Familien des katholischen rheinischen Adels angehört, sagte laut in einer Gesellschaft: er freue sich, nach so vielen traurigen Nachrichten einmal wieder eine freudige bringen zu können – und da brachte er die von der Schlacht bei Custozza!

Solche Züge, die nicht böswillig erfunden, sondern wahrheitsgemäß vorgetragen sind, beweisen, was Preußen von dieser Seite zu erwarten hat; und mit vollem Herzen stimmen wir in die von Heinrich v. Treitschke gehegten Hoffnungen ein. Glaubensfreiheit, aber nicht, wie bisher, Begünstigung einer Partei, deren Parole die Verneinung Preußens ist!




Wir glauben in Vorstehendem unsere Aufgabe: die ultramontanen Strömungen und ihre Gefahr für den Preußischen Staat nachzuweisen, soviel als möglich thatsächlich gelöst zu haben und kommen nun noch zu einigen Schlußbetrachtungen.

Geistliche und weltliche Knechtschaft gehen gewöhnlich Hand in Hand, und darum scheint es erklärlich, wenn der Rundschauer der Kreuzzeitung gesagt haben soll: „Den Liberalen gegenüber sind die Jesuiten unsere Freunde und Brüder.“ – Aber ein gefährliches Experiment ist für einen Staat mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung, mit einem protestantischen Könige an der Spitze, ein Pact mit einer Partei, deren Grundprincip die Negation dieses Staates ist und die fortwährend nicht nach Berlin, sondern über Wien nach Rom blickt. Kurzsichtig müßten wir es daher nennen, wenn es wahr wäre, daß ein hoher Staatsmann geäußert haben solle: „Wir kennen diese – aber wir brauchen sie.“

Wir haben es gesehen, wie die katholische Fraction des Abgeordnetenhauses blos ihren principiellen Vortheil sucht und nur, wo dieser nicht in’s Spiel kommt, zur Regierung hält, wo er aber auch nur entfernt gefährdet werden könnte, ihr gegenübertritt. Wir halten die Bildung dieser Fraction für ein Unglück, weil ihr Princip auf einer ungehörigen Vermischung heterogener Dinge, Politik und Kirche, beruht. Wo die Religionsfreiheit, die Freiheit der katholischen Kirche wirklich bedroht ist – und dazu hat diese bei der Tendenz und den Handlungen der gegenwärtigen Regierung wenig Gefahr – da werden die Verfassungstreuen aller Confessionen entgegentreten. In politischen Fragen aber gehen die Mitglieder der katholischen Fraction von der Rechten zur Linken weit auseinander und vergebens haben sich einige ihrer Führer, im Widerspruch mit ihren früher geäußerten freisinnigen Ansichten, bemüht, sie zusammen zu halten, um sich in rein politischen Fragen der Regierung gefällig zu erweisen und politische und selbst commercielle Bündnisse mit katholischen Staaten zu erzielen. – Wer dem Absolutismus Concessionen macht, um seinerseits größere factische Concessionen für seine Kirche zu erlangen, der taugt nicht zum deutschen, nicht zum preußischen Abgeordneten, der ist ein unzuverlässiger, selbstsüchtiger Freund der jeweiligen Regierung und wird bei sich ergebender Gelegenheit bald von ihr abfallen. Gerechtigkeit gegen Alle, wahres und treues Festhalten an Gesetz und Verfassung, starke Zurückweisung aller darüber hinausgehenden Ansprüche, welche nur dem Einen zu Gute kommen, den Andern aber schädigen, das ist die alleinige dauerhafte Grundlage aller staatlichen Ordnung.

Schwache Nachgiebigkeit aber gegen eine Partei, welche die Kirche über den Staat, den Papst über den König setzt, wie wir sie oben an mehreren Beispielen nachgewiesen haben, kann nur zu immer weiter gehenden ungerechtfertigten Prätensionen und endlich zur Unterordnung des Staates unter die Kirche und im Augenblicke der Gefahr zum Sturze des Staates führen. Es liegt uns ein Hirtenbrief des Erzbischofs von Köln, Johannes von Geissel, welcher dem Könige die Berufung auf den erzbischöflichen Stuhl verdankte, vom 22. März 1848 vor, worin derselbe, damals als Thron und Staat wankten, ungleich seinem Standesgenossen, dem edlen Fürstbischof von Breslau, Melchior von Diepenbrock – kein Wort für den preußischen Staat und seinen König hat, – ein Hirtenbrief, welcher nur die Kirche im Auge hat und übrigens für jede Staatsform, für die Republik wie für die Monarchie paßt.

Der preußische Staat sei also auf seiner Hut, er halte sich fern von dem Liebäugeln mit jener Partei wie von Vertrauensseligkeit gegen sie, er halte sich stark im Rechte und sorge, daß seine Interessen der katholischen Kirche gegenüber mit Treue und Umsicht vertreten werden.

Wir aber wollen, so viel an uns ist, der ultramontanen Strömung widerstreben, und rufen uns die Ultramontanen zu: Hie Rom! so antworten wir ihnen mit dem Rufe: Hie Vaterland!




Ein treuer Führer.
Reiseerinnerung aus den Hochalpen.


In der Frühe eines Julimorgens, so frisch und klar, wie er nur über dem Hochgebirge aufgehen kann, wanderte ich mit einem Freunde, der sich die Aufgabe gestellt hatte, in den höchsten Gebirgsregionen photographische Aufnahmen für wissenschaftliche Zwecke zu veranstalten, durch das Chamounixthal. Es war an jenem Tage ein ländliches Fest, und die in ihre bekannte nette und einfache Tracht gekleideten Savoyarden, welche unter heitern Gesprächen von der Frühmesse aus Prieuré kamen und grüßend an uns vorübergingen, blieben am blumigen Bett der Arve bei einem Alpenführer stehen und blickten mit größter Aufmerksamkeit durch ein altes, vielgebrauchtes Fernrohr, das Letzterer mit sich führte, die weiße Bergwand des Montblanc hinan. Sie mußten dort irgend etwas Ungewöhnliches beobachten, denn mehrmals hörte ich sie rufen: „Voilà les touristes – à présent ils avancent – ils montent!“ Auf nähere Erkundigung zeigte uns der Führer, der sich Fréderic Dairraz aus Chamounix nannte, eine kleine Anzahl langsam sich fortbewegender schwarzer Punkte, die wir mit bloßen Augen auf der weiten glitzernden Schneewüste natürlich gar nicht bemerken konnten. Zwei Engländer waren es mit vielen Führern und Lastträgern, die unter der Oberleitung des alten, bewährten Michel Croz aus Chamounix bereits in der Frühe des vorigen Tages aufgebrochen waren, um einen neuen Weg zur Krone des europäischen Bergkönigs zu finden.

Wir ließen die Kletterer Altenglands da droben ihren trügerischen Weg weiterziehen über die zerprasselnde Schnee- und Eiskruste und unterhandelten mit dem Führer wegen einer Besteigung [138] der „Grands-Mulets“, die wir heute noch beabsichtigten, weil die ruhige und klare Luft für die Zwecke meines Freundes gerade geeignet schien. Dairraz wandte ein, daß die Zeit zum Aufbruch für solch’ eine schwierige Tour schon etwas spät sei, da er noch einige Träger mit den nöthigen Kletterwerkzeugen, eisenbeschlagenen langen Stöcken, Hacken, Aexten und Beilen, sowie auch mit Proviantkörben ausrüsten müsse und wir somit vor acht Uhr Chamounix nicht verlassen würden; allein wir ließen dies nicht gelten und drängten zur Reise.

Nachdem wir uns im Hotel Royal de l’Union zu Chamounix bei einem tüchtigen Frühstück gestärkt und unsern Trägern Proviant und Wein für zwei bis drei Tage übergeben hatten, verließ unsere Expedition das dreitausendzweihundert Fuß über dem Meeresspiegel gelegene Hochthal, um „les Grands-Mulets“, die großen Mauleselfelsen, zu ersteigen, welche hoch über den Eismeeren der Gletscher, etwa dreitausend Meter über dem Meere, gigantisch aufsteigen und den tiefsten Einblick in die Eisklüfte des Montblancs, sowie die herrlichste Aussicht über die schneebedeckten, funkelnden Gebirge gewähren.

