Das Bombardement von Schärding

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Autor: Hermann von Schmid
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Titel: Das Bombardement von Schärding
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 721–724
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erzählung in 3 Teilen // Heft 46–48
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Das Bombardement von Schärding.

Von Herm. Schmid.


Der alte Rentbeamte Regler war ein freundlicher Mann, dem Alles wegen seiner Herzlichkeit und seines offenen Wohlwollens gut war. Wenn er mit seinem schneeweißen Kopfe den Weg zur Kirche herankam oder durch’s Thor ging, um über die Brücke oder längs des Capuzinerklosters seinen Spaziergang zu machen, da nickten ihm von allen Seiten, aus allen Fenstern lächelnde Grüße zu, und aus jeder Hausthüre scholl ihm irgend ein freundliches Wort entgegen. Er kam auch selten weit auf seinen Spaziergängen, denn links und rechts gab es Veranlassung still zu stehen und mit Jemand zu plaudern. Bald waren es Kinder, die von ihrem Spielzeuge wegsprangen, um mit einem halb verlegenen „Grüß Di’ Gott“ dem bekannten Spaziergänger die Hand zu reichen, der für solche Fälle immer eine kleine Kindergabe in der Tasche trug; bald war es irgend eine bedrängte Hausfrau, der es wohl that, die kleinen Sorgen ihres Haushaltes vor dem alten Manne auszuschütten, der, wenn er auch nicht zu helfen vermochte, doch mit einer Art zuhörte, daß es der Klagenden wohl that – bald endlich war es ein Bürger oder ein Bauer, der mit den Behörden auf irgend eine Art zusammengerathen war und der sich glücklich fühlte, sich bei dem erfahrenen Beamten Rath zu holen, der an Allem so lebhaft Antheil nahm, als wenn er noch zur Stunde nach seinem Lieblingsausdrucke – „der Rentteufel“ gewesen wäre.

Was ihm so besonders die Herzen gewann, lag nicht darin, daß er mit den Leuten sprach, sondern in der Art, mit welcher er es that. Er war immer heiter und hatte ein passendes Scherzwort in Bereitschaft, das nie verletzte, weil dahinter ein Gemüth voll reiner, tiefer Empfindung lag, wie unter dem plätschernden, gefahrlosen Wellenspiel einer Quelle der klare, trotz der Tiefe erkennbare Grund. Es geschah nicht blos, daß die Kinder, schnell beruhigt, durch Thränen hindurchlachten, sondern auch die Erwachsenen fanden Behagen daran, wenn durch die Wolken ihrer Betrübniß und den Sprühregen ihres Kummers ein Lichtstrahl fiel, wie rother Sonnenuntergang nach einem trüben Tage, oder ein Sonnenblick mitten im Aprilregen. Hier wie dort brach sich das einförmig traurige Grau zur Farbe; damit kam Beruhigung, denn wenn auch gebrochen, die Farbe ist doch Licht.

Diese Munterkeit, der volle Wiederschein innerer Harmonie, machte den Grundzug seines Wesens aus, und wie er Andere damit erfreute, war sie der Stab, woran sein eigenes Leben sich emporrankend Kraft und Stütze gewann. Sie verließ ihn auch nicht bis an’s Ende, der beste Beweis, daß er nicht zu den Hohlheiten gehörte, welche die innere Leere und Dunkelheit durch ein Feuerwerk von Witz verdecken wollen, das sie Andern und sich selbst vormachen. Sie mögen damit manchmal die Zuschauer täuschen, während der im Grunde trübselige Feuerwerker nur zu gut fühlt und weiß, daß der Funkenregen nur ein Blendwerk ist. Er blieb sich gleich, auch nachdem Leid und Mühsal aller Art über ihn gekommen; nachdem, einen Volksausdruck zu gebrauchen, das Unglück „tausend Mann stark“ über ihn hereingebrochen war.

