Textdaten
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Autor: Herman Schmid
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Titel: Der Holzgraf
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–31, S. 417–420, 445–447, 462–464, 465–468, 481–486
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[417]

Der Holzgraf.

Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.[1]
1.

Der Frühling des Jahres 1811 hatte bald und vielverheißend begonnen; er schien zu wissen, welche Fülle von Frucht und Segen er auszustreuen habe für den reichen Sommer, der nach ihm kommen sollte. Selbst in dem sonst winterlichen Thale an der Ammer war er so anmuthig und mild eingezogen, als gälte es nicht, eine späte Kornsaat vorzubereiten, sondern selbst auf den unwirthlichen Felszacken des Kofelberges den Saft in edle Reben emporzutreiben und Kometenwein daraus zu brauen.

Der Abend vor dem Sonntag Exaudi ging besonders glänzend zu Ende, die Berge dem Kofel gegenüber standen im Wiederschein der Abendröthe, die sich über die Thalfläche gegen Unterammergau hin ausgebreitet hatte und in den Wellenkrümmungen der Ammer widerschien – darüber hinaus begann es schon zu dunkeln und die schwache Halbsichel des wachsenden Mondes hing im Blauen, als wär’ es eine riesige Laterne, an einem der Felsgiebel ausgesteckt, um den Arbeitern zu leuchten, deren wuchtige Axt und Hammerschläge noch weithin schallten durch das ruhende Thal. Zu den Häusern von Oberammergau war es die ganze Dorfgasse hinaus schon stille geworden, nur hie und da hörte man aus einer Stube betende Stimmen, hie und da sah man durch ein erleuchtetes Fenster noch einen Bildschnitzer an der Werkbank sitzen und an einem Figurchen basteln, das noch fertig werden sollte.

Das Geräusch der Arbeitenden kam aus der Nähe der Kirche. Neben derselben, auf dem sonst so friedlichen Bereiche des Gottesackers, starrte es von Balken und Holzwerk, mit ein mächtiges Gerüst ließ die Umrisse einer eigenthümlichen offenen Bühne mit davor errichteten Zuschauerbänken erkennen. Alles war aus derbem, nur leicht behauenem Werkholz gezimmert und ohne Schmuck; blos an der Bühne selbst waren Linien und Farben zu erkennen, so weit sie im Mondschein mit bei dem schwachen Lichte einzelner Laternen noch sichtbar werten konnten.

Es war die Bühne zu dem berühmten Passionsspiele von Oberammergau. weiche damals noch unmittelbar neben der Kirche auf dem Gottesacker erbaut wurde, und die späte Arbeitsthätigkeit war nicht zu verwundern, denn über acht Tage war ja schon Pfingsten, und wenn die Vorstellungen, dem alten Herkommen gemäß, am Pfingstmontage beginnen sollten, so gab es noch so viel vorzubereiten und fertig zu machen, daß nicht eine Secunde versäumt werten durfte. Darum waren Zimmerleute und Maler noch vollauf beschäftigt; man hatte sogar Gebetläuten überhört und machte sich kein Gewissen daraus; war es doch keine eitle weltliche Belustigung, der es galt, sondern ein frommes Werk, das in den Augen mit Herzen der Oberammergauer heilig ist, wie ein Gottesdienst.

In rein innern Raume der eigentlichen Bühne stand ein junger Mann vor einer großen aufgehangenen Leinwand und strich darauf mit mächtigem Pinsel keck hin und wieder. Es war ein hübscher Bursche, dem die graue Gebirgsjoppe mit grünem Stehkragen und das tyrolerartige grüne Hütel sehr gut liest, wenn auch das blonde Haar nicht ganz gut dazu paßte, das er in lang hin abfallenden Locken und hinter die Ohren zurück gescheitelt trug. Nach Malerart trat er eben ein wenig von der Leinwand zurück, um bei dem Scheine der zu beiden Seilen an Pfosten aufgehängten Laternen die Wirkung seiner Arbeit zu betrachten. Er war nicht unzufrieden damit, denn über das ungewöhnlich feine und blasse Gesicht flog ein munteres Lächeln, und er trat rasch vor die Leinwand hin, um mit kühner Hand einen hellen, weißen Flecken als Licht darauf zu setzen.

„Mache mir den Haifisch nur nicht gar zu gräulich,“ sagte eine freundliche Stimme hinter ihm, und ein alter Mann in der Tracht eines Weltgeistlichen trat hinzu. Es war eine nicht große, aber stattliche Gestalt, mit ehrwürdig mildem Gesicht und fast ganz kahlem Kopfe, um welchen nur ein schmaler Kranz von langen Silberlocken schimmerte. „Das Monstrum,“ fuhr er fort, indem er mit dem goldenen Knopfe seines hohen Rohrstocks an die Malerei klopfte, „das macht ja ein Paar Augen, daß sie Einem im Traum vorkommen könnten!“

Der Jüngling erröthete leicht, indem er dem Geistlichen entgegentrat, seine Hand ergriff und küßte, was dieser ohne Widerrede geschehen ließ. „Spotten Sie nur über mich, Hochwürden,“ sagte er, „ich kann’s doch nicht besser machen! Hab’ ich doch mein Lebtag [418] keinen Haifisch gesehen, und wenn er den Propheten Jonas hat verschlingen und unversehrt wieder ausspeien können, muß er eben doch ein rechtes Ungeheuer gewesen sein, und da hab’ ich gemeint …“

„Und da hab’ ich, gemeint,“ unterbrach ihn der Pater, „ich bin ein hochmüthiger Mensch, der immer gleich oben aus ist und der sich einbildet, weil er ein leidliches Crucifix oder einen Gemsjäger schnitzeln kann, wär’ er schon ein Meister, wie weiland Andrea Pisano, der das wunderbare Gnadenbild gemeißelt hat drüben in Ettal! Wer sagt Dir denn, daß ich spotte? Was habe ich denn gesagt, was nicht auch ernsthaft gemeint sein kann? Was habe ich …“

Die rasch auffliegende Röthe des Jünglings war ebenso rasch desto tieferer Blässe gewichen; er war bei Seite getreten und hatte Pinsel und Farbentopf weggestellt. Jetzt trat er mit einer Gebehrde, welche unterwürfig war und doch nicht ohne Selbstgefühl zu sein schien, vor den Eifernden und rief: „Ist das Ihr Ernst, Hochwürden? Bin ich wirklich solch ein hochmüthiger, eingebildeter unnützer Bursch? Ach, es weist ja Niemand besser, als ich selber, daß ich nichts kann und nichts bin als ein elender Stümper!“

Seine Stimme zitterte hörbar; der Greis legte ihm die Hand auf die Schulter, hob ihm mit der andern das Gesicht leicht in die Höhe und blickte ihm väterlich gütig in die Augen. „Nein, Domini,“ sagte er beruhigend, „es ist nicht mein Ernst, und Du bist auch kein so elender Stümper, wie Du Dich selber machst! Wenn auch der Haifisch da ein Paar Augen hat, die selbst für ein Ungeheuer zu ungeheuerlich sind, so bist Du doch kein unnützer Bursch, sondern ein tüchtiger Bildschnitzer, und wenn Du fleißig bist wie bisher, wirst Du es noch weiter bringen und Oberammergau alle Ehre machen!“

„Das möcht’ ich freilich gern!“ rief der Bursche. „Ich will auch fleißig sein … aber ich werd’ es doch zu nichts bringen können! Ja, wenn ich auch so glücklich wäre wie Andere und hätte was lernen können – aber Hochwürden wissen es ja, wie blutarm meine Eltern waren, und wie sie mich nicht studiren lassen konnten. Die einzige Hoffnung für mich war das Kloster in Ettal; da hätten sie mich wohl aufgenommen, ich hätte studiren können, ich wäre nach München und weiß Gott wo sonst noch hingekommen, – da wäre ich ein tüchtiger Student und vielleicht auch ein Geistlicher wie Sie geworden, oder hätte einen tüchtigen rechten Lehrer in der Bildhauerei gefunden … aber das ist Alles vorbei! Vor neun Jahren, wie das Kloster ist aufgehoben worden, war ich noch, ein Bub’, der eben aus der ABCschule kam – das schöne Stift ist leer, die Herren, die meine Lehrer geworden wären, sind hinausgewandert nach allen vier Himmelsgegenden, und wenn Sie, Hochwürden, sich nicht unser Dorf zum Aufenthalt ausgesucht und sich um mich angenommen hätten, so wäre ich aufgewachsen wie der Baum im Wald – ich bin gewiß nicht viel, aber was ich bin, verdank’ ich nur dem guten, lieben Pater Ottmar …“

„Na, na,“ entgegnete dieser abwehrend, „es freut mich, wenn Du dankbar bist! Vielleicht läßt es sich doch noch machen, daß ich Dich nach München unterbringe, damit wir sehen, ob ein Bildhauer in Dir steckt … Es wird doch das Beste sein, denn was Du da vorhin von, Geistlich-Werden gesagt hast, sind doch nur Flausen!“

Der Jüngling sah ihn betroffen an und brachte ein verlegenes Warum? hervor.

„Warum?“ rief der Pater. „Weil Du mir gerade so aussiehst wie Einer, der den rechten Sinn für’s Klosterleben hat! Meinst Du, der alte Pater Ottmar hat die Augen umsonst im Kopfe und sieht nicht, daß die Schutzengel und die Magdalenen und die Muttergottesbilder, die Du schnitzelst, auf einmal alle miteinander dasselbe Gesicht haben? Meinst Du, daß ich nicht gemerkt habe, wem sie gleich sehen alle miteinander?“

Die Befangenheit des Burschen stieg mit jedem Worte, er wußte nicht, was er erwidern sollte; daß aber der kluge Pater recht gesehen, zeigte die Unsicherheit in Blick und Haltung des jungen Mannes.

Ein verworrener Lärm, wie von streitenden Männerstimmen wurde von der Straßenseite hörbar und gab ihm erwünschte Gelegenheit, den bedenklichen Fragen des Paters zu entgehen.

„Was ist das?“ rief er. „Hören Hochwürden das Geschrei? Am Ende giebt’s einen Zank vorn unter den Zimmerleuten! “ Damit wendete er sich und schritt rasch der Richtung zu, von welcher der kann herkam. Der Pater erwiderte nichts; er sah dem Burschen mit leichtem Kopfschütteln und gutmüthig spöttischem Lächeln nach und folgte ihm dann.

Er kam wirklich gerade recht, um Unheil zu verhüten.

An der innern Seite der Kirchhofmauer hatten sich alle Arbeiter versammelt, welche beim Aufbau des Passionsgerüstes beschäftigt waren. Sie waren von ihren Arbeiten weggelaufen und standen nun in einzelnen Gruppen beisammen, laut und heftig redend und mit den Händen agirend. Die Mehrzahl hatte sich an die Mauerbrüstung gedrängt und rief und zankte durcheinander auf die am äußern Fuße der Mauer vorbeiführende Straße hinab. Dort stand ein ländliches und doch städtisch vornehmes Fuhrwerk, mit zwei prächtigen Pferden bespannt und von einer Schaar Zimmerleute umgeben, welche hinabgeeilt waren und drohend und schreiend den Wagen am Weiterfahren hinderten.

In dem Wagen saß ein einzelner Mann, bäurisch gekleidet, aber die Stoffe der Kleider waren für diesen Stand zu fein und das schwere Uhrgehäng, das unter der Sammtweste hervorbaumelte, ließ erkennen, daß der Besitzer reich war und diesen Reichthum zu zeigen liebte. Es war ein großer, breitschultriger Mann mit einem nicht unschönen, aber hart geformten Gesicht, welchem der trotzige Mund und der übermüthige Blick der unruhigen Augen etwas Abstoßendes gaben. Nach dem dichten, etwas struppig aufstehenden und stark mit Grau gemischten Haare schien er schon in der letztern Hälfte des männlichen Alters zu stehen, allein die Art, wie er Zügel und Peitsche in den Händen hielt und wie er auf die ihn umdrängenden Arbeiter herabsah, zeugten von furchtlosem Kraftbewußtsein.

Jetzt hob er die Peitsche, zog die Zügel an, daß die Pferde einen Ruck machten und rief: „Jetzt gebt einmal Ruh’, Ihr Narren! Laßt meine Ross’ frei, oder ich fahr’ Euch nieder!“

Die Peitsche knallte, die Pferde setzten an, aber sie konnten nicht von der Stelle, so schnell und kräftig waren sie am Gebiß und an den Zügeln gepackt und niedergerissen. „Was?“ schrieen die Burschen, „Du willst uns erst schimpfen und noch mit dem Niederfahren drohen? Nun lassen wir Dich erst recht nicht vom Platz, bis Du andere Saiten aufspannst!“

„Reißt ihn herunter!“ rief einer der Zimmerleute von der Mauer herab. „Wenn er uns überfahren will, so reißt ihn zuvor herunter von seinem, Sitz und zeigt dem übermüthigen Holzgrafen, daß wir uns vor ihm so wenig als vor seinen Geldsäcken fürchten!“

Einige Burschen drängten gegen den Wagensitz vor; einige Arme streckten sich aus, um nach dem darauf sitzenden Manne zu greifen; dieser richtete sich nach seiner ganzen Größe auf, um den Angriff abzuwehren, und schnalzte zugleich mit der Zunge, um die Pferde zum Laufe anzutreiben.

Pater Ottmar war auf die Straße herabgeeilt und trat im entscheidenden Augenblick zu den Streitenden. „Gebt mir Ruh’, Ihr Leut’!“ rief er den Arbeitern zu. „Schämt Ihr Euch nicht? Ihr arbeitet an einem so frommen, gottgefälligen Werk und fangt Händel an, als wär’ es das allergeringste Banernwirthshäusel, was Ihr da baut! – Gebt mir Ruh’, sag’ ich, und der Erste, von dem ich noch ein ungutes Wort höre, hat auch den letzten Hobelstoß oder Hammerschlag zum Passion gethan!“

Schon beim Erscheinen des Paters waren die Leute ehrerbietig zurückgetreten; schweigend ließen sie Pferde und Zügel los, und der Wagen hätte ungehindert weiterfahren können, allein sein Besitzer setzte sich mit lautem, verächtlich klingendem Lachen nieder und schien abwarten zu wollen, was weiter geschehen sollte.

„Recht so,“ begann der Pater wieder, indem er mit wohlgefälligem Nicken den bereitwilligen Gehorsam der Umstehenden anerkannte. „Jetzt will ich aber auch wissen, was es gegeben und wer den Streit angefangen hat.“

„Wir sind ganz ruhig bei unsrer Arbeit gewesen,“ sagte einer der Zimmerleute vortretend, „und wie man halt gern zu der Arbeit singt, weil einem dann Alles leichter aus der Hand geht, und weil wir doch Alle beim Volk und beim Einzug Christi in Jerusalem dabei sind, haben wir den neuen Gesang vor uns hingesummt, den der Herr Lehrer Dedler so schön gesetzt hat. Wissen Sie, Hochwürden, den Gesang, der so anfängt „Heil Dir! Heil Dir, Du David’s Sohn!“ und wie wir da so in Gott vergnügt arbeiten und singen, da kommt der Holzgraf daher gefahren, daß man gemeint hat, die Räder müßten weg fliegen …“

„Ich wüßt’ nit,“ unterbrach der Mann aus dem Wagen den [419] Redenden, „daß wir Zwei schon Brüderschaft gemacht haben miteinander … und wenn ich mir auch nichts d’raus mach’, daß die Leut’ mir den Spitznamen aufgebracht haben, so bin ich doch für Dich der Korbinian Loder vom Durnerhof und nit der Holzgraf … verstanden? “

„Fehlt nichts,“ fuhr der Zimmergesell fort … „also sag’ ich, so kommt der Herr Korbinian Loder vom Durnerhof dahergesaust in einem Sturm – wie er aber in die Nähe von der Gottesackermauer gekommen ist, da hat er angehalten und ist auf einmal ganz langsam Schritt gefahren und hat uns zum Trutz ein Schnaderhüpfel gepfiffen in unsern heiligen Gesang …“

„Ich scher’ mich nit um Euren Gesang,“ unterbrach ihn der Durnerbauer wieder, „warum kümmert Ihr Euch um das, was ich pfeif“? Ich hab’ Euch nicht gesagt, daß Ihr still sein sollt mit Eurem langweiligen Geplärr’ – aber Ihr habt auf mich herunter geschrieen und habt mir das Pfeifen verbieten wollen.“

„Das haben wir gethan,“ war die Antwort Mehrerer, welche sich wieder gegen das Fuhrwerk vordrängten, „und wir haben das Recht dazu, denn Ihr habt uns zum Spott gepfiffen, und das leiden wir nicht!“

„Die Straßen ist weit und gehört mein so gut wie Euch; wenn Ihr daraus singen dürft, darf ein Andrer juchzen oder pfeifen – wer kann ihm was einreden?“

„Allerdings Niemand,“ mischte sich jetzt Pater Ottmar in’s Gespräch, „so lange es die Ruhe nicht stört und Niemand ein Aergerniß gegeben wird. Ein frommes Lied ist wie ein Gebet, und unter Christen ist es Brauch, das Gebet eines Andern zu achten und es nicht zu stören – wer das thut, zeigt ein hartes Herz und ein verstocktes Gemüth!“

„Ah was,“ rief der Bauer mit rohem Lachen, „wie’s in mein’ Herz’ und mein’ Gemüth ausschaut, ist meine Sach’ – ich bin fünfzig Jahr alt ’worden und hab’ Niemand ’braucht zum Dareinreden, ich will’s nochmal fünfzig Jahr’ dabei lassen! Aber die Leut’ sagen Ihnen das Rechte gar nit, Hochwürden – sie sind nit wegen dem Bissel Pfeifen so wild auf mich, sondern weil ich ihnen die Wahrheit gesagt hab’ …“

„So?“ fragte der Pater, „die wäre …?“

„Ich habe ihnen gesagt, daß sie Narren sind, und wer die Wahrheit geigt, bekommt den Fidelbogen um’s Maul! Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollen sich nit auslachen lassen und mit der Arbeit aufhören, weil sie ja doch umsonst und das Passionsspiel vom König verboten ist …“

„Ein solches Verbot ist allerdings ergangen,“ sagte der Pater, „aber wenn Ihr das wißt, Durnerbauer, dann wißt Ihr gewiß auch, daß das Dorf eine Deputation nach München geschickt hat, die dem König die Sache von der rechten Seite vorstellen und die Zurücknahme des Verbots erwirken soll …“

„Ja, daß sie das wollen, hab’ ich gehört,“ erwiderte der Bauer mit Lachen, „ich komm’ just von München und hab’ die ganze Deputation trübselig beisammen sitzen sehen im Ammerthalerhof – sie haben nichts ausgericht’, das Gespiel ist und bleibt verboten …“

Schweigend und betrübt standen die Leute und blickten auf den Pater, welcher ebenfalls betreten war von der unerwarteten Nachricht. „Wir wollen hoffen, daß es nicht so ist,“ sagte dieser nach secundenlanger Pause. „Noch können wir hoffen und dürfen es, bis uns die Nachricht aus einem anderen Munde zukommt – aus dem Eurigen klingt sie gar zu schadenfroh, als daß wir sie so geradhin glauben sollten. Gute Nacht, Durnerbauer!“

Damit wendete er sich kurz von dem Bauer ab und trat zu den Arbeitern, welche rasch einen Kreis um ihn schlossen und den Störenfried gar nicht mehr beachteten. Aergerlich darüber hieb dieser aus Leibeskräften auf die Pferde ein, fing scharf und gellend das Schnaderhüpfel zu pfeifen an, das vorher der Stein des Anstoßes geworden war, und verschwand in der Straßenbiegung.