Nach vierthalbstündigem steilen Steigen erreichten wir bei den letzten der krüppelhaften Tannen den Strand des Bossonsgletschers, der gleich seine ganze Pracht und Erhabenheit vor uns ausbreitete, weil wir ihn hier in der ungeheuern Ausdehnung von seinem Ursprung beim großen Plateau bis zu seinem auf dem grünen Boden des Chamounixthales ruhenden Fuße übersehen konnten. Ein kleines, compactes Wirthshaus, das von der Frau eines Führers hier gehalten wurde, lud uns nach der anstrengenden Wanderung zur Rast, und wir nahmen daher – um unsern Proviant nicht vorzeitig anzugreifen – auf dem letzten Vorposten menschlichen Lebens und Waltens ein frugales Mahl ein. Dieser den Touristen unter dem Namen Pierre Pointue wohlbekannte Aussichtspunkt liegt einsam und rings von den Schrecken einer ungeheuern Zerstörung umgeben; rechts und links jähe Felsen; Gletscher und Firnen, soweit das Auge zwischen den Berggipfeln hinanreicht. Nach kurzer Rast ging’s bald wieder weiter hinan über Rhododendren und einzelne abgelegene Alpenplätze zu der anderthalb Stunden entfernten Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, unter dem die bei den Gletscherübergängen nöthigen Leitern aufbewahrt werden. Während unsere Führer diese hinantrugen zu den gefährlichsten Uebergängen und durch Gletscherspalten erschwerten Passagen, nahm mein Begleiter das den Lesern der Gartenlaube wohlbekannte photographische Bild auf, welches die Redaction in einem trefflichen Holzschnitte (Jahrgang 1866, Seite 141) vorangeschickt hat und das besser, als jede Schilderung, den Eindruck jener ernsten, großartigen Naturscene wiedergiebt, jener Einöde über den Wolken, wo uns der Weltentod aus bleichen Gletscherkörpern entsetzlich anstarrt.

Die Mittagsstunde war bereits vorüber, als wir das schwarze Felsgestein verließen, die Steigeisen an die Füße schnallten und den Gänsemarsch über den mächtigen Gletscherstrom antraten. Dairraz ging auf der sanft geneigten Ebene voran und mied sorgfältig alle Eisspalten und gefährlichen Stellen, unter denen namentlich ein Abhang der benachbarten Aiguille du Midi durch herabstürzendes verwittertes Gestein schon das Grab manches Touristen wurde; wir Andern aber folgten unserm Führer auf dem Fuße zwischen wild durcheinanderragenden Eissäulen und Gletschertischen den Ruinen einer starren Welt entgegen, deren Eindruck von dem Punkte an, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bossonsgletscher vereinigt, nur um so schauerlicher auf unser Gemüth wirkte, als das Terrain gefährlicher für uns wurde.

Bisher war nämlich unser Weg über die zerklüftete Eisfläche vollkommen schneefrei gewesen, und deshalb konnten wir ihn ohne alle Gefahr zurücklegen; jetzt aber hatte ein Schneesturm, der von den höher gelegenen Firnstöcken herabgeweht haben mochte, alle die blauen, hier oben bedeutend zahlreichern Gletscherspalten und Schründe mit einer trügerischen Kruste bedeckt. Unser Führer hielt es deshalb für rathsam, die „cérémonie de la corde“ anzuwenden, d. h. uns Alle an einem straffgezogenen Seile zu befestigen. Jeder mußte sich mindestens zwanzig Fuß von seinem Vordermann entfernt halten, und so ging der Gänsemarsch langsam und beschwerlich vorwärts. Nicht selten glitt einer in der Reihe aus und wäre sicher in den Abgrund hinabgerollt, wenn das von unsern Begleitern straff angezogene Seil nicht um seinen Leib geschlungen gewesen wäre.

Vorüberziehende Nebel ließen die Sonne nur in mattem, bleichem Lichte erscheinen. Tief unter uns, auf der weiten schiefen Fläche des Gletschers, wandelten zusammengeballte Nebel in gespenstischen Gestalten. Grauen durchzog uns beim Anblick dieses geisterhaften Spieles, und Dairraz, der in meiner Nähe stand, schaute besorgten Blicks hinüber und murmelte ernst: „Wehe den Engländern, wenn sie jetzt drüben auf dem gefährlichen Wege über den Dôme du Goûté oder gar auf den Bosses du Dromédaire sind, – da toben die Gletscher fürchterlich und die Lauinen der Aiguille du Midi sind wohl seit lange nicht so wild gewesen. Nun, sie haben den alten Michel bei sich, der weiß Bescheid und ist wohl der tüchtigste Führer im Gebirge; wenn der nicht helfen kann, kann’s keiner – außer Gott.“

„Aber wird das Unwetter nicht auch uns bedrohen?“ frug ich den wettergebräunten Führer.

„Keineswegs,“ antwortete dieser mit Bestimmtheit. „Es bricht sich an den steilen Wänden des Tacul und der Grands Mulets; hier herunter kommt es nicht, und ehe wir oben sind, ist es längst vorüber.“

Ein ängstliches Gefühl, über dessen Ursache sich wohl keiner Rechenschaft geben konnte, trieb uns zur Eile. Wir setzten unsern Weg weiter fort durch wüste Reviere, die außer und über der Zeit zu stehen und nur mit den Gestirnen des Himmels und mit den fliegenden Wolken zu verkehren schienen. Und dennoch bot sich der menschlichen Natur hier noch eine Heimath dar, wenn auch nur ein elendes, aus wüstem Gestein aufgethürmtes, unbewohntes Hüttchen, das Nachtasyl der müden Montblanc-Karawanen, unser heutiges Ziel.

Gegen vier Uhr Nachmittags hatten wir es erreicht, schnallten hastig die Steigeisen von den brennenden Füßen und suchten uns so häuslich einzurichten, wie es in der sehr primitiven Steinhütte gehen wollte, die man in der Touristenwelt scherzweise „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ getauft hat. Die Neige des Tages verwendete ich aber mit meinem Freunde zur näheren Orientirung in der Eiswelt des Montblancgebirges, dessen gewaltigste Riesen: Géant, Tacul, Aiguille du Midi, Aiguille du Moine, Aiguille verte, Aiguilles droites und Jorasses, uns mit ihren blitzenden Firnen und Gletschern wie ein Kranz mit silbernen Blättern umgaben. In stiller Feier bewunderten wir die herrliche Aussicht, welche uns jenseits des gebirgigen Chablais den tiefblauen Leman und die weite französische Ebene enthüllte.

Mitternacht war herangekommen, die müden Träger waren bereits eingeschlafen, nur mein Freund wachte noch mit mir und Dairraz, der uns eifrig mit Grog bediente, als wir plötzlich in der Ferne ein schrilles Pfeifen und bald darauf einen ängstlichen Hülferuf vernahmen. Erstaunt sprangen wir auf und weckten die Träger; Dairraz aber schürte von Neuem das Feuer, welches die Führer vor unserer Hütte angezündet hatten, damit es besser in die Bergschluchten hineinleuchtete.

Bald entdeckten wir denn auch bei seinem Scheine die Gestalt eines Mannes, der mühsam und keuchend über den Gletscherstrom kam. Dairraz erkannte in ihm seinen schon vorhin erwähnten Freund, den wackern, später in der Matterhorn-Affaire vielgenannten Michael Croz, und begrüßte ihn mit einem treuherzigen „Grüß Gott, Michel! Was führt Dich so eilig bei Nacht über die gefährlichen Gletscher von Deinen Engländern herüber?“

„Die Noth allein, die äußerste Noth!“ erwiderte der Angeredete athemlos und sank erschöpft bei dem Feuer nieder. Erst ein Glas Wein, das wir ihm reichten, brachte ihn wieder zur Besinnung und er berichtete: „Es mochte wohl gegen zwei Uhr Nachmittags sein, als wir den Gipfel des Montblanc verließen. Trotz der Gesichtschleier, welche wir trugen, waren die Augen unserer Reisenden da droben fast schneeblind geworden und es erschienen die tiefern Luftschichten unter uns wie ein feiner Nebel, der Thäler und Höhen einhüllte. Das riesige Hochschneefeld, dessen sandartig schurrende Firnmasse beim Steigen uns so hinderlich war, passirten wir mittels Rutschpartie so schnell, daß wir die Strecke, welche uns aufwärts fast einen halben Tag mühseligen Steigens gekostet hatte, in wenigen Minuten zurücklegten. Nirgends brauchte ich den Schnee mit meinem Alpstabe zu sondiren, er war überall tief genug für die lustige Thalfahrt, und da die beiden Reisenden, welche uns Führern beim Hinabgleiten folgten, geübte Bergsteiger waren, so ging die Rutschpartie glücklich und ohne jeden Unfall von statten. Weiter unten an den [139] steilen Graten der Aiguille du Goûté mußte ich jedoch einige Male – hervorspringender Felsen wegen – mittels des tief in den Schnee gebohrten Stabes, der beim Herabgleiten unser Steuer bildete, in eine neue Bahn lenken; dann ging’s flott weiter, daß der Schnee in staubigen Bällen neben uns hinabrollte. Bald standen wir wieder auf den bläulichen, zerrissenen Gletscherblöcken, über deren gewaltige und gefährliche Eistreppen wir gestern unter unendlichen Mühen heraufkamen. Statt aber diesen unbetretenen Pfad hinabzugehen und unsere Zelte zum Bivouac auf dem glatten Eise aufzuschlagen, zogen wir vor, unsere Schritte zu beschleunigen, denn wir dachten noch diese Hütte hier auf dem großen Mauleselfelsen zu erreichen. Allein es sollte anders kommen.