Wie er nun Allen werth war, die ihn kannten, war er es mir doppelt, denn er war mein Großvater und die Ferientage, die ich in seinem Hause zubringen durfte, stehen in der Sammlung meiner Erinnerungen bleibend aufbewahrt, als die schönsten Exemplare von Angedenken aus der Jugendzeit. Stunden-, ja tagelang lauschte ich mit wahrem Seelenvergnügen den Ereignissen aus seinem viel bewegten Leben, die er so lebhaft vorzutragen wußte, daß man sie mit dem Erzähler nochmal durchzumachen glaubte. Oft äußerte er dabei den Vorsatz, er wolle sich einmal darüber setzen und nieder schreiben, was ihm Alles auf seinem langen Lebenswege begegnete. Ich munterte ihn jederzeit auf, das ja zu thun und hoffte bestimmt, daß sein Rücklaß die versprochene Schilderung enthalten werde. Als er aber dahin gegangen war, wie ein Licht auslöscht, das seine Umgebung so lieblich erhellt hat und doch für den später Kommenden in keiner Spur wahrnehmbar bleibt, da fanden sich nichts als Anfänge, zerstreute Blätter und Vormerkungen, wie man sie zu einer solchen Arbeit macht, ein Ganzes war nicht vorhanden.

Die folgende Erzählung ist ein solches abgerissenes Blatt; ich gebe es ohne viele Zuthat, als Bruchstück eines wackern Seins, das einst in allen Regenbogenfarben der Freude über einer dunklen Folie geschimmert hat. Vor uns liegt und dehnt sich das Leben noch voll und unzertrümmert; vielleicht dient die Betrachtung des Bruchstücks dazu, den Strahl zu erkennen, der die an sich todte Masse leuchten macht.




Der Winter von Anno Achte ging unter sehr bedenklichen Anzeichen zu Ende. Man sprach immer lauter davon, daß die Allianz zwischen Oesterreich und dem Kaiser Napoleon angefangen habe locker zu werden, aber mich bekümmerte das im Ganzen sehr wenig. Ich saß damals bereits seit zwei Jahren als wohlbestallter kaiserlich königlicher Controllor am Landgericht zu Schärding am Inn und fing soeben an die Behaglichkeit einer sorgenfreien Stellung zu genießen. Mir war ungefähr so, wie wenn man lange in strenger Kälte gewandert ist und dann in der warmen Stube empfindet, wie das Leben in die steif gefrorenen Glieder zurückzukehren beginnt. – Wie ich das niederschreibe, finde ich, daß das Gleichniß, das mir da so in die Feder gekommen ist, sehr gut paßt, denn mein Dasein und meine Wanderung an der Seite meiner geliebten Katharina war bis dahin in der That, als wären wir in einer Winterkälte von zwanzig Graden im Walde und bei Nacht nach Monduntergang und vor Sonnenaufgang unterwegs gewesen. [722] Und doch hinkt dieser Vergleich wie jeder. War es auch keine Kleinigkeit, sich achtzehn Jahre lang vor dem Einfrieren zu schützen mit sehr geringer Einnahme, die immer gleich blieb, während der in Kindern ausgedrückte Segen Gottes sich stetig vermehrte, so trugen wir doch in uns, was wärmer hält, als der dichteste Flausrock – wir hatten uns aus Liebe geheirathet und das Sprüchwort vollkommen wahr gefunden: Jung gefreit hat keinen gereut.

Vielleicht – vielleicht auch nicht, erzähle ich ein anderes Mal von den ersten Anfängen meiner Jugend, die wahrlich nicht auf Rosen gebettet war. Das Mittelste von fünfzehn Kindern, zählte ich achtzehn Sommer, als ich Wien verließ, um als wirklicher Actuar auf einer herrschaftlichen Besitzung des grünen Innviertels einzutreten. Erlaßt mir’s, die Freuden eines solchen Actuariats zu schildern. Sie sind heute noch nicht die schönsten, aber damals wäre es fast nicht zum Aushalten gewesen, wenn nicht ein Engel, in Gestalt eines schönen Mädchens, meiner Katharina, die als Kammerjungfer auf dem Schlosse der Gräfin diente, mir trotz aller Qual einen Himmel auf Erden geschaffen. Wie auch der alte Drache, die Baronin, aufpaßte, wie sie mich auch mehrere Male anredete: „Er scheint mir auch ein echtes Wiener Frücht’l zu sein, laß’ Er mir die Mädels im Schlosse ungeschoren, wenn wir gute Freunde bleiben sollen – vor allen meine Katharina hier“ – wir wußten uns doch zu finden, von Blicken kam es zu Händedrücken, dann zu Erklärungen, und bald wechselten wir den Schwur ewiger Liebe. –