„Laßt Euch nicht irre machen, Leuteln,“ sagte, ohne sich daran zu kehren, der Pater zu den Arbeitern, „und laßt Euch die Freude nicht verderben! Wir haben einen gar lieben und herzensguten König, und Herr Georg Lang, der Verleger, und die andern Männer von der Deputation haben Her; und Zunge auf dem rechten Fleck – wird aber unser Gehorsam wirklich auf eine so harte Prob’ gestellt, dann habt Ihr Euch freilich umsonst gefreut und umsonst gearbeitet. Dann müßt Ihr Euch mit mir und dem Lehrer Dedler trösten – dann reißt Ihr Euer Gerüst wieder ein, ich lege meinen Text und der Lehrer seine Musik in das Pult – dann muß der liebe Gott eben so gut sein und muß den Willen für’s Werk nehmen. – Und jetzt gute Nacht miteinander: macht Feierabend und seid wohlgetröst’ … es wird Alles werden, wies recht ist.“

Er ging; die Männer und Bursche zerstreuten sich rasch nach allen Richtungen. Nach einigen Schritten blieb Pater Ottmar stehen und sah sich flüchtig nach Dominik, dem jungen Bildschnitzer um, jedoch vergebens. Dieser hatte schon zu Anfang des Wortwechsels mit dem Holzgrafen sich erst behutsam an die Kirchhofmauer gedrückt und war schon lange durch ein Seitengäßchen davon geeilt.

Inzwischen waren am andern Ende des Dorfs in der Oberstube eines stattlichen Bauernhauses zwei Frauen beisammen gesessen und hatten den Abend ziemlich einförmig und einsylbig verbracht. Die Stube war geräumig, aber nicht hoch, und die auf dem Tische brennende Oellampe vermochte nur schwach deren Wände und die Decke von saubrem braunem Holzgetäfel zu beleuchten. Was sich demungeachtet erkennen ließ, zeigte bäuerliche Wohlhabenheit und Prachtliebe; besonders zierlich waren die gewundenen Säulen der in einer Ecke prangenden Himmelbettstatt. Das Bett war von reiner Weiße, aber es trug die Spuren des Gebrauchs, und aus dem nebenan stehenden Nachttischchen zeigten Arzneigläser und Schalen, daß es die zeitweilige Zuflucht einer Kranken war. Diese hatte sich eben in die Nähe des großen grünen Kachelofens geflüchtet, in welchem, obwohl es draußen mild und angenehm war, ein stattliches Feuer brannte, denn es fror sie fortwährend von innen heraus. Sie hatte ein paar Bettstücke mitgenommen und saß nun halblehnend auf der Ofenbank, in augenblicklich behaglicher Ruhe und mit müden schlummergeschlossenen Augen. Die Kranke war eine Bauersfrau, schlank und abgemagert, bleich und eingebrochen im Gesichte, das nicht unterscheiden ließ, ob diese Züge, welche einst schön gewesen sein konnten, vom Alter oder von der Krankheit so zerstört worden waren oder von Kummer und Gram.

Daß sie einst schön gewesen bewies das Antlitz der andern Bewohnerin des Zimmers, eines Mädchens, das in Gestalt und Zügen das getreue Abbild der Kranken war, wie eben Jugend und Gesundheit das Abbild von Alter und Siechthum zu sein vermögen. Sie war bereits daran, sich zum Schlafengehen vorzubereiten, und hatte die breiten Zöpfe aufgelöst, daß das braune Haar ihr reich und voll über den Nacken bis den halben Rücken hinunter wallte. Dennoch schien sie mit dem Tage noch nicht vollständig abgeschlossen zu haben, denn sie stand in dem dunkelsten Theile des Zimmers am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Sie legte die Stirne an die kleinen bleigefaßten Rundscheiben, und schien deren Kühle mit Behagen zu empfinden; nur manchmal hob sie das Köpfchen und sah nach der Kranken hinüber.

Diese bewegte sich jetzt und murmelte etwas Unverständliches mit halbgeöffneten Lippen. Augenblicklich war das Mädchen mit unhörbaren Tritten zu ihr geeilt, ließ sich, da sie die Augen aufschlug, auf ein Knie vor ihr nieder und fragte zärtlich, indem sie beide Hände derselben erfaßte und ihr in’s Gesicht sah: „Wie ist Dir, Mutter? Hat Dir das bissel Schlaf gut gethan?“

„Der Schlaf und die Wärme,“ wisperte die Leidende mit schwacher Stimme … „aber ich bin doch recht elend, Vesi; wenn’s nicht bald warm wird und die Sonn’ mich curirt, dann curirt mich der Doctor von Ammergau so wenig, als es der Bader von Graswang zuwegen gebracht hat … das Frieren von inwendig heraus wird immer ärger …“

„Willst nicht in’s Bett, Mutter? Vielleicht könnt’st Du Dich dort erwärmen …“

Die Kranke machte eine schwache, abwehrende Bewegung. „Nein, hier ist’s besser,“ flüsterte sie; „aber Du leg’ Dich nieder, Vesi … Du brauchst Ruh’ … leg’ Dich nieder, ich ruf’ Dich schon, wenn ich ’was haben will … ich weiß darum doch, daß Du mich gern hast und meine gute Tochter bist …“

Die Ermüdung gewann wieder die Oberhand; die Stimme der Bäuerin sank; ihre Augen schlossen sich wieder, und wie zuvor sank sie an den warmen Ofen und in die Kissen zurück … „Wenn nur der Vater käm’ …“ murmelte sie halblaut im Entschlummern. „Ich hab’ ihm die Post thun lassen, wie Du’s verlangt hast,“ antwortete Vesi mit gedämpfter Stimme … „aber er muß nicht fortgekonnt haben, sonst wär’ er wohl schon da. Heut ist’s aber wohl schon zu spät, heut dürfen wir ihn nicht mehr erwarten …“

Die Kranke hörte das nicht mehr, sie lag im Zustande der Abspannung, und das Mädchen, ihre Hände haltend, blieb noch [420] einige Augenblicke vor ihr knie’n, als wollte sie nicht durch irgend eine rasche Bewegung die kurze Ruhe unterbrechen oder gefährden.

Mit einmal horchte sie hoch auf, und über das schwachbeleuchtete Gesicht flog rasche Röthe. Dann erhob sie sich sachte, liest behutsam die Hände der Mutter auf die Kissen gleiten und schlüpfte lautlos an das Fenster. Der Schlag eines Finken, wie er im Auswärts lockt, war durch die Nacht hörbar geworden – und trotz des tief hereingebrochenen Nachtdunkels liest sich an der Umzäunung des kleinen Vorgärtchens am Hause die Gestalt eines Mannes erkennen, der nach dem dämmernden Fenster empor sah.

Geräuschlos öffnete sich das Fenster; Vesi’s weiße Hand winkte dem Harrenden einen Gruß zu. „Seit wann ist denn das der Brauch,“ flüsterte sie hinunter, „daß die Finken bei der Nacht schlagen?“

„Der Fink singt, wie’s Tag wird,“ flüsterte es entgegen; „das Licht da droben muß ihn verführt haben!“

„Der arme Narr ist wohl blind,“ kicherte das Mädchen, „weil er den Tag und ein Nachtlicht nicht auseinander kennt?“

„Das ist nichts Seltsames bei den Finken,“ antwortete der Bursche, „Du weißt wohl, daß man sie blendet, damit sie nicht mehr wissen, wie sie im Jahr sind, und in einem fort singen …“

„Das hat wenigstens das Gute,“ sagte Vesi, „daß man nicht fürchten muß, daß es einem solchen unter der Hand einfällt, davon zu fliegen und sich ein anderes Quartier zu suchen.“

„Wenn er in dem rechten Quartier ist,“ lautete die Antwort, „so fliegt er nicht fort, und wenn Du ihm alle Thürl’n im Käfig offen stehen läßt …“

„Da müßt’ man sich halt,“ lachte Vesi, „um einen tüchtigen Bildschnitzer umschau’n, der einen recht schönen Käfig zusammenschnitzeln that … kannst Du mir vielleicht einen verrathen?“

„Ich wollt’ wohl,“ entgegnen der Bursche, „aber ich muß Dir vor Allem sagen, wegen was ich heut’ noch so spät hergekommen bin zu Dir …“

Der Bursche wollte eben zu erzählen anfangen, als ein schwerer Stein, mit aller Gewalt geschleudert, neben ihm niederfiel. „Himmelsacrament,“ schrie zugleich eine rauhe, zürnende Stimme, und ein Mann sprang von der nächsten Straßenecke gegen das Haus hinzu. „Wer untersteht sich da, an’s Kammerfenster zu gehen? Wer ist der Kerl, daß ich ihm das Genick brechen kann?“

Es war die Stimme des Holzgrafen. Wie er die Umzäunung und das Haus erreichte, traf er Niemand mehr; der Bursche hatte sich leicht und schnell über die Planke eines benachbarten Gartens geschwungen, und das Fenster schaute so trübselig herunter, als ob es sich nie zu so zärtlichem Geplauder geöffnet hätte.

Der Holzgraf stürmte die Stiege hinan; im nächsten Augenblicke wurde die Thüre der Oberstube aufgestoßen und schlug schmetternd an die Wand, daß die Bäuerin erschreckt und schreiend aus dem Schlummer auffuhr. „Heilige Mutter von Ettal!“ rief sie bebend, „was ist denn passirt…?“ Sie hatte sich aufgerafft und blickte mit geisterhaft aufgerissenen Augen in das zornglühende Angesicht des Bauers. „Du bist’s, Korby?“ stammelte sie dann, „Du kommst noch bei sinkender Nacht? “

Der Bauer erwiderte nicht sogleich; er ließ die rollenden Augen auf der Mutter und auf der Tochter hin und her gleiten, welche weiß wie ein Tuch, aber aufrecht ihm gegenüber stand und ihm fest in die Augen sah. „Ja, ich bin’s!“ schrie er dann. „Habt mich nit mehr erwartet heut? Bin ich Euch über den Hals gekommen wie der Spitzwürfel dem armen Sünder? Ich muß wohl bei sinkender Nacht kommen, damit ich die saubere Aufführung erfahre, die man hier führt!“

Die Bäuerin griff sich wie fragend an die schmerzende Stirn, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich versteh’ Dich nit, Korby … was hast Du denn?“

„Wenn Du’s nit weißt,“ polterte der Mann, „dann schau’ die an, die vor Dir da steht wie das böse Gewissen selbst! Ich bin von der Stadt hereingekommen und hab’ gleich wieder eingespannt, wie mir Deine Post ist ausgericht’ worden, und ich bin gerad’ recht gekommen. Ich hab’ die Gäul’ nur schnell beim Wirth drüben eingestellt, und bin herüber zu Dir – wie ich an’s Haus herkomm’, hab’ ich gemeint, der Blitz müßt’ mich in den Erdboden hineinschlagen …“

Die Kranke hatte nicht mehr vermocht, sich aufrecht zu halten, und war wieder auf das Lager am Ofen zurückgesunken. Auch sie starrte jetzt fest und angstvoll auf das noch immer unbeweglich dastehende Mädchen. „Was war’s denn?“ flüsterte sie kaum hörbar.

„Was es war?“ rief der Bauer und seine Stimme milderte sich unwillkürlich … „O Vesi, Vesi – daß Du mir das anthun kannst … daß ich so was an Dir erleben muß, an der Einzigen, die meine Freud’ gewesen ist und meine Hoffnung. Ich hab’ sie am Fenster angetroffen, Weib, und drunten einen Burschen, mit dem sie schön gethan hat …“

Vesi schien jetzt wieder Leben zu bekommen. Sie trat zu der Mutter hin, strich ihr mit der Hand beruhigend über die Stirn und sagte mit zärtlichem Tone: „Mach’ Dir keine Sorg’ um mich, Mutter – es war nichts Unrechtes – es war der Domini – mit dem hab’ ich ein paar Wörteln aus dem Fenster geredt …“

„So? Das ist nichts Unrechtes?“ schrie der Bauer wieder auffahrend. „Und die Mutter findet wohl auch nichts Unrechtes darin, weil sie nichts sagt? Wer ist dann der Domini, mit dem Du so ungenirt bei eitler Nacht zum Fenster hinaus discurirst?“

Vesi ging zu ihrem Vater hin, faßte die eine Hand, die er ihr nicht lassen wollte, dann aber doch wie widerstrebend ließ: der Blick des Mädchens hatte eine eigene Macht über ihn. „Ich will Dir wohl sagen, Vater,“ begann sie, „wer der Domini ist. Ich hätt’ es Dir morgen gesagt, denn heut haben wir Dich nit mehr erwartet; ich hätt’ es Dir schon vor sechs Wochen gesagt, wenn Du zu uns gekommen wärst. Der Domini ist der Bursch, den ich so lieb hab’ wie mein Leben und den ich mir zum Mann ausgesucht hab … Der Bauer, dunkelrothen Zorn im Gesicht, hob die Faust über Vesi zum vernichtenden Schlage – dann schlug er sich selbst damit vor die Stirn und brach, sich in einen Stuhl werfend, in wildes erschreckendes Gelächter aus. „So,“ rief er, „hat sich das Töchterl einen Mann ausgesucht? Und die Mutter hat fein mitgeholfen und gekuppelt? Und der Vater erfährt’s, weil man ihm’s doch nicht mehr verschweigen kann, und soll fein auch geduldig Ja dazu sagen? Na ja – recht gern! Warum denn nicht? Aber zuerst möcht’ ich doch wissen, wer der Schwiegersohn ist, den Ihr mir ausgesucht habt …“

„Das versteht sich, Vater,“ sagte Vesi, so ruhig wie zuvor. „Es ist der bravste Bursch in ganz Oberammergau, der Sohn von dem braven Mann, der im vorigen Jahr im Hochwasser zu Grund gegangen ist, wie er die zwei Kinder aus der Ammer geholt hat, …“

Der Bauer brach wieder in sein wüstes Lachen aus. „Ist das die Möglichkeit?“ schrie er. „Der Tagwerkerbub, der Tafelschmierer, der Bettelmann soll mein Schwiegersohn werden? Thät’s ihm wohl, sich in das reiche warme Nest hineinzusetzen, das ich zusammen getragen hab’? Nein, da habt Ihr Euch verrechnet alle Zwei … die Leut’ heißen mich den Holzgrafen und meinen, sie thun mir einen Spott an damit – aber sie haben Recht, ohne daß sie’s wissen … ich bin so gut ein Graf, wie ein Andrer! Das Geld hab’ ich dazu und den Grafen-Sinn dazu hab’ ich auch, das sollt Ihr erfahren! In mein Haus kommt kein Andrer, meine Tochter kriegt mit meinem Willen kein Andrer – als den ich ausgesucht hab’, und der sich neben den Holzgrafen einstellen kann an Geld und Sinn – dabei bleibt’s, so gewiß als ich Korbinian Loder heiße, und eh’ ich davon abgeh’ und mich abspenstig machen lass’, eher jag’ ich Weib und Tochter aus dem Haus’ – eher will ich meinen Hof um ein Spottgeld verkaufen und den Ammergauern die Freude machen, daß sie den Holzgrafen in Taglohn arbeiten sehn!“

[445] Vesi war von den strengen Worten des Vaters ergriffen, aber sie zeigte es durch nichts Anderes, als daß sie die Unterlippe zwischen die Zähne klemmte. Die Bäuerin hatte das Angesicht in eines der Kissen verborgen und schluchzte bitterlich. „O versündige Dich nit noch mehr in Deinem Hochmuth, Korby,“ rief sie, die schwache Stimme anstrengend. „Wir sind den Leuten ohnehin schon genug verhaßt! Wenn ich’s doch vor meinem End’ erbitten könnt’ von Gott, daß er Dein hartes Herz erweicht, aber Du hast Dich ganz von ihm abgewend’t … Du hast das Beten verlernt, und seit Du den unglücklichen Holzhandel angefangen hast, ist der Hochmuth völlig Herr geworden über Deine arme Seel…“

„Sei still davon, Betschwestcr,“ schrie sie der Bauer an. „Was hab’ ich von der Frömmigkeit, wenn sie die Mutter dazu bringt, daß sie der Tochter bei ihren Liebschaften hilft! Wenn die leichtsinnige Dirn sich dem Bettelbuben an den Hals wirft, glaubst Du, daß ich’s wegbeten kann?“

„O Korby, schänd’ Dich nit selbst, wenn Du mich und Dein eignes Fleisch und Blut so verleumdest! Ich bin nit entgegen gewesen, weil der Domini wirklich der bravste Bursch ist im ganzen Dorf, weil sie sich alle zwei in Ehren lieb haben von Herzensgrund, und weil ich glaub’, daß sie gut auskommen und einmal glücklich sind mit einander. Wie hoch willst mit dem Mädel hinaus? [446] Den Hof kannst ihr doch nit geben, den mußt Du dem Martin aufheben, der ja wohl mit der Gottes Gnad’ wieder heim kommen wird aus’m Feld – warum willst der Vesi nit erlauben, daß sie den bekommt, den sie einmal ins Herz geschlossen hat?“

„Weil ich mich auf solche Schwachheiten nit einlaß und weil ich den Verstand haben muß für alle Drei,“ entgegnete der Bauer grob… „aber ganz Unrecht hast Du doch nicht. Noch ist ja dem Faß der Boden nicht aus … ich kann’s noch einmal im Guten probiren. Komm her zu mir, Vesi…“

Das Mädchen trat vor den Stuhl, auf dem er saß. Er sah ihr fest ins Gesicht und sagte um vieles milder: „Thu mir das nicht an, Vesi. Du weißt es am besten, ich hab’ Dich alleweil lieb gehabt, weil Du ein festes entschlossenes Gemüth hast, wie ich selber – wend’s nit gegen mich, gegen Dein’ Vater! Laß den Burschen laufen: es ist nichts an ihm, glaub’ mir’s, und wenn’s Dich jetzt hart ankommt, thu’s mir zu lieb… Du wirst es bald überbeizt haben… Ich nehm’ Dich mit in die Stadt nach München, Du darfst Dir kaufen, was nur Deinen Augen gefallt – aber nit wahr, Du gibst den Burschen auf? Du willst ihn nit mehr sehn, nit mehr mit ihm reden, willst ihn vergessen – nit wahr, Du versprichst mir das, Vesi?“

Einen Augenblick trat Stille ein; Beider Augen ruhten in einander; Jedes hielt den gespannten Blick des Andern aus.

„Nein, Vater,“ sagte Vesi dann halblaut und mit bebender Stimme. „Das mußt Du nit von mir verlangen, das kann ich Dir nit versprechen…“

„Vesi …“ sagte der Bauer, und auch seine Stimme bebte in Zorn und Erregung… „Vesi, sag’ nicht so, wenn Dein Vater Dich bitt’…“

„Ich kann nit,“ erwiderte sie, indem sie vor dem finster blickenden Manne wie unwillkührlich auf die Kniee sank … „Wenn Du mich gern hast, so verlang’ Alles von Deiner Vesi, Vater – nur das Einzige nit, daß ich den Domini lassen und vergessen soll! Es wär’ eine Lüg’, wenn ich’s thät, denn ich weiß doch voraus, daß ich’s nit halten könnt’ – und eine Sünd’ wär’s auch, denn ich hab’ es dem Domini schon zuvor versprochen, daß ich ihn gern haben und keinen Andern nehmen will, als ihn…“

„Also Du willst nit?“ rief der Bauer, indem er aufzustehn versuchte. Als das Mädchen schwieg und regungslos in der knieenden Stellung blieb, sprang er ungestüm vollends auf und stieß sie mit dem Fuße vor die Brust, daß sie rücklings zu Boden fiel und das gelöste Haar weit auseinander rollte. Sie gab keinen Laut von sich, auch als der Wüthende über sie herfiel, sie bei den Haaren faßte und in blindem Zorn am Boden hinzuschleppen begann.

Die Mutter schrie laut und kreischend auf, sie wollte hinzu, wollte dem mißhandelten Mädchen zu Hülfe kommen aber sie vermochte es nicht, die zitternden Kniee versagten ihr den Dienst… „Laß sie los, Korby,“ schrie sie außer sich … „Thu’ ihr nichts zu Leid … es ist mein Kind! … Heilige Mutter von Ettal – denk, was Du mir versprochen hast, Korby – denk’ an den Andreastag!“

Als ob dies Wort ein Blitz gewesen, der seinen Arm gelähmt hätte, ließ der Bauer das Mädchen los, das sich schweigend vom Boden erhob, schweigend das zerrüttete Haar in Ordnung brachte und sich dann in einen Winkel setzte, die thränenlosen Augen in den aufgelegten Armen verbergend. Auch der Bauer sprach nichts; er ging mit mächtigen Schritten in der Stube auf und ab, und focht mit den Händen vor sich hin. Die Kranke lehnte an ihren Kissen, und ihre eingefallnen Wangen brannten fieberisch roth.

Nach einer Weile blieb der Bauer vor ihr stehn. „Wie ist Dir, Margareth?“ fragte er mit erzwungener Gelassenheit.

„Ach, nit gut, Korby,“ antwortete sie, „Du brauchst nimmer lang Geduld zu haben mit mir…“

„Davon ist nicht die Red’,“ murrte er. „Bist Du stark genug, daß Du reisen kannst?“

„Wenn’s Dir ein Gefallen ist, will ich mich zusammennehmen, daß ich’s kann…“

„So richte Dich zusammen. Sag’ es auch – Deiner Tochter, daß sie sich fertig macht. Nehmt nur das Nöthigste mit, alles Andre kann nachkommen. Wir fahren in einer halben Stunde weg…“

„…Ohne daß Du mir sagst, wohin?“

„Wohin! Nach Haus! Auf den Durnerhof! Ich will der Hacken einen Stiel machen, und für Dich ists in der warmen Jahreszeit auf dem Hof auch gesünder, als in dem kalten Nest…“

„Nach Haus also? Gern, Korby – ich hab mir’s schon lang gewünscht… ich mein’ ich könnt’ viel ruhiger sterben dort … aber warum heute Nacht noch? Hat’s nicht bis morgen Zeit?“

„Nein,“ rief der Bauer mit wieder durchblitzender Heftigkeit, „heut Nacht noch muß es sein! Ich will nit, daß es bis morgen im ganzen Dorf herum ist, und daß wir hinausfahren, als wenn wir Spießruthen liefen…“

„Dann soll es sein, wie Du’s haben willst, Korby.“

Nach einer Stunde rollte das Fuhrwerk des Holzgrafen wieder in der Nacht durch die Ammergauer Dorfgasse dahin. Vesi saß auf einem eigens bereiteten Sitz neben der in Tücher und Betten eingehüllten Mutter, der Vater auf dem Vordersitz und kutschirte.

Niemand begegnete ihnen, bis sie um die Ecke bogen, wo ihnen die hellbeleuchteten Erkerfenster des Sternwirths entgegen schimmerten. Auf der Straße standen Leute, dicht gedrängt; eine wichtige Nachricht hatte sie noch so spät aus Häusern und Betten gerufen. Der Holzgraf war wider Willen genöthigt, langsamer zu fahren, und konnte sich dem Gespräche der Umstehenden nicht verschließen.

„Also ist es wirklich wahr, Nachbar Zwink?“ fragte ein neu Herzueilender. „Sie sind da und haben gute Nachrichten?“

„Ja,“ rief der Angeredete, „es ist Alles wahr! Sie sind da, Sie haben mit dem König selber geredet – er hat’s erlaubt, der Passion darf gespielt werden! Hört Ihr? Da droben sind sie alle beisammen – da kann man nicht mehr zweifeln…“

Aus den Fenstern des Sternwirthshauses erscholl jetzt Gläsergeklirr, und ein dreimaliges Hoch für Maximilian Joseph, den König „mit dem besten Herzen!“

Mit einem halblauten Fluche hieb der Holzgraf auf seine Pferde ein und sauste davon.



2.

Wenige Wochen später lag ein heller, warmer Vormittag auf dem engen und in seinem Wiesenreichthum höchst anmuthig grünen Graswanger-Thal. Der Himmel ruhte über den waldigen und felskahlen Bergrücken wie ein blaues Glasgewölbe und schloß mit denselben das Thal zu einer Insel auf festem Lande ab, als wenn darin das Glück so recht daheim sein und nirgends einen Weg finden sollte zu entfliehn. Wer damals auf dem schmalen Sträßchen an den Berghängen hinwanderte und den stattlichen Bauernhof von der Anhöhe herunter winken sah, der hätte sich gewiß ein solches Besitzthum gewünscht und hätte gemeint, es könne nicht fehlen, da droben müßten frohe und zufriedene Menschen hausen!

Der Durnerhof lag auch so wunderschön und freundlich, daß man glauben konnte, bei der Erbauung müsse nicht sowohl ein Bauer den Grundriß gemacht haben, sondern ein Landschaftsmaler oder sonst Einer, der den Naturschönheiten nachkriecht oder nachsteigt in den Bergen. Das ansehnliche Gebäude mit weißgetünchtem gemauertem Erdgeschoß, mit dem wetterbraunen Holzgebälke der obern Räume und dem breiten steinbeschwerten Dache lag an sanft ansteigender Anhöhe auf einer kleinen grasigen Hochebene, nach Morgen und Mittag der Sonne geöffnet, gegen den rauhen Norden und den kalten Westen aber durch einen hohen waldigen Berg gedeckt, der das liebliche Asyl in seinen Schutz genommen zu haben schien, wie ein Vater das zu ihm geflüchtete Kind auf seinem Schooß und zwischen seinen Knieen verbirgt. Der grüne, mit Bäumen bewachsene Abhang senkte sich nach drei Seiten allmählich und angenehm gegen den Thalgrund herab, an der vierten, der Straße zugewendeten Seite stürzte er plötzlich in eine senkrechte thurmhohe Felswand ab, an deren Fuß Gebüsch und Trümmer erkennen ließen, daß hier einmal ein Steinbruch betrieben worden war. Dadurch ward der Anblick des Hofes noch eigenthümlicher; was aber den angenehmen Eindruck desselben vollendete, war ein mächtiger alter Thurm, mit einer Mauerkrone auf seiner Rundung, der über der Felswand und so unter Bäumen verdeckt stand, daß er zum Gehöfte selbst zu gehören schien. Dadurch gewann dasselbe das Ansehn einer Burg, wie denn auch Mancher wissen wollte, daß da einmal ein Ritterschloß gestanden und der Durnerhof dann in die Trümmer hineingebaut worden sei. Wieder Andre meinten aber, der runde Thurm mit seinen ungeheuren Quadern [447] müsse noch viel älter sein und aus der Zeit herstammen, in welcher die Römer überall in deutschen Landen ihre Wartburgen und Castelle hingestellt hatten.

Auch beim nähern Hinzutreten erfüllte der Durnerhof, was sein Anblick von der Ferne versprochen hatte, denn überall waren die Spuren jener Ordnung und jener reichen Bequemlichkeit sichtbar, welche die Folge und Begleitung der Wohlhabenden sind. Alle Bäume waren an schöne Pfähle zierlich aufgebunden, alle Wege zum Gehöfte und um dasselbe herum waren sauber und reinlich, nirgends wurde Unrath oder am ungehörigen Orte ein Stück Werkzeug sichtbar. Das Haus selbst stimmte damit vollkommen überein; Alles darin spiegelte und glänzte, und die von den bäuerlichen Gewohnheiten der Umgebung äußerlich in nichts abweichende Einrichtung unterschied sich doch dadurch, daß Alles aus feinern Holzarten gefertigt und mit bessern Stoffen bekleidet war. Der meiste und überraschendste Aufwand hatte stattgefunden, um den alten Thurm wieder herzustellen und ein paar Gelasse desselben wohnlich zu machen. Die Gemächer darin waren natürlich nur eng, aber sie boten in ihrer ungesuchten und darum mit dem alterthümlichen Wesen des Gebäudes übereinstimmenden Einrichtung und Ausschmückung einen Aufenthalt, wie ihn die Einbildungskraft eines Künstlers oder Dichters nur ersinnen konnte, als stillen Zufluchtsort für die stillen Stunden ihrer Schöpferzeit. Es sprach aus Allem ein entschiedener Sinn, ein bestimmter Wille des Ungewöhnlichen und Bessern, nicht ohne unverkennbare Zeichen des Bestrebens, mit Beidem zu prunken. Der letztere Umstand und die ungewöhnliche Stille und Einsamkeit des Ganzen mochte Ursache sein, daß sich bei längerem Verweilen zuletzt das Gefühl eines erkünstelten Zustandes und damit das Unbehagen einstellte, welches unvermeidlich ist, wo eine wenn auch an sich tüchtige Kraft bestrebt ist, über das hinauszugehn, was sie sein soll und sein kann. Ueber aller Fülle des Besitzes und allem Schmuck lagerte daher etwas, was die wahre innere Freudigkeit nicht aufkommen ließ: man konnte die Bewohner beneiden, aber man fühlte zugleich, daß in dem steten hastigen Schaffen und Bessern das Pflänzchen nicht zu wurzeln vermocht hatte, das vor Allem eine stille, möglichst unveränderte Scholle bedarf – die Zufriedenheit.

Wer daran noch gezweifelt hätte, mußte sich überzeugen, wenn er an diesem Morgen in die große Wohnstube des Erdgeschosses getreten wäre und die abgehärmte Miene beobachtet hätte, mit welcher die Bäuerin an dem glänzend gescheuerten großen Ecktisch saß. Der Aufenthalt in der frischen, würzigen Gebirgsluft hatte ihr unverkennbar gut gethan, aber dennoch zeigte ihr Aussehn, daß es den Keim des Uebels in ihr nicht zu zerstören, sondern höchstens seine zerstörende Entwicklung um einige Pulsschläge aufzuhalten vermocht hätte. Ihr Gesicht und die magern Hände waren mit jener leuchtenden Blässe bedeckt, womit die Auszehrung ihre Opfer zu schmücken pflegt. Das Lämpchen brannte noch, selbst heller als zuvor, aber es zehrte an den letzten Tropfen der Lebenskraft, und ein rascher Luftzug schien genügend, es plötzlich zu erlöschen.

Die Bäuerin war vollständig in tiefes Schwarz gekleidet; sie hätte nur die Augen zu schließen gebraucht, um für eine Todte zu gelten. Vor ihr lag ein großes Buch, – es mochte wohl Pater Kochem’s goldner Himmelsschlüssel sein; die Frau sah vor sich hin, und es war zweifelhaft, ob sie las oder den Worten des neben ihr sitzenden Mannes zuhörte.

Es war dies eine große Gestalt, deren Haltung mit dem mächtigen, wohlgepflegten Schnurr- und Knebelbart den alten Soldaten verrieth, auch wenn das rothe Band im Knopfloch ihn nicht als solchen bezeichnet hätte.

Der Mann erhob sich jetzt. „Und so müßt Ihr Euch in Gottes Namen mit dem Gedanken trösten, Frau Loderin,“ sagte er, „daß Euer Martin dem Rufe unseres Königs getreu auf dem Felde der Ehre als ein braver Soldat und tüchtiger Chevauxleger gefallen ist. Ich hab’ gewußt, daß Ihr nicht hinunter könnt in die Kirche, wo heute die Seelenmessen für ihn gelesen werden, und da dab’ ich’s für meine Schuldigkeit gehalten, zu Euch herauf zu gehen und Euch ein tröstliches Wort zu sagen, als sein alter Wachtmeister und Kriegscamerad …“

„Das ist ein trauriger Trost für ein Mutterherz,“ erwiderte die Frau tief aufseufzend.

„Ich kann mir das wohl vorstellen,“ sagte der Wachtmeister, „und doch ist’s ein Trost, Frau Loderin, wenn man Eins von den Seinigen hat verlieren müssen und ihm nachsagen kann, daß es brav gewesen ist bis an sein Ende. Und brav ist der Martin gewesen, das muß ihm sein Feind nachsagen – ich hab’ ihn wohl gesehen, wie wir Anno Fünfe im Mährischen bei Iglau unter Wrede gegen die österreichischen Batterien ansprengten und das Kartätschenfeuer gar manchen Sattel fegte, als wenn nie ein Reiter darauf gesessen wäre … da ist der Martin nicht gewichen und gewankt von meiner Seite und hätte das rothe Bändl, das ich dafür bekommen habe von Napoleon, so gut verdient wie ich! Ich habe mir dort den Rest geholt und muß nun als Invalid abwarten, bis zum letzten Abmarsch geblasen wird – der Martin hat noch mitgemacht, bis ihn Anno Neune eine Tyrolerkugel getroffen hat, bei Schwaz! Man hat’s nicht sicher gewußt seither, was mit ihm geschehen ist – er war eben verschwunden, und es hat nicht an bösen Zungen gefehlt, die gesagt haben, er habe die Verwirrung benützt und sei desertirt. … Ich aber hab’ ihn bei der Attaque von Iglau gesehen und hab’ es immer gesagt: das kann nicht sein, und ich hab’ Recht behalten! Jetzt nach zwei Jahren ist’s heraus, daß ihn die Tyroler verschleppt und vergraben hatten, und darum ist’s doch ein Trost, Loderin, daß er nicht schimpflich vor dem Feind desertirt, sondern als ein ehrlicher Soldat geblieben ist …“

Ueber die hohlen Wangen der Bäuerin kugelten ein paar große Thränen. „Ja, das hab’ ich auch gewußt,“ sagte sie, „daß mein Martin brav bleiben wird sein Lebtag – aber um so härter ist’s, daß ich ihn verloren hab’, und es hätte nicht sein müssen! Er hätt’ nit hinaus gemußt in den leidigen Krieg – aber der Unfrieden im Haus hat ihn auch hinaus getrieben! Er ist das erste Opfer gewesen, und so wird’s fortgehen, bis wir Alle zu Grunde gegangen sind!“

Der Wachtmeister sah die Bäuerin mit bedenklichen Blicken an. „Weil Ihr es selber sagt, Durnerbäurin,“ bemerkte er, „muß es wohl so sein! Es ist also wirklich wahr, was man erzählt, daß Vater und Sohn sich nicht haben vertragen können und daß der Sohn die Hand aufgehoben hat gegen den Vater …“

Die Bäuerin machte eine rasche abwehrende Bewegung.

„Gut, gut, ich versteh,“ rief der Wachtmeister, „es läßt sich denken, daß man von so etwas nicht gerne spricht. Ich wollt’ Euch wünschen, daß Ihr es zu Stande brächtet, den Stolz und Uebermuth Eures Mannes zu brechen … es kann kein gutes Ende nehmen, wenn es so fort geht! Wißt Ihr denn gar nicht, was ihn so verstockt und so bitterbös gemacht hat? … die Leut’ sagen, er soll einmal ganz anders gewesen sein in seiner Jugend.“

Die Bäuerin antwortete mit sichtbarem Widerstreben. „Ich weiß es nur allzugut – aber ich hab es meinem Mann versprechen müssen, daß es niemals über meine Lippen kommen soll! … Es ist ja doch möglich, daß er sich ändert, … er ist ja doch heute nach Ammergau hinein zu dem Seelgottesdienst von unserm Martin!“

„Hoffen wir also!“ sagte der Wachtmeister. „Solltet Ihr aber einmal auf einen Freund anstehen, so vergeßt den Chevauxlegers-Wachtmeister Georg Luipold nicht! Und damit Gott befohlen, und noch einmal – tröstet Euch! Wer weiß, ob Euch nicht noch Schlimmeres bevorgestanden, wenn der Martin länger gelebt hätte. Es kommt mir vor, als hätte der Frieden schon wieder die längste Zeit gedauert und als würde das Jahr 1812 in gar manches Haus viel größeres Leidwesen bringen, als Ihr erlebt habt! Ich habe jetzt freie Zeit genug, um zu sinniren und zu beobachten und die Grabschrift auszustudiren, die man mir einmal auf meinen Leichenstein setzen soll … Da kommt es mir in meinen Betrachtungen oft vor, als sollt’ es von der Franzosenherrschaft auch bald heißen, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, und als wäre die Zeit nicht mehr fern, wo die Deutschen, statt auf einander loszuschlagen, miteinander auf die Franzosen losdreschen … aber das wird Blut kosten, viel Blut, und da werden noch viele tausend Mütter zu weinen bekommen, wie Ihr weint!“

[462] Das Geräusch eines heranrollenden Wagens unterbrach den Redefluß des warm gewordenen Veteranen. Durch die Fenster sah man den Durnerbauer ankommen, in städtischer Chaise, von einem Knechte im Sonntagsstaate kutschirt, und Vesi neben sich auf dem weich gepolsterten Rücksitz, ebenfalls in tiefe Trauer gekleidet. Sie sah in dem dunkeln Anzug und mit der leidenden Blässe des Gesichts ungemein lieblich aus, denn es war dadurch etwas Weicheres in ihre sonst etwas finster gewordenen Züge gekommen. Auf dem Antlitz des Holzgrafen dagegen lagerte es desto finsterer.

Während Beide in den Hausgang traten, machte sich der Knecht daran die Pferde auszuschirren. Er streichelte die schönen Thiere, indem er ihnen behutsam die Stränge über’m Rücken zusammenknüpfte, und brummte dazu unwillig vor sich hin. Eine Dirne, die unter die Thür des Kuhstalls getreten war, um das stattliche Gespann und Vesi’s reichen Anzug zu bewundern, rief ihm zu. „Was hast denn, Matthies?“ sagte sie, „Du thust ja mit Deine Gäul’, als wenn Du sie das letzte Mal ausschirren thätst!“

„Es wird auch bald das letzte Mal sein,“ erwiderte der Knecht. „Zu Michaeli sag ich dem Bauern auf, ich mag nit mehr bleiben in dem unchristlichen Haus!“

„Wie Du so reden magst,“ rief die Magd, „und kommst justament aus der Kirchen zurück!“

„Ja, ich komm’ schön aus der Kirchen,“ war die Antwort. „Wir sind hingefahren bis an die Gottesackerthür, und die Vesi ist hinein in die Kirchen; der Bauer aber ist sitzen geblieben, und wie drin die Orgel angegangen ist, sind wir wieder weiter gefahren, als wenn der böse Feind hinter uns wär’ …“

„Aber das ist doch merkwürdig – und wohin denn?“

„Es ist zum Lachen! Nach Unterammergau hinüber. „Ich hab’ ein wichtiges Geschäft dort beim Hunterwirth, das kein’ Aufschub hat,“ hat er gesagt … und was war das wichtige Geschäft? Er hat sich eine Flasche Wein geben lassen, und ist dahinter gesessen und hat kein Wort geredt, sondern immer vor sich hin geschaut auf Einen Fleck … und zuletzt hat er den Wirth gefragt, er möcht’ ein neues schönes Pferdgeschirr haben, ob er ihm keins verrathen könnt … Da hab’ ich mir’s vorgenommen, so gern ich die Prachtgäul’ hab – ich bleibe nit länger mehr in dem Haus, als ich bleiben muß …“ Damit verschwand er sammt den Pferden in der Stallthüre.

Der Bauer war indeß mit Vesi in die Stube getreten, von dem Wachtmeister und der Bäuerin begrüßt, welche ihm den Grund mittheilte, weßhalb dieser auf dem Durnerhof eingesprochen hatte. Er erwiderte nur kurz, und die Bäuerin, welche ihn zu gut kannte, um nicht zu sehn, daß ihm etwas Unangenehmes begegnet sein mußte, hielt es für das Gerathenste, wenn er Anlaß bekäme, sich auszusprechen. Sie fragte nach der Ursache seines Unmuths.

„Ach was!“ rief er, „es ist nicht der Mühe werth, aber ich habe mich doch geärgert über den miserabeln Kerl, den Friedl von Eschenlohe. Kommt auf mich zu mit dem Weinglas und will mit mir anstoßen und lobt meinen schönen Hof, und wenn er mir feil wär’, wollt’ er mir gleich dreißigtausend Gulden dafür auf den Tisch hinlegen! Himmelsacrament – Ein solches Schandgebot für einen schuldenfreien Hof, wie der meinige, der unter Brüdern seine fünfzig werth ist …“

[463] „Du mußt Dich darüber nit ärgern,“ begütigte die Bäuerin, „der Mann muß nit nüchtern gewesen sein … aber wie bist Du denn mit ihm beim Wein zusammengekommen? Bist Du denn nicht in der Kirche gewesen, im Seelengottesdienst?“

„Ich hab’ ein dringendes Geschäft gehabt, drüben in Unterammergau,“ war die Antwort, „und wie ich zurückgekommen bin, war’s schon zu spät …“ Dabei hatte er sich mit dem Gesichte gegen die Wand gewendet und nahm den dort hängenden Doppelstutzen mit Jagdranzen herab.

Die Bäuerin sah ihm entsetzt, der Wachtmeister befremdet zu. „Also Du bist nit in der Kirche gewesen!“ jammerte sie. „Und was hast jetzt mit dem Gewehr im Sinn? Wirst doch nit auf die Jagd gehn wollen an dem Tag, wo sie Dein’ einzigen Sohn in’s Grab gesegnet haben? Aber freilich, warum soll’st Du nicht! Hast nit einmal Zeit gefunden zu ein’ armseligen Vaterunser für Dein eignes Kind!“

„Mach’ mir den Kopf nit warm,“ entgegnete der Bauer, das Gewehrschloß putzend und prüfend. „Ich muß mir’s aus dem Sinn schlagen, und wenn wir uns alle Zwei hinter den Tisch hinsetzen und flennen, machen wir den Buben doch nimmer lebendig.“

„Wenn Ihr mir’s nicht übel nehmen wollt, daß ich ein Wort darein rede,“ begann der Wachtmeister, „so möcht’ ich wohl rathen, das Jagdgehen heute bleiben zu lassen. Es ist der Leute wegen, und ein vernünftiger Mann wie Ihr, Durnerbauer, giebt den müßigen Zungen nicht gern etwas zu thun.“

Der Bauer hatte die Ladung der beiden Läufe untersucht; jetzt stieß er den Ladestock darauf und ließ ihn sich in die Hände springen. „Na, weil der Herr Wachtmeister so meint,“ sagte er dann mit einem spöttischen Seitenblick auf denselben, „und weil er doch ein so guter Freund von uns ist, will ich thun, was er haben will, und will daheim bleiben. Dann will ich aber auch gleich Ordnung machen in meinem Haus, und da ist es mir gerade recht, daß ein Zeug’ und Beiständer dabei ist, wie der Herr Wachtmeister!“

Das Gewehr in den Händen behaltend, trat er an die Thüre und rief laut nach Vesi. Nach einigen Secunden trat sie ein; sie war unmittelbar nach der Ankunft in ihre Kammer gegangen, hatte den Trauerstaat abgelegt und kam nun wieder in der gewöhnlichen Kleidung, wie man sie Tags über und zur Arbeit trägt.

„Seit Ihr wieder daheim seid, Du und die Mutter,“ begann der Bauer, „geht Ihr alle Beide herum, als wie verlassen und verloren; das vertrag’ ich nit, das muß anders werden …“

„Du wirst nit klagen können, Vater,“ sagte Vesi, „daß etwas im Haus und im Feld nit richtig geschieht. Ich thu’ meine Schuldigkeit …“

„Schuldigkeit?“ höhnte der Bauer, „die thut mir jede Dienstmagd für Kost und Lohn – dazu brauch’ ich keine Tochter… aber die schiefen, verdrossenen Gesichter sind mir zuwider, und ich will ein End’ machen, soll’s biegen oder brechen!… Ich hab’ nichts mehr zu Dir gesagt, Vesi, wegen Deiner dummen Bekanntschaft; ich hab’ gemeint, Du sollst selber zur Einsicht kommen – jetzt ist die Sach’ anders ’worden, jetzt hab’ ich kein’ Sohn mehr, dem ich den Hof geben könnt’ – jetzt muß es auch mit Dir anders werden! Kurz und gut also – ich hab’ das Bauernleben satt, ich zieh’ nach München in die Stadt und will nur noch meinen Holzhandel treiben; drum will ich Dir den Durnerhof übergeben, Vesi, und hab’ Dir einen prächtigen Hochzeiter ausgesucht …“

Vesi sah schweigend vor sich hin. „Nun,“ schrie er, „hast Du gar keine Antwort für mich?“

„Was soll ich sagen?“ erwiderte das Mädchen. „Meine Antwort kennst Du lang’! – Du kannst und sollst nit sagen, daß ich ungehorsam bin … ich hab’ Dir den Willen gethan und hab’ seit dem letzten Abend in Ammergau mit dem Domini kein Wort mehr gered’t – ich hab’ ihn mit keinem Aug’ mehr gesehn, als wenn ich’s nit hab’ vermeiden können, daß er mir in den Weg ’kommen ist – so will ich’s auch für die Zukunft machen, ich will nicht verlangen, daß Du mir den Domini geben sollst – aber das muß Dir auch genug sein, Vater, und Du mußt nit von mir verlangen, daß ich ihn vergessen und mein Wort brechen sollt’ …“

„So?“ sagte der Bauer, vor innerer Erregung bebend. „Du willst also den Durnerhof gar nicht? Und was soll ich denn damit anfangen, meinst?“

„Ich mein’ Du sollst ihn behalten, Vater, und sollst wirthschaften wie bis jetzt, nur sollst lieber den leidigen Holzhandel aufgeben! – Wenn Du aber bardu (partout) in die Stadt willst, so wirst Du wohl einen ordentlichen Käufer finden – ich mein’ es ist doch kein rechter Segen mehr auf dem Durnerhof!“

„Wo soll der Segen herkommen, wenn man mit solchen Kindern geschlagen ist!“

„O Vater, Du solltest das nit sagen – von mir ist eh’ nit die Red’ – aber Du solltest es um den Martin nit sagen, der noch kaum eingesegnet ist in seinem Grab … Was willst denn noch, Vater? Du hast den Martin verstoßen wie den Verlornen Sohn … Du hast mir die Herzblätter aus’brochen aus mein’ jungen Leben, daß die Freud’ und die Lust dahin ist für alle Zeit – Vater, was willst denn noch?“

Der Bauer saß unbeweglich, er war todtenbleich bis in die Lippen hinein. „Ich hab’ den Burschen verstoßen?“ würgte er heraus. „Hat er nit die Hand aufgehoben gegen seinen Vater?“

„Vater,“ entgegnete Vesi, indem sie ihn fest anblickte, „ich bin damals noch ein kleines halbgewachsenes Mädel gewesen, aber ich weiß noch Alles, als wenn’s heut gewesen wäre! Du hast ihn einen Dieb geheißen, Vater, weil er dem abgebrannten Niedergütler ein Schäffel Korn gegeben hat ohne Dein Wissen… da – es ist wahr – da hat er gethan, als wenn er die Hand aufheben wollt’ gegen Dich; aber er hat’s nit vollführt – er hat die Hand wieder sinken lassen im Augenblick und ist fort – und ist seit der Stund mit keinem Fuß mehr in sein Elternhaus gekommen!“

„O Korby, Korby,“ jammerte die Bäuerin, „giebt’s denn gar kein Mittel, Dein hartes Herz weich zu machen? …“

„Nein, Mutter, nein,“ rief Vesi, „ich hab’s heut gesehn, wie der Vater nit einmal heut hinein ist in die Kirch’ – wer sein Herz nit einmal vor unserm lieben Herrgott demüthigen will, der kann auch mit keinem Menschen Erbarmniß haben!“

Der Bauer bebte vor Wuth. „So was unterstehst Du Dich Deinem Vater zu sagen?“ keuchte er mühsam.

„Ja, Vater,“ erwiderte Vesi, indem sie ruhig aufstand und sich fortzugehen anschickte. „Ich will geh’n, denn auf die Weis’ kommen wir nit in’s Reine – aber ich untersteh’ mich doch, Dir das zu sagen – von Deinem Kind, das Dich gern hat, wenn Du’s auch nicht glaubst, kann’s Dich am wenigsten kränken … Ich sag’s noch einmal, ich bitt’ Dich, Vater – bet’! Zwing Dich, daß Du beten kannst, und wenn’s nur ein einzig Vaterunuser ist … dann wollen wir weiter reden!“

„Beten soll ich?“ brüllte der Bauer losbrechend. „Bet’ Du selber Dein Stoßgebet, Rabenkind von einer Tochter … das ist Dein Letztes!“

Außer sich vor Zorn fuhr er mit dem Gewehre empor und spannte den Hahn. Der Wachtmeister, welcher ruhig seitwärts gestanden und längst einen solchen Ausbruch befürchtet haben mochte, fiel ihm in den Arm. Von der andern Seite hängte sich die Bäuerin an ihn, welche schon mehr einer Todten als einer Lebenden glich.

„Um Gotteswillen, Korby, was willst Du thun?“ kreischte sie voll Entsetzen. „Willst Du zum Mörder werden an Deinem eigenen Kind?“

Der Bauer war anzusehen wie ein gefangenes Raubthier, das sich wuthschnaubend seiner Feinde zu entledigen sucht; der Schaum trat ihm vor den Mund. Vesi allein erwartete ruhig und festen Blicks, was kommen werde.

„Denk’ an den Andreastag!“ rief die Bäuerin wieder und ängstlicher als zuvor.

„Soll ich mich mein’ Lebtag von Euch meistern lassen, wie ein Schulbub?“ tobte der Bauer. In der nächsten Secunde hatte er mit einem riesenkräftigen Ruck das Weib von sich geschleudert und den Wachtmeister von sich gedrängt … und der Schuß dröhnte durch das stille Haus. – –

Ein Schrei folgte ihm; dann war tiefes Schweigen.

Vesi stand aufrecht und unverletzt; im entscheidenden Momente hatte der Wachtmeister den Gewehrlauf in die Höhe geschlagen, daß der Schuß in die Decke fuhr.

Die Bäuerin lag am Boden hingestreckt, einige Blutstropfen auf den bläulichen Lippen – die ungeheuere Aufregung hatte das zerstörte schwache Leben mit einem Ruck entwurzelt. Sie war todt.

Vesi sah es zuerst; mit einem wilden Schrei stürzte sie neben der Leiche auf die Kniee, warf sich mit Küssen und zärtlicken Worten darüber hin, und die Thränen, die ihr schon so lange in den heißen, trockenen Augen gebrannt hatten, strömten unaufhaltsam hervor.

[464] Der Wachtmeister trat hinzu und befühlte Hände und Brust der Frau. „Da ist nicht mehr zu retten und zu helfen,“ sagte er, „die arme Frau hat’s überstanden … aber kommt, Vesi, Euch kann noch geholfen werden! – Macht’s mit Euch selber aus, Durnerbauer, was Ihr gethan habt,“ fuhr er, zu diesem gewendet, fort, „vor der weltlichen Obrigkeit werdet Ihr es nicht zu verantworten haben, denn Eure Tochter wird Euch nicht anklagen, und ich will schweigen, ihretwegen und wegen Eures braven Martin, der mein Kriegscamerad gewesen ist!“ – Damit trat er zu Vesi, suchte sie emporzuziehen und sagte: „Kommt, Vesi, Ihr seid in dem Hause nicht mehr sicher; folgt mir, ich will Euch an einen Ort bringen, wo Ihr gut aufgehoben sein sollt.“

Vesi verharrte in ihrer Stellung und schüttelte mit dem Kopf. „Ich dank’ schön, Herr Wachtmeister,“ rief sie unter Thränen, – „aber ich geh’ nit fort. In das Haus gehör’ ich, und da muß ich aushalten … Die Mutter ist todt, der Vater wär’ jetzt ganz allein… Geht nur in Gott’s Namen, Herr Wachtmeister… wenn ihn auch der Zorn übergangen hat … es hat keine Gefahr für mich bei meinem Vater!“

„Hört Ihr das?“ sagte der Wachtmeister zu dem Bauer, der mit dem Fallen des Schusses todtenblaß, aber unbeweglich dagestanden war und die Büchse fest in den Händen hielt. „Könnt Ihr das hören, und es rührt Euch nicht?“

In das Angesicht des Bauers kehrte Leben und Röthe zurück, mit ihnen aber auch der Hohn und die alte Wildheit.

„Oho,“ lachte er grimmig, „mich macht man so leicht nicht kleinmüthig! Sie meint wohl, sie zwingt mich zuletzt doch noch mit ihrem Gewinsel … Hat sie mich denn schon gefragt, ob ich sie behalte, wenn sie bleiben will? Wenn sich Eins von uns demüthigen und zum Kreuz kriechen muß, ist sie’s! – In meinem Haus ist kein Platz für Leut’, die nit thun was ich will, und hab’ ich heut meinen Sohn verloren und mein Weib dazu, was frag’ ich darnach, wenn ich auch noch die Tochter verlier’!…“

Vesi wendete sich auf den Knieen und blickte nach dem Vater hin, die Thränen stockten in ihren starr aufgerissenen Augen.

„Rede,“ schrie er sie mit steigender Bewegung an, „gieb mir eine klare Antwort. Entweder Du bleibst bei mir und thust, was ich von Dir verlang’, oder Du bist mein Kind nit mehr und marschirst mir aus dem Haus noch in der Viertelstund’ … Red’, sag ich – ich hab’ noch eine zweite Kugel im Lauf…“

„Fort, Vesi,“ rief der Wachtmeister dazwischen springend, als er wirklich wieder eine Bewegung mit dem Stutzen machte. „Kommt mit mir – Ihr seht, daß er von Sinnen ist!“

– – „So will ich wenigstens noch Abschied nehmen – von meiner todten Mutter,“ erwiderte Vesi und drückte noch einen langen, innigen Kuß auf die fühllosen, erstarrenden Lippen der Leiche. Dann blickte sie ihr noch einen Augenblick mit verschwimmenden Augen in das entseelte Gesicht, auf welchem jetzt ein Friede lag, der ihm seit langer Zeit fremd gewesen im Leben. Rasch sich erhebend schritt sie dann der Thüre zu.

An dieser brach die gewaltsam angespannte Kraft, sie schwankte und wäre zusammengesunken, wenn nicht der Wachtmeister sie unterstützt hätte. An seinem Arme wankte sie über die Schwelle des väterlichen Hauses auf den zierlichen Wegen die Anhöhe hinab.

Als sie einige Schritte gegangen war, flog ihr aus der Thüre ein Bündel nach. Der Bauer hatte, als er sie gehen sah, den Kasten aufgerissen und, was ihm von ihren Kleidern zuerst in die Hände kam, in einen Pack zusammengebunden und schleuderte ihn der Scheidenden nach.

Schweigend hob sie ihn auf und schritt weiter, während die Thüre des Hauses schwer zufiel und der von innen vorgestoßene Riegel rasselte. – –

– – – Einige Tage später fand für dieses Jahr die letzte Aufführung der Passionsvorstellung statt. Dieselbe wurde damals nicht so oft wiederholt, als es seither üblich geworden; auch war der Besuch von Zuschauern um Vieles geringer, so daß häufig die Mühe der wackern Ammergauer unvergolten blieb und der Gemeindeseckel statt des jetzt sich ergebenden ansehnlichen Gewinns nicht selten ein beträchtliches Sümmchen auf die Kosten zu zahlen bekam. Diesmal war der Zudrang ungewöhnlich, denn das Spiel war lange verboten gewesen und jetzt in noch ungesehener Pracht und Schönheit der Anzüge wie der ganzen Ausstellung wieder hergestellt worden.

Die letzten Töne des Schluß-Hallelujah der Schutzgeister waren verklungen, und erschüttert drängte das Volk nach allen Seiten durch die vielen Ausgänge in’s Freie. Während die Einen zur langentbehrten leiblichen Erholung den verschiedenen Wirthshäusern zueilten, sammelten sich rings die Gruppen der Wallfahrer, welche aus Tyrol und Schwaben herbeigekommen und sich betend zur Rückwanderung anschickten. Bald rasselten Fuhrwerke aller Art zu den beiden Enden des Dorfen hinaus, und durch den anmuthigen Ammergrund hin schlängelten sich die nicht abbrechenden Züge der Fußwanderer.

Unweit des Schauplatzes hielt eine glänzende Equipage, mit vier prachtvollen Rappen bespannt und von reich galonnirter Dienerschaft umgeben. Dahin begleiteten einige Männer ehrfurchtsvoll einen etwas beleibten stattlichen alten Herrn mit einem mächtigen Ordensstern auf dem Oberrock. Es war der damals allmächtige Minister Montgelas, der eigens von München gekommen war, die Bauernkomödie zu sehen, welche er als der Aufklärung der Zeit widersprechend verboten, und die der leutselige Max Joseph gegen seinen Willen gestattet hatte. Er war von der Aufführung sehr befriedigt und nickte noch aus dem Wagen gnädig auf den Pfarrer Albinus Schweiger, Pater Ottmar Weiß und Lehrer Dedler heraus, welche mit entblößten Häuptern denselben umstanden. „Leben Sie recht wohl, meine Herren,“ sagte er, „danken Sie allen Ammergauern von mir für den seltenen Genuß, den sie mir bereitet haben, und sagen Sie ihnen, ich werde es Seiner Majestät dem König genau erzählen und dafür sorgen, daß es ihnen nie mehr verwehrt werden soll, die Passion zu spielen!“ Damit rollte der Wagen hinweg, und die Männer eilten der Bühne zu, den Mitwirkenden diesen neuen und gewichtigen Beweis zu bringen, wie gut sie ihre Sache gemacht hätten.

[465] In den innern Räumen der Bühne herrschte ein buntes unübersehbares Gewirr von Farben, Trachten und Gestalten. Dort legten die Schutzgeister die schönen bunten Mäntel und die glänzenden Diademe wieder ab; hier schlüpfte eine zahlreiche Schaar aus den Sandalen mit Kitteln, in welchen sie das empörte Judenvolk dargestellt hatten. Auf der einen Seite legte das Kriegsheer Pharao’s, das soeben vom rothen Meer verschlungen worden, Helm und Panzer ab, während gegenüber Jonas der Prophet in der Nähe des ungeheuerlichen Haifisches stand und sich das Gewand losgürtete. In stiller Sammlung schritt der Bilderschitzer Jakob Zwink die Stufen hinab, noch ganz erfüllt von dem Gewichte der ihm gewordenen Aufgabe, der Darsteller des Erlösers zu sein.

In einer einsamen Ecke, an einem Fenster, welches die Aussicht über die Wiesen gegen die Berge hin bot, lehnte ein junger Mann im langen faltigen Apostelgewande. den hohen Wanderstab in der Hand, und sah in den beginnenden Abend hinaus, als habe er völlig vergessen, daß es Zeit sei, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Es war Domini, der junge Bildschnitzer, noch um Vieles bleicher, als er an jenem Abend der Begegnung mit dem Holzgrafen gewesen. Er beachtete es gar nicht, daß ein Mädchen an ihm vorüberschritt, ihn mit eigenthümlichem Blick betrachtete und dann Miene machte, ruhig ihrer Wege zu geben. Schon nach einigen Schritten aber besann sie sich anders, kehrte zu dem Sinnenden zurück und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

„Will der Apostel Jakobus noch heut auf die Wanderung gehen, weil er noch aufgeschürzt ist und den Pilgerstab in der Hand hat?“

Dem Angeredeten schoß das Blut in's Gesicht. „Vesi!“ stammelte er, „ … Du bist es?“

„Nicht Vesi,“ erwiderte sie … „Basthi, die Verstoßene – ich habe sie nit blos gespielt, ich bin’s wirklich …“

„Ich hab’ davon gehört … auch ich bin wirklich Jakobus der Wanderer – denn ich gehe noch heute fort, um nicht wiederzukommen.“

„Und wohin gehst Du?“

„Nach Rußland. Du weißt, daß es von den Ammergauern heißt wie von den Nünbergern … Ammergauer Witz und Hand geht durch jedes Land! Ueberall trifft man unsre Landsleute – in Petersburg ist Andreas Steinbacher, ein weitschichtiger Vetter von mir – er ist ein reicher Kaufmann geworden! Auf den hab’ ich mich besonnen, zu dem will ich hin …“

„Und warum willst Du fort, Domini?“

„Wie kannst fragen? Du weißt, daß ich meiner Lebtag nichts sehnlicher gewünscht hab’, als ein Bildhauer zu werden – der Vetter in Petersburg wird mir wohl dazu verhelfen, daß ich das erreich’ nur einen richtigen Meister finde …“

Vesi sah ihn durchdringend und vorwurfsvoll an. „Hab’ ich das um Dich verdient, Domini.“ sagte sie, „daß Du mir nit die Wahrheit sagst? – Ist das der wahrhaftige Grund, der Dich, forttreibt – und ist es nit meinetwegen, daß Du gehst?“

„Und wenn es so wär ?“ fragte der Bursche stockend.

„Dann thu’s nit – und bleib’ da. Ich bin die Zeit her, seit ich fortgemußt hab’ vom Durnerhof, bei der Base im Dorf gewesen – es ist meiner seligen Mutter Schwester – ich hab’ mir derweilen um einen Platz für mich umgeschaut. Jetzt hab’ ich einen solchen gefunden – also kannst Du bleiben und warten, bis Dir Pater Ottmar den versprochenen Meister verschafft. Ich, mein’ alleweil, bei den Russen in Petersburg wird’s nit weit her sein damit …“

„Nein, Vesi,“ entgegnete der Bursch eifrig, „laß mich gehn – aber Du sollst um meinethalben nit fort aus Deiner Heimath und aus Deinem väterlichen Haus! Ich weiß, warum Du fort bist – Du hast dein Wort halten wollen, das Du mir gegeben hast – aber ich hätt’ keine ruhige Stund’, wenn ich an Deinem Unglück und Deinem häuslichen Unfrieden Schuld sein sollt’ … ich geb’ Dir Dein Wort zurück!“

Vesi sah ihm warm und herzlich in die gutmüthigen, thränenschimmernden Augen. „Du bist brav in allen Stücken,“ sagte sie, „– aber ich nehm’s nit an! Ich hab’ Dich gern, Domini – Dich allein, und es wär’ eine Sünd’, wenn ich mit einem Andern zum Altar gehn wollt – und ohne das ist kein Frieden zu machen mit dem Vater …“

„Ist es wahr, Vesi? Wirklich wahr?“ rief Domini entzückt. „Du bleibst mein? Du willst aushalten bei mir und warten, was mir der liebe Gott bestimmt?“

„Gewiß,“ entgegnete Vesi, ihm die Hand hinreichend, in die er kräftig einschlug.

„Und wenn es nicht ist?“ begann er wieder. „Wenn ich zu Grund gehn muß und mein Wort nit halten kann?“

„Dann wollen wir uns damit trösten, daß wir eine Lieb’ im Herzen getragen haben – so treu und engelrein wie die unsrige – und daß es eine andre Welt giebt, in der sie nicht verboten ist, und in der alles Herzweh, das wir jetzt ertragen müssen, nur eine Perl’ mehr ist in unserer Seligkeit!“

[466] Ein tiefer Blick in die verschwimmenden Augen – eine innige Umarmung – ein rascher glühender Kuß – dann schritt zur einen Seite Apostel Jakobus, zur andern Königin Basthi. die Verstoßene, in die Welt hinaus.



3.

Die Vorgänge auf dem Durnerhofe hatten trotz aller Vorsicht und Zurückhaltung Vesi’s und des Wachtmeisters dennoch den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden und machten nun mit den abenteuerlichsten Zuthaten und Ausschmückungen die Runde in den Kunkelstuben und an den Wirthstischen des Dorfes. Dazu kamen noch allerlei sonderbare Nachrichten über das Leben und Treiben, das der Holzgraf nach der Vereinsamung seines Hauses begonnen hatte. Dem anfänglichen Gerede, daß er das Bauernleben ganz aufgeben, sich auf den Holzhandel verlegen und nach München ziehen wolle, um in der Residenz seinen Reichthum glänzen zu lassen, war bald eine andere Mittheilung gefolgt. Vesi hatte in der Stadt einen Platz gefunden, das war Grund genug für den Holzgrafen, mindestens den ersten Theil dieses Planes aufzugeben und ein, wenn auch nur zufälliges Zusammentreffen mir seiner Tochter zu vermeiden. Desto eifriger ließ er sich die Aufführung des zweiten Theils angelegen sein und suchte jede Gelegenheit auf, seinen Reichthum zu zeigen und das Geld nach Sinn und Ausdrucksweise der Bevölkerung zum Fenster hinaus zu werfen. Nirgends in der ganzen Umgegend wurde eine Kirchweihe begangen, eine Hochzeit gefeiert oder irgend ein Tanz gehalten, ohne daß das Gespann des Holzgrafen erschienen wäre. mit einem prachtvollen Trottelgeschirre von schwarzem Glanzleder, das er erst um schweres Geld angeschafft hatte und das die Bewunderung aller Kenner und Roßtäuscher war. Aber auch ohne solchen besondern Anlaß fand er sich bald da, bald dort in einem Wirthshause ein und ließ sieden und braten und Wein und Bier und Kaffee herbeischaffen, und regalirte und tractirte, wer Lust hatte mitzuhaben. Natürlich fehlte es so wenig als anderswo an arbeitsscheuen und genußlustigen Leuten, welchen solche Gelegenheiten, wohlfeil etwas mitzumachen, höchst willkommen waren, nur so hatte der Holzgraf bald ein wüstes und meist übel berufenes Gefolge um sich, das ihn begleitete oder sich anscheinend zufällig immer da einfand, wo er erwartet werden durfte. Es waren ein paar Bauern, die über’m Handel mit Vieh und Getreide die schlichte landmännische Beschäftigung verlernt und die üblen Gewohnheiten des halb städtischen Treibens noch leichter erlernt hatten; einige ledige Burschen, welche der Arbeit den Müßiggang und der strengen häuslichen Ordnung die lockere Zucht des Wirthshauses vorzogen. Tage lang saßen sie mit dem Holzgrafen um den Bierkrug oder die Weinflasche zusammen, bald zechend und jubilirend, bald mit Karten oder Würfeln oder auf der Kegelbahn bemüht, möglichst viele von den Kronthalern an sich zu bringen, welche dem verschwenderischen Holzgrafen buchstäblich aus der Tasche fielen.

Diesem gefiel die Art und Weise, wie dies Gelichter sich an ihn drängte und sich gegen ihn benahm; es lag darin eine Gattung von Auszeichnung und Ehrerbietung, wornach er immer mehr verlangte, je mehr er, wenn auch unklar und uneingestanden, fühlen mochte, daß er des Einen wie des Andern stündlich unwürdiger wurde. Aus dem gleichen Grunde war es ihm auch am behaglichsten in den Wirthshäusern, denn die Besitzer derselben hatten allen Respect vor einem Gaste, der gerate das, was ihnen das Liebste war, so gering achtete, daß er es ihnen ohne Mühe zukommen ließ – sein Geld.

Der Holzgraf hatte auch nicht Unrecht, wenn er grollend wahrzunehmen glaubte, daß sein Ansehen im Volke nicht im Steigen begriffen war. Das Volk hat eine gewisse heilige Scheu vor dem Reichthume und vor dem, der ihn besitzt, aber diese Scheu ist durch den richtigen Gebrauch desselben bedingt und schlägt, wo dieser fehlt, leicht in’s Lächerliche oder in Verachtung oder geradezu in offenen Haß um. Sie Stimmung gegen den Holzgrafen schwankte zwischen beiden letztern Regungen; war man ihm zuvor seines Hochmuths wegen nicht eben freundlich gesinnt gewesen, so zürnte man ihm jetzt, weil der Hochmuth zur Härte gegen Weib und Tochter geworden war; man zuckte die Achseln, wenn man seine sinnlose Verschwendung und Schwelgerei sah – und es bedurfte nur noch eines Anstoßes, um den Haß hervorzubringen.

An einem solchen ließ es der übermüthige Bauer auch nicht fehlen. War er schon früher von allen Gottesdiensten und von Allem, was sich auf die Kirche bezog, ferne geblieben, so hatte er sich doch den Schein gegeben, als wolle er sein Thun durch irgend einen Vorwand bemänteln, als scheue er sich, die frömmere Anschauung der Bevölkerung zu verletzen. Jetzt that er gerade das Gegentheil und fuhr dem gläubigen Landvolk offenbar und mit herausfordernder Absichtlichkeit durch den Sinn. Er ließ keine Gelegenheit unbenützt, seine Geringschätzung gegen Alles, was Kirche, Gebet und Glauben betraf, an den Tag zu legen, und wenn ein betender Zug von Wallfahrern durch ein rücksichtslos daher tobendes Gespann auseinander gesprengt wurde, oder wenn irgendwo das Wort des Predigers für die Andächtigen vor Rädergerassel und Peitschenknallen kaum mehr verständlich war, wußte man ohne Frage, daß der wilde Holzgraf seinen Unfug getrieben habe.

Es war daran, daß die Behörden nicht mehr umhin konnten, einem so seltsamen als störenden Betragen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, und in gleichem Maße, als dies geschah, zog sich die Bevölkerung, wo er mit ihr in Berührung kam, von ihm zurück. Namentlich war dies der Fall bei den Bewohnern und Bürgern von Ammergau; allein je unlieber sie es zu bemerken schienen, wenn der Holzgraf sich in das Herrenstübchen drängte, wo sie sich zum Abendtrunk zusammenfanden, je mehr schien er es darauf anzulegen, sich zu ihnen zu drängen.

So war mehr als ein halbes Jahr vorübergegangen; der strenge Winter war zu Ende und der lustige Auswärts begann. Er war aber diesmal nicht so lustig wie sonst, wo er den fröhlichen Vorläufer des Frühlings machte. Diesmal kamen mit den Schwalben und Stahren allerlei andere trübselige Vorboten und zeigten, daß die Besorgnisse des invaliden Wachtmeisters nicht ungegründet gewesen waren. Man erzählte sich offen und heimlich, Kaiser Napoleon habe es auf Rußland abgesehen und wolle mit einer Armee, wie die Welt noch keine gesehen, in dasselbe eindringen. Daß etwas Wahres an der Sache sein müsse, bewiesen die Rüstungen in Baiern, das, damals noch an den Zwingherrn gebunden, Tausende und Tausende seiner kräftigsten Söhne zu dessen Heer stellen mußte. Auch aus Oberammergau hatte eine beträchtliche Schaar junger Burschen fortgemußt, und in manchem Hause waren darüber die Gesichter von Kummer bleich und die Augen roth geworden vom Weinen.

Eines Abends saßen die angesehenern Bürger des Dorfs in der obern Stube des Sternwirths beisammen, wo der Erker vorspringt und die Aussicht nach drei Seiten frei giebt. Es ging ein Frühlingsregen nieder, die Tropfen schlugen an die Scheiben, manchmal rüttelte ein Windstoß an den Fenstern und ließ den blechernen Stern knarren, der draußen von einem Kranze umgeben hin und wieder schaukelte. Desto heimlicher saß es sich in der wohlverwahrten Stube und desto traulicher ließ es sich plaudern. wie der furchtbare Komet, welcher in dem vorigen heißen Sommer so unheimlich niedergeleuchtet habe, doch nicht so ohne Bedeutung gewesen sei und wohl den neuen Krieg verkündigt haben könne, der furchtbarer zu werden drohte, als alle vorher.

Im Gespräche war eine kleine Unterbrechung eingetreten, denn das abendliche Gebetläuten scholl von der Kirche durch Sturm und Dunkel herüber, und die ganze Versammlung saß schweigend, mit entblößten Häuptern mit gefalteten Händen leise das Ave sprechend. Nur an einem Seitentische, etwas abgesondert von den Uebrigen saß der Holzgraf, den Hut auf dem Kopfe und mit absichtlicher Theilnahmslosigkeit vor sich hinstarrend.

Das „Gelobt sei Jesus Christus“ des Wirths mit dem üblichen „Guten Abend, meine Herren“ unterbrach die feierliche Pause und das Gespräch nahm wieder seinen vorigen traulichen Gang. Von dem abweichenden Benehmen Korby’s nahm Niemand Notiz, obwohl hie und da Einer dem Andern bezeichnend zunickte oder mit den Augen winkte.

„Ja, das muß wahr sein,“ sagte der Förster, ein rothes Gesicht mit ein Paar falkenschnellen Augen, indem er mit dem Halbeglas an das des Wachtmeisters anstieß, „die Reime versteh’n Sie zu drechseln, trotz Pater Ottmar in der Passion! Die Grabschrift auf den alten Ettaler Klosterrichter ist ein wahres Meisterstück, und wenn ich vor Ihnen abfahre, werd’ ich mir die Grabschrift auch bei Ihnen bestellen. Sollte mich wundern. wenn Sie nicht für sich selbst auch schon eine ausstudirt hätten.“

„Das hab’ ich gerade nicht,“ erwiderte der Wachtmeister, „wenn mir auch hie und da schon der Gedanke gekommen ist. Was braucht’s bei einem invaliden Soldaten viel Ausstudiren? [467] Für mich kann man die Grabschrift aus dem Stegreif fertig machen!“

„Ah, darauf wären wir doch neugierig!“ rief der Förster mit mehrern Andern. „Wie hieße dann die Grabschrift?“

„Sie heißt:

Der Mann, den hier die Erde deckt,
Ward oft zum Kampf und Streit der Waffen
Von Kriegstrompeten aufgeweckt;
Jetzt läßt der Tod ihn ruhig schlafen,
Bis zum Appell aus dieser Gruft
Ihn wieder die Posaune ruft –
O himmlischer Feldherr, reihe dann
Ihn Deinem rechten Flügel an!“ –

Alle Anwesenden brachen in Ausrufungen der Verwunderung und des Beifalls aus, nur der Holzgraf stieß das Glas, aus dem er eben getrunken, stark auf den Tisch und lachte höhnisch.

Augenblicklich war es still im Zimmer; Alles blickte betreten nach dem Eindringling, und der Wachtmeister, dem das Blut zu Kopfe stieg, sah scharf nach ihm hin. „Habt Ihr etwas einzuwenden gegen die Grabschrift?“ rief er ihm zu.

„Gar nichts für meinen Theil,“ erwiderte der Bauer, „ich muß nur lachen, daß man sich um so was auch kümmern kann!“

„Was liegt d’ran, was sie mir oben auf die Tafel schreiben, wenn ich d’runter doch verfaulen muß!“

„Das ist, wie man’s nimmt,“ war die Antwort, „die eigentliche Grabschrift macht sich freilich ein Jedes selbst … und für alle Fälle möchte ich die Eurige nicht zu machen haben …“

„Und warum etwa?“ fragte der Bauer lauernd und tückisch. offenbar begierig, ein Häkchen zu finden, um einen Wortwechsel daran zu hängen und seinem Grolle Luft zu machen. Beides wäre auch sicher nicht ausgeblieben, denn der Invalide hatte bereits eine bittere Antwort auf der Zunge. Seit dem Vorgange, dessen Zeuge er gewesen, hatte er eine unüberwindliche Abneigung gegen den wilden und ungefügen Menschen gefaßt.

Gerade im rechten Augenblick unterbrach Pochen an der Thüre die unangenehme Spannung, und ein Mann in tyrolischer Kleidung trat ein, die hochbeladene Kraxe auf dem Rücken, und bot in etwas fremd klingender Mundart seine Waare zum Kaufe au. Das Unwetter hatte ihn früh zur Herberge getrieben: es litt ihn nicht, so müßig zu liegen, und so kam er aus der untern Zechstube herauf, bei den Herren sein Glück zu versuchen. Die Waare bestand in einer Menge zierlich geschnitzter Spielsachen, krauswolliger Pudel und Lämmer, schlanker, rothwangiger Puppen und Hanswürsten mit curiosen Bärten und scheckigem Gewand: auch an Gemsjägern und Sennerinnen, an Engeln und Heiligen war kein Mangel, sämmtlich sehr fein gearbeitet und doppelt sauber anzusehen durch die angenehme weißgelbliche Farbe des geschmeidigen Holzes der Zirbelkiefer, aus dem sie geschnitzt waren.

Der Händler stellte seine Kostbarkeiten auf einem der Tische zur Schau, und die Anwesenden drängten sich hinzu und lobten die feine Arbeit und die Zierlichkeit der Zeichnung. „Aber, guter Freund,“ sagte der Eine derselben, selbst ein wackerer Bildschnitzer. „das heißt doch Wasser in den Fluß tragen, daß Du mit Deinen Schnitzereien nach Ammergau kommst, wo wir selber so viel von solchen Dingen zusammenschnitzeln, daß wir die halbe Welt versorgen könnten damit! Nach Deiner Sprache scheinst Du ein Grödner zu sein?“

„Ja,“ erwiderte der Tyroler mit starker welscher Betonung, „ich bin aus Urteschei im Val Gherdeina.“

„Nun ja,“ sagte der Andere, „das heißt in gutem Deutsch: Sanct Ulrich im Grödnerthal. Es heißt, daß Ihr vor hundert Jahren die Schnitzerei von uns gelernt habt – Du willst uns wohl zeigen, daß uns die Schüler keine Unehre machen ...?“

Der Grödner konnte nicht antworten, denn er mußte Mehrern Bescheid geben, welche nach dem Preise des einen oder andern Stückes fragten, die laute Stimme des Holzgrafen übertönte das Gespräch „Was kostet Dein ganzer Kram, Tyroler?“ fragte er rasch. Verwundert sah ihn dieser an und als er in der Miene des Fragenden die Bestätigung seiner Rede las, nannte er eine nicht unbedeutende Summ.

Korby griff in die Tasche und warf klirrend eine Hand voll Thaler auf den Tisch.

„Mein ist der Bettel.“ rief er lachend, während der Verkäufer, seelenvergnügt über das unvermuthet rasche und günstige Geschäft sich daran machte, das Geld zu zählen und einzustreichen.

„Aber,“ fragte er mit einem Male innehaltend. „was willst Du mit all den feinen Sachen anfangen? Du siehst mir nit aus, als wenn Du auch ein Schnitzer oder ein Händler wärst.“

„Was ich damit anfangen will?“ entgegnete der Holzgraf wild. „Das geht Dich nichts an. Tyroler! Ich zahle Dir den ganzen Kram, und wenn ich auch nichts weiter wollte, als meinen Zorn darüber auslassen, daß es Leut’ giebt, die nichts Besseres wissen, als ihre Zeit mit solchen Spielereien zu verderben!“

Damit ergriff er einige der Figürchen und drückte sie in seiner plumpen Hand, daß sie in Stücke brachen.

Ein lautes Murren des Unwillens flog durch die Versammlung; der Grödner aber hatte im Augenblick Alle weggedrängt und stand abwehrend und schützend zwischen seinen Schnitzereien und dem sie bedrohenden Bauer. „Ho,“ rief er zornig, „so ist es nit gemeint, übermüthiger Bauer, daß ich Dir meine lieben Figuren verkaufen soll, daß Du sie zerbrichst! Ich hab’ sie geschnitzt, daß ein gutes Gemüth sich daran ergötzen und erbauen soll, und nicht zum Spott für Dich! Da hast Du Dein Geld wieder – um solchen Preis sind mir meine Figuren nicht feil!“

Hingeschleudert rollten die Thaler über den Tisch; der Holzgraf wollte über die Schnitzereien hin und behauptete, sie seien sein und Niemand habe ihm vorzuschreiben, was er damit thun dürfe.

Abwehrend stellte sich jetzt der Wachtmeister neben den Grödner. „Haltet Ruh’, Durnerbauer.“ sagte er finster zu dem Lärmenden. „Nehmt Euer Geld, und der Händler nimmt seine Schnitzereien wieder – merkt es Euch einmal, daß es gar Manches auf der Welt giebt, was man um Geld nicht haben kann! – Was haben Euch die schönen unschuldigen Schnitzereien gethan? – Der Grödner da ist nickt der Schnitzer Domini, auf den Ihr’s doch abgesehen habt, – und wenn er’s wäre und Ihr all’ diese Sachen zerbrecht, könnt Ihr’s doch nicht ändern, daß er Euer Schwiegersohn ist!“

„Der Teufel ist mein Schwiegersohn!“ rief der Bauer wüthend. „Ja, wenn’s auf's Wollen ankäme – aber da haben andere Leute auch ein Wörtl darein zu reden ...“

„Wie? So wüßtet Ihr nicht ...?*

„Was?“ fragte der Korby, dessen Augen sich im Zorn verdunkelten. „Was weiß ich nicht?“

„Was sonst, als daß der Domini nach Petersburg gegangen ist? Daß ihn sein Vetter dort mit offenen Armen aufgenommen und ihm eine prächtige Stellung gegeben hat ? Daß er in München war und die Vesi abgeholt und mit sich genommen hat als seine Frau?“

„… Und das wär’ wahr?“ stammelte der Bauer.

„Wahr.“ entgegnete der Wachtmeister. „ich weiß es vom alten Zehentbauer, der in München war und selber gesehen hat, wie sie getraut worden sind am Antonius-Altar in Sanct Peter.“

Der Holzgraf wurde wechselnd roth und blaß; er vermochte einige Secunden lang nicht zu sprechen. „Niedergütler,“ rief er dann einen seitwärts sitzenden Bauer an, der etwas stark getrunken zu haben schien und mit gläsernen Augen vor sich hinstarrte. „Du hast den Durnerhof kaufen wollen? Was willst Du geben dafür?“

„Ich steh’ mein Wort nicht um,“ lallte der Angereredete, „die Dreißigtausend, wenn Du willst ...“

„Eingeschlagen! In acht Tagen zahlst Du mir das Geld auf den Tisch mir kannst aufzieh’n!“

„Morgen, wenn Du willst!“

„Aber den alten Thurm nehm ich aus und den Steinbruch dazu! Ich zieh’ in die Stadt – aber ich will meine Sommerwohnung auf dem Lande haben, wie die anderen Herren aus der Stadt …“

„Auf die Baracke und den Steinhaufen soll’s mir nit ankommen!“

Beide gaben sich den Handschlag. Der Holzgraf stülpte den Hut auf den Kopf und stürmte aus der Stube.

– – – Jahre gingen vorüber: der Holzgraf war wirklich in die Hauptstadt übergesiedelt und kam nicht wieder. So war es nicht zu verwundern, wenn er vergessen wurde und zuletzt in der Erinnerung des Volks vollständig verlosch. Gab es doch genug der Dinge, welche Kopf und Herz in Anspruch nahmen und vollauf [468] beschäftigten. Die Ereignisse gingen ihren gewaltigsten Gang: vom Einmarsch in Rußland bis zum Rückzug aus dem brennenden Moskau und über die eisige Beresina, von der Erhebung Deutschlands bis zur Leipziger Schlacht, zum Eindringen der Alliirten in Paris und zum endlichen Sturze der Fremdenherrschaft. Auch Ammergau hatte sein reichliches Contingent zu den russischen Opfern gestellt, und als die Volksbewaffnung begann, stand Alles in Waffen, in die Nationalgarden- und Gebirgsschützen-Compagnien eingetheilt, welche mit dem Wachtmeister Luipold ein paar andere Veteranen aus dein Preußenkriege bildeten und commandirten, der riesige Florlmartl als Hauptmann und als sein Oberlieutenant der gewandte Franzist.

Auch von Vesi halte nichts mehr verlautet: von Domini war nicht einmal an seine nächsten Befreundeten eine Nachricht gekommen.

So war es Friede geworden in der Welt, und allerorten tauchten mit seinen Segnungen auch die Freuden und Beschäftigungen des Friedens wieder empor. Darum dachten auch die Oberammergauer wieder daran, ihr Passionsspiel aufzuführen, als ein Friedensfest, wenn auch die Zeit, in welcher sonst die Wiederholung zu erfolgen pflegte, noch lange nicht vorüber war.

Wie vier Jahre vorher geschehen war, ging es auch in den Pfingstwochen von 1815 gar lebhaft und geräuschvoll zu neben der Kirche von Oberammergau, denn auf dem Gottesacker wurde wieder die Bühne zur Passion gezimmert, gemalt und aufgeschlagen. Die Arbeiter waren wieder lustig und guter Dinge und sangen wie damals.

Niemand beachtete einen großen Mann in halb städtischer Kleidung, der an dem Bau und an den Werkleuten vorüberschritt und ebenfalls nicht zu bemerken schien, was vorging. Er kam die Dorfgasse herauf und nahm die Richtung den letzten Häusern zu, von welchen die Landstraße nach Ettal führt und dann unterwegs sich abzweigt in's Graswanger Thal.

Es war Korby, der Holzgraf.

Er ging rüstig und hochaufgerichtet daher, wie sonst; aber das Haar war dünn und silberweiß geworden, und die Augen, die sonst so herausfordernd um sich geblickt hatten, hingen starr und finster an der Erde. Wenn er sie zeitweise erhob, um nach einem Fenster zu sehen, hinter welchem ein bekanntes Gesicht hervorsah, blitzte in denselben noch der alte ungebeugte Trotz; um den Mund lag der Hohn sogar in weit stärkern Linien eingegraben aber in den schlaff gewordenen Zügen des Gesichts war doch nicht zu verkennen, daß die Kraft des Körpers dem wilden Gemüthe den Dienst zu versagen begann.

So verändert sein Aussehn war, hatte es doch nicht an Augen gefehlt, die ihn erkannten, und bald ging es wie ein Lauffeuer durch das Dorf, der Holzgraf sei wieder da. Man fragte, erkundigte sich, erzählte und bald wußte Jedermann, daß es mit seinem Reichthume zu Ende war. Er hatte in der Stadt sein verschwenderisches Treiben noch kostspieliger fortgesetzt, zuletzt aber sich in Lieferungs-Geschäfte eingelassen, die mit großen Verlusten für ihn endigten. So hatte er einen letzten unansehnlichen Rest zusammengerafft und war zu nicht geringer Verwunderung des neuen Besitzers auf dem Durnerhofe plötzlich erschienen, um den Thurm zu beziehen, den er sich vorbehalten hatte bei dem Verkaufe.

Bald ließ sich auch seine Anwesenheit in den Wirthshäusern spüren, in denen er früher sein Wesen getrieben hatte und nun wieder begann, als ob gar keine Zeit dazwischen gelegen wäre. Das Geld strömte nur so und lockte bald die alte Schmarotzergesellschaft wieder um ihn zusammen. Wer ihn beobachtete, konnte nicht glauben, daß es mit seinem Reichthume zu Ende sei; man mußte eher vermuthen, er habe einen Schatz gefunden und denselben verdoppelt. Niemand ließ es sich in den Sinn kommen, daß er nichts mehr besaß als einen Sack voll Thaler, in welchen er jeden Morgen mächtig hineingriff, obwohl er schon die Tage zählen konnte, innerhalb deren sein Inhalt verschwunden sein würde.

Das Eine, was er unterließ, war, mit eigenem Gespann zu fahren; er nahm dafür häufig Lohnfuhrwerk und erklärte es damit, daß er in seinem „Geschloß“ keinen Raum habe. Pferd und Wagen nach seinem Sinn unterzubringen, ein „Gefrett“ könne er nicht ausstehn.

Unverändert war er geblieben in seiner Scheu vor Allem, was mit Religion und Kirche zusammenhing, und er ließ keine Gelegenheit unbenützt, seine höhnische Nichtachtung durch Wort und That zu zeigen. Wohl vermochte er nicht mehr den Ton der Orgel oder die Stimme des Predigers durch Peitschenknall und Rädergerassel zu übertönen oder zu stören; aber er fehlte nie an der Kirchenthüre oder bei einem Wallfahrtszuge, um in entgegengesetzter Richtung daran vorüberzuschreiten und den Hut fester in die Stirne zu ziehen.

An einem schönen Maitage Abends kam Pater Ottmar Weiß, der Exbenedictiner von Ettal, das von dort herführende Sträßchen entlang. Am Tage hatte eine der ersten Passionsvorstellungen stattgefunden, denn Pfingsten war damals ungewöhnlich früh gefallen, nur der Pater hatte den Abend benutzt, sich von der Aufregung und Anstrengung des Tages durch einen Ausflug in’s Freie zu erholen, zugleich dem alten lieben Kloster einen Besuch zu machen, in welchem er so manche schöne und ernste Stunde verlebt hatte und das nun mitten in der großartigen Bergeinsamkeit verlassen und trauernd, vergessend und verfallend dalag. Nichts hatte den Schritt des einsamen Besuchers gehemmt als er durch den hallenden Hauptgang über das lückenhafte Pflaster dahinging und in die Zelle trat, welche einst die seinige gewesen war. Sie war leer bis auf einiges alte Ackergeräth, zu dessen Aufbewahrung sie nun diente: ein aufgescheuchter Vogel huschte durch das zerbrochene Fenster hinaus und über der Ecke, in welcher der Arbeitstisch gestanden, hatten Spinnen ihre freien Webstühle reichlich aufgehangen.

Sinnend und erweichten Gemüths stand er davor und trat in dieser Stimmung den Rückweg an. Es war ihm friedlich um das Herz, und diesen Frieden, der strahlend auch außer ihm auf der abendsonnigen Natur lag, gönnte und wünschte er Allem, was ein Menschenherz in der Brust trug. War doch die Zeit nicht arm an neuen Besorgnissen, denn die Flucht Napoleons von Elba hatte die Welt aus dem kurzen Traume der Ruhe emporgeschreckt, und mit Bangen sah man der Entscheidung des neuen Kampfes entgegen. In solchen Gedanken und Empfindungen war der Pater an die Wendung der Straße gekommen, wo hart an derselben rechts eine ungeheuere schroffe Felsenwand emporstarrt, während gegenüber, beinahe nur durch das kleine Flußgebiet der Ammer getrennt, die Kofelspitze in die Höhe ragt, und gegen die Mitte zu der Kirchthurm von Oberammergau zuerst über die Anhöhe herübersieht. In der Felswand befindet sich der Eingang einer mächtigen, tief eindringenden Höhle, jetzt mit einem hochragenden Kreuze geschmückt, damals höchstens als Zuflucht von einem Jäger benützt, dem ein Unwetter oder anfallender Nebel die Gebirgsjagd verleidet haben mochte.

Mit stillem Wohlgefallen ruhte das Auge des Paters auf den Felshöhen, die im Widerschein des Abendroths leuchteten; dann glitt es abwärts zu den Baumniederungen und den Felstrümmern, welche vor Jahrhunderten herabgerollt waren und nun unter moosiger Decke auszuruhen schienen von dem riesigen Sturz.

Mit einem Male stand der Wanderer stille, denn es hatte sich etwas zwischen den Büschen mit Trümmern geregt, und als er schärfer hinblickte, erkannte er die Gestalt eines am Boden hingekauerten Mannes. Er rief ihm zu, herauszukommen, denn der Abend sei da und er könne Schaden nehmen in der Kühle und in der Dämmerung: als keine Antwort erfolgte, stieg er selbst den Abhang hinan, um sich zu überzeugen, wer es sei und ob etwa Hülfe Noth thue.

Nach einigen Schritten wollte er wieder zurück, denn er hatte den Liegenden erkannt und besorgte, seine Theilnahme nicht nur zurückgewiesen, sondern auch verhöhnt zu sehen, schon um des Kleides wegen, das er trug. Augenblicklich jedoch besann er sich eines Andern, denn er hatte ja noch eine Secunde vorher jedem Herzen den Frieden gewünscht und gegönnt, und daß hier der Friede fehlte. hätte auch ein geringerer Menschenkenner durchschaut, als der Pater es war.

[481] Zwischen den Felstrümmern auf dem Moosgrunde saß oder lehnte der Holzgraf. Seine Kleider trugen ungeachtet des Festtages die Spuren der Abnutzung an sich; die Weste war aufgeknöpft, das Halstuch hing halbgelöst um den magern, sehnigen Hals, und die langen Strähne des völlig gebleichten Haares umgaben unordentlich Stirne und Wangen. Er hatte, unbekümmert um das Passionsspiel und demselben zum Trotz, mit seinen Kameraden um so wilder geschwelgt, als er den Tag, an welchen ihm die Mittel dazu fehlen würden, bereits in nächster Nähe vor sich sah. In wüster, an völlige Trunkenheit grenzender Stimmung war er Abends nach Hause gewankt, nachdem die Straßen von der Völkerwanderung der Passionsbesucher leer geworden bis auf einige Nachzügler. Unterwegs hatte ihn die Macht der genossenen Getränke gezwungen, sich seitab von der Straße auszuruhen; er war in wüsten Schlaf gefallen, aus dem er sich eben noch halbtaumlig aufrichten wollte als der Pater vorüberging.

„Das ist kein Platz zum Ausruhen,“ redete dieser ihn an. „Steht auf, Durnerbauer, und geht nach Hause – bei dieser Jahreszeit könntet Ihr Euch leicht den Tod oder eine Krankheit holen, so unter freiem Himmel zu liegen!“

Der Holzgraf sah ihn mit einem durchdringenden Blick an, wendete sich dann ab und sagte finster: „Es wär’ Alles Eins, wenn’s geschähe – es wird sich Niemand darum kümmern, wenn ich im Straßengraben zu Grund’ geh’, und Sie, Hochwürden, haben auch keinen Dank davon, wenn Sie’s thun!“

„Ich thu’s auch nicht des Danken wegen,“ entgegnete der Pater, „ich thu’s, weil ich es für meine Schuldigkeit halte und für meine Christenpflicht … Ich meine, meine Theilnahme müßte bei einem Manne zweifach angenehm sein, der so allein ist, wie Ihr …“

„Ja,“ sagte Korby dumpf vor sich hin, „ich bin allein!“

„Und warum seid Ihr’s?“ fragte Pater Ottmar entgegen, indem er sich wie zufällig auf ein gegenüber liegendes Felsstück niederließ. „Wer die Menschen von sich stößt und nichts von ihnen wissen will, der muß sich’s gefallen lassen, wenn sie auch nichts wissen wollen von ihm …“

„Ich laß’ mir’s auch gefallen,“ sagte der Bauer, wie zuvor.

„– Und hat es Euch nie leid gethan, daß es so. ist? Habt Ihr es noch nie bereut, daß Ihr es bis dahin habt kommen lassen? …“

Der Bauer schüttelte höhnisch lachend den Kopf und schwieg.

„Ich glaub’ es Euch nicht!“ fuhr der Pater fort. „Ihr solltet nie denken, wie anders es mit Euch sein könnte? wie anders Ihr dastehen könntet? – Ihr habt Eure brave Tochter aus Starrsinn in die weite Welt. gejagt – habt einen braven Burschen, aus dem vielleicht was Tüchtiges geworden wäre, vertrieben und alle Beide unglücklich gemacht – und es sollte Euch nie einfallen, wie es sein könnte, wenn sie nun bei Euch wären und Ihr säßet mitten unter ihnen und ihren Kindern? Das sollte Euch nie einfallen, und die Leute wollen doch wissen, Ihr hättet die Vesi so lieb gehabt …“

Der Bauer halte die Hände vor’s Gesicht geschlagen und kämpfte sichtbar eine wild aufsteigende Bewegung nieder. „Ich hab’ meine rechte Hand auch lieb,“ stieß er dann hervor, „aber wenn sie brandig wird, hack’ ich sie mir selber vom Leib …“

„Und wie soll es mit Euch selber werden? Denkt Ihr, zu welchem Ende es mit Euch kommen muß? … Ihr habt Euer ganzes Vermögen verloren und verschleudert. Ihr habt nichts mehr als den Steinbruch und den alten Thurm, und wenn es wahr ist, was die Leute sagen, hat Euch der Eigenthümer des Durnerhofs schon so viel daraus geliehen, daß von Beiden kein Stein mehr Euer ist …“

„Das ist Alles wahr,“ murrte Korby und versuchte zu lachen, aber der Ton erstarb ihm in der Kehle.

„Und was soll nun aus Euch werden?“

„Nicht mehr und nicht weniger, als aus jedem Andern wird – Würmerfraß! Der Weg dazu ist überall leicht zu finden!“ Eine Handbewegung gegen die vorbeirauschende Ammer hin erklärte vollends den Sinn dieser Rede.

„Unglücklicher,“ rief der Pater entsetzt, „so weit könntet Ihr Euch vergessen? Ihr könntet es wagen, in dem Gemütszustände, in dem Ihr Euch befindet, vor dem schrecklichen ewigen Richter – vor Gott zu erscheinen, eh’ er Euch gerufen hat?“

Der Bauer ließ wieder das unheimliche Lachen hören, wie zuvor. „Ja, ja,“ rief er aus. „Sie sind ein geistlicher Herr! Sie müssen so reden! Aber ich weiß das besser, wie’s mit dem ewigen Richter ist! Wenn’s wirklich einen solchen giebt … um uns kümmert er sich nit …“

„Gottloser, Ihr zweifelt an Gottes Dasein und Weltregierung? Ihr seid wie Einer, der eigensinnig die Augen zudrückt und sagt: es giebt keine Sonne, denn ich sehe sie nicht!“

„Nein, nein, Hochwürden – ich hab’ die Augen nit zugedrückt, sondern aufgerissen – sperrangelweit aufgerissen in Verzweiflung und Noth … aber ich hab’ die Sonn’ nit gesehen …“

Er hielt einen Augenblick inne, dann richtete er sich halb [482] empor und fuhr fort: „Es ist schon fast dunkel – aber weil Sie sich doch nach mir umgesehen haben in meiner Verlassenheit, will ich es Ihnen erzählen … ich werd’ Sie nit gar zu lang’ aufhalten mit der Geschicht’ …“

Der Pater erklärte sich bereit, und Korby begann:

„Ich bin nit alleweil so verstockt gewesen und so versteint, wie jetzt – wie ich ein junger Bursch gewesen bin, hab’ ich auch ein lustiges, lebfrisches Gemüth gehabt wie ein anderer – mein Herz ist weich gewesen wie Wachs, und ich hätt’ keinem Menschen eine Bitt’ abschlagen oder was Leid’s anthun können … nur der jache Zorn, die fliegende Hitz … die ist mein Fehler gewesen. die hab’ ich nit unterdrücken können, wenn’s mich auch hintennach gereut hat, so bitterlich als Einen nur etwas reuen kann! … Ich bin auch fromm gewesen dazumal, so recht inwendig fromm, und hab’ gern gebet’ und hab’ mich oft auslachen lassen von den andern Burschen, wenn ich kein Engelamt versäumt hab’ oder keine Vesper und kein’ Rosenkranz! – Daran war aber meine Ahn’l schuld, ein altes halbblindes Tagwerkerweib, die mich aufgezogen hat, denn meine Eltern hab’ ich nie gekennt … die sind gestorben, wie ich noch ganz klein war, alle zwei an einem Tag’, wie selbigesmal die hitzige Sucht grassirt hat in der ganzen Gegend. Die Ahn’l ist den ganzen Tag im Winkel hinter’m Ofen gsessen und hat g’sponnen, denn eine andere Arbeit hat sie nimmer thun können … den ganzen Tag haben die Händ’ nicht geruht, wie knochendürr sie auch gewesen sind und wie sie auch gezittert haben vor Schwäche und Alter – dazu hat sie gebet’t in einem fort und der zahnlose Mund ist kein Augenblick still gestanden – so wenig wie die Händ’, die den Faden gezogen haben, und der Fuß, der das Rädel gedreht hat. Alle Morgens, wenn ich fort bin zur Arbeit, hat sie mir’s wieder gesagt und nachgerufen, wenn ich schon in der Thür’ war: „Was der heutige Tag auch bringt … bet’, Korby, bet’ … das Beten hilft!“ – Es ist auch ihr letztes Wort gewesen, wie sie einmal Ruh’ gekriegt hat und das Spinnrädel mit ihr … und ich bin drauf fort und hab’ mich verdungen als Knecht, weit fort bis in’s Unterland, in die große Ebene um Straubing herum, ich hab’ eben auch gemeint, daß ich was seh’n müßt’ von der Welt …“

Der Erzählende hielt einen Augenblick inne, als ob er sich auf etwas Vergessenes besinnen wollte – dann mit der Hand über die Stirne wischend, fuhr er fort:

„Dort herum ist das Land ganz anders als bei uns – dort ist Alles eben, und man kann halbe Tage lang zwischen den Kornfeldern hingehen, die mannshoch über einem zusammenschlagen … man sieht oft stundenweit keinen Baum, und nur ganz in der Fern’ schauen die Berg’ vom bairischen Wald über die Donau herüber – Wer in den Bergen daheim und aufgewachsen ist, der kann hart eingewöhnen in der Ebne’t, und mir ist’s auch so ’gangen und ich hab’ in der ersten Zeit g’meint, ich halt’s keine Stund’ mehr aus und müßt’ mein Bündel nehmen und wieder heimlaufen in die Berg’ herein. … Ist aber bald und geschwind ganz anders ’worden – der Bauer, bei dem ich ’dient hab’, ist kinderlos gewesen und hat ein armes, weitschichtiges Bas’l in’s Haus genommen – und – seit die Meigl (Margareth) im Haus war, hab’ ich nimmer an die Berg’ und nimmer an’s Fortgehn gedenkt – es wär’ aber doch wohl g’scheidter gewesen, ich hätt’s gethan.

„Sie müssen mich nit auslachen, Hochwürden,“ unterbrach er sich selbst, „daß ich Ihnen so was erzähl’ – aber es gehört zu meiner Geschicht’, und ich hab’s ja schon gesagt, daß ich nit alleweil so verstockt gewesen bin, als wie jetzt …“

„Es fällt mir nicht ein, zu lachen,“ erwiderte der Pater, „ich wollte lieber, Ihr hättet den einzigen warmen und lebendigen Fleck an Eurem Herzen vor dem Versteinern erhalten …“

„Er hat mir wenig geholfen, der warme lebendige Fleck,“ fuhr Korby fort, „ich hab’ die Margareth gern gesehn und es ist mir bald so vorkommen, als wenn sie mir auch nit feind wär… sie ist nie ausblieben, wenn ich am Feierabend mich unter die Hausthür’ gesetzt und Cither gespielt hab’, wie’s Brauch ist bei uns daheim – sie hat mich freundlicher gegrüßt als die Andern, und wie’s zum Kornschneiden ging, hat sie’s immer zu machen gewußt, daß ich der Nächste bei ihr war. „Es arbeit’ mir keiner so flink in die Hand, wie der Korby,“ hat sie einmal g’sagt und hat ein paar blaue Kornblumen, die da gestanden sind mitten unter den Aechern (Aehren), abgerissen und mir hingehalten … Aber was hätt’s werden sollen bei All’ dem! Ich war blutarm, und sie hat den Prachthof von ihrem Vetter so gut wie im Sack g’habt, und der hätt’ seinen Nachfolger niemals anders geschätzt, als nach den Kronenthalern. Und dann war ich nit der Einzige, dem die Meigl in die Augen gestochen hat und der schöne Hof dazu. Da war gar Mancher, der am Sonntag nur ihretwegen an der Freithofthür’ g’standen ist, um sie vorbeigehn zu sehn, und wenn sie wo auf den Tanzboden kommen ist, haben sich die Bursche gerauft, einen Ring mit ihr herum zu machen. Da war besonders der Alburger Galli, der einzige Sohn von einem der reichsten Bauern in der ganzen Gegend, von denen ihrer Vier einen Tisch brauchen, wenn sie in’s Wirthshaus kommen – ein saubrer, ordentlicher und quanter Bursch – der ist ihr auf Schritt und Tritt nachgegangen und hat gemeint, er will’s zwingen, daß er die Meigl davon reißt! Einmal – es war im Auswärts, Sankt Andreas-Tag … und hat gerad’ angefangen, aber (schneefrei) zu werden auf den Feldern, da ist eine Hochzeit gewesen in der Nachbarschaft; die Meigl war mit unter den Kranzeljungfern, und ich war auch hingangen auf den Nachmittag. Der Alburger Galli war mit dem Bräutigam gefreund’t und hat auch nit gefehlt. Er ist immerfort herum gewesen um die Meigl, und hat mit ihr getanzt und wollt’s nit leiden, daß ihr ein Andrer in die Nähe kommen sollt’. Er mag’s wohl gemerkt haben, wie viel’s geschlagen hat mit mir, und wie er einmal wieder vorbei ist an mir, hat er mir wie unversehens einen Stoß versetzt, daß ich fast über und über gefallen bin, und haben die Burschen alle zu lachen angefangen, in der ganzen Runden herum. Da ist es mir völlig schwarz worden vor den Augen und in Einer Wuth bin ich, auf den Galli hin und hab’ ihn beim Hals gepackt und an die Wand gedrückt, daß er sich nit mehr rühren und schier nimmer hat schnaufen können. Die Leut’ sind hinzug’sprungen und haben uns auseinander reißen wollen, aber ich war zu stark und zu zornig und ich hätt’ ihn erwürgt, denn er ist schon blau geworden im Gesicht … auf einmal – so drängt sich die Meigl zu uns hin, faßt mich am Arm mit sagt: „Laß los, Korby … mir zu Lieb’ laß los …“ Da ist’s gewesen, als wenn meine Finger auf einmal alle Kraft verloren hätten – ich hab’ den Kerl losgelassen, und wie er weggetorkelt ist von mir, hab’ ich ihm nachg’rufen … „Geh nur – wir treffen doch schon noch zusammen, daß Du an mich denkst!“ Ich hab’ selbst nit recht gewußt, was ich sag’ – aber das Blut ist mir so siedig heiß in den Kopf gestiegen, daß ich hinaus bin in’s Freie und hab’ frische Luft schöpfen und mich abkühlen wollen unter denen Lindenbäum im Wirthsgarten, an denen just die ersten Blätteln auf'brochen sind … Und es ist nit lang ang’standen, so kommt die Meigl mit ein paar Cameradinnen auch herunter, als wie zufällig … stellt sich zu mir hin .. giebt mir die Hand … und dankt mir, daß ich ihr gefolgt und auf ihr Abbieten so viel ’geben hab’ … und – und … Aber was soll ich Ihnen all das dumme Zeug erzählen, das Einem in dem Alter im Herz’ und im Kopf’ umgeht und das man so wenig sollt’ aufkommen lassen, wie das Unkraut im Korn … Es ist eben zum Reden ’kommen unter uns, die Meigl hat mir g’standen, daß sie mich lieber hat als alle Andern, und wenn’s mir auch so wär’ – wollt’ sie mit dem Vetter reden, daß er ein Paar aus uns machen und uns den Hof übergeben sollt’ …“

Der Erzählende hielt inne; wider Willen schien er einen Augenblick an dem Jugendbilde zu hangen, das die Erinnerung vor ihm aufrollte. Dann schüttelte er heftig mit dem Kopfe, als wenn er sich von einem lästigen Einflüsse befreien wollte, und fuhr fort:

„Es war eine kurze Freud’ dazumal – aber mir ist’s doch gewesen, als wenn der ganze Himmel offen wär’ über mir. Ich bin in lauterer Glückseligkeit gar nit mehr zurück auf den Tanzboden, sondern bin heim und hab’ die einsamsten Weg’ gemacht, nur daß ich recht allein hab’ sein können mit meinen Gedanken. Die Leut’, die mir begegnet sind, die sind mir ordentlich zuwider gewesen – und ich bin ihnen ausgewichen, und wie ich einmal eine ganze Schaar bei einander gesehen hab’, die mir zug’rufen hat und zugewinkt, da bin ich davon gelaufen, in den nahen Wald hinein. Da ist mir dann leichter ’worden um’s Herz, und an einem alten Bildstöckl am Weg hab’ ich mich hingekniet und hab’ zu beten ang’fangen … die alte Ahn’l ist mir eingefallen mit ihrem „Bet’, Korby, bet“ - und so hab’ ich dem Herrgott gedankt, daß er’s so gut vorhat mit mir … Auf einmal springen von allen Seiten Burschen und Männer heraus aus dem Gebüsch und [483] auf mich zu und schrieen: „Da ist er! Wir haben ihn! Der hat’s gethan!“ Eh’ ich mich nur besinnen und fragen kann, bin ich auf den Boden gerissen worden und wie ein wildes Thier dagelegen mit gebundenen Händen und Füßen … der Alburger Galli ist erstochen gefunden worden hinter’m Wirthshaus … und ich sollt’s gethan haben …“

So viele Mühe sich der Redende gab, seine Bewegung zu verbergen, gelang es ihm doch nur unvollkommen. Der Pater erwiderte nichts; er wollte die Vorgänge in Korby’s Gemüth durch keine Bemerkung stören, die vielleicht abkühlend gewirkt hätte – aber sein Auge ruhte mit steigender Theilnahme auf dem Gesichte des Holzgrafen. Der Abend und die Dämmerung war eingebrochen, aber Beide beachteten es nicht.

„Am Anfang,“ begann Korby nach kurzem Schweigen wieder, „war ich wild wie ein scheugewordener Stier – dann aber, wie’s mir so recht eingefallen ist, daß ich ja so unschuldig war wie ein neugeboren’s Kind, da hab’ ich mich getrost’ und hab’ angefangen zu lachen. Es ist mich freilich hart an’kommen, wie sie mich in Ketten wie den ärgsten Verbrecher hineing’schleppt haben auf’s Landgericht; im Grund aber bin ich doch froh gewesen, denn wenn ich dem Assessor Alles sagen werd’ wie die Sach’ steht, da hab’ ich gemeint, es kann nit fehlen, daß er mir mehr glaubt, als die wüthigen Bauern, und mich wieder losläßt augenblicklich … ’s ist aber ganz anders ’kommen; der Assessor hat mir’s haarklein vorgerechnet, daß kein anderer Mensch den Galli erstochen haben könnt’ als wie ich, und daß ich ein erzverstockter Böswicht bin, weil ich’s nicht eingestehn wollt. „Alle Leut’ wissen,“ hat er mir gesagt, „was Du für ein unbändiger Mensch bist in Deinem Zorn. Du hast den Galli schon am Nachmittag bei einem Haar erwürgt und hast ihm gedroht, daß Du mit ihn, zusammenkommen willst, daß er an Dich denken soll! Gleich darauf bist Du fort aus dem Wirthshaus, und hinter demselben wird der Galli im Verscheiden gefunden … Du bist auf einmal ohne alle Ursache fort, bist auf einem ganz andern und abgelegenen Weg heimgegangen.

Wie Dich die Leute angerufen haben, bist Du davon gelaufen, und zuletzt hat Dich das Gewissen geschlagen und Du hast in Deiner Angst zu beten angefangen an dem alten Bildstock im Wald … was kannst Du gegen das Alles sagen? Trifft nicht Alles so klar zusammen, daß man so grundschlecht sein muß, wie Du, um es zu leugnen?“ – Es ist wahr gewesen – ich hab’ nit viel sagen können dagegen, und der Assessor hat sein Handwerk gar gut verstanden und hat mich herumgehetzt mit lauter Fragen und Fragen, daß es mir völlig schwindlig geworden ist im Kopfe und daß ich oft gar nit mehr gewußt hab’, was er mich fragt und was ich antwort’… Bei all’ dem, aber bin ich doch im Ganzen immer wieder ruhig gewesen – denn ich hab’ auf unsern Herrgott vertraut … und manchen Tag und manche Stund’ in der Nacht bin ich in meiner Keuchen auf den Knie’n gelegen und hab’ geweint und gebet’t, daß meine Unschuld an den Tag kommen sollt’… es hätt’ sich ein Stein darüber erbarmt … und wenn die Angst hat über mich kommen wollen und die Verzweiflung, da ist’s mir immer gewesen, als wenn die alte blinde Ahn’l vor mir stünd und das Spinnrad schnurrt, und die Alte wispert: „Bet’, Korby, bet’, – das Beten hilft!“ – Aber es ist ein Monat um’s andere vergangen und ich hab’ die Hülf’ nit herunter beten können vom Himmel, und einmal haben sie mich vorführen lassen in’s Verhörzimmer und haben mir das Urtel vorgelesen. Ich sei nit überwiesen, hat’s gelaut’t, aber im höchsten Grad verdächtig – deswegen und weil ich ein höchst gefährlicher Mensch sei, sollt’ ich aufgehoben werden … auf drei Jahr … im Arbeitshaus …“

Der Bauer schwieg vor Erschöpfung; der Pater vermochte einen Seufzer des Mitgefühls nicht zu unterdrücken.

„Mir ist gewesen – wie einem, der träumt und der nicht recht zu sich selbst kommen kann vom Schlaf, oder der einen Schlag vor’s Hirn gekriegt hat – dann hab’ ich gebrüllt und getobt wie ein Unsinniger und hab’ mit den Händen an der Mauer in meinem Gefängniß gekratzt und bin mit dem Schädel dawider gerennt … dann hab’ ich mich wieder auf das Ziegelpflaster hingeworfen und hab’ gebet’t … so lang die Welt steht, hat noch kein Mensch so inbrünstig gebet’t wie ich … Es war doch Alles umsonst … einmal sind die Schergen gekommen und haben mich auf einen Wagen gesetzt und hingefahren vor die Zuchthausthür. ... Ich hab’ mich gesperrt und an den Wagen angespreizt und hab’ Himmel und Erde angerufen um Hülf’ … es hat nichts genutzt – sie haben mich zu Boden geworfen, haben mir die Haar’ abgescheert und das Züchtlingsg’wand angezogen …“

Schluchzen unterbrach den Redenden; er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und fortzufahren. „Ich bin drüben in eine hitzige Krankheit verfallen und weiß nit, wie lang ich so dagelegen bin zwischen Leben und Sterben … wie ich aber wieder zu mir selber 'kommen, da bin ich ein ganz anderer Mensch gewesen …

Alles in mir ist kalt und ausgebrennt gewesen, und ist nichts übrig g’blieben, als die harte steinerne Schlacken wie von den Kohlen im Schmiedfeuer. Ich hab’ nimmer gewüth’, aber mit dem Beten ist’s auch vorbei gewesen, und ich hab’ Woll’ kardätscht und gesponnen, als wenn’s so sein müßte – bis die drei Jahr’ herumgewesen sind. Da haben sie mich laufen lassen, und ich hab’ mir gedacht, ich wollt’ nun geh’n, wo die Welt am weitesten ist – aber ich bin nit weit gekommen, denn vor’m Zuchthaus ist – die Meigl g’standen; die hat’s erfragt gehabt, daß meine Strafzeit aus ist, und hat auf mich gewart’ und hat mir gesagt, sie hat’s immer geglaubt, daß ich unschuldig sei, und sie wollt’ mir’s beweisen und nit von mir lassen – der Vetter sei todt, der Hof gehöre ihr … und ich sollt’ mit ihr geh’n und ihr Mann werden …“

„Braves Mädel,“ sagte der Pater, „und hat Euch so viel Liebe nicht gerührt? Habt Ihr nicht den Finger der Vorsehung darin erkannt, die Euch Trost und Ersatz schickte für die unschuldig ausgestandenen Leiden?“

Korby schüttelte den Kopf. „Ich hab’s nit mehr gekonnt,“ sagte er, „es hat sich nichts mehr gerührt in mir – ich hab’ keinen andern Gedanken mehr gehabt, als daß meine alte Ahn’l nicht Recht gehabt hat mit ihrem „Bet, Korby, bet’ – das Beten hilft“ – daß für uns keine Hand herunter greift vom Himmel … der Mensch, der’s zu was bringen will, muß sich auf Niemand verlassen, als auf sich selbst, und sich um Niemand kümmern, als um sich selbst! – So hab’ ich’s gemacht und gehalten seitdem … ich hab’ die Meigl geheirath’, aber den Hof haben wir zuvor verkauft und haben uns da herinn’ in meiner Heimath angesiedelt, wo kein Mensch was gewußt hat von meiner Schand’ …“

„Und ist Eure Unschuld später nicht an den Tag gekommen?“

„Was hat’s genutzt? – So ein zwölf Jahr’ darnach ist der Bursch’, der den Galli erstochen hat, zum Sterben ’kommen und hat’s einbestanden vor seinem End’ … Dadurch ist’s nicht ungescheh’n gemacht worden, was ich ausgestanden hab’ … und daß es so hat geh’n können, das hat mir’s wieder gezeigt, daß der ewige Richter, von dem Sie reden, Hochwürden, sich um das nit kümmert, was auf der Welt geschieht – und daß er Recht und Unrecht geschehn läßt, wie’s Tag und Nacht wird und wie in dem einen Jahrgang die Frucht gerath’ und in einem andern der Hagel Alles hinein schlägt in Grund und Boden. – Das ist so versteint und verbeint in mir, wie die Felswand da über uns. … Ein einziges Mal – ja, da ist mir gewesen, als wenn’s noch einmal warm werden wollt’ in meinem Herzen. ... Das war, wie meine Toch… wie die Vesi auf die Welt kommen ist – aber es war gleich wieder vorbei, und – sie hat’s auch bewiesen, daß es doch umsonst gewesen wär’. – Jetzt wissen Sie, Hochwürden, warum ich so bin, wie ich bin – und wenn sie mich aus der Ammer herauszieh’n und mich einscharren in dem Eck’ an der Kirchhofmauer – dann erzählen Sie’s den Leuten, damit sie wissen, wie der Holzgraf dahin gefahren ist. …“

Bei den letzten Worten war Korby aufgesprungen, stand mit einem Satze auf der Straße und eilte durch die Dunkelheit dahin. Vergebens rief der Pater ihm nach und schritt dann, als sein Ruf unbeachtet an dem Felsen verhallte, dem Dorfe zu, in frommer Sammlung des Unglücklichen im Gebete gedenkend.

Dieser hatte bald sein ehemaliges Besitzthum, den Durnerhof, erreicht und wollte unbemerkt von dem neuen Eigenthümer seine Thurmwohnung erreichen. Das laute Anschlagen des Hofhundes verrieth den Ankömmling, und der Bauer, der ihn erwartet haben mochte, trat ihm unter den finsteren Bäumen des Hausgartens entgegen. „Nun,“ rief er ihm zu, „wie ist’s, Holzgraf? Kommst wieder heim bei eitler Nacht? Hast Dir’s wohl überlegt, was ich Dir gesagt hab’ heut früh, und bringst das Geld mit?“ „Geld?“ lachte Korby höhnisch entgegen. „Geld werd’ ich, nimmer viel brauchen!“

„Aber ich desto mehr.“ war die Antwort, „und kurz und gut, ich hab’ Dir’s schon heut Morgens gesagt … ich hab’ Dir schon mehr geliehen auf den Thurm und den Steinbruch, als der Bettel [484] zwei Mal werth ist! Wenn Du das Geld nit zahlst, kannst Du heut’ noch zum letzten Mal da schlafen – aber morgen ist Alles mein, und Du kannst Dir um ein anderes Quartier umschau’n …“

„Ich will zum letzten Mal da schlafen,“ brachte Korby mit hörbarer Anstrengung hervor und wollte fort.

„Oder – ich will Dir einen andern Vorschlag machen,“ begann der Andere wieder, „damit Du siehst, das; ich’s gut mit Dir mein’ und einen alten Speci wie Dich nit drücken will … Du bist noch ganz rüstig und kräftig, ich könnt’ einen tüchtigen Arbeiter brauchen – wie wär’s, wenn Du als Knecht eintreten wolltest bei mir?“

„Hund von einem Kerl,“ schrie Korby aufflammend, indem er auf den Bauer mit geballter Faust lossprang. „Zu Deinem Knecht willst Du mich machen?“

„So geh’ zum Teufel, wenn Du willst,“ rief der Bauer, welcher sich schnell in die Thüre geflüchtet hatte und diese zuschlug, „aber morgen kannst Du marschiren!“

Wenige Secunden später war Korby in dem Thurmgemach allein und zündete ein Restchen Kerze an, das letzte, das er besaß, und das nur noch ein kurzes Stündchen zu dauern verhieß. Bei dem unsichern, schwachen Schein sah das Gemach noch unheimlicher und unwirthlicher aus, als bei Tage. Die einstige Pracht und Zierlichkeit war der Abnutzung und dem Verfall gewichen und bildete in ihren Ueberresten einen wirksamen Gegensatz zu den Spuren armseliger Verkommenheit, die darin hauste. Der Eingetretene schien das auch zu fühlen; indem er den Kerzenstumpf auf das zerbrochene Ofensims stellte, warf er einen flüchtigen Blick um sich und sagte halblaut: „Es ist die höchste Zeit, wie mir scheint – wir geh’n zu Ende – alle zwei!“

Ermüdet warf er sich dann auf das dürftige Lager hin und versuchte zu schlafen – aber er vermochte es nicht. Heißer und immer heißer drängte ihm das Blut nach Stirn und Augen – rascher und immer rascher zogen Gestalten und Bilder vor seinem Geiste vorüber; er hatte die lange zurückgedrängten und vergessenen durch seine Erzählung auch für sich heraufbeschworen, und einmal befreit, wollten die Geister nicht so schnell wieder zurückkehren in ihre Gräber. In steigender Unruhe wälzte er sich auf dem Lager hin und her, eine verwirrende Angst überkam seine Sinne, er wußte zuletzt selbst nicht mehr, ob ihn wache Träume umgaben oder fieberhafte Phantasieen. Bald war er im Unterlande, bei der Hochzeit am St. Andreastage, im Handgemeng mit dem Alburger Galli, aber dieser hatte die Oberhand über ihn und würgte ihn tödtlich an der Wand – dann sah er sich wieder verzweifelnd im Gefängnisse oder hinter dem Wollrade im Zuchthause; bald befand er sich mitten unter den Cameraden seiner Schwelgereien und wollte sich durch Trinken und Lärmen übertäuben, aber es ging nicht, denn durch Alles hindurch schnurrte ihm das Spinnrad und das Gemurmel der alten Ahn’l in die Ohren – dann tauchten wieder der drei starre todtenblasse Gesichter an seinem Lager auf und drängten sich näher und beugten sich über ihn, daß er ihre kalte Berührung zu spüren glaubte; es waren Margareth, seine Tochter Vesi und Domini, der Bildschnitzer, die sich zu freuen schienen, daß er so verlassen war, und ihm die eiskalten Hände auf das Herz legten, um zu prüfen, ob es noch schlage …“

Es litt ihn nicht länger – aufschreiend und mit einer Gebehrde, als wollte er die Phantome von sich abwehren, sprang er auf, aber er machte dadurch das Uebel nur ärger. Die Kerze war herunter gebrannt, und der qualmende Docht verbreitete nur noch in der nächsten Nähe des Ofens seinen röthlichen Schein – um so unheimlicher starrte die Finsterniß des ganzen Gemachs in die weit aufgerissenen Augen des Entsetzten. Das Dunkel begann sich zu bewegen und gespensterhaft durcheinander zu wogen und zu flimmern, daß er wieder die Augen schloß und die Hände fest vor’s Gesicht schlug … „Wenn ich nur nit so allein wär’ ...“ murmelte er, „… so ganz allein … es ist schrecklich, wenn man so mutterseelenallein sein muß …“ Er brach ab, denn im Augenblick stand es vor ihm, wie es so ganz anders sein könnte – er sah sich von seinen Angehörigen umgeben und liebend und sorgend umringt, und etwas wie Reue wollte ihn anwandeln, etwas wie ein Gewissensvorwurf, als sei es seine Schuld, daß es so gekommen, aber er sträubte und stemmte sich dagegen mit dem ganzen Trotz seines Gemüthes. „Ich bin nit schuld daran,“ sagte er halblaut vor sich hin, „… sie hätten auch nachgeben können. …

Warum soll’s gerade ich sein, der überall Andern den Willen thut? … Ich bin nit schuld, daß das Herz in mir so kalt ’worden ist … und so steinhart. …“

Er ballte und preßte die Hände an der Brust zusammen, denn es schraubte ihn inwendig schmerzlich und krampfhaft, als wenn etwas, das lange gefangen oder begraben gewesen wäre, auf einmal lebendig würde oder seine Kette zerbrechen wollte. Es war vollständig finster im Gemach – nur die Nachthelle ließ das grauliche Fenster erkennen, dessen Schein allerlei befremdliche unsichere Gestalten auf den Boden warf. Plötzlich kam es dem Einsamen vor, als wenn in der Ecke daneben eine dunkle Gestalt säße und dann auf ihn heran käme … er täuschte sich nicht, sie saß wirklich da, die alte Ahn’l mit dem nicht ruhenden zahnlosen Munde und den knochendürren Händen! Diese hatte sie starr gegen ihn ausgespreizt und sah ihn mit den weit offenen blinden Augen unbeweglich an und murmelte: „Bet, Korby, bet’ – das Beten hilft“ – Immer näher kam das Gespenst gegen ihn heran … wild schlug er sich vor die Brust und fuhr sich schreckensvoll in das weiße Haar. … „Bleib’ mir vom Leibe,“ rief er außer sich … „es ist nit wahr … erlogen ist’s, daß das Beten hilft … ich kann nit beten … ich hab’ die Kraft nit mehr dazu im Gemüth, und die Wort wollen nit mehr heraus auf die Zung’ … und ich will auch nit beten … will nit schwachherzig werden zu guter Letzt …“

Mit diesen Worten, immer lauter schreiend, schleppte er sich vom Lager weg gegen die Mitte der Stube zu … er flüchtete vor der Gestalt der alten Ahn’l, die ihn mit den ausgespreizten Fingern und den starren, lichtlosen Augen fortwährend murmelnd verfolgte und immer näher kam. Jetzt war sie hart an ihm, jetzt berührten ihn die gespenstischen Finger … da stürzte er mit einem lauten Aufschrei des Entsetzens bewußtlos zusammen.

Wiederholtes, erst leises, dann stärker werdendes Pochen an der Thüre rief ihn nach einiger Zeit aus der Betäubung zurück – allein eh’ er etwas zu erwidern oder sich vollständig aufzurichten vermochte, ging die Thüre auf, und voller klarer Lichtschimmer fiel herein. Korby wußte nicht recht, ob er vollkommen wachend und bei sich war, oder ob die Bilder und Gesichter seiner Einsamkeit noch fortdauerten – denn in der erhellten Thüre, lebendig, schön und jugendfrisch, wie sie von ihm gegangen, die gefalteten Hände wie bittend weit gegen ihn vorgestreckt, stand – Vesi.

Einen Augenblick starrte er die Erscheinung zweifelnd und unentschieden an; im nächsten lag ihm die Tochter zu Füßen und umklammerte sie, indem sie vor Schluchzen und Weinen kaum die Worte hervorzustoßen vermochte: „Verzeihung, Vater … Verzeihung …!“

Dem Manne stieg es wie siedend und wallend nach Herz und Kopf; er bebte und zuckte am ganzen Körper und rief abgebrochen und stammelnd: „Laß meine Füß’ los – was willst Du von mir? Ich hab’ nichts zu verschenken und zu geben …!“

„O Vater,“ rief Vesi wieder, „ich will ja nichts von Dir! Ich will nichts, als daß Du mich lieb haben und wieder bei Dir aufnehmen sollst und daß ich bei Dir bleiben darf all’ meiner Lebtag …“

„So?“ entgegnete er hart, aber durch die Härte des Tones zitterte eine innere Erweichung, wie der Schnee mürbe wird, noch eh’ der Thauwind wirklich weht, der ihn schmelzen soll. „Ist es um die Zeit’ ? Ist es Dir gegangen, wie ich’s voraus gewußt hab’ und gesagt? Ist Noth und Elend über Dich ’kommen, mit Deinem Burschen, um den Du Deinen Vater aufgeben hast und Deine Heimath? Kommst zurück in Noth und Schand’ und meinst, Dein Vater wär’ noch der reiche Holzgraf, wie dazumal? Hast Dich verrechnet, Schatz – geh’ nur wieder fort und geh’ betteln in der weiten Welt – ich bin auch ein Bettler wie Du!“

„Vater, sei nit so hart mit mir! Es ist ja nit die Noth und das Elend, was mich zu Dir treibt! Ich bin so glücklich mit meinem Mann, so glücklich, wie ich mir’s gar nie hab’ hoffen können! Der Vetter Steinbacher in St. Petersburg hat den Domini aufgenommen, wie er den eignen Sohn nit besser hätt’ aufnehmen können – wir haben Arbeit gehabt und Verdienst und Freude vollauf …“

„Und warum bist Du dann doch fort von ihm und hast den weiten Weg gemacht bis aus Rußland heraus?“

„Es hat mir keine Ruh’ mehr gelassen – Vater, um Deinetwegen! Der Gedanken, daß ich Dich so verlassen hab’, daß Du vielleicht krank sein könnt’st und Niemand hast, der Dich wart’ [485] und pflegt, hat mir alle Freud’ verdorben! Dein Willen, Vater, Dein Segen hat mir dabei gefehlt … d’rum hab’ ich nit geruht, bis wir unsere Sachen zusammenpackt haben und sind heraus zu Dir …“

„Vesi,“ rief der Holzgraf, der seine Bewegung immer vergeblicher zu bemeistern strebte, „Vesi – sag’ mir die Wahrheit … Das hättet Ihr … das hätt’st Du gethan? Aber warum denn? – Hilf mir d’rauf, damit ich’s begreif’ … warum solltest Du das Alles gethan haben?“

„O Vater,“ schluchzte Vesi, „wie kannst Du so fragen? – Warum sonst, als weil ich Deine Tochter sein und bleiben will – weil ich Dich gern hab’ von Herzensgrund und so wenig von Dir lassen kann, als von mein’ guten Domin. …“

Der Holzgraf richtete sich hoch auf und hob die Arme zum Himmel – „Sie hat mich gern!“ rief er erschüttert. „Es giebt doch noch Jemand auf der Welt, der mich gern hat …“ Damit brach ihm die Stimme und unter stürzenden Thränen hob er Vesi empor, drückte sie an die Brust und verbarg das Gesicht an Ihrer Schulter.

Während der Umarmung trat Domini hinzu, der inzwischen, des Ausgangs gewärtig, vor der Thüre gestanden hatte. Er trug einen schlafenden, etwa vierjährigen Knaben auf dem Arm. „Grüß Gott, Schwiegervater,“ sagte er, indem er dem erstaunt empor Blickenden die Hand hinstreckte, „der kleine Korby da auf meinem Arm, Euer Enkel, kann Euch jetzt nicht Grüßgott sagen, er ist eingeschlafen vor Müdigkeit!“

„Wie ist mir denn?“ rief Korby. „Es ist mir ja auf einmal ganz leicht und warm um’s Herz! Ich glaube gar, ich hab’ das Weinen wieder gelernt …“

Er fuhr sich mit beiden Händen an die strömenden Augen.

„Ja,“ rief er, indem er ans Vesi’s Umarmung in die Kniee zusammensank … „ja – ich Hab’ das Weinen wieder gelernt … und das Beten auch … o Du gnädiger Herrgott im Himmel droben … ich dank’ Dir!“

- – – Am andern Tage verließ die wiedervereinigte Familie das Thurmgemach und den Durnerhof. In Oberammergau wurde eine kleine hübsche Wohnung gemiethet, denn Domini hatte ein schönes Stück Geld verdient und konnte sich bequem und behaglich einrichten, um als Bildschnitzer wieder fortzuarbeiten, wie vorher. Mit neuer Rührigkeit ging er daran, Vesi begann als Hausfrau zu schalten und zu walten im Hause; der Holzgraf wollte dem gegenüber nicht müßig erscheinen und hatte sich in der Nachbarschaft als Knecht verdungen. So konnte es nicht fehlen, daß in dem kleinen Hause mit den neuen Bewohnern auch die Freude einzog und die Zufriedenheit. Abends fehlte fast nie Pater Ottmar, der sowohl wegen seines Zöglings kam, als wegen des Holzgrafen, der ihm durch das bewiesene Vertrauen und die eingetretene Sinnesänderung werth geworden war. Seelenvergnügt schlug Korby in die Hand des Paters ein, wenn dieser sie ihm zu Gruße entgegen strecke und ihm vertraulich und halb heimlich zuflüsterte: „So ist’s recht, Korby, jetzt seid Ihr auf dem rechten Wege! Arbeit ist das einzige Mittel, welches das Gleichgewicht herstellt zwischen Leib und Seele, und mit dem Gebet der einzige Balsam, der sie kräftig und geschmeidig erhält alle Beide!“ – Dann wandte er sich wohl auch an Domini und wollte wissen, ob er seine frühern Träume, als Bildhauer Ehre und Ruhm erwerben zu wollen, wirklich so ganz aufgegeben haben. Dieser lachte dann und sagte: „Ich habe sie aufgegeben und bin froh, daß es so gekommen [486] ist – den beschränkten, aber glücklichen Kreis, der mich jetzt umgiebt, vermag ich vollständig auszufüllen – in dem größern des Künstlers wäre ich wohl ein unglücklicher Stümper geblieben … denn ich glaube, Sie haben damals doch Recht gehabt mit dem Haifisch!“

Im Dorfe war natürlich das Aufsehen über die neuen Ereignisse groß und andauernd, aber größer noch war die Freude, als man die günstige Wendung sah. Alles gönnte Vesi und ihrem Manne das verdiente stille Glück, und wer früher, wenn der Holzgraf durch die Straßen ging, ihm bedenklich nachgesehen und die Achseln gezuckt hatte, der sah ihn jetzt mit einer Art von Respect an, wenn er rüstig an der Arbeit stand oder mit den Werkzeugen über die Schulter Feierabends zu seinen Kindern nach Hause eilte.

– An einem schönen Sonntagsmorgen im Juni zog die Ammergauer Dorfmusik in frühester Stunde durch die Straßen, denn es sollte wieder „der Passion“ gespielt und die Bewohner und die Gäste lustig gemahnt werden, sich bald aus den Federn zu machen, damit sie noch dem Hochamte beiwohnen könnten, das wegen des Beginns des Schauspiels zu ungewöhnlich früher Stunde begann. Die auf dem Kirchhofe und an den Straßen Stehenden bemerkten unter den Kirchgehern auch den Holzgrafen, der zwischen Vesi und Domini, den Enkel an der Hand, der Kirchthüre zuschritt. An der Thüre traf er mit andern Männern zusammen, darunter Luipold, der invalide Wachtmeister, welcher den Andern eifrig erzählte und ihm mit freudestrahlendem Gesichte zurief: „Freut Euch auch mit, Holzgraf! Heut Nacht ist die Nachricht gekommen – die Alliirten haben vor drei Tagen in einer ungeheuren Schlacht … bei Waterloo, glaub’ ich, war es … den Kaiser Napoleon vollständig geschlagen und vernichtet! Jetzt endlich ist es Friede und wird Friede bleiben – jetzt kann ein ehrlicher Deutscher den Kopf hinlegen und in Ruhe dahin fahren!“

Das wiedergekehrte Glück im Hause des Holzgrafen hatte Bestand – bis an jene Grenze, an welcher der Bestand alles Irdischen endet.

Sollte aber vielleicht ein Leser, der Ammergau gesehen, sich nach Haus, Namen und Ort genauer erkundigen wollen, so lasse er die unnütze Mühe. Namen und Orte sind verändert und verschoben, um sie unkenntlich zu machen. Zwar ist Pater Ottmar schon längst zur Ewigkeit heimgegangen; der Wachtmeister liegt schon lange unter der selbst gedichteten Grabschrift: Vesi und Domini, wie der Holzgraf selbst, haben ihre Gruben auf dem Friedhöfe gefüllt – aber ihre Enkel leben noch, ein tüchtiges, rüstiges, wackeren Geschlecht, dem aber die eignen Erinnerungen fast verloren gingen. Nur hier und da denkt noch ein älterer Mann der damaligen Ereignisse und berichtet in vertraulicher Stunde, wie es dem Erzähler von seinem gastlichen Wirthe begegnete, von den sonderbaren Erlebnissen des – Holzgrafen.



  1. Unsere Leser kennen den Verfasser des „Holzgrafen“ bereits aus frühern Beiträgen. worunter namentlich die „Huberbäuerin“ – Anfang vorigen Jahres – allgemeinen Beifall fand. Herman Schmid, der sich indeß auch als Dramatiker hervorgethan, ließ vor kurzem unter dem Titel: „Alte und neue Geschichten“ eine Sammlung seiner Erzählungen erscheinen, deren Stoffe er meist dem bairischen Gebirgsleben entnommen hat. Wir empfehlen diese Erzählungen allen unsern Lesern auf das Angelegentlichste. Wenn Frische und Kernigkeit der Darstellung, glänzende Detailmalerei, interessante Sujets und eine sehr wohlthuende Gesundheit der Anschauung einen guten Novellisten machen, so dürften wir H. Schmid unbedingt zu den hervorragendsten zählen. Erzählungen wir der „Mohrenfrenzel“, die „Huberbäuerin“, „Eigener Herd“ und „Unverhofft“ gehören zu den besten Leistungen der Neuzeit auf dem Gebiete der deutschen Novellistik.
    D. Redact.