Als wir die aus Moränenwällen und Granitklippen gebildeten Schluchten passirten, von welchen die bedeutenderen scharfgeschnittenen Grate sich hinanziehen bis zur weithinleuchtenden Aiguille du Midi, schlichen am Himmel fahle Wolken einher, zogen über die Eiswüste bläuliche Schatten nach und sammelten sich droben um die Firsten der Tour du Tacul und um die Zinken des Col du Géant. Ich trieb zur Eile, damit wir erst über den berüchtigten Mur de la Côte, einen steilen hundertundfünfzig Meter hohen Schneeabhang, gelangten. Hatten wir erst seine in den harten Schnee gehauenen und aus schwindelnder Höhe in den Abgrund führenden Stiegen hinter uns, so war die gefährlichste Strecke des Weges überstanden.

Eine lautlose Ahnung zog durch die Natur, als erwarteten die Eiswälle, wie das schwarze Felsengebein, einen furchtbaren Angriff der Elemente; mir wurde es klar, daß sich heimlich ein Unwetter vorbereitete, um in wenigen Minuten aus den Klüften und Schneegründen hervorzubrechen. Umsonst trieb ich nochmals zur schleunigsten Eile; denn in der Ferne sah ich den gewaltigen Schneewall der Côte schon vor uns liegen; aber plötzlich sanken die Wolken rings von den Bergeshäuptern herab, und es erhob sich ein verworrenes Getöse, das wilde Gebrüll eines Sturmes, der aber keine bestimmte Richtung hatte, sondern in dem die Winde aller Weltgegenden tobend zusammenzubrausen schienen. Der Tag verfinsterte sich; wir athmeten dichten Schneestaub, der von den Höhen und aus den Tiefen herunter- und hinaufgefegt wurde. Nur mühsam konnten wir im tiefen Schnee noch gegen den erwähnten Uebergang vordringen, obgleich mit Sicherheit anzunehmen war, daß jenseit desselben, wo die Thalschlucht sich erweiterte und die Luftströmung von einem andern Gletscher heraufwehte, das Unwetter seine natürliche Grenze gefunden haben würde; denn es war uns wohl bekannt, daß der furchtbare Schneesturm nichts Anderes war, als ein außergewöhnlich starkes Gletscherkuxen, ein örtlicher Orkan, der bekanntlich jedesmal nur die Atmosphäre im engen Bereiche eines gewissen Gletschergebietes in Aufruhr bringt, während auf allen Seiten in der nächsten Nachbarschaft stilles Wetter waltet.“

„Hab’s aber doch verspürt, daß Ihr was abkriegtet,“ unterbrach ihn Dairraz; „als wir drüben waren, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bessonsgletscher vereinigt, hab’ ich’s zum Herrn hier gesagt – und hab’ ein Vaterunser für Euch gebetet – aber es hat mich getröstet, daß Du dabei warest, Michel; Du kennst das Gebirge wie kein Zweiter unter uns.“

Michel Croz bestätigte es etwas geschmeichelt mit einem stummen Kopfnicken, wandte jedoch gleich dagegen ein: „Wenn die Augen mit Schnee verweht sind und die Gewalt des Sturmes Einen nach den Andern zur Erde wirft – da hilft alle Kenntniß des Gebirges nichts mehr.“

„Wie retteten Sie sich aber und wo blieben Ihre Gefährten?“ frugen wir Michel mit steigender Angst.

„Wir machten es, wie die Gemsen,“ antwortete er, „die in solchem Unwetter hinter den Felsen Schutz suchen. Wir umklammerten in der Noth die Klippe eines Felsengrates, die da einsam, wie ein Leichenstein, aus dem weiten Eisgrabe hervorragte. Hier hielten wir uns knieend fest und faßten – im Reiche des Todes, vom Verderben umbrüllt – einen Entschluß, den nur die Verzweiflung ersinnen konnte. Binnen wenigen Minuten war nämlich die Thalschlucht vor uns in eine viele Klaftern tiefe Schneemulde verwandelt. Die Entfernung bis zu der erwähnten Passage des Mur de la Côte konnte mit Sicherheit nicht angegeben werden und wir wußten daher nicht, ob unsere Seile – selbst wenn wir sie aneinanderknüpften – bis dorthin reichen würden; dennoch sollte es versucht werden „ob Einer von uns dieses ‚Vorgebirge der guten Hoffnung‘ erreichen könne, um dort das Seil, wenn es lang genug wäre, derart zu befestigen, daß sich die später Folgenden an demselben festhalten und so vor dem Versinken in die tiefzugewehte Thalschlucht bewahren könnten. Mir, als dem ältesten und kundigsten Führer der unglücklichen Expedition, kam der Pionierdienst zu; wenn das Seil ausreichte, so war er weniger gefährlich, als anstrengend, weil mich bei einem etwaigen Einsinken die auf der Klippe zurückbleibenden Gefährten ja jederzeit vermittels des um meinen Leib geschlungenen Seiles wieder herausziehen konnten. Und sie mußten dies recht oft thun, da ich schon wenige Schritte von der Felsenklippe einsank und meine Kräfte von Minute zu Minute abnahmen. Das Schlimmste aber war die Entdeckung der traurigen Gewißheit, daß das Seil lange nicht hinüberreichte und wohl noch mehr als hundert Fuß Entfernung zwischen seinem Endpunkte und der erwähnten festen Schneestiege blieb. Ich suchte durch Zeichen dies meinen Gefährten verständlich zu machen – ein allgemeiner Schmerzensschrei tönte als Antwort zu mir herüber und ich sah, wie einer der beiden Touristen, in der Absicht mir zu folgen, das Seil erfaßte und in den Schnee sprang, in dem wir durch diesen gewaltigen Ruck sicher Beide versunken wären, wenn ich nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, das an mir befestigte Seil zu lösen, so daß der tollkühne Engländer an ihm wieder emporgezogen werden konnte.

Ein Griff – da rollte das Seil hin, der letzte Faden, an dem mein Leben über tiefen Abgründen schwebte, die letzte Hoffnung zugleich für die Zurückbleibenden! Noch einmal gab die Verzweiflung mir Muth – ein Blick auf die Gefährten – und ich machte den tollkühnen Versuch, auf allen Vieren vorsichtig über die trügerische Schneedecke weiter zu kriechen, um so die bekannte Gletscherüberbrückung zu erreichen. Gott mußte mir die Leichtigkeit eines Vogels gegeben haben – denn wirklich! der kaum hingewehte Schnee trug mich und ich erreichte den Wall, welcher mit seinen eisharten Stufen den einzigen, aber höchst gefährlichen Uebergang in einen unabsehbar tiefen Abgrund bildet. Ich reinigte die zugewehten Stufen vom Schnee und trat ohne jede Hülfe den berüchtigten Weg an, den man sonst nur passirt, nachdem man vorsichtig an Rettungsseilen befestigt wurde. Es schien zu glücken – doch plötzlich, gerade auf der Höhe, wende ich das Auge zurück und, wie ein Schlag der eigenen Vernichtung, trifft mich der Anblick meiner unglücklichen Gefährten. Ein Gedanke – es war ein fürchterlicher Gedanke – schlimmer als Sterben: ‚Du verlässest sie, lebendig begraben in Schnee und Eis! Was erheischt deine Pflicht? Mit ihnen zu sterben, oder – dein Leben zu retten?‘ Ich blickte in den finstern Abgrund – eine eiskalte Luft, wie kalter Grabesschauer wehte daraus empor – und ich dachte – ‚wenn jetzt dein Fuß abglitte – wenn du straucheltest – Michel Croz! Dir wäre wohl!‘ –

Ich entschloß mich zu ihnen zurückzukehren, doch kaum hatte ich die hohe Côte verlassen, so sank ich tief in den Schnee; – ich merkte es wohl, warum er mich jetzt nicht mehr trug – ich hatte die Kraft und namentlich die ruhige Fassung verloren. Unter schweren Kämpfen tauchte plötzlich der Gedanke in mir auf: ‚Wenn es möglich wäre, daß mich die alten Füße noch hinabschleppten in’s Thal; wenn ich aus der Welt des Lebens Hülfe heraufsenden könnte – Hülfe!‘ das Wort entwand sich meinen Lippen wie ein Angstschrei, und wieder kletterte ich den harten Schneewall hinan und war bald jenseit des anderthalb hundert Meter hohen Mur de la Côte angelangt. Der Sturm schien ausgetobt zu haben; es war Friede in der Gletscherwelt und ich wanderte eilenden Fußes am breiten Schneeabhang des Corridor zwischen dem Mont-Mandit und den Rochers-Rouges dem großen Plateau zu, alle mir wohlbekannten nähern Pfade benutzend. So einsam war ich noch nie da gewandert – noch nie mit solcher Herzensangst!

Zu meiner fürchterlichen Lage sollte sich aber bald das gräßlichste Uebel gesellen: die Erschöpfung. Von unserm Proviant hatte ich leider nichts bei mir, dabei sank die Nacht herab und mit ihr das Ziel meiner Hoffnung. Was sollte inzwischen aus mir – aus meinen unglücklichen Gefährten werden? Ich eine Beute des Hungers, der Erschöpfung – sie ein Raub der Verzweiflung, die mit Anbruch des Tages vielleicht die ganze Reisegesellschaft dem Tode unter Schnee und Eis in die Arme trieb! Mit solchen Schreckensgedanken war ich über das Plateau gewandert und schleppte mich den von ihm auslaufenden Gletscher mehr als eine Stunde noch hinab. An seinem Rande sank ich ermattet auf einer Felsenplatte nieder; – ich konnte nicht weiter und wählte sie zu meiner Bahre. [140] Nicht meinetwegen brachen mir Thränen aus den Augen – ich glaubte dort das gewöhnliche Ende der Hochgebirgsführer zu finden! – aber meine Gefährten, deren Schicksal lag mir schwer auf dem Herzen. – Da sah ich plötzlich in der Nacht einen Schimmer an einer fernen Bergwand; – ich traute meinen Augen kaum: der Mond konnte es nicht sein, er ging so früh nicht auf – aber woher der helle Schein? – Ich raffte mich noch einmal auf, schleppte mich auf dem mir wohl bekannten Gletscher noch ein Stück weiter hinab, als ich plötzlich – Dank dem Himmel! – diese rettende Flamme erblickte und in der Gewißheit, hier Touristen zu finden, mit erneutem Muthe und allen noch zusammengerafften Kräften hereilte.“ –

Wir drückten dem wackern Alten die Hand und erboten uns, mit allen unsern Mitteln die Rettung der von ihm zurückgelassenen Reisegesellschaft zu versuchen. Ohne Aufschub hätten wir die Tour angetreten, allein die Führer riethen einstimmig davon ab, die gefahrvolle Gletscherfahrt vor dem Aufgange des Mondes zu beginnen. Deshalb theilten wir mit dem braven Michel unsere Decken und überließen uns in der Hütte kurze Zeit der stärkenden Ruhe.

Es war noch nicht zwei Uhr, als Michel Croz uns weckte – die Sorge um seine Unglücklichen schien ihm keine Ruhe zu lassen. Zur mühsamen Fahrt mit Tauen und Schneeschaufeln gerüstet, traten wir hinaus unter den klaren Sternenhimmel, der sich wahrhaft magisch über dem erstorbenen Gletscherbilde wölbte. Die Decorationen der Hochgebirgswelt waren noch dieselben, welche wir am Abend sahen, aber ihre Färbung war so bleich und verschwommen, als ständen nur noch die Geister der Berggipfel vor uns; es waren noch dieselben ungeheuren Klippenreihen mit ewigem Schnee, welche uns anstarrten, doch sie erfüllten uns jetzt mit wundersamem, fast gespenstischem Schauer. Die Welt unter uns verhüllte Nacht; wir standen auf dem schwarzen Plateau des Mont Mulet, wie auf der Thurmwacht eines mächtigen Kuppeldaches, hoch über der todten Welt. Prachtvoll ging endlich am klaren Himmel der Mond zwischen zwei glänzenden fernen Eisfirsten auf, die schon lange vorher von einem wunderbaren Scheine erglühten. Mit einem ernsten „Helf Gott!“ verließen wir unsern Felsen und wanderten über den Gletscher dem Grand-Plateau, dem mächtigen Vorsaale im funkelnden Palaste des Montblanc zu.

Nach Verlauf von vier sauern, aber an über Worte erhabenen Eindrücken reichen Stunden langten wir an dem blendenden Schneeabhange des Corridors an und erblickten vor uns die Schneemauer der Côte. So mühsam auch ihre einhundertundfünfzig Meter hohen steilen Stufen zu ersteigen waren, hatten wir dennoch vor sieben Uhr Morgens die Höhe erklommen und begrüßten von der obersten Stiege die fremde Reisegesellschaft mit freudigem Winken.

Jetzt war es unsere Hauptaufgabe, das Seilende zu erreichen, an dem Michel Croz den größten Theil des gefahrvollen Weges zurückgelegt hatte und das zum Glück noch unberührt, wenig mehr als hundert Fuß von unserer Höhe, entfernt lag. Der Alte ließ es sich nicht nehmen, auch hier wieder den ersten Versuch zu wagen. Wir knüpften ihm daher eines unserer festesten Taue um den Leib und rüstig trat er seine Wanderung an; allein wehe! mit jedem Schritte sank er tiefer in den Schnee, und die trügerische Decke, welche ihn gestern herübergetragen, versagte ihm heute – vom Strahl der Morgensonne mürbe geworden – vollständig den Dienst. Wir eilten daher, den Erschöpften wieder heraufzuziehen, und griffen zum letzten, wenn auch mühsamsten, so doch wenigstens sicheren Mittel, zur Schneeschaufel. Rüstig begannen wir einen kaum zwei Fuß breiten Pfad in der Richtung nach dem Tauende zu bahnen, eine Arbeit, die um so beschwerlicher war, als der angewehte Schnee an den meisten Stellen mehr als die Mannshöhe erreichte. Nach wenigen Stunden war es uns gelungen; wir knüpften eins unserer stärksten, festesten Taue an das der anderen Reisegesellschaft und stellten somit eine sichere Verbindung her zwischen der Expedition auf der einsamen Klippe und dem Mur de la Côte, wo wir das straff angezogene Seil mit großer Sicherheit befestigten.

Die unglückliche Montblanc-Karawane kam nun einzeln, Mann für Mann an dem Tau sich festhaltend, über die nicht tragbare Schneedecke von der Klippe zu uns herüber. An die Gefahren derartiger trügerischer Wege gewöhnt, suchte Jeder nur an solchen Stellen den Schnee mit den Füßen zu betreten, die fest genug erschienen; – sobald aber die Schneedecke zusammenbrach, war es immer das rettende Seil, welches der Gefährdete fest umklammerte und das ihn treulich emporhielt.

Endlich – es mochte fast Mittag sein – war es vollbracht; wir hatten sie Alle glücklich herüber, und Menschen, die sich zum ersten Male im Leben erblickten, lagen sich hier, über dem kalten Grabe, in den Armen, die einen von Dank, die andern von Freude erfüllt. Es war für uns Alle eine selige Stunde, der Glücklichste unter uns war jedoch Michel Croz – der eigentliche Retter seiner Gefährten – der treueste, im schweren Dienst ergraute Führer in der Welt ewiger Gefahren. Nun ging es an ein Erzählen, wie die Unglücklichen die schreckliche Nacht mehr als zwölftausend Fuß über dem Meeresspiegel zugebracht; wie sie sich gegenseitig wach erhalten und durch fortwährende Bewegung der Glieder vor dem Erfrieren geschützt hatten; wie so mancher vergebliche Rettungsversuch gemacht wurde, und wie selbst mit dem aufdämmernden Morgen kaum die schwächste Hoffnung wiedererwachte.

Als Michel sich am andern Morgen in Chamounix von uns trennte, drückte er uns treuherzig die Hand und sagte: „Gott segne Sie! Hätten Sie mir nicht in der verhängnißvollen Nacht mit dem Feuerschein die Nähe hülfsbereiter Menschen verkündet, dann würde es mir nicht möglich gewesen sein, meinen Herren und meinen Gefährten den Dienst zu leisten, für den ich Gott bis an mein seliges Ende danken will.“

Und dies Ende sollte leider so schnell und so furchtbar kommen! Noch hatte ich mit meinem Freunde die Alpen nicht verlassen. Wir saßen, von mühsamer Gletscherfahrt ausruhend, in der armseligen Hütte eines Wildheuers, als mein Freund mir stumm und traurig ein kleines schweizerisches Localblatt zuschob. Es brachte die erschütternde Nachricht vom Matterhorn-Unglück, bei dem Michel Croz, pflichtgetreu in seinem schweren Berufe, sein Ende fand. – Möchten diese Worte eines Wandergefährten sein Andenken wieder auffrischen im Herzen aller der Pilger, die er hinangeleitet zu den Wundern der Hochgebirgswelt und sein Lebenlang sorglich geführt durch das Reich der Gefahren!

R. Bunge.




Die Hunde des „kranken Mannes“.
Von Guido Hammer.


Fast nur noch wie ein schönes Traumbild will mich’s bedünken, wenn ich all’ der Herrlichkeiten gedenke, die sich mir auf meiner jüngst vollbrachten Reise nach Constantinopel offenbart haben; denn schon die Raschheit und Mühelosigkeit, mit welcher unsere moderne Dampfzeit den Reisenden an ein so fernes Ziel trägt, läßt die empfangenen Eindrücke wie über Nacht gekommen erscheinen, zumal wenn diese von dem Gewohnten so gänzlich abweichender Art sind, wie sie der märchenhafte Orient in reichstem Maße bietet. Doch nicht aus all’ dieser Fülle von Großem, Schönem und Wunderbarem, wie es mir schon allein das Meer mit seinem ewig wechselvollen Zauber und der entzückend schöne Formenreichthum der oft schneegegipfelten Gebirgszüge Istriens, Dalmatiens, Griechenlands und Asiens geboten, will ich erzählen; nein, nicht einmal des zaubervoll prächtigen, wahrhaft berauschenden Anblicks der von salziger Fluth umrauschten muhammedanischen Kaiserresidenz, die mit ihren Alles überragenden Kuppeln der Moscheen und deren zinnenvergoldeten, schlanken Minarets, mit ihren Palästen und dunkeln Cypressenhainen das grünwellige Marmarameer und den herrlich gestalteten Bosporus hoch überthront, sei hierbei weiterer Erwähnung gethan. Ebensowenig soll von dem phantastisch-originellen Volksleben des unvergleichlichen Stambul die Rede sein, sondern nur ein bescheidenes Bildchen aus dem Thierleben der gewaltigen Türkenstadt sei geboten; ich meine die verwilderten Hunde Constantinopels.

[141] Von schakalähnlicher Art und Größe, in Farbe gewöhnlich ockergelb, fuchsroth oder in’s Rothbraune spielend, mit schwarzer Schnauze und eben solchen aufrecht stehenden spitzen Ohren – obgleich auch ganz schwarze Exemplare mit gelben Extremitäten, sowie andere Abweichungen vorkommen – sind diese Hunde meist struppigen, sehr dürftigen Ansehens, das durch die stets niederhängende, fast zwischen die Beine gezogene Ruthe nicht eben gehoben wird. Dazu ist ihr Blick meist kummervoll und mißtrauisch, als fühlten sie, die zwar Freigeborenen, aber Unterwürfigen, recht wohl, wie sie von ihrer menschlichen Umgebung doch nur als „Unreine“ betrachtet werden. So bieten sie im Ganzen recht eigentlich ein Bild tiefer Gedrücktheit.

Herrenlose Hunde in Constantinopel.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

Durchwandert man die Straßen, Plätze und Quais, sowie die öffentlichen Gärten und Kirchhöfe Constantinopels, es sei nun im eigentlichen Stambul oder in den Vorstädten Pera, Galata, Tophana etc., überall wird man den Parias der dortigen Thierwelt, den oben gekennzeichneten herrenlosen Hunden, begegnen. Von den Türken zwar pietätvoll geduldet, aber freilich nichts weniger als verpflegt, sind sie im dürftigsten Zustande, da die ungenügende Nahrung dieser Stättelosen ihnen nur kümmerlich das Leben zu fristen im Stande ist. Dennoch sind die Immerhungernden gegen die Menschen bescheiden und ohne Falsch, wenn man das nicht als eine wunderbare Zudringlichkeit betrachten will, daß sie sich oft mitten im Gewühl der Straßen, selbst in denen des Bazars, ja sogar auf den verkehrsüberfüllten beiden Hafenbrücken, die Stambul mit den gegenüberliegenden Vorstädten verbinden, zusammengekrümmt hinlegen und in all’ solchem Gedränge ruhig schlafen. Dann schreiten Menschen und Pferde, wohlbedächtiglich ausweichend, an ihnen vorüber, oder steigen auch geradezu über die Schlummernden hinweg, eine Erscheinung, die mir oft vorgekommen, ohne daß ich dabei je gesehen, daß die Türken einen dieser im Wege liegenden Hunde geschlagen oder absichtlich nur gestoßen hätten, wie dies wohl übelgelaunte Abendländer thaten. Sonst aber treibt sich dieses vierbeinige zigeunerhafte Proletariat gern bandenweise vor den offenen Verkaufsständen der Wildhändler, Fleischer, Bäcker und Garköche umher und lungert hier mit gespannten [142] Blicken aus irgend einen Abfall oder Bissen, der ihnen dann und wann mitleidsvoll zugeworfen wird. Nie aber habe ich die Fraßlechzenden eigentlich unverschämt betteln oder wohl gar stehlen sehen; sie warteten vielmehr immer demüthig, wenn auch sehnsüchtigsten Blickes, ihr kärgliches Almosen ab. Auch waren die Rotten, die sich einmal als zusammengehörig betrachteten, leidlich verträglich untereinander, während allerdings jeder fremde Hund, d. h. einer von einer andern Straße oder einem andern Platz, sofort als unberufener Eindringling behandelt ward und dann schleunigst, jämmerlich zerbissen, die zusammenhaltenden Hunde meiden mußte. Ich habe aus solchen Kämpfen Schwerverletzte hervorgehen sehen, derart, daß man in die bis auf die Knochen gehenden klaffenden Wunden des „Abgebissenen“ füglich die ganze Handschneide hineinzulegen vermocht hätte; ja, hier und da sah man todte Köter auf der Straße liegen, die wohl im Kampfe mit ihres Gleichen geblieben sein mochten.

Eine höchst malerische Staffage bildeten diese Obdachlosen auf den vielen Brandstätten Constantinopels, wo sie, da solche auch als Ablagerungsplätze für Schutt, Kehricht und sonstigen Unrath verwendet wurden, nach allerhand Nahrungsstoffen oder doch irgend annähernd verdaulicher Magenfüllung suchten. Wie wenig Anspruch sie hierbei machen, möge der Umstand bezeugen, daß ich sie an solchen Stellen nicht nur allerlei Vegetabilisches heißhungrig verschlingen, sondern auch an Lederresten, Flederwischen etc. gierig herumnagen sah, ja, einmal beobachtete ich, wie einer der bedauernswerthen Hungerleider die Fragmente einer schmutzstarrenden türkischen Pluderhose verzehrte und dies ihm auch nur erst nach harten Kämpfen mit seiner ihn neidisch umlungernden Cameradschaft gelingen wollte. Ein andermal, ebenfalls auf Brandtrümmern, und zwar noch rauchenden, wo auch einige durch die Flammen verarmte türkische Familien unter einem improvisirten elenden Zelte hausten, vor welchem ihre Kinder im tiefsten Schmutz und zwischen verkohlten Balkenresten herumspielten, ward mir außerdem noch ein höchst interessanter Anblick. Ein ganzes Rudel der rothhaarigen kläffenden Freibeuter aller Altersclassen hatte ein wahrscheinlich beim Brand verunglücktes Schaf aus dem Schutte herausgewühlt und war nun eben darüber, gemeinschaftlich die verkohlten ekeln Ueberreste als köstliches Mahl mit wahrhaft rasender Gier zu verschlingen, so daß in kürzester Frist auch nicht ein Bissen mehr davon übrig war. In solchen Fällen indeß, sowie bei Aufräumung der von der Bevölkerung Constantinopels rücksichtslos auf die Straße geworfenen Cadaver von crepirtem Geflügel und anderem Kleinvieh, werden diese nichtsverachtenden Allesfresser geradezu die Wohlthäter der so vielen Schmutz und Unflath bergenden Stadt, indem sie schnell alles Verpestende, namentlich wenn es von Animalischem herrührt, vertilgen und so die Entwickelung mancher ansteckenden Krankheit verhüten mögen.

Zur ungemein charakteristischen, ganz eigenthümlichen Erscheinung werden unsere Halbwilden aber auf den ernst-schönen, überaus großartigen Kirchhöfen der kolossalen, trotz Schmutz und Verfallenheit wunderbar herrlichen Stadt. Hier, im düstern Schatten Jahrhunderte alter Cypressen, die sich zu weitgedehnten Hainen ausbreiten und in deren Wipfeln es melancholisch rauscht und seufzt, gerade wie in unsern heimischen Nadelwäldern, kauern diese zwar freigeborenen, aber doch den Stempel der Knechtschaft an der Stirn tragenden Geschöpfe zwischen Grabmälern und den knorrigen Wurzeln der geheiligten Bäume. Oder sie schleichen gesenkten Hauptes umher, von ihrem gewählten Asyl aus die nirgends fehlenden Schutt- und Abfallhaufen durchstöbernd, hier ihr kärgliches Mahl zu suchen. Ein glücklicher größerer Fund wird dann wohl in die Einsamkeit der Gräberstätte geschleppt, ohne dabei den lüsternen und neidischen Blicken der minderglücklichen Genossen entgehen zu können.

Das von mir beigegebene Bild bietet eine solche Scene in der Nähe eines Friedhofes dar, wie ich sie in Pera zu beobachten Gelegenheit fand. Eine Hündin mit sechs ganz behäbigen Jungen war es, die eine todte Truthenne erbeutet hatte und diesen Besitz nun gegen die andern Hunde ihres Rudels energisch zu schützen wußte. Schon der alten Däbe grimmer Blick und knurrendes Zähnefletschen hielt die sie umkreisende Sippe in gemessener Entfernung, während ihre nimmersatte Brut, unbekümmert um den Streit, hastig an der stehenden Mutter säugte. In solcher Stellung behauptete die Erzürnte auch kühn ihre Errungenschaft, ihren Genossen drohend genug bedeutend, daß für sie auch nicht der kleinste Bissen zu erhoffen sei. Traurig resignirt schlichen dann die Lungernden von dannen, um vielleicht anderswo etwas aufzufinden, das ihnen den quälenden Hunger zu stillen im Stande sei, im schlimmsten Falle ihn zu verschlafen. Die Hündin aber hatte in kürzester Zeit ihre stinkende Beute vertilgt, daß ihr dürrer Leib dick anschwoll, ohne natürlich dadurch die vorstehenden Rippen und anderen Knochen weniger sichtbar werden zu lassen. Gesättigt und dadurch träge geworden, streckte sich nun die hellfarbige alte Däbe zwischen die Trümmer marmorner Grabsteine hin, hierbei abermals willig das Gesäuge den Jungen darbietend, bis auch diese sonst Rastlosen endlich, sich dicht an die Mutter anschmiegend, der süßen Ruhe pflogen.

In solchen und ähnlichen Situationen hatte ich am Tage oft Gelegenheit, die „Geduldeten“ zu beobachten, während ich sie des Abends und in der Nacht meist ruhig auf einsamen Winkeln und Schutthaufen, sowie hinter offenstehenden Thüren oder vor deren Schwellen zusammengekrümmt liegend fand, ohne jedoch nur ein einziges Mal von ihnen belästigt worden zu sein, so oft ich auch davon gehört, daß sie, namentlich des Nachts, dem „Fremden“ leicht gefährlich würden. Darum habe ich diese mitten im dichten Städtegewühl lebenden Halbwilden nur lieb gewinnen können; liegt doch bei all’ ihrer Verkommenheit, die sich nicht wegleugnen läßt, noch viel Ursprüngliches, Gutmüthiges und gewiß sehr Bildungsfähiges in ihnen. Und so konnte ich ihnen denn auch meine mitleidsvollste Theilnahme niemals versagen, besonders wenn ich sie in ihrer Dürftigkeit mit den wohllebenden, gutgepflegten und nur zu oft verzogenen Lieblingen ihres Geschlechts in unseren heimischen Städten zu vergleichen mich gezwungen fühlte. Wollten sie mir dann doch so recht wie die Zigeuner der Thierwelt erscheinen: frei geboren und frei lebend – allein gerade dadurch in der sie rings umgebenden Cultur dem tiefsten Elend und der Verachtung preisgegeben.




Die Berliner Presse.[1]


Im Jahre 1862 war in einigen Berliner Schriftstellern der Wunsch aufgetaucht, einen Verein zur Förderung der Geselligkeit und zur Wahrung ihrer literarischen Interessen zu gründen. Man ging dabei von dem Gedanken aus, eine Annäherung der verschiedenen Parteien durch persönlichen Verkehr und lebendigen Meinungsaustausch zu erzielen. Zunächst wurde von den Stiftern ein Aufruf erlassen, der bald die gewünschte Folge hatte, worauf zur Constituirung der Versammlung und zur Entwerfung der Statuten geschritten wurde. In den ersten Sitzungen erblickte man die Redacteure fast sämmtlicher großen politischen Zeitungen, und eine zahlreiche Menge von Schriftstellern, Dichtern und Journalisten. In freundlichem Gespräche saßen an demselben Tisch die Vertreter der entgegengesetzten Richtungen, und die sich sonst öffentlich bekämpften, reichten sich hier in gemüthlichem Verein die Hand. Neben dem geistreichen Redacteur der demokratischen Volkszeitung sah man die conservativen Herren der Kreuzzeitung, neben dem treuherzigen Erzähler der Dorfgeschichten den scharfen, satirischen Kritiker, neben den Gelehrten des Kladderadatsch die verschiedenen Opfer ihres Witzes. Mediciner und Juristen, Staatsökonomen und Socialisten, Anhänger von Hegel und Schopenhauer begegneten sich hier auf neutralem Gebiete und vergaßen beim Glase Wein oder bei einem Seidel Bairisch ihren alten Streit.

Es war das goldene Zeitalter der „Berliner Presse“, wie der Verein genannt wurde, die schönen Tage, wo es nur eine Heerde und einen Hirten gab, wo der Wolf neben dem Lamme ruhte und keine Wolke den blauen Himmel der Gemüthlichkeit trübte. Bald jedoch wurde der Friede gestört und die widersprechenden Elemente traten schärfer und schärfer hervor, so daß sich ein [143] unausbleiblicher Scheidungsproceß entwickelte, die leider den Austritt einiger seiner geschätztesten Mitglieder zur Folge hatte.

Trotz dieser innern Stürme entwickelte sich die Berliner Presse zwar langsam, aber stetig zu einem gedeihlichen Leben und Wirken. Die Bildung einer Unterstützungscasse für die Mitglieder, die früher zu Differenzen Anlaß gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen und jetzt glücklich durchgeführt. Bedürftige Mitglieder erhalten aus der Casse des Vereins im Falle der Noth Darlehen und bei Erkrankungen und dadurch herbeigeführter Arbeitsunfähigkeit namhafte Unterstützungen, während den Hinterbliebenen reichliche Sterbegelder aus einer besonderen Sammlung zufließen. Andere wohlthätige Einrichtungen sind noch in Aussicht genommen, so daß in dieser Beziehung die Berliner Presse wahrhaft Erfreuliches bereits geleistet hat und noch fortwährend leistet. Die nöthigen Geldmittel zu diesen Zwecken werden theils durch die laufenden und freiwilligen Beiträge der Mitglieder, theils durch theatralische Vorstellungen aufgebracht, welche sich bisher einer großen Theilnahme von Seiten des gebildeten Publicums erfreuten. Diese Unterstützungen erstrecken sich in besonderen Fällen auch auf nicht in Berlin ansässige Schriftsteller und erreichen zuweilen eine bedeutende Höhe. So erhielt allein die Familie eines bekannten unglücklichen Dichters die Summe von dreizehnhundert Thalern als Ertrag einer einzigen zu ihrem Besten veranstalteten dramatischen Vorstellung.

Aber auch an den politischen Kämpfen der Gegenwart hat sich der Verein stets mit Eifer und Hingebung betheiligt, indem er mit Wort und That für die Freiheit der Presse und zum Schutz des bedrohten Rechtes eintrat. In den verschiedenen Commissionen wurden die wichtigsten Fragen der Preßgesetzgebung einer gründlichen Prüfung unterzogen und mancher geeignete Schritt zur Wahrung der schriftstellerischen Interessen in politischer und socialer Beziehung veranlaßt und mit Erfolg gethan.

Vor Allem aber hat der Verein sein geselliges Programm fest im Auge behalten und zu immer höherer Bedeutung entwickelt. Die Stiftungsfeste und Gedächtnißtage zur Feier unserer großen Genien legen dafür ein glänzendes Zeugniß ab. Jene Aufführungen zu Ehren Schiller’s, Lessing’s, Uhland’s und Shakespeare’s Jubiläum sind Glanzpunkte in dem Leben der Berliner Presse und geben ihr zugleich Gelegenheit, ihre Wirkung weit über den engen Kreis der Sonderbestrebungen zu entfalten. Manches Wort, das da gesprochen, manches Lied, das da gesungen, hat eine allgemeine Verbreitung und seinen Widerhall in den Herzen von Tausenden gefunden. – An solchen Tagen bietet der Verein ein ebenso belebtes wie interessantes Bild und zugleich die Gelegenheit, die größte Anzahl unserer namhaften Schriftsteller kennen zu lernen. An der Spitze befindet sich der zeitherige Vorsitzende, Herr Alexis Schmidt, der Redacteur der Spenerschen Zeitung, welcher hauptsächlich seiner humanen Liebenswürdigkeit diesen Ehrenposten im Verein zu verdanken hat. Durch seine milde Freundlichkeit weiß er die Gegensätze zu versöhnen und stets den getrübten Frieden wiederherzustellen. Mit schlichten Worten eröffnet er die Versammlung und begrüßt die Anwesenden mit freundlichem, herzgewinnendem Lächeln. An seiner Seite sitzt sein Stellvertreter, eine feine, schmächtige Gestalt von jugendlichem Aussehen, mit fast weiblichen, geistvollen Zügen. Jetzt erhebt er sich, um zu sprechen; seine Worte klingen aber männlich, scharf und klar wie Schwerterhiebe und leuchten wie Blitze. Das ist Karl Frenzel, der bekannte[WS 1] Feuilletonist der National-Zeitung, der Verfasser jener fein ausgeführten Literaturbilder und Studien, außerdem ein beliebter Novellist und Romanschriftsteller. Ihm gegenüber sitzt breit und gedrungen Berthold Auerbach, der Dichter der Dorfgeschichten. Sein schlanker Nachbar mit dem scharf geschnittenen Gesicht und dem sarkastischen Lächeln ist Dr. Lindner, der Chefredacteur der Vossischen Zeitung, ein eifriger Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie und zugleich einer unserer bedeutendsten Musik-Theoretiker, dessen Geschichte der Oper und Abhandlungen über die Tonkunst zu den vorzüglichsten Leistungen auf diesem Gebiete mit Recht gezählt werden dürfen.

Dort der alte Herr mit den schneeweißen Haaren und dem charakteristischen Kopf, eine würdige Aufgabe für den Maler, ist Professor Gubitz, der Nestor unserer Kritik und zugleich der Vater der Berliner Holzschneidekunst. Bald achtzig Jahre alt, hat er die verschiedensten Literaturepochen mit durchlebt und zu den bedeutendsten Erscheinungen der Kunst und des Theaters in naher Beziehung gestanden. Der jugendliche Heinrich Heine, Achim von Arnim und Clemens Brentano waren Mitarbeiter an dem von ihm herausgegebenen „Gesellschafter für Geist und Herz“ und verdanken ihm zum Theil ihre Einführung in die Literatur. Karl Maria von Weber, die unvergeßliche Bethmann zählten zu seinen Freunden, und der berühmte Fleck, den Tieck für den ersten Schauspieler Deutschlands hielt und mit Begeisterung verherrlichte, war der Vater seiner Frau, mit der es ihm noch vor Kurzem vergönnt war, die goldene Hochzeit festlich zu begehen. Wie der Nestor Homer’s weiß er uns von alten Zeiten, von schönen Tagen und den großen Erscheinungen seiner Jugend zu berichten, und gern lauschen wir seinen interessanten Erzählungen aus der Franzosenzeit, von Iffland’s Bühnenleitung, von Ludwig Devrient’s genialer Erscheinung, von der ersten Aufführung des Freischütz in Berlin, von dem wunderlichen Treiben der Romantiker, von Zacharias Werner, von der alten Mittwochsgesellschaft, an der sich Chamisso, Hitzig und noch andere bedeutende Persönlichkeiten betheiligten. Mit einer seltenen Rüstigkeit arbeitet der greise Gubitz nach wie vor; er fehlt bei keiner wichtigen Vorstellung im Schauspielhaus und schreibt regelmäßig seine Kritik darüber für die Vossische Zeitung mit genauer Sachkenntniß und in dem ihm eigenen charakteristischen Styl. Jahr aus Jahr ein läßt er auch seinen bekannten Volkskalender, das Original unzähliger Nachahmungen, mit den unter seiner Leitung ausgeführten Holzschnitten erscheinen. Gegenwärtig beschäftigt er sich mit der Abfassung seiner Memoiren, welche gewiß einen wichtigen Beitrag zur Literatur- und Culturgeschichte der Gegenwart abgeben werden.

An den nächsten Tischen finden wir die jugendlichen Kräfte des Vereins vertreten und gemüthlich um die funkelnde Flasche geschaart. Zwei dramatische Dichter sind im eifrigen Gespräch über das Theater begriffen; der ältere von beiden, welcher mit besonderer Lebhaftigkeit seine Meinung verficht und dabei die seltsamsten Anschauungen und Paradoxen entwickelt, ist der Verfasser des „Narciß“, der Dichter Brachvogel, einer der originellsten Autodidakten und schon beim oberflächlichen Anblick auffallend durch seine eigenthümliche Physiognomie, breite Stirn, kleingeschlitzte Augen, die bald dämmernd vor sich hinzuträumen scheinen, bald unerwartet aufblitzen, hervorstehende Backenknochen und das lange, schlichte Haar genial zurückgeworfen. Ursprünglich zum Graveur bestimmt, folgte er seiner Liebe zur Poesie, nicht ohne schwere Kämpfe und Entbehrungen. Einige Zeit war er bei dem bekannten Wolf’schen Telegraphenbureau angestellt; auch bekleidete er den Posten eines Theatersecretairs bei der Kroll’schen Bühne in Berlin. Verschiedene lyrische Versuche, die jedoch eine gewisse Originalität und Gedankentiefe bekundeten, fanden wenig oder gar keine Beachtung. Ebenso war die Aufnahme, welche das Publicum einigen dramatischen Arbeiten auf Bühnen zweiten Ranges zu Theil werden ließ, keineswegs ermuthigend, während die Kritik schon damals das Talent des Dichters anerkannte und auf ihn aufmerksam machte. Da erschien sein Trauerspiel „Narciß“ auf dem königlichen Theater und errang am ersten Abend einen beispiellosen Erfolg, der über Brachvogel’s Ruf und Lebensstellung entschied. Sein jüngerer College, welcher sich durch eine gewisse Eleganz der äußeren Erscheinung hervorthut, ist Karl Heigel, dessen Drama „Marfa“ und kleinere Novellen eine reiche poetische Begabung verrathen und eine schöne Zukunft hoffen lassen, wenn die reiferen Früchte diesen Blüthen einst entsprechen sollten. Als Dritten im Bunde begrüßen wir einen Künstler, der[WS 2] ebenso auf dem Theater wie in der Schriftstellerwelt heimisch ist, den unsern Lesern durch manchen interessanten Beitrag wohlbekannten Hofschauspieler George Hiltl. Zu den Dreien gesellt sich der Lyriker Julius Rodenberg, welcher, mit seinem poetischen Talent einen feinen und scharfen Blick für „Land und Leute“ verbindend, in seinen Reiseskizzen ebenso interessante wie belehrende Bilder, besonders aus England, Schottland, Wales und Irland, veröffentlicht hat.

Wir wissen nicht, ob Zufall oder Sympathie hier die humoristischen und satirischen Elemente der Versammlung zusammengeführt hatte. Da sitzt der gefürchtete Feuilletonist Kossak und seine Rede fließt so sanft und einschmeichelnd, als könnte er kein Wässerlein trüben, während er mit seiner Feder so scharf zu geißeln weiß. Mit jovialem Lachen begleitet Adolf Glaßbrenner die harmlosen Auslassungen des gefürchteten Kritikers, indem er den perlenden Champagner von Zeit zu Zeit mit Kennermiene [144] prüft und das leere Glas von Neuem füllt. Die gemüthliche Gruppe wird noch durch die beiden Gelehrten des Kladderadatsch, den liebenswürdigen Dohm und den heiteren Rudolf Löwenstein, vervollständigt. Dies vierblättrige Kleeblatt repräsentirt eine wahre Schatzgrube von Witz, Humor, guter Laune, aber auch ein Arsenal von scharfer Malice und einschneidender Satire, von gefährlichen Spitzkugeln und in ganz Deutschland, selbst in Frankreich von „Ihm“ gefürchteten Zündnadelgewehren.

Immer größer wird das Gewühl, aus dem wir nur die hervorragendsten Persönlichkeiten herausgreifen wollen. Die beiden älteren gesetzten Herren, welche sich so eifrig unterhalten, sind der würdige Zabel, Redacteur der Nationalzeitung, und Director Lehmann, der verdienstvolle Herausgeber des Magazins für Literatur des Auslandes. An demselben Tische bemerken wir noch Guido Weiß. einen der bedeutendsten und schärfsten Publicisten Berlins, der jetzt das von Johann Jacoby neu begründete demokratische Organ „die Zukunft“ leitet, den liebenswürdigen Kletke, als Lyriker und fleißiger Sammler bekannt, den fleißigen Literaturhistoriker und Dichter Pröhle, vor Allen aber Julian Schmidt, dessen Leistungen auf demselben Gebiete nicht erst erwähnt zu werden brauchen. Auch bei dem Letzteren dürfte die äußere, überaus zierliche, fast mädchenhafte Erscheinung kaum den männlichen Kritiker vermuthen lassen, obgleich das scharfe Gesicht und der durchdringende Blick eine gewisse geistige Energie verrathen. Zwei Jünger der Themis, der Herausgeber der deutschen Juristenzeitung, Stadtrichter Hiersemenzel, und Assessor Lasker, als politischer Schriftsteller und Mitglied des Abgeordnetenhauses ausgezeichnet, sind hier die Wächter des Rechts und vertreten den Verein in allen juristischen Fragen und Interessen mit anerkennungswerthem Eifer und Scharfsinn, während das Finanzministerium in den Händen des immerwährenden Cassirers Schweitzer ruht, der die Handelsnachrichten und Börsenberichte für die Nationalzeitung redigirt. Da sind noch Friedrich Adami, der Verfasser manches trefflichen Bühnenstücks, auch als dramatischer Kritiker und populärer Geschichtsschreiber geachtet, Niendorf, der märkische Dichter der reizenden „Hegler Mühle“, der talentvolle Novellist Habicht, der bekannte populäre Geschichtsschreiber und liberale Stadtverordnete Streckfuß mit seinem Collegen Runge, der vielgenannte Nationalökonom Prince-Smith und Maron, dem wir eine treffliche Beschreibung der preußischen Expedition nach Japan zu verdanken haben, ferner der fruchtbare Mützelburg, welcher schon mehr Romanbände geschrieben hat, als er Jahre zählt, Ferdinand Schmidt, der beliebte Jugendschriftsteller und Verfasser einer preußischen Geschichte, der durch populäre Soldatengeschichten bekannt gewordene Ferdinand Pflug und Karl Ruß, dessen gemeinverständliche naturwissenschaftliche Aufsätze zahlreiche Leser und Freunde in den verschiedensten Blättern finden. Drei Buchhändler, Jonas, Simon und Hofmann, der Herausgeber und Besitzer des Kladderadatsch, legen Zeugniß für das gute Einvernehmen zwischen Verleger und Schriftsteller ab, während Professor Stern, einer der ersten Musiker Berlins, die innige Verbindung zwischen Poesie und Musik bekundet, Moritz Gumbinner aber als Vorsitzender der Vergnügungs-Commission sich bei allen festlichen Gelegenheiten als geschickter Anordner bewährt und wesentlich durch seinen Eifer zum Gelingen beiträgt.