Theure Katharina, treue, liebevolle Gefährtin meines Lebens, meine Hand zittert, da ich dieses in der Einsamkeit niederschreibe, in der Du mich zurückließest! Ich feiere sie in diesem Augenblicke wieder, die Weihestunde unseres Glücks; wir sind wie Tamino und Pamina durch Wasser und Feuer gewandelt – aber wir haben unseren Schwur gehalten wie sie!

Leider ließ der Argwohn nicht nach, uns zu beobachten und zu verfolgen, wenn man uns auch nichts Bestimmtes nachzusagen vermochte. Ich erkannte es daraus, als mir eines Tags die Baronin zufällig im Schlosse begegnete und mich von oben bis unten musternd vor mir stehen blieb. „Er Windbeutel,“ sagte sie dann, „hört nicht auf, meiner Katharina dummes Zeug in den Kopf zu setzen. Ich sag’ es Ihm jetzt zum letzten Male – und wenn ich Ihn erwische, daß Er mir das Mädel nicht in Ruhe läßt, so jag’ ich Ihm eine Kugel durch den Kopf.“

Damit ging sie; ich aber blieb in der größten Entrüstung zurück. Das war zu viel, das war ein Eingriff in meine Menschenrechte, der mich aller Bedenklichkeiten überhob, und ich beschloß, der Sache rasch ein Ende zu machen. Ich hatte Aussicht, in Wien eine kleine Stelle zu erhalten; ich sprach mit Katharina, die mit Allem einverstanden war, und wenige Wochen darnach kam meine Bestallung mit einem so großen Siegel, als ob ich Minister geworden wäre. Die Frau Baronin wüthete zwar und drohte wieder mit dem Erschießen, als ich und Katharina mit mir den Abschied nahm, aber nun kehrte ich mich nicht mehr daran, nahm meine Braut unter’m Arm und kutschirte nach der Trauung mit ihr überselig nach Wien. Zu einer solchen Reise von mehreren Tagen gehörte damals eine Art von Heldenmuth, und es war die volle Begeisterung einer beiderseitigen ersten und glücklichen Liebe, erforderlich, um sich auf dieselbe sogar zu freuen, wie wir es thaten. Man fuhr damals in sogenannten Zeiselwagen, einer Art Fuhrwerk, wie man sie vor den Linien von Wien immer noch antrifft. Nur waren damals in diesen Fuhrwerken noch keine Bänke angebracht. Ueber einen gewöhnlichen Bauernwagen wurden Reife gespannt und über diese eine große Plache gezogen, ähnlich wie es heutzutage bei Frachtwagen geschieht. In der dadurch gebildeten Röhre war dichtes Stroh aufgehäuft, darüber Decken gebreitet, und darauf saß oder lag oder kauerte die ganze zusammengewürfelte und durcheinander gerüttelte Gesellschaft. So war das Fuhrwerk beschaffen, auf dem wir die Hochzeitsreise antraten, und doch hätte uns die Neuheit des ungestörten Beisammenseins für Alles entschädigt, wäre es mir nur möglich gewesen, in der Maschine auszuhalten. Ich war kaum hineingekrochen und einige Zeit gefahren, als sich mir eine sehr lebhafte Vorstellung von jenem Zustande aufdrängte, den die Schiffer Seekrankheit nennen, und wohl oder übel – ich mußte heraus und zu Fuße nebenher wandern. So oft ich auch den Versuch wiederholte, es ging nicht; es kam mir vor, als steckte ich in einer Ofenröhre, um bei gelindem Feuer geschmort zu werden, und trotz des Regens, der am zweiten und dritten Tage nicht fiel, sondern goß, schritt ich neben dem Wagen her, der glücklicher Weise nicht die Gewohnheit hatte, sich zu übereilen. