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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[705] No. 45.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Für den Lesetisch der Familie.


Von allen Schriftstellern ist stets nur denen ein Ehrenplatz am Familientische eingeräumt worden, welche in jedem ihrer Werke zeigten, daß sie selbst wohl mit dem Kopfe über dem Volke, mit dem Herzen. aber mitten in ihm stehen, hauptsächlich aber denjenigen, die bei glänzender Phantasie, poetischem Sinne, ausgezeichneter Gestaltungskraft, Gemüthstiefe und schwungvoller, markiger Sprache ihre Schöpfungen überhaupt und jede ihrer Gestalten durch sittliche Reinheit und Keuschheit zu adeln wissen, so daß ihre Bücher jeder deutschen Jungfrau unbedenklich in die Hand gegeben werden können.

Ein solcher Schriftsteller ist in der Gegenwart der den Lesern der Gartenlaube längst bekannt und lieb gewordene Herman Schmid. Wer jemals in unserem Blatte eine von Schmid’s Novellen und Erzählungen gelesen, die ihren Stoff zumeist den Bergen seiner Heimath entlehnen, der mußte sich gefesselt fühlen durch die Feinheit der ganzen Durchführung, die Schönheit der Naturschilderung, die Wahrheit der Charaktere und die Plastik aller von ihm gezeichneter Gestalten. Unwillkürlich aber mußte nach einem so ergreifenden Eindruck in jedem Leser auch der lebhafte Wunsch erwachen, die übrigen Werke dieses ausgezeichneten Novellisten ebenfalls kennen zu lernen, namentlich das vielgenannte herzige und kerngesunde „Schwalberl“, das große Geschichtsbild: „Der Kanzler von Tirol“ – von der Kritik als der beste historische Roman der Neuzeit anerkannt – und viele andere fesselnde Geschichten aus dem Hochgebirge, die Keiner so naturwahr und traulich gemüthvoll zu erzählen weiß, wie unser Herman Schmid, der Verfasser von „Almenrausch und Edelweiß“, des „Holzgrafen“, des „Bombardement von Schärding“ etc. etc.

Zur Erfüllung dieses Wunsches bietet nun die unterzeichnete Verlagshandlung die Hand, indem sie eine

Volks- und Familien-Ausgabe
der
Herman Schmid’schen Werke

veranstaltet, von der bereits der erste Band erschienen ist. Um auch den Unbemittelten die Anschaffung dieser geschmackvoll ausgestatteten Familienbibliothek zu ermöglichen, setzt die Verlagshandlung den 13 bis 16 Bogen starken Band, der in frühern Ausgaben Einen und einen halben Thaler gekostet, auf den enorm billigen Preis von

nur 71/2 Ngr. oder 27 Kreuzer rheinisch.

Einzelne Bände (monatlich erscheint ein Band) werden nur zu dem vierfachen Subscriptionspreis abgegeben.

Allen Familienvätern, die ihrem Hause, ihren Frauen und Kindern eine durchaus edle und fesselnde Lectüre bieten wollen, empfehlen wir die Sammlung ganz besonders und bitten sie, den beiliegenden Bestellzettel ausgefüllt an die nächste Buchhandlung zu übermitteln.

Leipzig, im November 1867.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil.




Der Habermeister.
Ein Volksbild aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der Vorgang an der Kreuzstraße hatte Sixt in hohem Grade ergriffen und aufgeregt; wenn auch beklommenen Gemüths, war er doch mit gelassenem Entschlusse daran gegangen, sein schweres Amt an der Jugendgenossin zu üben, für die noch immer ein Rest alter Zuneigung sprach, so sehr er sich selber darüber zürnte und so eifrig er bemüht war, das zarte Pflänzchen wie immer nachwachsendes Unkraut aus seinem Herzen zu reißen. Was sollte er nun von dem Vorgefallenen denken? Wie konnte er es in Einklang bringen mit seinem grollendem Unwillen, wie mit dem unberufenen Mahner, der immer wieder in ihm leise Worte der Vertheidigung sprach? War es denkbar, daß Jemand mit schuldbeladenem Gewissen den Anklägern so entgegenzutreten vermochte? Konnte es der Schuld gelingen, so ergreifend, so täuschend Ton und Stimme der Unschuld, das Gebahren selbstbewußter Entrüstung [706] und tugendhafter Aufwallung zu erheucheln? Und doch mußte es so sein – konnte nicht anders sein – die Anschuldigung war zu bestimmt, der Beweis in Verbindung mit den allgemeinen Gerüchten, mit verschiedenen Anzeichen, mit dem sonstigen geheimnißvollen Benehmen des Mädchens war zu klar und unwiderleglich, als daß ein vernünftiger Zweifel dagegen zu bestehen vermochte. Hatte nicht der eigene Bruder, der ja auch ihr Jugendgenosse und Kindheitsgespiele gewesen, wie er, die schwere Anklage gegen sie erhoben? War er auch von anderer, versteckter Gemüthsart, die ihm nicht gefiel und die Brüder von jeher einander entfremdet hatte, so schlecht, ein solch’ heuchlerischer Bösewicht konnte er nicht sein, wissentlich ein falsches Zeugniß abzugeben, oder einen Zeugen dafür zu gewinnen. Früher oder später mußte dann die Unwahrheit doch an den Tag kommen, und dann hätte er, der für die Anklage Bürge geworden mit Haut und Haar, mit Gut und Blut, mit Ehr’ und Wehr, die furchtbarste Rache und Vergeltung von Seite des Gerichts zu erfahren gehabt, das er zur Verurtheilung eines Unschuldigen verleitet.

In solchem Zweifeln und Schwanken, immer bemüht, den glimmenden Unwillen in sich selbst zu neuer Flamme zu schüren, schritt er dahin … da rauschte es in dem Gebüsche neben ihm, ein Arm erhob sich aus den Zweigen und eine Hand winkte ihm zu, stille zu stehen.

„Halt!“ rief es halblaut dazu, „geh’ nit weiter, Habermeister, Du bist verrathen!“

„Wer da?“ rief er entgegen.

„Frag’ nit, das ist ja gleich; aber mach’ kein’ Schritt weiter … Du gehst in eine Falle!“

„Brauchst Dich nit zu nennen!“ rief er hinwider und aller verhaltene und kämpfende Groll loderte in ihm auf, „die Stimm’ kenn’ ich, wenn Du sie auch verstellst, wie Dich selber… Aber ich glaub’ ihr so wenig, als Dir! Meinst wohl, weil Du keck genug bist zum Leugnen, damit wär’s abgemacht? Wer das Andre gekonnt hat, wie Du, wird auch das zuweg’ bringen! … Was stellst Dich mir wieder in’ Weg? Ich hab’ nichts zu schaffen mit Dir … und wenn ich verrathen wär’, ich fürcht’ mich nicht davor und will’s von Dir nicht wissen! Und wenn ich von da aus schnurgerad’ hineinging’ in den Tod … ich thät’ nit umkehr’n, wenn ich’s Dir verdanken müßt’! Ich geh’ meinen Weg für mich allein … und wenn Du mir ein’ Gefallen thun willst, so mach’, daß ich Dich nimmer d’rauf antreffen muß…“

Die Schaar der Haberer kam nachgerückt, mit ihnen eilte er dem Schlosse zu gegen den Hohlweg.

Das Gebüsch hatte sich längst wieder geschlossen; unbeachtet und ungesehen war die Warnerin darin zusammengesunken. Es kam wieder über sie wie vor wenigen Stunden, als sie auf dem Altane des Wirthshauses an der Kreuzstraße stand; sie faßte wie unwillkürlich an die Stirn, als könnte sie die tobenden Bilder und Gedanken ergreifen und festhalten, die wie Boten des nahenden Wahnsinns durcheinander schwankten. „Er hat Recht, ganz Recht,“ murmelte sie, „daß er mich von sich stoßt … und ich hab’ auch das Herz nit, daß ich gerad’ heraus zu ihm red’, wenn er so zornig ist … aber ich kann doch nit fort, ich kann nit – das giebt ein Unglück…“

Indessen war der Zug, da die Wachen nichts Verdächtiges gewahrt hatten, in die Hohlgasse eingerückt und begann sich lautlos auf dem Platze an der Schloßmauer auszubreiten; eben wollten die Letzten herankommen, als ihnen plötzlich von allen Seiten Halt! Zurück! und Wer da? entgegen tönte; überall tauchten ihnen im Rücken dunkle Gestalten auf und angeschlagene Gewehrläufe blinkten ihnen entgegen.

Einen Augenblick herrschte vollständige Stille; die überraschte Schaar drängte sich zu einem Knäuel zusammen. „Antwort, oder es giebt Feuer!“ rief es wieder. „Wer da?“

„Kaiser Karl und das Habergericht!“ rief der Meister laut entgegen. „Wer untersteht sich und ruft es an?“

„Der das Recht dazu hat!“ tönte es zurück. „Es giebt keinen Kaiser und kein Habergericht im Land… Gebt Euch, Ihr Friedensbrecher, Ihr seid umringt!“

„Wir haben auch das Recht,“ begann der Habermeister wieder, „und eines, das schier so alt ist wie unsere Berg’ – und so sag’ ich: Auseinander, was uns im Weg steht! … Macht freie Bahn für das Habergericht!“

Er konnte nicht weiter sprechen; ein heißblütiger Bursche, dem die Verhandlung zu lange währte, Zufall oder Ungeschick rührten an den Hahn einer Büchse und aus dem Kreise der Haberer knallte ein Schuß gegen die Feinde hinüber…

Mit der Schnelligkeit eines Pulsschlages blitzte es auch bei diesen aus einem halben Dutzend Gewehre auf; die Kugeln der übereilten ziellosen Schüsse sausten in dem Laube der Bäume, ein paar Ausrufe zeigten aber, daß nicht alle ganz vergeblich abgeschossen worden. Die Wirkung der Salve war eine entscheidende, weil sie die unvorbereiteten Bauern vollständig überraschte und entmuthigte, da es unmöglich war, die Zahl der Gegner und somit die wahre Größe der Gefahr zu erkennen… Auch waren wohl die meisten bereit, einem nächtlichen Zuge, der ihnen völlig harmlos dünkte, beizuwohnen, aber ein förmliches Gefecht in dunkler Nacht gegen einen vielleicht weit überlegenen und nicht schonenden Gegner mitzumachen, reichte weder Muth noch Lust; ohne Befehl oder Losung abzuwarten, aus freiem Antriebe rollte die erst so trotzige Schaar sich auseinander und in wenigen Augenblicken war der Platz gegen den Wald hin mit dunklen fliehenden Gestalten bedeckt, denn es war beim ersten Andrange nicht schwer geworden, mit der Wucht des Anstoßes die Linie der Gegner zu durchbrechen und eine Gasse zu gewinnen. Hinter den Fliehenden drangen die Verfolger vor, eifrig bemüht, einen der Uebelthäter zu ereilen, ehe der schützende Wald ihn aufgenommen; wenige Minuten hatten zur völligen Zersprengung der Haberer hingereicht, und nur hier und da knallten und blitzten einzelne Schüsse durch die Nacht.

Beinahe der Einzige, der unerschüttert Stand gehalten und die Flucht seiner Genossen mit Grimm und Beschämung gesehen, war der Habermeister. Vergebens hatte sein unterdrückter Ruf sie aufgefordert, stehen zu bleiben, sich in Reihen zu schließen und wenigstens die Ehre eines geordneten Rückzuges zu wahren, sie hörten nicht auf ihn; auch war seine Thätigkeit und Aufmerksamkeit völlig von einem Ereigniß in seiner nächsten Nähe in Anspruch genommen worden. Er hatte seinen Standpunkt zur Seite des Platzes auf einer leichten Erhöhung unter einem hohen Kirschbaume genommen, wo er sowohl sehen, als gesehen werden konnte – wenige Schritte von ihm traf eine Kugel einen der Flüchtlinge, daß er mit gellendem Aufschrei emporschnellte und dann wankend und taumelnd beinahe hart vor seinen Füßen zusammenbrach.

„Herrgott,“ rief der Habermeister, „was ist denn das? Die Stimm soll’ ich ja kennen … Waldhauser, bist Du’s denn wirklich? Wie kommst denn Du daher, unter die Haberer?“

„Ich bin’s …“ stöhnte der Getroffene und fuhr mit den Händen nach dem blutüberströmten Angesicht. „O Gott … o Gott, meine Augen! Ich bin blind, ich bin zum Sterben getroffen… O Sixt, Bruder … um aller Heiligen willen, verlaß mich nicht…“

Sixt warf einen flüchtigen Blick auf die Umgebung; die Bewaffneten kehrten rings von der nutzlos gewordenen Verfolgung zurück und begannen den Kampfplatz zu durchstreifen – es bedurfte nur noch einiger Minuten, so mußten sie auch ihn erreichen; ein Krampf zog ihm das muthige Herz bei dem Gedanken zusammen – aber seine Würfel waren gefallen, er mußte ausharren … er konnte den verwundeten, mit dem Tode ringenden Bruder nicht verlassen…

„Sei ruhig, Waldhauser,“ sagte er, „ich geh’ nit von Dir, vielleicht ist Deine Wunde nicht so gefährlich, wie Du glaubst, ich will versuchen, Dich auf den Rücken zu nehmen und hinweg zu tragen.“

„O … o …“ wimmerte der Verwundete, „das ist Alles zu spät … für mich ist keine Hülfe mehr und keine Rettung … ich muß sterben, Bruder, ich fühl’s, der Tod dringt mir schon an’s Herz heran…“

Unschlüssig beugte der Meister sich zu dem Liegenden herab, dessen Besinnung unter heftigen Krämpfen zu schwinden begann; da huschte eine weibliche Gestalt hinter dem Baume hervor und drängte sich dazwischen.

„Du? Schon wieder Du?“ rief er beinahe zurücktaumelnd.

„Denk’ jetzt nit dran, daß ich’s bin,“ erwiderte das Mädchen, „mach’, daß Du fort kommst, im Augenblick sind sie da, der Weg an dem großen Holzbirnbaum hinunter ist noch frei.“

„Soll ich den Bruder in diesem Zustand verlassen?“ fragte er, noch immer kaum seinen Augen trauend.

„Ich fürcht’, dem hilft kein Mensch mehr, und was ein Mensch noch thun kann für ihn, ich will’s thun, ich will bei ihm [707] bleiben… Mach’ nur, daß Du fort kommst, eh’s zu spät wird…“

„Und Du bist es nochmal, die mich retten will!“ rief er schmerzlich ergriffen, „Du, Franzi, jetzt und heut’ und nach all’ dem, was ich Dir angethan hab’?“

„Sei nit hart drüber, Sixt,“ antwortete sie hastig, „aber ich thu’s nit Deinetwegen, ich will Dir auch gewiß nimmermehr in’n Weg kommen … ich thu’s nur, weil ich an Dein’ Vater denk’ und an Dein’ Mutter und an alles Liebe und Gute, was sie mir angethan haben … aber nur fort … fort…“

„Nein, ich gehe nit,“ sagte er in trotziger Aufwallung.

„So bleib!“ rief sie schmerzlich erregt. „Bleib’ und laß Dich fangen! Mach’, daß sie Dich finden, daß sie in Dir den Habermeister erkennen; in Dir … dem Aichbauern Sixt, auf den Alles mit Respect hing’schaut hat, der so stolz gewesen ist auf seinen unbescholtenen Leumund und Namen! Laß Dich in Ketten und Banden legen, wie einen Verbrecher, laß Dir den Proceß machen, wie einem solchen, und eine schwere, schwere Straf’ anthun, daß Deine braven Eltern sich vor Schand’ und Spott und Herzleid noch im Grab’ umkehren möchten…“

Einen Moment schwankte er noch; durchdringend, mit unbeschreiblichem Ausdruck, hing sein brennendes Auge an den Zügen des Mädchens; dann ergriff er rasch und fest dessen Hand, schüttelte sie und war im nächsten Augenblick hinter dem Gebüsch verschwunden.

Es war die höchste Zeit gewesen, unmittelbar darnach schlossen die Verfolger ihre Kette auch nach dieser Richtung ab.

Franzi kniete neben Waldhauser nieder, dessen tiefe, schmerzliche Athemzüge erkennen ließen, daß der Nebel der Bewußtlosigkeit noch einmal von seinen Sinnen zu weichen begann. Die Kugel war ihm an der Schläfe in den Schädel gedrungen und hatte die Augen zerstört, es war keine Hülfe, keine Hoffnung mehr für ihn. Der Unselige hatte dem Vergnügen, seine Rache voll gesättigt zu wissen, nicht zu widerstehen vermocht, hatte sich heimlich unter die Haberer an der Kreuzstraße gemengt und dann im Uebermuthe auch den übrigen Zug mitgemacht; als einen der Ersten, welche entflohen, hatte die Vergeltung ihn selber ereilt.