Billig gedenken wir auch der Dahingeschiedenen, unter denen wir zunächst den talentvollen Novellisten und Romanschriftsteller Otto Ruppius und den geistvollen Publicisten Fischel hervorheben, der auf einer Reise nach Paris unter den Rädern eines vorüberfahrenden Omnibus einen unerwarteten und beklagenswerthen Tod fand. Schon dieser flüchtige Blick wird genügen, die Bedeutsamkeit der Berliner Presse zu erkennen. Vermißt man auch in dem Verein noch manchen klangvollen Namen, manche Berühmtheit, haben auch vielleicht andere Städte in Deutschland im Einzelnen größere und um die Literatur verdienstvollere Männer aufzuweisen, so repräsentirt doch die Berliner Presse in ihrer Gesammtheit ein immerhin ansehnliches und gewichtiges Capital von Geist, Bildung und Tüchtigkeit, mit dem sich ein hoher Grad von Streben und Regsamkeit nach allen Seiten verbindet, so daß an dem Gedeihen und Fortschreiten derselben nicht gezweifelt werden kann.

M. Ring.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal Fritz Beckmann. Eines Abends sah ich Beckmann auf der Bühne an der Wien in der Generalprobe eines neuen Volksstückes, die der Polizeicommissär des Bezirkes überwachte.

„Es ist mir unbegreiflich, warum diese ganze Scene von der Censur gestrichen ist!“ rief unmuthig der Regisseur.

„Dort Oben weiß man schon warum,“ bemerkte Beckmann zurechtweisend, „denn was kein Verstand der Verständigen sieht, das ahnet in Unschuld des Censors Gemüth!“

Er hatte ein Couplet zu singen, – in der Mitte der ersten Strophe brach er plötzlich ab. „Hören Sie einmal, Capellmeister,“ rief er in’s Orchester hinab, „die Instrumentirung gefällt mir nicht. Ich bitte blos um Streich- und Blechinstrumente, denn die sind am volksthümlichsten und am meisten im Gebrauch – Streichinstrumente bei der Censur und Blechinstrumente bei der ganzen Bevölkerung.“

Alles lachte, sogar der Polizeicommissär schmunzelte ein wenig. –

Einem talentlosen Scribler, der dem beliebten Komiker eine Posse zur Beurtheilung aufgedrungen hatte, gab er das Manuscript mit folgendem Bescheid zurück: „Wenn Sie die beiden ersten Acte zusammenziehen und auf ein Minimum reduciren, den dritten Act ganz streichen, damit man den vierten entbehren kann, dann das ganze Stück streichen und von einem berufenen Schriftsteller ganz neu bearbeiten lassen, kann sich das Ding machen, glaub’ ich.“

Der Dichter dankte verdutzt für den guten Rath, soll aber Beckmann kein Manuscript mehr unterbreitet haben. – Ueber einen bissigen und berüchtigten Recensenten äußerte er sich: „Man mag sagen, was man wolle, uneigennützig ist der Mann, denn so vielen Leuten er auch schon die Ehre abgeschnitten hat, nicht das kleinste Stückchen hat er für sich behalten.“ –

Jemand fragte ihn, ob der erste Tenorist schon seine Kunstreise nach London angetreten habe? „Er ist noch hier, aber seine Stimme ist schon hin,“ lautete die Auskunft. – „Ich werde kein Künstler mehr, wenn ich wieder auf die Welt komme!“ rief ein verkanntes Genie. „Mir scheint, Sie sind schon wieder auf die Welt gekommen,“ bemerkte Beckmann. – Zu einem patriotischen Brauer, der den Truppen im französisch-italienischen Kriege Bier liefern wollte, sagte er: „Schicken Sie den Soldaten Lager-, dem Marschall Plutzer-, den Generälen Bock- und der ganzen Armee Abzug-Bier.“ – Einer seiner Collegen, den wir Julius nennen wollen, hatte in den Provinzen die ersten Heldenrollen gespielt, in Wien war er noch nicht einmal mit Episoden betheilt worden. Sein sehnlichster Wunsch war daher, nur an einem einzigen Abend in den Gesellschaftskreis des Directors gezogen zu werden, um ihn bei dieser Gelegenheit auf sein glänzendes Talent aufmerksam zu machen. „Ich gratulire!“ rief ihm Beckmann eines Tages zu, „Sie stehen am Ziele Ihrer Wünsche. Der Herr Director läßt Sie höflichst bitten, heute Abend an seinem Hausball theilzunehmen.“

„An einem Hausball?“ fragte Julius mit strahlenden Augen.

„Verbunden mit einer musikalisch-declamatorischen Abendunterhaltung. Alles erscheint in alttürkischem Costüme. Sorgen Sie nur für eine interessante Maske.“

„Ich wähle den Soliman!“ jubelte der Glückliche, „der Soliman war eine meiner Glanzrollen. O, der Director soll erfahren, welche Perle er an mir besitzt, die er bis jetzt gar nicht zu schätzen wußte.“

„Nun, viel Glück! Punkt zehn Uhr, versäumen Sie ja die Declamationsstunde nicht!“

Abends nach dem Theater soupirte der Director in seinem Familienkreise, als ziemlich verblüfft der Bediente eintrat.

„Euer Gnaden,“ meldete er, „es ist ein alter Türk draußen.“

„Ein alter Türk?“ fragte der Director befremdet.

„Mit langem, weißem Bart und glänzend gekleidet. Er spricht ganz gut Deutsch und behauptet, von Ihnen eingeladen zu sein.“

„Von mir? Das ist doch sonderbar!“

„Es scheint mit ihm nicht ganz richtig zu sein. Der alte Herr spricht ganz verwirrt, auch kommt er mir ein wenig verdächtig vor, denn er trägt einen Dolch und zwei ungeheure Pistolen im Gürtel.“

„Sage dem alten Türken, ich stehe zu seinen Diensten.“

Der Bediente öffnete die Thür und Julius trat gravitätisch als Sultan Soliman in den Speisesalon. Man kann sich das Erstaunen und die Ueberraschung der Anwesenden denken, als sie in dem grausamen Türkenfeind den harmlosen Schauspieler Julius erkannten und von dem losen Streich in Kenntniß gesetzt wurden, den ihm Beckmann gespielt. Aber Julius hatte sich über den Scherz nicht zu beklagen. Er durfte Soliman’s Monolog declamiren und zog sich so glücklich aus der Affaire, daß er schon im nächsten Schauspiel „Die Pferde sind gesattelt!“ meldete.




Inhalt: Getrennt. Novelle von F. L. Reimar. (Fortsetzung.) – Deutschlands große Industriewerkstätten. Von H. Künzel. 3. Die Griesheimer Klenger. Mit Abbildung. – Rom am Rhein. III. – Ein treuer Führer. Reiseerinnerung aus den Hochalpen. – Die Hunde des „kranken Mannes“. Von Guido Hammer. Mit Abbildung. – Die Berliner Presse. Von Max Ring. – Blätter und Blüthen: Noch einmal Fritz Beckmann.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 8 enthalten: Charakterköpfe des ungarischen Landtags. – Umschau: Ein Apostel der Unwahrheit. – Eine adelige Monomanie. – Wohlverdiente Ruhe. – Ein Bier-Paradies. – Ein norddeutsches Carnevalsfest. – Ein Handbuch für den Beichtstuhl. – Das Gesammtergebniß der Parlamentswahlen. – Zur Statistik der Bibliotheken. – Heine’s Bekehrung. – Zur Geschichte eines Weltbuches. – Noch einmal die Hungersnoth in Indien.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Durch ihre neulichen in den Zeitungen vielbesprochenen Unterstützungsconcerte für hülfsbedürftige Schriftsteller ist die „Berliner Presse“ wieder in den Vordergrund getreten.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bebekannte
  2. Vorlage: den