„Sixt …“ lallte er, zu sich kommend, „wo bist Du? Hast Du mich auch verlassen, Bruder?“

„Ich bin statt seiner da,“ sagte Franzi leise und sanft, aber so weich der Ton geklungen, wirkte er doch auf den Verwundeten, als hätte er den Posaunenruf des Weltgerichts vernommen. Entsetzt, von Krämpfen geschüttelt, wollte er sich aufrichten, aber er vermochte es nicht mehr, er fuhr nach dem Gesicht, als wolle er seine Sehkraft unterstützen, allein die vernichteten Augensterne gehorchten nicht mehr. „Wer?“ rief er beinahe kreischend. „… Franzi … Du? … O, mein Herr und Heiland … was für Schmerzen! Sterben … ich muß sterben, und Du … Du bist die Einzige, die bei mir bleibt…“

„Warum sollt’ ich nit? Aber sei nur gelassen, ich will sorgen, daß ich Dich wegbringen kann…“

„Zu spät!“ stöhnte er. „Aus ist’s mit mir … Alles aus. … Ich muß sterben, jetzt weiß ich’s gewiß… O ewige Gerechtigkeit … die Bürgschaft, die Bürgschaft! Geh’ von mir, Franzi, laß mich allein, Du weißt nit, was ich Dir gethan hab’…“

„Sorg’ nit um mich,“ sagte sie beruhigend, „wenn Du Dich so schlecht fühlst, denk’ an Dich selber und an Deine arme Seel’! … Bet’, Waldhauser, bet’!“

„Beten …“ rief er in undeutlichem Gemurmel… „Ja, ja, beten … ich hab’ ja viel gebetet in meinem Leben … und manchmal ist es mir Ernst gewesen damit! Und jetzt – jetzt … O du gekreuzigter Heiland…“

Er stockte; ein Gefäß in dem zerschmetterten Kopfe war nachgeborsten, eine abwärts dringende starke Blutung erstickte ihn.

Eine Weile blieb Franzi noch neben ihm knieen und betete leise. „Er hat’s überstanden …“ sagte sie dann, sich erhebend, „er braucht Niemand mehr auf dieser Welt… Ich kann auch fort; es wäre das Gescheidteste, wenn sie Niemand bei ihm finden, da hätt alles Fragen ein End’…“ Sie bückte sich, hob aus dem Grase einen abgefallenen dürren Ast auf, brach ihn in zwei ungleiche Theile und knüpfte diese in Kreuzesform übereinander … dann legte sie dem Todten die Arme auf der Brust zusammen und gab ihm das Kreuz in die Hände. „Er ist mit sein’ Namen hinüber in die Ewigkeit, unser Herrgott wird’s gnädig machen mit ihm!“

Sie huschte hinweg.

Das Gericht fand außer zerstreuten Kleiderfetzen und Waffenstücken nichts als einen verstümmelten blutigen Leichnam.

„Verwünscht!“ murrte der Amtmann und stampfte vor Entrüstung. „Eine so kostbare Gelegenheit und vergebens! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, den Rädelsführer in meine Macht zu bekommen … aber immerhin, mein Verdacht trügt mich nicht, ich weiß, wo der Kopf des Wurmes sitzt, und will nicht ermüden, bis er zertreten ist!“


5.

Die Sonne eines der letzten Octobertage stand schon hoch gegen Mittag über dem Wirthshause an der Kreuzstraße, aber auf den kurzen, vergilbten Grashalmen, wie an den morsch werdenden grauen Stoppeln hing starker, weißschimmernder Reif und nur an der östlichen Seite, wo die Sonnenstrahlen schon länger zu wirken vermocht hatten, begann er zu schmelzen und von den dunklen Tannenästen in leuchtenden Tropfen nieder zu thauen. Der Himmel wölbte sich darüber in herbstlich klarer und völlig ungetrübter Bläue, denn ein scharfer Ostwind ließ nicht ab, jedes Federchen oder Flöckchen von Dunst, das sich etwa zur Wolke gestalten wollte, hinweg zu fegen und zu blasen, wie Stäubchen von einer Glasglocke. Gegen die Straßenkreuzung hin, wo der durchhauene Wald eine Lücke frei ließ, ragte ein Ausschnitt eines mächtigen Gebirgsrückens herein, weit in einen glitzernden Schneemantel gehüllt, dessen blaue Schatten wie Falten eines königlichen Gewandes die Umhüllung noch prächtiger und reicher herniederwallen ließen. Der Spätherbst hatte ernsthaft angeklopft und ließ erwarten, daß ein strenger Winter ihm rasch in die Fußstapfen treten werde.

Trotzdem war es an der Kreuzstraße wieder lebendig und bewegt, denn die günstige Lage machte das geräumige Gasthaus so recht zum Versammlungsorte der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung geeignet; die nach vier Richtungen auseinander laufenden oder von ihnen herführenden bequemen Straßen machten den Verkehr kurz und leicht und bildeten in ihrer Kreuzung eine Art Mittelpunkt, welcher von vielen rings umher gelegenen Weilern und Ortschaften unschwer zu erreichen war, ohne daß den Bewohnern des einen zugemuthet werden mußte, einen weiteren Weg zu machen, als die eines andern zu machen hatten. Die Gesellschaft war aber diesmal im Hause versammelt; in der großen Zechstube drängte sich’s wie in einem Ameisenhaufen und summte wie in einem Bienenkorbe, der sich zu schwärmen bereit macht.

Nur ein Einziger zog es vor, trotz der empfindlichen Kühle lieber im Freien zu verweilen, als den Dampf der qualmenden Stube einzuathmen; das war der Lehrer von Osterbrunn. Gemächlich schritt er die Zaunhecke des Gartens entlang, musterte die Kronen der darüber emporragenden Apfelstämme und der vielen darunter niedriger aufstrebenden Zwetschenbäume und sah es mit Bedauern, wie viele Fruchttriebe an den erstern vom Frost verkümmert waren und wie sehr die letztern einer sorgenden Hand bedurft hätten, sie von dem überwuchernden grünen Moose und den breiten grauen Flechtenblättern zu befreien. So kam er zu der Ecke neben den Stufen des Eingangs, wo es sonnenwarm war und windstill zugleich; er ließ sich seinen Krug herausbringen, zündete die Pfeife an und sah dem Ringeln der Rauchwölkchen zu, welche in der reinen Herbstluft aufwirbelten, um zu verflattern, und so vergnügt sein Antlitz vorerst dabei geschienen, so düster ward es allgemach, denn in das Behagen an den Ringen und andern krausen Gestalten des Rauches drängte sich gar bald die Betrachtung ihrer Vergänglichkeit und es war nahe daran, daß darüber die Pfeife völlig ausging.

Gruß und Zuruf weckten ihn aus dieser nachdenklichen Stimmung; der alte Bauer mit dem weißen Schnauzbart mochte nach seinen Gäulen gesehen haben und kam vom Stalle herangegangen. „Grüß Gott, Herr Lehrer,“ rief er ihm zu, „laßt Ihr Euch auch einmal wieder sehen? Und ist es Euch nicht zu kalt im Freien?“

„Ich hab’ noch einen Gang durch’s Gau gemacht,“ erwiderte der Lehrer, „in ein paar Tagen fangt das Schulhalten wieder an – d’rum wollt’ ich zuvor noch einmal alle Gärten beseh’n und die Bäume d’rinnen, an denen mir was gelegen ist oder wo der Herr einen guten Rath annehmen will: es giebt gar viel’ Stämmchen, die man vor der Kälte einbinden oder ein Geheg von Dornhecken [708] darum hermachen muß, daß nicht im Winter die genäschigen Hasen kommen und fressen die Rinde ab; es ist, als ob es heuer bald einwintern wollte, der Schnee und die Kälte können da sein über Nacht…“

„Ja, ja, es ist merkwürdig,“ sagte der Bauer, „wie’s gehen kann und wie oft in der Geschwindigkeit ’was daher kommt, an das kein Mensch denkt! Wann ich denk’,“ fuhr er bedächtig um sich blickend fort, „daß es noch keine völligen vier Wochen sind, seit wir uns ’troffen haben und bei einander da g’sessen sind, so sollt’ man’s kaum für möglich halten! Wissen Sie’s noch, Herr Lehrer, es ist gerad’ an dem nämlichen Tag gewesen, wie die Waldbegehung hat sein sollen wegen dem Westerbrunner Grenzstreit… Was ist seit der Zeit Alles passirt und was hat sich Alles verändert seitdem! Die schöne Kellnerin, die Franzi, die wir Alle für so brav gehalten haben, hat einen Besuch gekriegt von den Haberfeldtreibern, gegen die sie selbigesmal so aufbegehrt hat; sie ist mit Schimpf und Schand’ davon gejagt worden und seitdem weiß kein Mensch, wo sie hinkommen ist…“

Dem Lehrer war die Pfeife wirklich kalt geworden. „Also ist es dennoch wahr?“ sagte er kopfschüttelnd. „Man hat nichts mehr von ihr gehört?“

„Kein Sterbenswört’l… Die Einen meinen, sie sei fort in ein anderes Land; die Andern meinen gar, sie hätt’ sich ein Leid’s angethan in der Desperation! Du lieber Gott, unmöglich wär’s gerade nit, denn es ist ihr hart genug gegangen, – aber wer hätt’s auch geglaubt, daß sie, die so schön hat thun können, ein solches schlechtes Leut’ sein könnt!“

„Ich glaub’ es immer noch nicht,“ sagte bedächtig der Lehrer, „ich hab’s wohl schon erlebt, daß ein Wildling, den ich oculirt habe, zwei-, dreimal hintereinander nicht hat anschlagen wollen und ist ein Wildling geblieben nach wie vor, aber was einmal ein richtiger Baum ist von einer Edel-Sorten, der kann zu Grunde geh’n, aber er kann nicht aus der Art schlagen und auf einmal anfangen, Holzäpfel zu tragen!“

„Ja ja, das werden Sie wohl am Besten versteh’n, Herr Lehrer!“ nickte zustimmend der Bauer. „Mich soll’s freuen, wenn Sie Recht behalten thäten … aber es ist halt doch einmal bei ihr Haberfeld ’trieben worden und das bringt sie ihrer Lebtag nimmer von sich weg, fürcht’ ich alleweil! Man irrt sich halt diemalen gar stark in den Leuten! Was ist der Herr Waldhauser für ein gesetzter und gottesfürchtiger Mann gewesen! Wer hätt’s von dem für möglich gehalten, daß er unter die Haberer wär’ und hinterm Zaun sterben thät, ohne Beicht und Absolution! … Und das ist noch nicht Alles! Selbigesmal ist ja auch noch der Herr Staudinger dagewesen, der dicke Viehhändler, der immer auf die Franzi seinen Pik gehabt hat, und der Nußbichler Alisi, der Haderlumper, wegen dem es ja eigentlich her’gangen ist!“

„Was ist’s mit diesen Beiden?“ fragte der Lehrer.

„Das wissen Sie nit?“ rief der Alte verwundert. „Bei dem saubern Herr Staudinger ist auch getrieben worden! Hat der Mann alleweil über uns gespöttelt und uns dumme Bauern geschimpft – ja, so gescheidt sind wir freilich nit, daß wir das Fleisch von verrecktem Vieh unter die Würst’ hacken lassen und für ein gutes essen! Der schlechte Mann – aber er hat sein Theil ordentlich ’kriegt und ist auch auf und davon! Er hat sein Haus und Alles zurück gelassen, wie’s geht und steht, und wird sich wohl nit getrauen, seiner Lebtag wieder zu kommen!“

„Vielleicht hat das Vorgefallene sein Gemüth erschüttert – dann hat das Haberfeld immerhin auch etwas Gutes gestiftet!“ meinte der Lehrer.

Der Bauer lachte und kraute sich unter’m Hute. „Dasselbe glaub’ ich kaum,“ sagte er, „ein bissel Erschüttern giebt bei dem nit aus, da müßt schon ein klein’s Erdbeben kommen! Da möcht’ ich noch eher glauben, daß der Nußbichler Alisi noch einmal gescheidt wird und gut thut, wenn’s auch jetzt gar nit den Anschein dazu hat! Den haben s’ jetzt hinter Schloß und Riegel gesetzt, weil er ganz unsinnig worden ist und durchaus sein ehemaliges Güt’l, das jetzt wieder versteigert werden soll, wieder haben möcht’…“

„Daran sehe ich nichts Unsinniges…“

„Freilich nit, Herr; aber sie haben heidenmäßig viel Geld bei ihm gefunden und er kann sich nit ausweisen, woher er es hat, und daß er’s geschenkt bekommen hat, wie er erzählt, das glaubt ihm Niemand – sie meinen halt, er hätt’ es irgendwo mitgeh’n lassen oder hätt’ gar Jemand’ ausgeraubt; darum haben sie ihm das Geld abgenommen, haben ihn eingesperrt und über dem ist er völlig ein Narr’ worden – ein halbeter ist er eh’ schon lang gewesen…“

Wachsendes Geräusch aus der Gaststube unterbrach den Redefluß des Alten.

„Sie rücken die Stühle,“ sagte der Lehrer, „sie scheinen mit der Vorsteherwahl zu Ende zu sein…“

„Wohl möglich,“ erwiderte der Bauer, „da kommt auch schon der Bediente vom Herrn Amtmann und läßt anspannen – sie sind wirklich schon fertig. Ja, die Westerbrunner haben’s leicht, die wählen eben den alten Finkenzeller wieder; da beißt die Maus kein’ Faden ab – aber wie’s jetzt bei uns Osterbrunnern geh’n wird… Sie wissen ja, über acht Tag’ ist die Vorsteherwahl bei uns…“

„So? Ich weiß es nicht – der Herr Amtmann hat dafür gesorgt, daß ich nicht mehr dabei zu functioniren habe; er läßt alle Protokolle von seinem Actuarius schreiben.“

Der Alte sah sich vorsichtig um; als er Niemand in der Nähe gewahrte, fuhr er leiser fort: „Ja, ja, der Herr Amtmann laßt sich nicht umsonst ein’ gestrengen Herrn heißen … aber wenn Sie mich nit verrathen wollen, Herr Lehrer, will ich Ihnen noch was Neues sagen … es soll nimmer so sicher und fest sein mit ihm, wie zu Anfang… Der Bericht wegen dem Waldvergleich und das Haberfeld dazu, die sollen die Herren von der Regierung bös verschmacht haben … es heißt gar, sie wollen einen Commissari schicken, der Alles an Ort und Stelle untersuchen und verhören soll… Da ist er richtig schon!“ rief er abbrechend. „Der hat’s ja heut’ gewaltig eilig – ich will noch geschwind in’s Haus hinein, ich mag ihm nit in die Hand laufen, er ist nit gut zu sprechen auf uns Osterbrunner von wegen der Deputation…“ Er wollte nach dem Hause zurück, aber es war schon zu spät, er mußte an seinem Platze bleiben, denn der Amtmann schritt bereits die Treppe herab, die Uniformmütze auf dem Kopfe und in einen stattlichen Marderpelz gehüllt, über welchen der gestickte Kragen der Amtskleidung emporstand; hinter ihm, den Actenbündel unter’m Arm, den Hut auf dem Kopf, schritt der Actuarius; diesem folgten in weitem Kreise mit entblößten Häuptern nachdrängend die Gemeindemitglieder von Westerbrunn.

Gleichzeitig eilte noch ein Bauer von der Straße her dem Hause zu, eine hohe Gestalt, aber mit nachdenklich gesenktem Haupte, so daß er die Anwesenden nicht eher gewahr wurde, als bis er nahe vor ihnen stand; auch diese, zu sehr mit der Abreise des mächtigen Beamten beschäftigt, bemerkten ihn nicht. Der Amtmann war bereits unten angelangt, während der Kutscher noch vollauf beschäftigt war, die Stränge der Pferde an den Wagen zu knüpfen; der Wirth, der vorausgesprungen war, hatte den Schlag aufgerissen und stand nun in unterwürfiger Haltung daneben, unter’m Arm die zerknitterte Mütze.

„Freiherrliche Gnaden eilen ja heute über die Maßen,“ sagte er mit tiefem Bückling, „es thut mir unendlich leid, daß ich nicht die Ehr’ haben soll über Mittag …“

„Es paßt nicht, Herr Wirth,“ entgegnete der Amtmann kalt, „die Spitzen der Behörden können nicht wohl außerdienstlich in einem Hause verweilen, wo so bedenkliche Dinge vorgehen. Sie werden zu thun haben, bis Sie die Scharte auswetzen und den guten Ruf Ihres Hauses wieder herstellen. … Sie werden es nur können, wenn Sie Anstifter und Theilnehmer des schändlichen Unfuges ermitteln, der auch vor Ihrem Hause verübt wurde. …“

„Aber wie soll ich…“ stammelte der betroffene Wirth.

„Ihre Sache, mein Lieber, nicht die meine,“ erwiderte der Beamte, indem er den Blick leicht im Kreise herum gleiten ließ; er gewahrte den zuletzt Gekommenen, aber keine Miene, nicht ein Zwinkern des Auges verrieth, daß er ihn erblickt. Im ruhigsten Tone sprach er weiter, halb zu den Westerbrunnern zurückgewandt. „Das Amt kann sonst nichts thun, als Andeutungen geben, als leiten, wo man sich leiten lassen will; die Ausführung selbst muß in diesen Zeiten der Selbstregierung den Unterthanen … will sagen, den Staatsangehörigen überlassen bleiben. Es ist immer gut und bequem, sich leiten zu lassen … Ihr Männer von Westerbrunn werdet es erfahren, weil Ihr meinen Andeutungen gefolgt seid und die Persönlichkeit zum Vorsteher gewählt habt, welche dem Amte als die geeignetste erschien! Ihr steht mitten drinnen und seht, so zu sagen, den Wald vor [709]

Der Künstler hat dies neueste Portrait des Dichters bei dessen jüngster Anwesenheit in Barmen nach dem Leben gezeichnet und bietet Sonderabdrücke des Bildes auf großem starken Velinpapier zu Gunsten der Freiligrath-Dotation zu dem billigen Preise von 10 Ngr. dar. Mit Vergnügen hat sich die Verlagshandlung der Gartenlaube zur Expedition des Kunstblattes bereit erklärt.




lauter Bäumen nicht; Ihr seht wohl die Wurzeln und den scheinbar gesunden Stamm. Das Amt steht über Euch, auf der Höhe und sieht es schon von Weitem, wenn ein Baum anfängt, gipfeldürr zu werden. … Ich bemerke auch einige von den Osterbrunnern unter den Anwesenden; über acht Tage ist die Reihe der Wahl an ihnen und ich hoffe zuversichtlich, daß sie mir Gelegenheit geben werden, ihnen das Lob gleich guter Gesinnung zu ertheilen. Die Wahl des Vorstehers ist unbezweifelt einer der wichtigsten und entscheidendsten Vorgänge im gemeindlichen Leben … völlige Unbescholtenheit, der tadelloseste Leumund sind vor Allem das Erforderniß eines Mannes, dem mit diesem Ehrenamte das Wohl und Wehe und die Ehre der ganzen Gemeinde in die Hand gegeben werden soll. … Sie stimmen sicher darin mit mir überein, Herr Aicher von Aich?“ fuhr er fort, indem er sich plötzlich gegen den Ankömmling wandte, als habe er ihn erst in diesem Augenblick bemerkt. „Sie haben sich lange nicht sehen lassen, mindestens nicht so geradezu – es ist auch wohl begreiflich … Sie haben während dieser Zeit Gelegenheit gehabt, in Ihrer Familie recht betrübende Erfahrungen zu machen, bezüglich deren ich nicht umhin kann, aufrichtigst zu condoliren …“

„Ich danke sehr für Ihr Beileid, Herr Baron,“ entgegnete Sixt finster und kurz. „Der Tod meines Bruder hat mich allerdings schwer getroffen …“

„Natürlich! Zumal unter so befremdlichen und geheimnißvollen Umständen!“ fuhr der Amtmann im Tone eifriger Theilnahme fort. „Und dazu noch all’ die anderen unerklärlichen Ereignisse! Das räthselhafte Verschwinden Ihrer Ziehschwester, welche allgemein bezichtigt wird, das Verbrechen der Kindesaussetzung begangen zu haben! Wie schmerzlich muß Sie das Alles berühren – ich weiß ja, auf welch’ vertrautem Fuße Sie mit ihr standen! Haben auch Sie keine Spur der Vermißten?“

Dem Aichbauern schwamm es vor den Augen; er erbebte vor Grimm, die schlecht verhehlten boshaften Angriffe, die er wie Dolchstiche fühlte, abzuwehren, aber er übersah Ort und Umgebung und bemeisterte sich. „Keine,“ sagte er gelassen, „obwohl ich weder Zeit noch Mühe und Kosten gescheut! …“

„O, das glaube ich Ihnen ohne Betheuerung!“ rief der Beamte wieder. „Seien Sie auch meiner lebhaftesten Mitwirkung versichert und sehen Sie in dieser Sache ein lebendiges Beispiel, wie wenig die in unseren Tagen gepriesenen Neuerungen das wirklich leisten, was sie verheißen! Wären noch wie früher alle Fäden in Einer Hand vereinigt, dann wäre es ein Kinderspiel, den Schleier zu lüften, der über all diesen Ereignissen liegt, und den Zusammenhang herauszufinden, der ohne Zweifel zwischen ihnen besteht; seit der leidigen Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung müht sich jede in ihrem Kreise vergeblich ab; es [710] fehlt das rechte schlagende Zusammenwirken und Ineinandergreifen. Aber auch unter den jetzigen Verhältnissen werde ich Ihnen zeigen, wie sehr ich mich für einen solchen Mann und eine solche Familie interessire … ich denke Ihnen bald den Stammbaum des verlassenen Kindes auf dem Oedhofe vorlegen und auch zu der Bekanntschaft des neuen Habermeisters verhelfen zu können, unter welchem das liebenswürdige Institut einen so schönen neuen Aufschwung nimmt … Vielleicht bin ich schon über acht Tagen bei der neuen Vorsteherwahl in der Lage, darüber recht anziehende Einzelheiten mittheilen zu können …“

Während der letzten Worte hatte er den Wagen bestiegen und sich bequem darin zurecht gesetzt; dann nickte er noch herablassend, griff leicht an die Mütze und winkte dem Kutscher, abzufahren. Bald war er die Kreuzung dahin geflogen und im Walde verschwunden, aber noch immer standen die Bauern unbeweglich da, sahen einander verblüfft an und vergaßen darüber sogar die Hüte wieder aufzusetzen, so frostig es ihnen um die Köpfe blies. Erst allmählich besannen sie sich und gingen bedächtig in die Zechstube zurück.

Eine Weile noch stand Sixt allein, wie betäubt von einem Donnerschlage, der auf sein Haupt niedergerollt, vergessend, was er im Sinne gehabt und was ihn hergeführt. „Er hat’s sich vorgenommen,“ murmelte er knirschend, „er will mich zu Grund’ richten, und ich seh’s kommen, daß er nicht ruht, bis er es erreicht hat! … Sieh da, Herr Lehrer,“ fuhr er, wie zu sich selber kommend, auf, als sich derselbe theilnehmend näherte, „Sie kommen mir gerade recht … Sie haben mir oft gesagt, daß Sie etwas auf mich halten …“

Der Lehrer ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Ich sollte meinen,“ sagte er, „das brauchte ich Ihnen nicht erst zu beweisen; aber ich bin bereit dazu, wenn der Rath eines alten Baumzüchters Ihnen von Nutzen sein kann. Was haben Sie nöthig – ein Mittel gegen Raupen, welche die schöne Blätterkrone abfressen und die Blätterkeime dazu, oder gegen den Wurm, der sich durch Rinde, Bast und Holz einbohrt bis in das Mark?“

„Beides, Beides!“ rief Sixt, „rathen Sie mir, wie ich das Mittel finde, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, der Baum und seine Frucht sollen Ihnen Freude machen; kommen Sie mit mir, wir gehen den Wald hindurch bis zur Mühle, dort wartet mein Fuhrwerk auf mich! So schnell, als manche Leute meinen, wollen wir uns jedenfalls nicht verloren geben …“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Admiral der künftigen deutschen Flotte.


Der erste October 1867 wird unvergeßlich sein in den Annalen der preußischen Marine, aber auch unvergeßlich in den Jahrbüchern der deutschen Geschichte. Der Tag, an welchem Preußen, als der erste deutsche Staat, seine eigene Flagge streicht mit den an Siegen und Ehren reichen Farben, um dafür die Flagge des norddeutschen Bundes auf Befehl und in Gegenwart ihres Oberbefehlshabers, des Prinzen Adalbert, feierlichst aufzuhissen – er ist der Geburtstag der deutschen Flotte geworden, einer Flotte, die sicher nicht wieder unter dem Hammer eines „Fischer“ verschwinden wird. Mit dieser neuen Flagge ist gewonnen, was der deutsche Handel so lange vergeblich erstrebt hat, Unabhängigkeit und Schutz. Denn nicht mehr wird er jetzt kümmerlich leben müssen von der demüthigenden Protection anderer Seemächte, im stolzen Bewußtsein endlich errungener kraftvoller Selbstständigkeit an sämmtlichen Plätzen des großen Weltverkehrs wird er vielmehr der Concurrenz aller Nationen getrost begegnen können.

Die Umwandlung der preußischen in eine norddeutsche, hoffentlich bald schlechtweg deutsche Flotte kann natürlich auf alle Verhältnisse derselben und speciell ihre Leitung nicht ohne ebenfalls umgestaltenden Einfluß bleiben. Bisher war das Marinewesen nur einem besondern Departement des Kriegsministeriums, nunmehr wird es der Verwaltung eines eigenen Ministeriums unterstellt werden und die Ernennung eines Bundesmarineministers dürfte schon in der nächsten Zeit bevorstehen. Bestimmt auftretende Gerüchte nennen bekanntlich den preußischen Contreadmiral Jachmann als den zu dieser neuen Würde Ersehenen. „Was für ein Mann ist dieser Jachmann?“ fragt nun das deutsche Volk und es freut mich, daß ich ihm darauf antworten kann: Jachmann ist ein Mann, den die Regierung hoch schätzt, da sie seine seemännische Tüchtigkeit geprüft und erkannt hat. Nach dieser Erkenntniß wird sie ihn verwenden und wir können dieser Verwendung mit vollkommenstem Vertrauen entgegensehen. Jachmann ist ein Mann „mit Genie und Ellenbogen“ wie das Sprüchwort sagt, ein Mann, dessen Fähigkeiten stets in solchen glücklichen Momenten zu Tage traten, wo die Zeit ihrer am dringendsten bedurfte. Und so avancirte er von Stufe zu Stufe bis zum Admiral, eventuell zum Minister. Aber er ist ein Mann, der sich entschieden dagegen sträubt „besungen“ zu werden, weil er nach seiner Behauptung noch nichts Erhebliches geleistet. Dies sein Sträuben wird ihm freilich nichts helfen, er gehört nun einmal der Oeffentlichkeit an, und die Presse bringt’s doch an den Tag. So will ich denn getrost berichten, was ich von ihm weiß und was er mir selbst gesagt hat.

Der Admiral wurde in einem Städtchen Westpreußens etwa in den Jahren 1818 oder 1819 geboren und von seinem Vater, einem höheren Gerichtsbeamten, für eine gelehrte Carrière bestimmt. Demgemäß besuchte Jachmann das Gymnasium und wurde von seinen Eltern eifrig zum Studium angehalten. Allein die trockene Wissenschaft sagte dem lebendigen Geiste des jungen Mannes wenig zu; er sehnte sich schon früh nach dem Kampf mit dem Leben auf den wilden Wogen des unbegrenzten freien Weltmeeres. Nur der Widerstand seiner Eltern fesselte ihn an die Schulbank, und wenn er aus Achtung und Gehorsam vor diesen sich fügte, so waren es nur die praktischen Wissenschaften der Mathematik und Naturlehre, welche ihm einigermaßen Ersatz für den Zwang boten. Indeß mit jeder weitern Classe, welche Jachmann absolvirte, wuchs seine Lust zum Seeleben und, die oberen Classen des Gymnasiums erreicht, vermochte er nicht mehr zu widerstehen. Seine Eltern erkannten die Vergeblichkeit ferneren Widerstrebens, und so ging Jachmann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zur See. Dem Vaterlande war ein Admiral gegeben.

Jachmann machte seine Laufbahn, wie man sagt, von der Pike auf, das heißt, er war gewöhnlicher Schiffsjunge und leistete alle diejenigen schweren Dienste, welche jedem andern Schiffsjungen aufgetragen werden. Und wer von diesen Diensten einen Begriff hat, der weiß, was das sagen will. Damals dachte noch kein Mensch daran, daß die Entstehung einer preußischen Flotte in den Grenzen der Möglichkeit liege; es gab also noch keine Cadetten, und auf den Schiffen war jeder Standesunterschied aufgehoben. Ob der eine Schiffsjunge Secundaner und Sohn eines Präsidenten, der andere der gänzlich unwissende Sohn eines Hausknechtes, das war dem Capitän und der Schiffsmannschaft vollkommen gleichgültig, sie waren eben Beide Schiffsjungen, nichts weiter, thaten als solche ihre schwere Arbeit und machten ihre Zeit in dieser Stellung durch. Mühsam avancirte Jachmann zum Leichtmatrosen und war stolz, als er nach Ablauf mehrerer Jahre voll harter Arbeit zur Würde eines Vollmatrosen emporstieg. Denn ein Vollmatrose ist ein ganzer Mann, der für den Capitän einen hohen Werth hat, der aber auch im vollen Bewußtsein seines Werthes nach Erfüllung seiner harten Pflicht die Achtung seiner Rechte begehrt. Als Vollmatrose fuhr Jachmann mehrere Jahre zur See und eignete sich in vollkommenster Weise die Praxis dieser Charge an. Indeß fühlte er den Drang zur Fortbildung in sich; zu Anfang der vierziger Jahre begab er sich auf die Danziger Navigationsschule, machte den Cursus zum Steuermannsexamen durch und bestand die Prüfung zur vollkommenen Zufriedenheit. Auch hier folgte der Theorie die Praxis und Jachmann fuhr wiederum mehrere Jahre zur See in der hochwichtigen Stellung als Steuermann, um sich hier diejenige Kaltblütigkeit anzueignen, welche den Seemann und vorzugsweise den Steuermann selbst bei plötzlich hereinbrechenden Gefahren keinen Augenblick verlassen darf.

Nach einigen Jahren begab sich Jachmann wiederum zur Navigationsschule, um sich zum Capitänsexamen vorzubereiten. Es war im Jahr 1849; die preußische Regierung war zu dem Entschluß gekommen, eine Kriegsflotille zum Schutz der Küsten zu begründen. In Verlegenheit um Seeofficiere stellte sie eine prüfende Wahl unter den jungen Seeleuten an, welche sich zur Vorbereitung [711] für das Capitänsexamen eben auf der Navigationsschule befanden. Sie fand darunter blos zwei, die nach ihrem wissenschaftlichen, socialen und sittlichen Standpunkte sich für die Stellung eines preußischen Officiers eigneten. Es waren Jachmann und Barrandon. Beide wurden zu Officieren zur See ernannt. Damit war Jachmann’s Carriere entschieden.

Freilich konnte der Uebergang von einem Seemanne zu einem Marineofficier kein ganz glatter sein. Die starre, unbeugsame Ueberzeugung eines Seemannes und seine Biderbheit treten oft in Formen zu Tage, welche für eine andere Welt unverständlich bleiben und eine irrthümliche Beurtheilung finden. Auch ist die wenngleich strenge Disciplin des Seemannes eine ganz andere, als die des Soldaten. Der Seemann leistet bei jedem Dienst unbedingten Gehorsam und büßt mit schweren Strafen jede Unpünktlichkeit, aber außerhalb des Dienstes steht er als unabhängiger Mann, der seinen Werth kennt, seinem Vorgesetzten gleich und ist in seiner Ansicht ebenso starr, wie dieser. Der Soldat ist unter allen Umständen und stets seinem Vorgesetzten Gehorsam und Achtung schuldig, er gehorcht immer unbedingt, er beurtheilt und lernt schweigend. Was Wunder, daß aus diesen Contrasten Unebenheiten entstehen mußten, welche eben nur die Zeit verschwinden machen konnte.

Noch ein Umstand kommt in Betracht. Die Kaltblütigkeit des Seemanns hat gegen die Gefahren des Landes, des Wassers und der Luft anzukämpfen. Allein bei dem Kriegsseemann tritt die dringende Gefahr eines neuen Elementes zu allen übrigen Fährlichkeiten hinzu, die Gefahr, die ihm in Gestalt feindlicher Feuerschlünde entgegendroht. Und die Kaltblütigkeit dieser Gefahr gegenüber läßt sich nicht erlernen, die Praxis muß sie bringen. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Seemann, der sich dieser Gefahr zum ersten Male gegenüber befindet, einer Gefahr, welche jeden Augenblick sein eigenes und das Leben seiner Mannschaft vernichten, sein Fahrzeug zum sinkenden oder gänzlich hülflosen Wrack machen kann, nicht den Grad von Ruhe und Geistesgegenwart bewahren vermag, als wäre er in der kriegerischen Seemannscarriere erzogen. Die Schwierigkeit wächst, wenn mit ihm die ganze Mannschaft auf diese Gefahr nicht vorbereitet ist, wenn die Fahrzeuge noch der leichten Manövrirfähigkeit entbehren, welche für solche Fälle ebenso wichtig ist wie die Kaltblütigkeit der Mannschaft.

So nur konnte es kommen, daß in dem damaligen Kriege eine dänische Fregatte im Angesicht von Swinemünde und trotz der Nähe einiger preußischer Kriegsfahrzeuge friedliche Kauffahrteischiffe entführen durfte. Das Begebniß ist zur Genüge bekannt.

Allein häufig hat ein Unfall die segensreichsten Folgen. Der Tag von Jena war die innere Ursache des Tages von Leipzig, des Tages von Waterloo; ja, ich gehe weiter und behaupte, daß wir dem Tage von Jena die Tage von Düppel, Alsen und Königgrätz verdanken. So auch hatte der Tag von Swinemünde – wenn auch nicht in so eminentem Maßstabe – seine glücklichen Folgen. Jachmann erkannte an diesem Tage Zweierlei. Zuvörderst, daß der preußischen Flotte noch gänzlich die leichte Beweglichkeit, die Fähigkeit des Manövrirens und die geeignete Bewaffnung für Angriff und Vertheidigung fehle; sodann, daß zwischen einem tüchtigen, bereits erprobten Seemann und einem fähigen Kriegsmarineofficier noch ein gewaltiger Unterschied bestehe.

Er hatte den hohen Muth, seine bisher so starre Ueberzeugung in Anschauung der Dinge und Personen zu modificiren. Sein ganzes Wesen erfuhr eine Wandlung und in tiefstem Ernste trat nunmehr die Aufgabe an ihn heran, seinem Vaterlande eine Flotte zu bilden. Unter oberster Leitung des Prinz-Admiral, unterstützt durch seine vielseitigen nautischen Erfahrungen und durch vergleichende Studien mit den Kriegsflotten anderer Nationen, förderte Jachmann diese Aufgabe mit aller Kraft seiner Energie und benutzte dazu jede Expedition während der Zeit des Friedens. Sein Streben war, die preußische Flotte ebenso kriegstüchtig und gewandt zu machen, wie es die preußische Landarmee ist. In solcher Thätigkeit erwartete er sehnsuchtsvoll den Tag der Revanche für Swinemünde. Und er kam, dieser Tag. Das Jahr 1864 brachte ihn, und der Däne, der wohl solche Fortschritte der verhöhnten preußischen Flotte nicht für möglich gehalten hatte, erkaufte sich die Belehrung ziemlich theuer. Der „Adler“ und die „Grille“ waren es, die sich vom Dänen nicht lange bitten ließen. Unter Jachmann’s Befehl spielten sie ihm ein unerwartet Lied und umtanzten ihn rechts und links, sodaß dem alten Knaben angst und bange wurde und er trotz seiner Uebermacht schleunigst von dannen dampfte. Das war der Tag von Rügen, welcher der jungen preußischen Flotte mehr als Revanche für Swinemünde gab und Jachmann das Patent als Contre-Admiral einbrachte. Damit wird seine Laufbahn indessen nicht beendet sein; er ist zu jung dazu, und die norddeutsche Bundesflotte hat eine zu reiche Zukunft.

Vor Kurzem hatte ich bei dem Marine-Minister die Nothwendigkeit beleuchtet, zwischen Volk und Marine eine lebhaftere Verbindung herzustellen, und hatte darin sowohl bei ihm als bei Jachmann Anerkennung gefunden. Um die Sache mit dem Letztern nochmals zu besprechen, freilich auch, um hinterlistiger Weise etwas Näheres über ihn zu erfahren, begab ich mich zu ihm.

Ich war eben im Begriff, in seinem Vorzimmer ein bis in das kleinste Detail genaues Modell der „Gazelle“ zu betrachten, als der Admiral mit schnellem, leichtem Schritt eintrat, meinen Namen nannte und mich mit höflicher Handbewegung in ein anderes Zimmer einlud. Tournure eines Seemannes, dachte ich, übertragen in den Stil der Salons. Dem entsprachen auch seine Statur und Toilette; mittelgroß, elastisch, kleine Neigung zum anständigen Embonpoint; eleganter, aber bequemer offen stehender Officier-Ueberrock und – Lackstiefeln.

Eine äußerst angenehme, ich möchte sagen vertrauliche Handbewegung lud mich ein Platz zu nehmen, er setzte sich mir dicht gegenüber und hatte es glücklich so eingerichtet, daß ich gegen das Licht saß, um mein Gesicht besser prüfen zu können. „Ich kenne,“ begann er, „Ihre Absicht und sowohl der Marineminister als auch ich billige dieselbe vollkommen, indeß sind wir über die Form noch nicht recht einig …“ – Ohne alles Vorspiel mit einem Sprunge mitten hinein in die Handlung, um die es sich eben dreht, – das ist praktisch. Nach meiner Idee hatte der Admiral nun mein Gesicht lange genug studirt, und ich wollte die Sache jetzt umkehren. Mitten im eifrigsten Gespräch rückte ich wie unwillkürlich einige Male mit dem Stuhle, er merkte meinen Verrath nicht – und richtig, jetzt hatte ich halbes Licht. Nun konnte ich auch sein Gesicht studiren. Etwas zurückweichende breite Stirn, gewährt viel Platz für Gedanken, deren wirkliche Gegenwart die lebhaften, intelligenten Augen verkünden. Ziemlich starke Nase. Regelmäßige Lippen, umspielt von derjenigen Faltenlage, welche auf sichere Berechnung und hohe Energie deutet. So auch das Ensemble. Klare, objective Prüfung der Dinge. Berechnung der Ursachen und Wirkungen, demgemäße Feststellung des Handelns, welches mit derselben ruhigen Sicherheit folgt, wie die Nacht dem Tage folgt. Dies ganze Gesicht sagt: „Ich kenne Deine Absicht, lieber Freund, und bin gänzlich darauf vorbereitet, komme also gefälligst offen damit hervor.“

Mit meiner Hinterlist war es also nichts, das merkte ich wohl, und als das erste Thema beendet, hielt ich es für das Beste, mit meiner Bitte um biographische Notizen herauszurücken. Ich schmücke meine Rede aus mit den verführerischsten Bemerkungen als ‚Unmöglichkeit, sich der Aufmerksamkeit des Publicums zu entziehen, weil zu bedeutungsvolle Stellung‘ – ‚Wunsch der Gartenlaube‘ – ‚Stimme der Welt‘ – ‚Recht der Nation, ihre bedeutenden Männer kennen zu lernen‘. Kurz, ich leistete das Menschenmögliche, ohne daß es mir gelungen wäre, dies Lächeln aus dem Gesicht zu verbannen, dies Lächeln, welches mir sagte: „Da habe ich Dich, mein Guter, ich wußte es längst, aber es wird nichts daraus.“ – Er ließ mich ruhig meine schöne, extemporirte Rede enden und erwiderte dann mit der verbindlichsten Miene: „Ich würde Ihnen schon deshalb Ihre Bitte versagen müssen, weil ich sie bereits Anderen ablehnte. Außerdem habe ich bisher nichts Großes geleistet; sollte ich später in die glückliche Lage kommen, Hervorragendes zu vollbringen, dann überlasse ich meinen Nachfolgern, meine Biographie zu schreiben. Ich selbst kann dazu nichts thun, es widerstrebt meiner Ueberzeugung. Endlich aber versichere ich Sie, weiß ich aus meinem Leben nichts irgend Erwähnenswerthes zu berichten. Daß ich geboren bin, sehen Sie; ich wurde dann erzogen, ging zur See und bin jetzt preußischer Contre-Admiral.“ – Damit endete er und schien äußerst vergnügt über diese wohlgelungene Lebensskizze. – „Schön abgefallen,“ dachte ich und nahm mir sogleich vor, die ganze Scene niederzuschreiben. Aber ich hatte mich geirrt, ich war nicht abgefallen; denn der Admiral ging nun wiederum zum ersten Thema über und setzte mir die Schwierigkeiten [712] auseinander, welche eine freilich als wünschenswerth erkannte nähere Verbindung zwischen Flotte und Volk herbeiführe. Sein Wesen war dabei von so gewinnender Einfachheit und Offenheit, daß ich seine Weigerung vollkommen darüber vergaß.

Damit wird der Leser freilich noch kein rechtes Bild von Jachmann bekommen; zum Glück kann ich indeß noch etwas leisten. Herrn Photograph Brandt in Flensburg begünstigte das Schicksal mehr als mich; er photographirte den Admiral und behielt die Platte für sich, er vermag ein deutlicheres Bild zu liefern als meine Feder; deshalb werde ich der Gartenlaube demnächst diese Photographie übersenden, natürlich hinter dem Rücken des Admirals, der davon kein Wörtchen weiß. Das wird aber die Redaction gewiß nicht abhalten, danach recht bald für das gesammte große Publicum ihres Blattes ein Bildniß herstellen zu lassen. –




Legrenne, der Pariser Zigeuner.
Von Ludwig Kalisch.


Nach der Behauptung des Seine-Präfecten Haußmann besteht die Einwohnerschaft von Paris nicht aus Parisern, sondern aus Nomaden. Diese Behauptung ist nun freilich übertrieben; indessen ist es doch eine unbestreitbare Thatsache, daß in keiner andern Stadt unsers Welttheils die Bevölkerung aus solch’ bunt zusammengewürfelten Elementen besteht, wie in der Hauptstadt Frankreichs. Hier sind alle Nationalitäten, fast alle Schattirungen der Menschenracen vertreten, und Paris hat eine solche unwiderstehliche Assimilationskraft, daß jeder Fremde hier nach einem längeren Aufenthalte sich in einen Pariser verwandelt. Nur eine Race lebt in Paris, auf deren Eigenart die Weltstadt kaum einen Einfluß ausübt, ich meine die Zigeuner. – Als wirkliche Nomaden haben sie eine unüberwindliche Scheu gegen jeden bleibenden Wohnsitz. Sie leben auch nur in Paris während der rauhen Jahreszeit und dann auch nicht in Häusern, sondern in ambulanten Wohnungen.

In einem weiten Hofraum oder vielmehr auf einem Bauplatz in der Avenue de Clichy steht ein alter, von Müll, Kehricht, Steinhaufen und allerlei unnennbarem Gerümpel umgebener Karren. Dieser Karren, der von außen einem kleinen, gebrechlichen Omnibus gleicht, ist die Wohnung einer Zigeunerfamilie. Der Chef derselben heißt Legrenne, ein Siebenziger, der während seines langen Nomadenlebens aller Herren Länder gesehen und so manchen Sturm erlebt hat. Ihm habe ich über das Wesen der Zigeuner manche Aufschlüsse zu verdanken, die ich meinen Lesern mittheilen will.

Während des Winters leben in Paris etwa fünfzig Zigeunerfamilien. Sie treiben verschiedene Handwerke, die keinen festen Wohnsitz erfordern. Sie sind Korbflechter, Kesselflicker, fahrende Musikanten. Einige besuchen die Werkstätten der Maler und Bildhauer, Andere gehen mit Affen und abgerichteten Hunden herum. Sie sind zwar katholisch, aber nur dem Namen nach. Sie besuchen keine Kirche und, die geschäftlichen Beziehungen abgerechnet, verkehren sie überhaupt wenig mit Nichtzigeunern, die sie „Gadshos“ oder „Weiße“ nennen. Unter sich selbst leben sie jedoch in einem innigen Zusammenhang. Sie besuchen sich nicht nur, sondern sie unterstützen sich auch gegenseitig, oder vielmehr sie theilen miteinander. Mit Franzosen sprechen sie französisch, wie sie denn überhaupt die Sprache jedes Landes sprechen, in welchem sie leben; untereinander aber sprechen sie nur die Zigeunersprache, die bekanntlich, wie die Race selbst, hindostanischen Ursprungs ist. Daß im Laufe der Zeit und bei der unstäten Lebensweise der Zigeuner ihre Sprache manche fremde Elemente aufgenommen, ist erklärlich. Die in Deutschland und Ungarn lebenden Zigeuner sprechen am besten, die in Spanien lebenden weniger gut; indessen verstehen sich doch die Zigeuner aller Länder sehr leicht untereinander.

Ihr Familienleben beruht zwar auf keiner gesetzmäßigen Ehe, doch ist die eheliche Untreue sehr selten, ja fast unerhört und wurde ehedem, als die Zigeuner ausschließlich in den Wäldern lebten und Waffen trugen, furchtbar gestraft. Das Weib, das sich eines Fehltritts schuldig gemacht, mußte vor der versammelten Bande den rechten Arm ausstrecken und der Beleidigte jagte ihr eine Kugel durch denselben. Der alte Legrenne hat einer solchen Strafe in seinen Jugendjahren beigewohnt und er versichert, daß der Eindruck, den sie in ihm hervorgebracht, im Laufe der Zeit nichts von der Lebhaftigkeit verloren.

Wenn ein Mädchen sich verging, so wurden ihm von dem Vater oder dem Bruder oder sonst einem Verwandten die Haare abgeschnitten, was als eine große Schmach angesehen wurde. Diese Strenge steht durchaus nicht im Widerspruch mit dem weder durch die Kirche, noch durch den Staat geregelten Eheverhältniß. Sie unterwerfen sich keinem Gesetze, allein sie waren und sind zum Theil noch jetzt die Sclaven ihrer Sitten und Gebräuche. Ein Zigeunermädchen schließt sich zwar sehr häufig ohne Wissen der Eltern einem jungen Manne an und sucht erst später die Einwilligung derselben zu erlangen, aber sie hängt dann an ihrem Gatten in unverbrüchlicher Treue.

Eheliche Verbindungen zwischen Zigeunern und „Weißen“ kommen niemals vor. Obgleich die jungen Zigeunerinnen oft von außerordentlicher Schönheit sind und in der Weltstadt ihr Glück machen könnten, treten sie doch niemals in eine engere Beziehung zu Männern, die nicht zu ihrem Stamme gehören. Ebensowenig tritt ein Zigeuner in Verbindung mit einem Weibe außerhalb seiner Race. Eine entschiedene Abneigung, die nicht blos durch Erinnerung an erlittene Verfolgungen hervorgerufen, sondern in dem Racenunterschiede zu wurzeln scheint, hat sie bisher von jeder Familienverbindung mit „Weißen“ abgehalten. Ist eine Zigeunerin des Umgangs mit einem Weißen verdächtig, so wird sie von ihrem Stamm als ein Gräuel betrachtet und man verbittert ihr das Leben auf jede mögliche Weise. Noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, als sich die Zigeuner schaarenweise bewaffnet in den Wäldern herumtrieben und die Wachsamkeit der Polizei zu vereiteln wußten, wurde ein solcher nur einigermaßen gegründeter Verdacht durch den Tod bestraft. Die Schuldige wurde unerwartet von dem rächenden Dolch ereilt.

Die Zigeuner sind große Schleckermäuler. Ein guter Bissen geht ihnen über Alles, und sie wenden ihren ganzen Scharfsinn an, um zu einem solchen zu gelangen. Ihr Lieblingsgericht ist der Igel, den sie jeder andern Speise vorziehen. Sie machen beständig Jagd auf dieses Thier, das in der nächsten Umgegend von Paris nicht selten ist und im Wald von Fontainebleau in großer Menge lebt. Sie besuchen daher sehr häufig diesen Wald und kehren niemals ohne Beute zurück. Ist diese besonders ergiebig, so wird brüderlich mit den andern Zigeunern getheilt. Die Igeljagd wird besonders im October lebhaft betrieben, wo das Fleisch des Thieres am schmackhaftesten sein soll.

Während des Winters sind sie sehr unglücklich, denn abgesehen davon, daß sie in ihren unter freiem Himmel stehenden Karren nicht sonderlich vor den bösen Launen der Witterung geschützt sind, wird es ihnen auch schwer, sich in Paris die Mittel für ihren Lebensunterhalt zu verschaffen, da sie nicht gern arbeiten. Dazu kommt noch, daß sie die Städte hassen und nur in der freien Natur sich behaglich fühlen. Sobald der Frühling naht, ist ihres Bleibens nicht mehr und sie verstreuen sich nach allen Richtungen des Landes. Dieser Trieb, mit dem Beginn des Lenzes in der freien Natur zu leben, regt sich in ihnen so gewaltig, daß sie ihm schlechterdings nicht widerstehen können. Eine Zigeunerin, die unter dem Nennen Madeleine in den Pariser Künstlerwerkstätten sehr bekannt ist und auf die ich noch zurückkommen werde, erzählte mir, daß sie einst an sich selbst die Gewalt dieses Triebes erlebte. „Ich saß an einem Märztage,“ sagte sie, „als Modell im Atelier des Malers H–t. Ich dachte nur an meine Stellung, mit welcher der Künstler ganz besonders zufrieden war. Nach einiger Zeit wurde die Luft im Atelier etwas drückend und der Künstler öffnete das Fenster. Sobald aber dasselbe geöffnet war und ich einen grünenden Baum sah, dessen Wipfel die Sonne vergoldete, war es mir trotz aller Bitten und Ermahnungen des verzweifelten Malers nicht möglich, länger im Atelier zu bleiben. Ich lief, als ob ich von einem unsichtbaren Geiste getrieben würde, hinaus in’s Freie, bis ich nach St. Ouen kam, wo ich lange auf dem Rasen herumsprang, mich dann unter einen Baum lagerte, [713] in den Himmel schaute und den Zug der Wolken betrachtete. Erst spät am Abend kehrte ich nach Paris zurück. Ich glaube, ich wäre gestorben, wenn ich das Atelier nicht verlassen hätte.“

Mit den ersten Frühlingsstrahlen verlassen sie, wie gesagt, die Stadt und strolchen in den Dörfern herum. Die Männer treiben dort besonders Taschenspielerei und Musik, während die Frauen durch Wahrsagerei sich schlecht und gerecht zu ernähren suchen. Die Wahrsagerei geht bei weitem nicht mehr so gut, wie ehedem. Die Bauern sind zwar nicht aufgeklärter, sie sind aber mißtrauischer geworden, und wenn sie auch noch an gar manchem Aberglauben festhalten, so sind sie doch nicht geneigt, ihm zu Gefallen ihren Geldbeutel in Anspruch zu nehmen. Es wird also den Zigeunern jetzt sehr schwer, ein fettes Opfer des Aberglaubens aufzutreiben. Indessen gelingt es ihnen doch zuweilen. So kam vor Kurzem eine Zigeunerin zu einer reichen Bauernwittwe und versicherte derselben, daß in ihrer Scheune ein großer Schatz verborgen sei, den man ohne Kosten heben könne. Die Bäuerin schüttelte zwar anfangs ungläubig den Kopf, die Beredsamkeit der Zigeunerin aber, die steif und fest behauptete, sie habe das Dasein dieses Schatzes am Jucken ihres linken Daumens verspürt, und die Versicherung, daß sie nur dann eine angemessene Belohnung verlange, wenn der Schatz gehoben sein würde, brachten doch endlich eine große Wirkung auf die Einbildungskraft der Wittwe hervor und sie fragte, welche Mittel zur Hebung des Schatzes angewendet werden müßten. Die Zigeunerin forderte vor Allem die größte Verschwiegenheit und ließ dann die Wittwe einen unangebrochenen Schinken, ein unangebrochenes Laib Brod, ein Pfund frischer Butter und ebensoviel Salz bringen. Als diese Victualien auf dem Tische lagen, nahm sie von jedem derselben ein wenig, wickelte jedes besonders unter sonderbaren Geberden und leisem Gemurmel in ein Stückchen weißes Papier und sagte sodann der Bauernfrau, diese müßte selbst die vier Papierpäckchen je in einer Ecke der Scheune verstecken, was aber die Victualien beträfe, von denen soeben die winzigen Theile genommen worden, so dürften sie weder von Menschen, noch von Thieren genossen, sondern müßten um Mitternacht an der Nordseite der Kirchhofmauer zwei Fuß tief eingegraben werden.

Die Bäuerin, die um Alles in der Welt dies Geschäft nicht um Mitternacht übernehmen wollte, übertrug der Zigeunerin die Ausführung desselben. Die Zigeunerin willigte nach einigem Sträuben ein, nahm Schinken, Brod, Butter und Salz in die Schürze und versprach nach zwei Tagen wieder zu kommen und den Schatz zu heben. Es versteht sich von selbst, daß sie mit den Ihrigen die schmackhafte Beute wohlgemuth verzehrte und sich bei der Bäuerin nicht mehr blicken ließ.

Früher haben die Zigeuner durch Beschwörungen und Verwünschungen sehr viel Geld auf dem flachen Lande verdient, und man muß zu ihrer Rechtfertigung sagen, daß sie selbst von dem Aberglauben befangen waren, den sie bei Andern ausbeuteten. Sie waren von der Wirksamkeit ihrer Zauberformeln fest überzeugt und bewahrten diese als ein kostbares, ihnen vor Urzeiten von gewaltigen Geistern anvertrautes Geheimniß. Als ich Legrenne fragte, warum er nicht als Beschwörer sein Brod zu verdienen suchte, sagte er schwermüthig: „Wir besitzen das Geheimniß nicht mehr. Die Alten, die es besaßen, haben es mit in’s Grab genommen. Sie haben nicht nur unfehlbare Sprüche gegen Gewitter und Hagelschlag, gegen Ueberschwemmungen und Feuersbrünste besessen, sondern sie wußten auch sich selbst und Andere durch Zauberformeln hieb- und stichfest zu machen. Als wir noch in den Wäldern schaarenweise hausten, konnten uns die Soldaten, die von Zeit zu Zeit gegen uns abgeschickt wurden, mit ihren Gewehren nichts anhaben, sobald sich einer der zauberkundigen Alten unter uns befand. Keine Kugel konnte uns dann treffen, kein Säbel uns verwunden. Damit ist es jetzt aus. Das Wahrsagen wird noch gegenwärtig von unsern Weibern etwas betrieben, aber es macht die Suppe nicht. Die ‚Weißen‘ glauben nicht mehr daran.“

Er sagte dies, indem er mehrere Male tief aufseufzte und mit der Hand durch’s struppige Haar fuhr, das noch niemals die wohlthätige Wirkung eines Kammes empfunden. Die Zigeuner waschen und säubern sich nie, und es giebt vielleicht keinen Menschenstamm, der mehr Scheu vor dem Wasser hätte als sie.

Was nun ihre Wahrsagerei betrifft, so beruht dieselbe auf einem genauen Studium der Physiognomie. Eine Zigeunerin, der irgend eine Tochter Eva’s die Hand reicht, um in den verschlungenen Linien derselben die Zukunft zu lesen, weiß so ziemlich, mit wem sie es zu thun hat, und sie formulirt ihre orakelhaften Gemeinplätze je nach dem Alter und dem Stande der Person. Das ist natürlich. Die Pythia hat es auf ihrem Dreifuß nicht anders gemacht. Merkwürdig aber ist es, daß sie selbst nicht selten an den Unsinn glauben, den sie aus den Handflächen der Leichtgläubigen lesen. Eine Zigeunerin versicherte mir, daß sie blos zwei Mal in ihrem Leben wahrgesagt. Sie habe bei ihrer chiromantischen Beschäftigung an gar nichts gedacht; als sie aber von den zwei Personen, aus deren Händen sie die Zukunft gelesen, später erfuhr, daß viele der von ihr prophezeiten Ereignisse wirklich eingetroffen, sei sie von einem großen Schrecken erfaßt worden und habe sich trotz aller ihr gemachten sehr lockenden Versprechungen nicht entschließen können, das Wahrsagegeschäft fortzusetzen.

Ein sonderbarer Aberglaube, der noch unter Vielen von ihnen herrscht, besteht darin, keinen Gegenstand, und sei er noch so kostbar, zu benutzen, auf den zufällig der Fuß eines Weibes getreten. Dieser Gegenstand wird sogleich und auf immer entfernt.

Sie feierten früher alljährlich um die Weihnachtszeit ein großes Fest, zu welchem sich alle Zigeuner der Umgegend einfanden. Es ging bei demselben hoch her. Man aß gut, man trank gut, man sang die beliebtesten Zigeunerlieder und tanzte die alten Nationaltänze zu einer rauschenden Musik. Diese Feste finden, in Paris wenigstens, nicht mehr statt und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Zahl der Zigeuner sehr abgenommen. Der alte Legrenne sagte mir, daß er in frühern Jahren vielen solchen festlichen Zusammenkünften beigewohnt, und sein Gesicht erheiterte sich, wenn er dieselben schilderte. „Das schönste und prächtigste Zigeunerfest,“ sagte er, „habe ich in Sevilla gesehen. Sie hatten dort ein ungeheuer großes, reich verziertes Zelt aufgeschlagen, wo sie sich zu Hunderten in kostbaren, sehr malerischen Costümen versammelten. Als nach dem vortrefflichen Schmaus der Tanz begann, kamen die vornehmsten Herren und Damen, welche die schönen jungen Zigeuner und die noch viel schönern jungen Zigeunerinnen nicht genug bewundern konnten und ihnen die erklecklichsten Geldgeschenke machten. Die spanischen Zigeuner sind reich,“ fügte er nach einer Pause mit einem tiefen Seufzer hinzu, „aber sie taugen nichts.“

Sehr merkwürdig ist es, daß die spanischen Zigeuner bei ihren in andern Ländern lebenden Brüdern stark verhaßt sind. Als vor einigen Jahren vier spanische Zigeuner sich in Paris aufhielten, hatten sie mit den andern Zigeunern so viele Händel, daß sie endlich die Hauptstadt verlassen mußten und wieder über die Pyrenäen zurückkehrten. Das ist um so auffallender, als die Zigeuner sonst sehr gutmüthig sind. Ich fragte Legrenne um die Ursache dieser Abgunst. „Sie sind ganz anders, als wir,“ antwortete er. „Es geht ihnen gut, darum sind sie stolz und hochmüthig. Sie sind Roßtäuscher und das Geld fliegt ihnen in die Tasche. Nachts stehlen sie die Pferde, färben sie mit allerlei Farben und verkaufen sie dann um einen billigen Preis. Sie leben in Ueberfluß und sind hartherzig gegen die Manusch (Zigeuner) anderer Länder.“

Mir fiel dabei Cervantes ein, der in seiner schönen Novelle „La Gitanilla de Madrid“ über die spanischen Zigeuner ein so wenig schmeichelhaftes Urtheil fällt.

Legrenne fuhr noch lange fort gegen die Gitanos zu reden. Er mißbilligte ganz besonders, daß die Zigeunerinnen in Spanien Cuchillos (spitze Messer) und Dolche trügen und vor Blut nicht zurückschreckten. Aus Allem aber, was er sagte, ging doch hervor, daß sie sich besonders durch ihren Geiz den Groll der übrigen Zigeuner zugezogen, die im strengsten Sinne des Wortes ihre Habe mit einander theilen und dies als eine ganz natürliche Sache betrachten. Bei dieser Gelegenheit muß ich wieder von Madeleine sprechen. Ich habe diese Zigeunerin, die in der Pariser Malerwelt sehr bekannt ist, in dem Atelier meines alten Freundes, des belgischen Meisters Gustav Wappers, kennen gelernt. Sie hat ein echtes Zigeunergesicht und soll früher sehr schön gewesen sein. Sie ist als Modell sehr beliebt und erfreut sich der besondern Gunst der Prinzessin Mathilde, die bekanntlich die Aquarellmalerei mit vielem Eifer und nicht ohne Talent betreibt. Madeleine lebt schon seit langer Zeit nicht mehr unter den Zigeunern und hat eben keine besondere Vorliebe für sie; aber sie hat sich doch ebensowenig den „Weißen“ innig anschließen, als von ihrem Stamme gänzlich lossagen können.

[714] „Sie sind schmutzig, neidisch, träge, albern,“ sagte sie eines Tages von den Zigeunern, „und ich verabscheue sie gerade so sehr, wie sie mich verabscheuen, da ich nicht mehr mit ihnen hause; sobald ich aber etwas besitze, trage ich es ihnen dennoch hin. Ich kann mich von ihnen nicht ganz losreißen; es zieht mich immer unwillkürlich zu ihnen hin, und ich nehme, so sehr ich mich auch sträuben mag, an ihrem Schicksal den lebhaftesten Antheil.“

Man weiß, daß die Zigeuner, als sie in Deutschland unter Kaiser Sigmund zum ersten Mal auftraten, an ihrer Spitze einen Großfürsten hatten, der, wenn ich nicht irre, Penuel hieß. Er war ihr Führer, ihr Beschützer und ihr höchster Richter. Bis auf die neueste Zeit hatten die verschiedenen Zigeunergruppen in jedem Lande ein solches Oberhaupt. Der letzte Chef, den sie im südlichen Deutschland, im Elsaß und in Lothringen hatten, hieß Pappenheimer. Er lebte auf einer Anhöhe bei Bitsch in Lothringen, erreichte das Alter von hundertundfünf Jahren und stand bei den Zigeunern in sehr hohem Ansehen. Er schlichtete alle Händel und man fügte sich gern seinen Urtheilssprüchen. „Der brauchte kein Geflügel zu mausen,“ sagte Legrenne schmunzelnd. „Wir trugen ihm die leckersten Bissen zu und er lebte wie ein König. Das hat sich jetzt geändert,“ fügte er melancholisch hinzu. „Wir haben, hier zu Lande wenigstens, keinen Führer mehr. Wir sterben aus! Wir sterben aus!“

Fast alle in Paris lebenden Zigeuner sind aus Deutschland eingewandert. Sie sprechen deutsch, und zwar den schwäbischen und Pfälzer Dialekt, haben auch meistens neben ihrem französischen auch einen deutschen Namen. Legrenne, der in Deutschland – er weiß natürlich nicht, in welchem Orte – geboren ist, hat ebenfalls noch einen deutschen Namen; dieser klingt indessen so unfläthig, daß ich ihn verschweigen muß. Ich vermuthe daher, daß sie, früher wenigstens, gar keine Familiennamen besaßen, sondern nach irgend einer besonderen körperlichen oder geistigen Eigenthümlichkeit benannt wurden, so daß sie statt eines Familiennamens einen Spitznamen trugen.

Der Zigeuner ist und bleibt Nomade. Das unstäte Leben ist ihm ein natürliches Bedürfniß. Ist doch sogar der alte Legrenne, der von allen Pariser Zigeunern am längsten hier lebt, jetzt entschlossen, der Hauptstadt für immer den Rücken zu kehren und sein Glück anderswo zu versuchen! Auf meine Bemerkung, daß das Umherwandern in seinen alten Tagen doch sehr unangenehm sein müßte, antwortete er: „Ich werde überall gut aufgenommen werden, denn man kennt mich überall. Mein Portrait befindet sich in vielen Bildergalerien Europas, so oft haben die Maler mein Gesicht abconterfeit. Das Modellstehen bei den Bildhauern hat zwar meiner Gesundheit geschadet; trotz meiner siebenzig Jahre fürchte ich indessen dennoch nicht, sobald von dem Tod ereilt zu werden. Meine Mutter hat ein Alter von hundertundvier Jahren erreicht, und ihre Schwester ist erst nach zurückgelegten hundertundzehnten Jahre gestorben.“

Die Langlebigkeit der Zigeuner ist in der That außerordentlich. Da man dieselbe weder der Reinlichkeit, noch der regelmäßigen Lebensweise zuschreiben kann, so muß man den Grund sowohl in der Race als auch in der Abhärtung suchen, an die sie von Kindheit gewöhnt sind. Auch die Nüchternheit mag dazu viel beitragen. Der Zigeuner ist ein Schlecker, aber kein Trinker. Die Mäßigkeit im Trinken gehört ebenfalls zu den charakteristischen Merkmalen seiner orientalischen Abstammung. Das Auffallendste an den Zigeunern ist indessen, daß sie seit fast fünf Jahrhunderten in der Mitte des civilisirtesten Welttheils leben, ohne von der Civilisation auch nur im Allergeringsten berührt worden zu sein, ohne auch nur die geringste Theilnahme an den Bestrebungen der Völker zu bekunden, unter denen sie leben. Ich glaube nicht, daß die Zigeuner jemals einen Gelehrten oder Künstler hervorgebracht. Von den Künsten treiben sie blos die Musik, weil ihnen der musikalische Sinn angeboren ist; allein sie lesen keine Noten. Sie lernen überhaupt nichts, was eine besondere geistige oder körperliche Anstrengung und einen dauernden Fleiß erfordert, obgleich es ihnen weder an Intelligenz, noch an Körperstärke gebricht.

An den in Paris und in der Umgegend lebenden Zigeunern bemerkt man seit einiger Zeit eine gewisse Lockerung ihrer früher so engen gegenseitigen Beziehungen. Sie halten nicht mehr so fest zusammen, und es giebt unter der jüngeren Zigeunerschaft schon Individuen, die der Zigeunersprache nicht mehr mächtig sind, indessen schließen sie sich darum doch nicht fester an die Franzosen an. Sie sind so unwissend wie ihre Vorfahren, und wie ihre Vorfahren sind sie überall unwillkommene Gäste. Sonderbares Schicksal einer Race, die, von der Natur auf’s Reichste ausgestattet, dennoch verdammt ist, selbst von den allerniedrigsten Schichten unserer Gesellschaft als Menschenkehricht verachtet zu werden.




Im Schatten der Albanerberge.


Wiederum sind einmal die Blicke der gesammten Welt auf Rom gerichtet, wiederum scheint sein Schooß Krieg und Frieden Europas zu bergen. Wie der Knoten, der sich dort geschürzt, sich entwirren wird, weiß Keiner. Nur Eins ist gewiß: mag die Bewegung, die jetzt von außen und innen an der päpstlichen Macht rüttelt, das Glück der Waffen für sich haben oder nicht, mag es ein Gewaltact des römischen Volks selbst oder das Werk diplomatischer Uebereinkunft sein, mag es entschieden werden durch die Feder oder das Schwert, das Papstkönigthum wird fallen und sein Ende wird weder das gewaltsame Zurückhalten des ungestümen Garibaldi, noch die französische Politik, am wenigsten, trotz ihrer momentanen Vortheile, jene Abenteurerlegion hemmen, welche der Erhaltung des morschen Priesterstaats ihr phantastisches Ritterthum geweiht hat. Daß es so kommen wird über kurz oder lang, liegt nicht in der politischen Constellation allein; das Papstthum ist oft in gefährlicherer Lage gewesen, und der Nachfolger Petri war ernster bedroht, aber niemals stand es der Welt so matt und ausgelebt gegenüber, wie heute. Es hat manchen Kampf gestritten auf Leben und Tod, es hat seine erbitterten Feinde gehabt in Kirche und Staat, unter Fürsten und Völkern, allein es hat ihnen gegenüber sich doch als Macht bewährt, ja intellectuell und moralisch als die überwiegende, aber jetzt hat es nichts als seine Proteste, die bald klagend, bald anklagend nur seine Schwäche bezeugen. Es versteht die Welt nicht mehr, weil es sie nicht mehr verstehen will, und in dem unversöhnbaren Widerspruch, in den es gegen den Gesammtbestand des gegenwärtigen Lebens sich gestellt, hat es sich selbst seine Lebensadern zerschnitten. Es steht in der Gegenwart als eine Rarität aus vergangenen Jahrhunderten, vertrocknet und kraftlos, nur gestützt durch unhaltbare Traditionen früherer Zeiten und durch eine reactionäre Fürstenpolitik, die in ihm eine moralische Gewähr ihres eigenen Bestehens sieht.

Niemand wird diesen Fall beklagen, die ausgenommen, die selber fallen, sammt ihren Freunden und Genossen; das römische Volk wird vielleicht nur an Rache denken für das, was die päpstliche Herrschaft ihm bis jetzt gekostet; dennoch fordert eine Gestalt unser tiefstes Mitleiden heraus, und das ist die Gestalt des greisen Papstes selbst, Pius des Neunten. An ihm, der besser und edler ist als die meisten seiner Vorgänger, wird, wie die Geschichte es öfter zeigt, das Gericht vollzogen für die Schuld manches Vorgängers und für die traurige Politik, deren Träger er leider geworden ist; aber bei allen seinen Fehlern und Schwächen, allen Mißständen, die unter seiner Herrschaft entstanden und fortbestanden, ist er mehr zu beklagen, als zu verurtheilen.

Pius der Neunte ist eine tragische Gestalt im vollen Sinne des Worts. Kaum ein Papst ist mit so freudigem Herzen von den Römern begrüßt worden, kaum einer hat ihnen ein so wohlwollendes Herz entgegengebracht. Das Regiment seines Vorgängers, Gregor’s des Sechszehnten, hatte schwer auf den Römern gelegen, die Staatsschuld allein war unter ihm auf das Doppelte gestiegen. Seine Protection hatte den Jesuiten wieder den ganzen Jugendunterricht in die Hände gelegt. Die revolutionären Bewegungen von Bologna und Rimini hatte er auf’s Grausamste, mit Gefängniß, Exil und Hinrichtungen, büßen lassen, sechstausend politische Gefangene schmachteten in den Kerkern. In dieses Elend trat nun Pius der Neunte wie ein rettender Befreier, äußerlich und innerlich des Vorgängers völliges Gegenbild.

[715] Da kam das Jahr 1848; wie für so manchen Fürsten war es auch für ihn verhängnißvoll. Auch in Rom brach die Revolution aus und in einer düstern Novembernacht führte der Wagen eines fremden Gesandten den Mann als Flüchtling nach Gaeta, der vor anderthalb Jahren wie ein Gott von dem Römervolke begrüßt worden war. Das war der Wendepunkt in des Papstes Leben, wir können sagen, der Wendepunkt des Papstthums selbst.

Die geträumte Vereinigung der kirchlichen Fürstengewalt mit der Freiheit war vorbei, und mißtrauisch betrachteten sich beide von nun an als Todfeinde. Der Papst wurde in Rom für abgesetzt erklärt, die Republik proclamirt, die siegestrunken des Papstes Proteste und Bannstrahlen verlachte. Aber die Sache wendete sich, die italienische Armee erlag bei Novara der gereiften Schlachtenerfahrung Radetzky’s, und als der flüchtige Papst ein wirksameres Mittel, als die papiernen Bannbullen, versuchte und die Intervention der katholischen Mächte anrief, da sandte bekanntlich die unter des jetzigen Kaisers Napoleon des Dritten Präsidentschaft stehende französische Republik ihre Soldaten, um die römische Republik zu vernichten. Noch einmal kam der Heldengeist der Scipionen und Gracchen über die Römer, die unter Garibaldi’s Führung wider die fremde Uebermacht sich wehrten. Ueber ein Vierteljahr bedurfte es, ehe die ewige Stadt erobert wurde, und nur die Erwägung, daß es doch nur für kurze Zeit die Einnahme aufschieben würde, bewog Garibaldi, zu capituliren, statt, wozu er und die Vertheidiger ursprünglich entschlossen waren, einen Theil der Stadt in die Luft zu sprengen.

Unter den Auspicien dieses traurigen Sieges kehrte Pius der Neunte, nachdem er ein Amnestiedecret unterzeichnet, sehr unähnlich dem bei seinem Regierungsantritt erlassenen, nach Rom zurück, von französischen Truppen geschützt, im Grunde ein französischer Gefangener. Kein Römer bewillkommnete ihn, aber eine andere Körperschaft fand ihn jetzt in der rechten Verfassung für ihre Zwecke, und in ihre geöffneten Arme sank er – die Gesellschaft der Jesuiten. Die Jesuiten brauchen gebrochene Willen und gebrochene Gewissen, diese charakterisiren in erster Reihe die geschicktesten Werkzeuge ihrer geheimen Machinationen. Ein gebrochener Mann war der Papst nach seiner Rückkehr, bankerott an jenen Idealen, die den wahren Kern seiner im Grunde edeln Gesinnung bildeten, zerfallen mit seinen reinsten und schönsten Bestrebungen, getäuscht in seinen lebendigsten Hoffnungen, er hatte seine segensreiche Vergangenheit selbst begraben. Das ist der tiefe, unvertilgbare Schmerz seiner Seele. Nicht sowohl die Kränkungen, die man ihm zugefügt, sondern was er dadurch geworden, machte ihn zu einer tragischen Gestalt und zum unglücklichen Werkzeug der unheilvollsten Bestrebungen.

Seit seiner Rückkehr ist in seiner ganzen Denk- und Handlungsweise der jesuitische Einfluß unverkennbar. Jener Grundgedanke des Ordens, dem päpstlichen Stuhl wieder zu seiner mittelalterlichen Allgewalt zu verhelfen, wurde der seinige. Es schien, als wollte er die Erniedrigung wieder tilgen, die seine Würde erfahren, er holte den ganzen Apparat wieder hervor, mit dem die großen Hierarchen des Mittelalters ihre überirdische Macht vor der Welt festgestellt und documentirt. Freilich, Eines fehlte: der Papst hatte sich um Jahrhunderte verrechnet, die Welt war anders geworden, und jene Acte, durch die er sie wieder unter sein Joch zwingen wollte, gingen entweder spurlos vorüber oder erregten, wenn nicht Widerspruch, so nur Lächeln und Kopfschütteln; höchstens ernteten sie den beifälligen Zuruf bigotter Romantiker und jener urtheilslosen Vergangenheitsschwärmer, die das Alte nur verehren, weil es eben alt ist. Nur die Jesuiten wußten daraus Capital zu machen, um die katholische Kirche in ihren wichtigsten Positionen, Schule, Presse, Ehe und, nicht zu vergessen, das Geld der Gläubigen auf allen Wegen in ihre Gewalt zu bringen. Ihr Einfluß war es, der den Papst zu jenen Seligsprechungen veranlaßte, die eine Anzahl von Gliedern ihres Ordens den Heiligen zugesellte. Sie vermochten ihn, das verunglückte Dogma von der unbefleckten Empfängniß der Maria auszusprechen, das nicht durch die Beistimmung der Kirche, sondern dadurch, daß es trotz des Widerspruchs der besonneneren Katholiken vom Papste festgestellt wurde, charakteristisch den Papst auf’s Neue als den Unfehlbaren kennzeichnen sollte. Ihre Hand leitete den Abschluß jener Concordate mit verschiedenen deutschen Staaten, die an Oesterreich ihre verderbliche Wirkung zeigten; ihre Grundsätze bewirkten Gewaltthaten der Art, wie den Raub des Judenknaben Mortara, und ihre Anschauungen tönen in jener berüchtigten Encyklika der jüngsten Vergangenheit wieder, welche die ganze moderne Weltentwickelung mit einem stumpfsinnigen Fluche belegte.

Mit der kirchlichen ging die weltliche Politik Hand in Hand. Cavour’s patriotische Staatskunst und Garibaldi’s wagende Kühnheit machten Italien aus einem traurigen Conglomerat von geknechteten Fürstenthümern mit Einem Schlage zu einem Reich, und eine Kette blitzschneller Eroberungen kostete auch dem Papste ein Stück seines Gebietes. Rom wiederzuerobern und als Herz in den neugeschaffenen Staatskörper zu setzen, wurde das nationale Programm, durch die Septemberconvention von 1864 von Frankreich theilweise anerkannt, Rom oder der Tod ward die Losung, die, in Aspromonte von der italienischen Regierung gezwungen zum Schweigen gebracht, machtvoll in unsern Tagen wiederklingt. Das preußisch-italienische Bündniß hat Venetien schon der italienischen Nation zurückgegeben, Alles weissagt dem nationalen Gedanken die Zukunft, und was hat der Papst gethan? Von Antonelli’s tyrannischer Energie beherrscht, von Mérode’s jesuitischer Ränkesucht geleitet, hat er sich nur auf ein eigensinniges non possumus den versöhnlichsten und entgegenkommendsten Vorschlägen gegenüber, sich den neuen Verhältnissen zu fügen, gesteift, und nur mit Verdammungen und Klagen um sich geworfen. Den entthronten Franz von Neapel hat er in seinem ruchlosen Treiben gewähren lassen, durch Räuber- und Mörderbanden das neapolitanische Gebiet zu verheeren und Hunderte von harmlosen Landleuten der Grausamkeit und Habgier der verworfensten Strolche zu opfern; den Gräuelthaten der polnischen Hängegensd’armen hat er die Märtyrerkrone aufgesetzt, und währenddem seufzen seine armen Unterthanen unter dem Erpressungs- und Aussaugesystem habgieriger Beamten; das ärgerlichste Leben üppiger Würdenträger der Kirche wird geduldet, Unsummen für Decorationen und Illuminationen an hohen Festtagen werden ausgegeben, die alle öffentlichen Cassen trotz der zufließenden Peterspfennige erschöpfen und die Schulden immer unbezahlbarer machen; das herrlichste Land liegt öde, unbebaut, eine Wiege giftiger Fieber, das reichstbegabte Volk hat für seine Kinder wohl Anstalten, um Spitzen für die Priester klöppeln zu lernen, aber keine Schulen, um es zu ordentlichem Lesen und Schreiben zu bringen.

So steht es um Rom – das ist das Ende der Hoffnungen, die es dereinst auf seinen Papst setzte, und darum wahrscheinlich das Ende des Papstthums selbst, und doch steht, wie gesagt, an der Spitze dieses verfaulten Staates kein rücksichtsloser Tyrann, kein hinterlistiger Intriguant, sondern ein Mann von Wohlwollen, Güte und Liebenswürdigkeit, nach wie vor, und eigenthümlich ist es, so sehr das Papstthum als solches gehaßt wird, so tödtliche Feinde der höhere Klerus hat, der Papst selbst, rein als Mensch, hat immer seine Freunde noch auch im Volke, und das begreift man selbst als rechtschaffener Protestant. Selten wird ihn Jemand sehen und sprechen hören, ohne von dem Zauber seiner Erscheinung ergriffen zu werden.

Ich habe den Papst öfter gesehen, immer hat er diese mächtige Anziehungskraft auf mich geübt, und Vielen ist es so ergangen. So erinnere ich mich einer großen Audienz, die er am Ostersonnabend den zum Osterfest nach Rom gekommenen Priestern und Fremden gab und zu der gegen Anmeldung und ein anständiges Trinkgeld an den die Erlaubniß überbringenden Boten Jeder Zutritt erhielt, welcher die Mühe nicht scheute, sich in Gesellschaftsanzug zu werfen. Eine ganze Galerie des Vatican war mit Menschen angefüllt, meist Priester, unvermeidliche Engländer mit ihren noch unvermeidlicheren Ladies, dann auch Römer mit Frauen und Kindern, meist in Trauer. Die päpstlichen Palofronieri theilten die Anwesenden in zwei Reihen, durch die der Papst ganz weißgekleidet ging. Er sprach zu Jedem einige Worte, die der Anwesende knieend anhörte und die sich meist auf Gegenstände wie Rosenkränze und Heiligenbilder bezogen, für welche der Segen des Papstes erbeten wurde; zum Schluß bestieg er eine Estrade und hielt eine Ansprache auf Französisch. Nach einigen allgemeinen Betrachtungen kam er auch auf das Unglück zu sprechen, von dem das Land schon so lange heimgesucht, das den Müttern ihre Söhne, den Kindern ihre Väter, den Frauen ihre Männer gekostet hätte und das er freilich anderswo suchte, als worin es wirklich zu suchen war. Der Inhalt war nicht bedeutend, die Form die der pathetischen Phrase, aber unvergeßlich ist mir die Art, wie er sprach. Es lag eine Kraft und Milde, eine Fülle und Weichheit in den auf- und absteigenden Modulationen seiner Rede, die bis in’s [716] Innerste drang, und dazu das mächtige braune Auge in dem freundlich wehmüthigen Gesicht, welches so beredt mitsprach und in aufsteigender Rührung sich umflorte – es war jeder Zoll ein König und zugleich ein Priester. Will man das Papstthum ideal personificiren, man findet kein besseres Bild. Die Wirkung seiner Rede war denn auch die hinreißendste und packendste, die ich gesehen. Lautlos folgten die auf den Knieen gelagerten eleganten Officiere und bescheiden gedrückte Priestergestalten, seidenrauschende Fürstinnen und arme Frauen vom Lande, weißhaarige Greise und kleine Kinder seiner Rede; als die kirchliche Noth und das vaterländische Unglück erwähnt wurde, zog sich ein leises Schluchzen durch die Versammlung, Priester weinten wie im Krampf und auf ihren abgehärmten Gesichtern lag ein so verzückter Fanatismus, eine so leidenschaftliche Inbrunst. Sie sahen vielleicht den Papst zum ersten Male, ihren Oberherrn, ihren irdischen Gott, und warm und heftig mußte das Gefühl sein, das sie voll Verehrung zu seinen Füßen niederzog. Die armen Gesellen mochten auch an den Folgen der Politik zu tragen haben, zu deren Trabanten sie gemacht wurden, ohne gefragt zu werden, ob sie wollten oder nicht.

Aber noch ergreifender war der Anblick jener schwarzgekleideten römischen Familien, die bei den Worten des Papstes in Thränen ausbrachen; vielleicht daß im Aufstande ein theuerer Verwandter erschlagen, vielleicht daß er im Kerker schmachtete, in der Verbannung sich nach ihnen sehnte, tiefe Wunden schien die Rede zu berühren, und der gewaltsame Schmerz zeigte mehr als Worte, was jene Kämpfe dem Volke schon gekostet. Als der Papst mit gehobener Stimme den Segen ertheilt und sich entfernte, löste sich der Kreis der Knieenden in wilder Hast auf und folgte ihm; man wollte noch einen Segen für sich selbst. Eltern brachten ihm ihre Kinder, wer eine segnende Berührung erlangt, wem es nur gelungen war, ein Stück des päpstlichen Gewandes zu fassen, der segnete damit, als wenn in seine Hand ein heilsames Fluidum übergegangen, seine ganze Familie durch. Es war ein Moment, in dem die verblaßte Herrlichkeit des Papstthums wieder aufzuleben schien, in ihrer seelenbeherrschenden Gewalt. Was nur der geschichtlichen Erinnerung angehörte, gewann auf Minuten wieder Fleisch und Blut. Der päpstliche Greis war das Götterbild, vor dem die abergläubische Andacht in den Staub stürzte, wie der Buddhist vor seinem Dalai Lama.

Merkwürdig war es, daß auch für den unbetheiligten protestantischen Fremden dieser Rausch der Andacht etwas Packendes hatte. Lag es theilweise in der Gewalt der Vergangenheit, die sich an die Gestalt des Papstes knüpft, in der sympathischen Wirkung jeder großen und leidenschaftlichen Empfindung, welche sich von Einem dem Andern mittheilt, zuletzt war es doch der Reiz der imposanten Persönlichkeit, der mich auch nie mächtiger und unmittelbarer gefaßt hat, als Pius dem Neunten gegenüber. Und diese Würde des persönlichen Erscheinens schwindet auch nicht in jenen glänzenden Kirchenceremonieen, in denen er wie ein wächsernes Heiligenbild, in juwelengeschmückte Gewänder gehüllt, umhergetragen, auf seinen Thron gesetzt, aus- und angezogen wird. Wird es auch mehr Schauspiel, um die Sinne zu überwältigen und in staunende Andacht aufzulösen, nach dem päpstlichen Kirchenbegriff das Einzige, was dem Laien in der Kirche zukommt, wird auch nur der mit der mystischen Symbolik der katholischen Liturgie Vertraute etwas von gottesdienstlichem Zusammenhang in diesen heiligen Handlungen entdecken können – auf dem Gesicht des Papstes ruht das Auge immer gern und theilnehmend. Mag er auch den Segen ertheilen, die eine Hand zum Segen erhoben, in der andern die Tabaksdose, oder gar jenem heiligen Betrug sich fügen, bei der großen Procession um den Petersplatz am Peters- und Paulstag, die anderthalb Stunden währt, auf einem Schemelchen sitzend, sich umhertragen zu lassen, während künstliche Füße, die unter den weiten Gewändern hinten sichtbar sind, ihn als Knieenden erscheinen lassen sollen: man verzeiht dieses praktische Auskunftsmittel dem alten Manne, der eben in diesem Punkte Sclave ist und dem beschwerlichen Hokuspokus sich fügen muß. Sein Antlitz spiegelt bei alledem doch die fromme ernste Regung wieder, die in seiner Seele vorgeht.

Und wenn er auf dem Höhepunkte seiner priesterlichen Würde steht und am Osterfest von dem Hauptbalcon der Peterskirche den großen Segen ertheilt, der ungeheure Platz vor ihm mit Soldaten und Volk vollgedrängt, wenn die Kanonenschüsse von der Engelsburg schweigen, das weitdröhnende Glockengeläute verstummt, ja selbst die Fontainen plötzlich versiechen und über die knieende lautlose Menge voll und ehern seine Stimme bis zum äußersten Winkel vernehmlich dringt, das segnende Wort der Stadt und der Welt verkündend: dann fragen wir nicht, ob er das Recht hat, hier als Gottes Stellvertreter zu fungiren, dann lassen auch wir von diesem königlichen Greise uns mitsegnen und finden wenigstens, daß kein Mund und keine Stimme geeigneter ist, diese Verkündigung zu bringen, als die seine.

Des Papstes Umgebung weiß, welcher Zauber in seinem Auftreten liegt, und versteht denselben klug zu benutzen. Jene Rundreisen in der Umgebung Roms, sie werden auch aus politischer Rücksicht unternommen und sollen die Herzen immer auf’s Neue an ihren Herrscher ketten und bei ihm erhalten, und wie der Italiener empfänglich ist für Alles, was ihm schön und sinnlich anmuthend entgegentritt, so gelingen diese Unternehmungen auch, und in den kleinen Ortschaften hat Pius der Neunte wahrere und aufrichtigere Freunde, als in Rom und unter seiner herrschsüchtigen Umgebung. Aber er selbst geht nicht nur auf’s Land, um sich zu zeigen und für sein Regiment Propaganda zu machen, er geht dorthin, um eben dem gesündesten Gefühle der Menschenbrust zu gehorchen, sich in der Natur zu erholen und zu erfreuen, es ist vielleicht die einzige gesunde Regung und die einzige reine Freude, die ihm geblieben und gelassen, und eben weil es ihm hier gestattet ist, frei von dem drückenden Kirchenceremoniell, Mensch unter Menschen zu sein, bricht seine gute Menschennatur hier ungehindert hervor und findet wie überall ihre Schätzung und Verehrung.

In Castel Gandolfo im Albanergebirge ist sein Sommeraufenthalt. Es giebt vielleicht keinen schöneren. Die Gegend ist mild und mehr freundlich als groß, die Berge sind in sanften Linien gezogen, kleine Ortschaften hängen keck und malerisch in der Höhe, und in der Tiefe blicken die wunderbaren Kraterseen von Albano und Nemi uns still und heimlich an. Wundervolle Alleen von knotig verästelten, Jahrhunderte alten Bäumen verbinden die Städte Albano und Castel Gandolfo, und über Ariccia, Genzano, Nemi geht es hinauf zum Monte Cavo, auf dem der schöne Jupitertempel, aus weißem und gelbem Marmor erbaut, weithin ragte, bis im Jahre 1783 der Cardinal von York, der letzte der Stuarts, eine seiner Ahnen würdige That beging und in barbarischem Fanatismus ihn niederriß, um an seine Stelle und aus seinen Steinen die geschmacklose Dreieinigkeitskirche mit Kloster zu bauen. Ueberall öffnet sich der Blick auf die weite ernste Campagna, ihr öder verbrannter Boden flirrt im Sonnenlichte in tausend Farben, die Trümmer der alten Wasserleitung ziehen sich mit ihren Bogen durch dies schweigsame Ruinenfeld nach Rom, dessen Hunderte von Kuppeln und Palästen in feierlicher Ruhe emporragen, gewaltig beherrscht von den Denkmalen der zwei Machtperioden der Stadt, dem Colosseum und der Peterskirche. Am äußersten Westende blitzt das Meer in silbernen Streifen auf.

Hier begegnet man unter der Masse von Fremden, die ihre Villeggiatura am liebsten in dieser Gegend nehmen, an schönen Abenden Pius dem Neunten lustwandelnd, nur von Einigen seiner nächsten Umgebung begleitet, während zwei Nobelgardisten ihm voranschreiten, um, wo es nöthig, die gehörig ehrfurchtsvolle Stellung der Vorübergehenden anzuordnen. Sie thun es höflich und liebenswürdig; sieht man es doch diesen adeligen jugendlichen Gestalten, in ihrer geschmackvollen Uniform und mit dem schöngeformten Römerhelm auf dem Haupte, gleich an, daß sie nicht gewöhnliche Gensd’armen sind, sondern zu den edelsten Familien Roms gehören, welche diese Leibwache des Papstes als Ehrendienst übernommen. Ihre Aufforderungen sind kaum nöthig, das Volk kniet von selbst schon nieder in althergebrachter Gewohnheit und wird von andachtbeflissenen Fremden fast noch übertroffen. Mit wohlwollendem, väterlichem Lächeln geht der Greis vorüber, den blutrothen Hut auf’s weiße Haar gedrückt. Ob dieser rothe Hut, unter dem schon so mancher blutige Gedanke in finstern, fanatischen Häuptern aufgährte, auf diesem Papsteshaupte die Weissagung ist eines blutigen Geschicks, das über Pius schwebt? Gott möge es verhüten, er hätte es wahrlich nicht verdient; sich selbst und alle seine Werke zu überleben ist hart genug. Der vielleicht letzte Papst mag, wie die Dinge auch gehen, ruhig sterben und keine Gewaltthat möge dem müden alten Manne das vielleicht ihm selbst erwünschte Märtyrerthum bereiten. Wenn die Zeit gekommen sein wird, da es keine Päpste im alten Sinne mehr giebt, und

[717]

Abendspaziergang Pius des Neunten.
Nach der Natur gezeichnet von A. Diethe.

[718] von dem Capitole aus dann ein kräftiger, die Zeit und ihre Forderungen begreifender Herrscher das beruhigte Italien regiert, da wird die Welt Pius den Neunten würdigen und, mag die Folgezeit ihn heilig sprechen oder nicht, doch auf seinem Grabe den Kranz der Anerkennung niederlegen, der seiner verkehrten Regierung versagt bleiben mußte, welchen aber der Mensch im vollen Maße verdient.

Mitte October 1867.
E. B.




Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
Nr. 10. Der Kurmärker und die Picarde.


Wir lagen bei Preßburg, in dem Gräflich Palffy’schen Flecken Malaczka. Es war am 25. Juli, als sich plötzlich im ganzen Orte die wunderbare Mähr verbreitete, daß selbigen Abend von einer hier durchreisenden Theatergesellschaft „der Kurmärker und die Picarde“ gegeben werden sollte.

Als ich am Morgen in dienstlichen Angelegenheiten mein Quartier verließ und in die Hauptstraße Malaczkas einbog, erblickte ich denn auch wirklich an der Ecke ein Placat, welches von Soldaten und Einwohnern dicht umstanden wurde. Ich trat näher heran und, ja in der That, da auf dem kleinen beschriebenen Zettel an der Wand stand es deutlich, wenn auch etwas unorthographisch zu lesen, daß heute Abend präcis sechs Uhr auf dem Hofe des Pifko, mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung, zum ersten Male:

Die Unglücklichen.
Lustspiel in einem Acte von Kotzebue.

und zum Schluß auf vielseitiges Verlangen:

Der Kurmärker und die Picarde.
Genrebild mit Gesang und Tanz in einem Acte von L. Schneider.
aufgeführt werden sollten, wozu einen hohen Adel und ein sehr verehrtes Publicum hochachtungsvoll ergebenst die Ehre hatte einzuladen
Bläule, Director.

Ich glaube, wenn man es mir Schwarz auf Weiß gezeigt hätte, daß die Lucca heute Abend hier singen würde, es hätte mich nicht angenehmer überraschen können, als daß ich hier in Malaczka „O Tannebaum, o Tannebaum“ singen hören sollte, und schneller war ich wohl nie in meinem Leben entschlossen, in’s Theater zu gehen, als heute. Ein Blick nach dem Himmel, ob der uns keinen Strich durch die Rechnung zu machen drohte – aber nein, der helle Morgen versprach einen heißen, beständigen Tag.

Nach einigem Suchen und Fragen fanden wir das Gut des Pifko. Wir gingen durch die Thür und traten auf einen großen länglichen Hof, der ziemlich wüst aussah und schlecht genug zu einer Vorhalle des Allerheiligsten paßte. Links lag ein langes einstöckiges Gebäude, sehr baufällig und ziemlich entblößt von Kalk und Farbe, mit morschen Thüren und blinden Fensterscheiben, geradezu befanden sich einige Kuh- und Schweineställe, welche die Umgegend mit einem kräftigen Aroma überströmten, zur Rechten endlich zwischen zwei mächtige Birnbäume eingeklemmt, die derselben zugleich als Eckpfeiler dienten, war die Bühne, der Tempel der Kunst. Ein stark geflicktes ehemaliges Segeltuch oder Saatlaken mit den verwegensten Arabesken und einer wahrhaft großartigen Verschwendung von Roth und Gelb diente als Vorhang, und als ich neugierig diesen etwas lüftete, um ein bischen hinter die Coulissen zu schauen, gab ich einer ganzen Flucht Hühner die Freiheit wieder, die wahrscheinlich ein tückischer Zufall hier eingesperrt hatte. Vor Ueberraschung ließ ich schnell den Vorhang wieder fallen und stolperte über den ersten Rang, der aus vier bis fünf kunstlosen hölzernen Bänken bestand. Lachend wandten wir unsere Schritte nun zur zweiten Thüre links. Eine starre Hand und die bedeutungsvollen Worte waren hier aufgepinselt:

[WS 1]„Hier!!! Bläule, Director.“

die jeden Zweifel ausschlossen.

Neben der alten rissigen Thür mit einem wackligen Schlosse daran war ein elendes kleines Fenster, welches, anstatt durch eine Gardine, vermittels eines Frauenkleides verhangen war, doch nur so nothdürftig, daß man von Außen einen kleinen Goldrahmenspiegel und einige Schachteln und Fläschchen auf der Fensterbank erblickte, hinter denen sich ein paar Arme tactmäßig bewegten, wie wenn Jemand im Begriffe ist, sich die Haare zu machen. Wir klopften an.

„Was jiebt’s? Wer ist da?“ rief inwendig eine weibliche Stimme in echt Berliner Dialekt.

„Ist der Director zu Hause?“ frugen wir.

Der weibliche Unterrock bewegte sich ein wenig: „Jleich!“

„Wir möchten gern zu heute Abend Billets haben!“

„Nur einen Oogenblick Geduld, Ihr Herren, ich werde Ihnen gleich h’rinn lassen,“ antwortete jetzt dieselben Stimme, wie es schien, dicht an der Thür.

Gleich darauf knarrte diese und eine sehr magere und stark geschminkte Dame kam zum Vorschein, welche ihr etwas tiefes Negligé durch einen schnell übergeworfenen Shawl verdeckt hatte. Sie verneigte sich und stellte sich dann auf der Thürschwelle majestätisch in die dritte Position.

„Ick bitte, meine Herren, einen Oogenblick Geduld, mein Jatte wird gleich erscheinen, ich freue mich sehr, Sie so zahlreich zu sehen, Ihr Anblick ist mir jute Vorbedeutung!“

Mit tiefer, leiser Stimme hatte sie diese Worte gesprochen, dann aber plötzlich zog die Dame ein neues Register ihres, wie es schien, sehr umfangreichen Organes auf. „Fritze! Fritze!“ rief sie zwei Mal hinter einander mit einem so gellenden Falset und einem so durchdringenden FFF, daß wir alle unwillkürlich nach unsern beleidigten Hörorganen griffen.

„Was is denn schon wieder los?“ antwortete ein dünnes, fadenscheiniges Stimmchen aus der Gegend des Kuhstalles ärgerlich herüber, „kann mer denn och nich emal eenen Oogenblick ungestört sein!“ und dabei kam ein kleines Kerlchen, mit einer ungeheuren Weiberschürze vor, einen Farbentopf in der einen, einen Pinsel in der andern Hand, um die Ecke.

„Sie sind also der Director Bläule?“ fragte ich lächelnd.

„Aufzuwarten, der bin ich, nehmen S’ es nur nicht ungütig – – ich bin gerade bei der Mauer und dem Gebüsche für heit Abend – –“

„Sie geben den Kurmärker und die Picarde?“

„Ja – ich bin so frei. Seh’n Se, liebes Herrchen, ich dachte mer nämlich so, weil jetzt de Breißen hierher gekommen sind, wenn mer da emal en Bischen was Nationales, was Batriotisches gäben, das würde sich am Ende nicht übel ausnehmen, un die Herrn Breißen machten mir ein volles Haus.“

„Hm, das läßt sich hören.“

„Ja, seh’n Se, un wegen der Costüme, das ließe sich auch ganz leichte machen, das heißt, wenn Sie nämlich die Gewogenheit hätten un lieh’n mer blos eene Mütze un eenen Dornister un dann noch eene Uniform un een Säbel und een Gewehr, das Andere könnte ich mir denn schon selber besorgen – ja!“

„Wie,“ entgegnete ich lachend, „Sie wollen doch nicht etwa den Landwehrmann von Anno 13 mit einem Zündnadelgewehr geben?“

„Ei Du Donnerlittchen, mein gutes Herrchen, da haben Sie aber Recht!“ rief ganz erschrocken der Director, „na, da sitze ich nu emal in ’ner schönen Patsche! Seh’n Se die Mauer, die habe ich alleweile schon zum Trocknen auf de Leine gehängt und mit dem Bischen Gebüsche wäre ich och gleich fertig, aber so ’ne sackermentsche Flinte – da weeß ich werklich nich –“

„Na, lassen Sie das man gut sein, Männeken,“ tröstete ich lachend, „verschaffen Sie uns nur eine recht nette Picarde zu heute Abend, dann verhelfe ich Ihnen auch zu einem ordentlichen Kuhfuße. Aber apropos, wer macht denn den Landwehrmann Schulze?“

„Ja, liebes Herrechen, den werde ich selber die Ehre haben,“ sprach sich räuspernd der kleine Mann und warf sich in die Brust.

„Sie?“ platzte ich unwillkürlich heraus, „in der That, nicht übel; dann schnell die Billets, Herr Bläule, das wird ja ein ganz besonderer Kunstgenuß werden. Erster Rang oder Sperrsitz, ist mir ganz egal.“ –

Als wir am Abend gegen halb sechs Uhr in den Hof des Herrn Pifko traten, konnten wird uns kaum hindurchdrängen zu [719] unseren numerirten Plätzen durch die Masse der Schaulustigen. Der ganze Hof war bereits vollgepfropft und an der Casse saß Madame Bläule in großer Toilette, strahlend von Glückseligkeit, denn in der That, der Kurmärker zog viel mehr, als der kleine Director geahnt haben mochte. Er hatte damit hinein in’s preußische Herz getroffen und die „Breißen“ machten ihm nicht nur ein volles Haus, auch der ganze Hof war angefüllt von ihnen und die Einnahme überstieg alle Erwartung. Guldenzettel, Zwanziger und Kupferkreuzer, ja selbst harte preußische Thaler in Menge barg bereits die Höhlung des irdenen Gefäßes, welches der Dame als Casse diente, und immer noch strömten Neugierige herzu ohne Ende – eine wahre Völkerwanderung.

Hinter dem ersten Range hatte man Stühle und Bänke aufgestellt, dann kam ein breiter Stehplatz, das Parterre, und längs der Mauer hatte man mit Tischen, Fässern und Brettern bereits ein „Paradies“ geschaffen, welches einige Pioniere und Artilleristen noch zu vergrößern bestrebt waren. Eine andere erste Rangloge oder Olymp etablirte sich eben in den beiden hohen Birnbäumen, und selbst damit hatte man noch nicht genug, denn mit der Zeit bevölkerte sich auch das ganze Dach des niedrigen Hauses drüben, so daß es ein Wunder war, daß die morschen Sparren nicht unter der Last zusammenbrachen. Später fanden sich auch einige Damen ein, ein Marketender etablirte sich in der Nähe des Kuhstalls, – es fehlten in der That nur noch die landesübliche „Weiße“ und die „Schinkenstullen“, um sich ganz wie „bei Muttern“ zu fühlen.

„Musik, Musik!“ rief es nun von allen Seiten, und ein kleines Orchester von sechs Mann begann einen lustigen Marsch.

„Pst, ruhig! – nicht schupfen!“ hieß es hier, und „Ruhe im Olymp!“ antworteten Andere, ein wahres Pelotonfeuer von schlechten Witzen und lustigen Erwiderungen gab Zeugniß von der trefflichen Laune des Publicums. Es war bereits sechs Uhr durch, die Musik hatte schon drei Stücke gespielt und noch immer ging der Vorhang nicht in die Höhe.

„Anfangen, anfangen!“ riefen da einige ungeduldige Stimmen und „Anfangen!“ brüllte der Chor nach, und nun brach ein wahrhaft ohrenzerreißender Lärm los; man schrie wie wahnsinnig und trampelte mit den Füßen, bis endlich die Klingel des Regisseurs ertönte und mit einem Male plötzliche Stille eintrat. Jetzt klingelte es wieder, der Vorhang bewegte sich, schwebte langsam und etwas schief empor, – ein allgemeines „Ah!“ entrang sich Aller Kehlen. „Die Unglücklichen“ begannen, nahmen ihren natürlichen Verlauf und erlitten weiter keine Störung, als daß einmal mitten drin ein Theil der „Bullerloge“ hinten einbrach, was aber nur eine momentane Unterbrechung verursachte.

Nun kam der Zwischenact. Er war stürmisch und lang, die Hitze groß, das Gedränge noch größer, am größten aber der allgemeine kolossale Durst. Ein Königreich, ganz Ungarn für eine Weiße! Endlich, endlich klingelt es hinter der Scene – zum ersten – zum zweiten Male, das Saatlaken rauscht langsam empor, der Glanzpunkt des Abends beginnt, alle Herzen schlagen voll Erwartung, tiefe Stille! – da ist in der That der kleine Meierhof in der Picardie.

Auf eine Waschleine gespannt hängt im Hintergrunde, quer über die Bühne, die heute früh erst entstandene Mauer mit einer Oeffnung in der Mitte, welche die Thür vorstellt. Die eigentliche Scene, welche ursprünglich einen griechischen Tempel vorstellt, ist durch einige Versatzstücke, Tannenbüsche und Baumzweige mit einem genialen Griffe zu dem kleinen Hofe der niedlichen Marie Fermière umgewandelt worden. Rechts guckt die trauliche Hütte aus der zweiten Coulisse hervor mit zwei rabenschwarzen Fenstern und einer winzig kleinen Thür, davor stehen Tisch und Stühle. Ein paar blaugefärbte Leinwandstreifen bilden den heiteren Himmel Frankreichs, der sich fast unheimlich tief über dem Erdboden aufspannt und in Folge dessen auch bereits einige Löcher und Risse bekommen hat. Es war so still rings umher, man hätte ein Mäuschen laufen hören, trotzdem hier Hunderte von Menschen Kopf an Kopf dicht zusammengepfercht standen.

Jetzt öffnet sich die niedrige Thür der Hütte, herein hüpft die kleine französische Bäuerin, – ein allgemeines, langgezogenes „Ah!“ empfängt dieselbe. Schüchtern schaut sie auf, – in der That, die Picarde ist nicht übel, wirklich ein hübsches, stattliches Mädchen und das Costüm der Bäuerin kleidet sie zum Entzücken. Etwas befangen noch tritt sie vor und erzählt dem Publicum, daß ihre Mutter krank, ihr Vater aber fortgefahren sei und sie nun ganz allein Haus halten müsse; was sie nun anfangen solle, wenn die Einquartierung käme? und das Alles sprach sie hübsch und correct, und da sie eine Ungarin war, kleidete sie der fremdklingende Jargon ganz vortrefflich und paßte sehr gut zu ihrer Rolle. Da plötzlich vernimmt man einen Höllenlärm hinter der Scene, ein Poltern und Stampfen, als wenn die ganze Bühne einfiele, und „Heda – Wirthshaus!“ bricht dazwischen eine dünne, singende Stimme und die Mauer fängt bedenklich an zu schwanken, – es ist der Kurmärker Bläule, der so sein Kommen ankündigt. „Halloh! Aufgemacht, die Breißen kommen!“ extemporirt derselbe, und nachdem Marie Fermière „Gleich, gleich“ erwidert hatte und dem Publicum erzählte, das wäre jedenfalls ein Preuße, denn die riefen immer gleich „Heda, Wirthshaus!“, kam er selbst mit Sack und Pack durch die Mauerlücke hereingeschritten. War schon die dünne Stimme, der unverkennbare Meißner Dialekt des Kurmärkers allgemein aufgefallen, so ging jetzt mit einem Male durch die ganze Versammlung eine unruhige Bewegung, als derselbe vor die Lampen hintrat, – die Enttäuschung war aber auch geradezu abscheulich.

Man denke sich den kleinen Director in einer etwas zu knappen Feldmütze ohne Schirm und Landwehrkreuz, unter welcher seine langen Haare, pomadisirt und à la Rebhuhn frisirt, herabflossen, als wollte er eben einen modischen Handlungsreisenden darstellen. Sein kleines, vertrocknetes Gesicht zierten ein schmales, kohlschwarzes Schnauzbärtchen und ein ebensolch stutzerhafter Henri Quatre, die beide ihre Entstehung einem angebrannten Korkstöpsel verdankten. Außerdem aber war derselbe in einen Waffenrock und weißleinene Hosen ohne Gamaschen gekleidet, die ihm um eine ganze Welt zu weit waren; kurzum, er bildete mit dem großen Tornister und dem „gerullten“ Mantel darüber eine ganz tolle, fratzenhafte Caricatur auf einen preußischen Soldaten. Eine bedenkliche Unruhe machte sich einen Augenblick lang fühlbar, ein Murmeln, welches wie ferner Donner durch die Menge grollte – dann wurde es allmählich wieder still.

„Heda – Bisang – ich komme hier in’s Quartier! – Nu – werd’s balde?“ begann der Pseudo-Kurmärker und stampfte mit dem Gewehrkolben einige Male drohend auf die wackeligen Dielen. „Hier hast de erst ä mal das Pillet,“ fuhr er fort zu krächzen und zu fisteln, „aber nu bringste mer erst emal oogenblicklich was pour mancher und nachher e pischen was pour pufer – hörste nicht, allons, paschol! –“

Ein allgemeines Gelächter ließ in diesem Augenblicke die kleine Picarde ängstlich aufschauen, während der Director, thöricht genug, dasselbe für ein Zeichen des Beifalls hielt und sich geschmeichelt verneigte. „Höre, Bisang,“ fuhr er mit seiner zwirnsfadendünnen Stimme dann fort und rollte schrecklich mit den Augen, „alleweile besorgste mir aber vor allen Dingen emal e pischen la viande de Kükerüküh,“ dies krähte er so natürlich, wie ein wirklicher Haushahn, „un eene gehörige Schuhsuppe, – verstehste mich?!“ und dabei brachte er die kleine Marie ganz aus der Contenance, indem er Beider Rollen durcheinander mengte und keine Stichwörter hielt. –

Jetzt aber brach mit einem Male der Sturm, der lange genug schon gegrollt hatte, mit seiner ganzen Gewalt los; das Gelächter verwandelte sich in Rufen, Pfeifen, Zischen und Stampfen, ein wahrer Orkan des Unwillens und der Entrüstung brauste über den armen Director Bläule dahin, jeder einzelne Soldat fühlte sich in der Person des mißhandelten Kurmärkers im tiefsten Herzen verletzt und beleidigt.

„’Raus mit dem Kerl! – Schmeißt ihn ’raus, – abtreten!“ riefen einige Stimmen, „nicht weiter spielen, – Maul halten!“ andere, und wer weiß, was daraus geworden wäre, welche Dimensionen dieser Tumult noch angenommen hätte, wenn nicht jetzt urplötzlich eine kräftige Faust den ganz sprachlos vor Schrecken und Enttäuschung dastehenden Director beim Arme erfaßt und blitzschnell zwischen die Coulissen gezogen hätte. Die kleine Marie befand sich so auf einmal allein auf der Bühne; ganz bleich und rathlos sah sie sich um, ungewiß, was sie thun sollte, blieb aber dann ruhig, die Hand auf dem Herzen, der aufgeregten Menge gegenüber stehen. Das überraschte Publicum beruhigte sich nun augenblicklich, es entstand eine kurze, ungewisse Pause, dann erfolgte erst einzeln, schnell aber von allen Seiten ein donnernder Applaus, [720] – er galt der niedlichen Marie, die erröthete und sich verbeugte. Und wieder wird es still. Alles ist in peinlicher Erwartung. „Wird der Vorhang fallen? – wird man weiter spielen?“ so fragt man sich; da, – welche Ueberraschung! ganz unerwartet hört man noch einmal den Ruf: „Heda – Wirthshaus!“ hinter der Scene, aber dieses Mal von einer kräftigen Baßstimme im unverfälschten Dialekte der Mark Brandenburg.

Die kleine Picarde horcht erstaunt, sie stutzt, aber schnell hat sie begriffen, was hier vorgeht. „Ah, ce sont des Prussiens,“ beginnt sie von Neuem das Spiel. Und herein kommt ein zweiter Kurmärker, ein großer, stattlicher Soldat, das Landwehrkreuz an der Schirmmütze, mit sonnenverbranntem, bärtigem Gesicht, das Urbild eines preußischen Landwehrmannes. Der donnernde Jubel und Applaus, der nun unaufhaltsam losbrach, machte das Haus und die Erde erbeben und spottete jeder Beschreibung. Er kam mitten aus den Herzen der Zuschauer, und selbst die anwesenden Einwohner von Malaczka begriffen, was hier vorging, und applaudirten mit.

Immer von Neuem ertönte das Beifallsgeklatsch, das stürmische Bravorufen. Der Vulcan wollte sich austoben, und währenddem stand der neue Kurmärker fest wie eine Statue auf der Bühne, ohne mit der Wimper zu zucken. Endlich legten sich die Wogen, die Gemüther hatten sich beruhigt, das Spiel begann.

Schulze überreicht sein Quartierbillet an der Bajonnetspitze, macht sich’s bequem und verlangt zu essen. Jetzt schneidet er sich die landesübliche „Stulle um’s ganze Brod herum“, dann erzählt er der Kleinen die Geschichte von dem Souffleur. – Welch’ ein Spiel! Wie treu, wie naturwüchsig, nicht zu viel und nicht zu wenig, so wie es alle Tage her gewesen war. Auch das niedliche Bauernmädchen, gestützt durch ihren Partner, fängt Feuer und leistet Vorzügliches; schier athemlos horchten wir Alle, das war in der That ein seltener Kunstgenuß. Und jetzt setzt die Musik ein und Schulze singt: „O Tannebaum, o Tannebaum, wie grün sind deine Blätter.“ – – Und wie singt er! So ganz schlicht, mit voller, kräftiger Mannesstimme, daß alle Seelen erzittern und in allen Herzen die Echos rege werden. „O Tannebaum, o Tannebaum,“ so braust es mit einem Male los aus tausend Kehlen, wie wenn Orgelton und Posaunenklang sich mischen, alle Herzen springen thürenweit auf! Man mußte das durchgemacht haben, was wir in jenen kurzen drei Wochen durchgemacht hatten, um diese tiefe Bewegung, dies allgemeine Ergriffensein zu verstehen; es war feierlich – ist es keine Sünde, es zu sagen? – wie in der Kirche. Und nun beginnt die Kleine ihre Lection, sie tanzt den Contretanz ganz allerliebst, – jetzt ist Schulze an der Reihe und nun, „Mädchen, halt’ die Röcke fest!“, kommt der Zweitritt, bis die Kleine, in Ermangelung der Rasenbank links, rechts erschöpft auf einen Stuhl sinkt; Aller Augen strahlen vor Freude.

Da plötzlich trommelt es, Schulze springt auf und hängt seinen Tornister und Säbel um; „stehen die Kerle auch wohl nur einen Augenblick!“ ruft er ingrimmig, und nun kommt die allerliebste Scene mit dem Kuß. Jetzt erhält er ihn (und ich glaube aus vollem Herzen). Der Vorhang fällt, das Stück ist aus.

Und wiederum bricht der Beifallssturm los. Drei Mal geht der Vorhang noch auf und nieder, ehe die Menge sich beruhigt; dann erst beginnt sich dieselbe zu verlaufen.

Als ich eine Viertelstunde später mit noch einigen Cameraden in dem nun ziemlich leer gewordenen Hofe stand und mit jenen über die Ereignisse des Abends plauderte, zupfte mich leise Jemand hinten am Rocke.

„Hören Se – bestes Herrchen – eenen eenzigen Ogenblick nur!“ Es war der kleine herausgeschmissene Director, noch ganz zerknirscht von seinem Fiasco. Mit Thränen in den Augen klagte er mir sein Leid. Am meisten wurmte es dabei seinen verletzten Künstlerstolz, daß er von einem „gemeinen Soldaten“ so in den Schatten gestellt worden war.

„Trösten Sie sich, Freundchen,“ beschwichtigte ich ihn, „der Mann, dem Sie weichen mußten, ist ein College von Ruf, der Schauspieler H. aus Berlin.“

„Wie? was? – Hören Se, das ist ja aber ganz unmöglich!“ schrie er auf, „wie käme denn der hierher?“

„Nun, wie wir Alle!“ erwiderte ich, „in Reih und Glied als gemeiner Soldat.“

„Na, das globe en Anderer, ich nicht,“ sprach kopfschüttelnd der Kleine und schaute mich ungläubig an.

„Nun, dann sagen Sie mir einmal, was glauben Sie denn, was ich eigentlich bin?“ frug ich belustigt.

„Na – ein Unterofficier – oder am Ende gar ein Sergeant, nehmen Se’s nicht übel.“

„Fehlgeschossen, ein Schulmeister bin ich!“

„Aber nu gar!“

„Auf mein Wort!“

„Hören Se mal, Herr Schullehrer,“ sprach da auf einmal der Director ganz nachdenklich und trat dicht an mich heran, „ich will Ihnen emal was sagen, dann ist es och keen Wunder, daß die Oesterreicher haben retiriren müssen. Aber, sagen Sie emal,“ fuhr er plötzlich fort, „am Ende könnte ich mer den Herrn H. für ’ne Weile hier engagiren! Was meinen Se wohl?“

„Heute nun nicht, Director,“ erwiderte ich lachend, „über’s Jahr vielleicht! – Aber noch Eins, Herr Bläule, Sie haben heute eine vortreffliche Einnahme gehabt, daß Sie mir die kleine Picarde nicht vergessen, das Mädchen hat sehr brav gespielt. Gute Nacht!“

Und wie ich nachträglich erfahren, ist der brave Mann, aber schlechte Schauspieler meiner Befürwortung in der anständigsten Weise nachgekommen. Er hat die nicht unbeträchtliche Einnahme mit der ‚Picarde‘ redlich getheilt, „weil sie mit seinem ‚breißischen‘ Collegen ein so ganz vortreffliches Zusammenspiel möglich gemacht.“

H. H.




Bei Eröffnung der Brenner-Bahn.


Kennst du das Land, die Bahn darin ist frei,
Wo wilde Schrofen in den Aether ragen?
Wo siegsbewußt Bischof und Klerisei
Der Glaubenseinheit stolzes Banner tragen?

5
Kennst du das Land?

  Ich kenn’ es wohl,
Dein schönes ist’s, dein herrliches Tirol!

Kennst du das Land, hinauf in’s Sonnenlicht
Schwingt sich der Aar, doch auf die grünen Matten –

10
Wer kennt Loyola’s blasse Jünger nicht? –

Fällt von den Hütten so viel dunkler Schatten!
Kennst du das Land?
  Ich kenn’ es wohl,
Dein schönes ist’s, dein herrliches Tirol!

15
Kennst du das Land, da knallt manch lust’ger Schuß?

Ach, wenn sie nur in’s rechte Schwarze zielten!
Der Freiheit eine Gasse! Denn sie muß
All’ derer sein, die ihren Odem fühlten.
Das war schon Anno Neun!

20
  Ich weiß es wohl,

Im schönen Land, im herrlichen Tirol!

Kennst du das Land, es zeugt der Traube Blut,
Und seiner Felsenburg granit’ne Mauern
Sind Deutschlands Wall, des Vaterlands Hut,

25
Siehst du den Wälschen auf dem Paß uns lauern?

Kennst du dies Land?
  Ich kenn’ es wohl,
Es ist das schöne, herrliche Tirol!

Ist deutsches Land, das an den Süden grenzt,

30
Wo hoch der Lorbeer steht und still die Myrthe,

Das Land Tirol so reich und sonnbeglänzt,
„Und doch so arm,“ klagt gramgebeugt der Hirte
Und schaut bewegt in’s Land!
  Du kennst es wohl,

35
Dein schönes ist’s, dein herrliches Tirol!
W. M.




Inhalt: Für den Lesetisch der Familie. – Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Freiligrath. Portrait. – Ein Admiral der künftigen deutschen Flotte. – Legrenne, der Pariser Zigeuner. Von Ludwig Kalisch. – Im Schatten der Albanerberge. Mit Illustration. – Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege. Nr. 10. Der Kurmärker und die Picarde. – Bei Eröffnung der Brenner-Bahn. An Ludwig Steub.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Abbildung einer nach rechts zeigenden Hand.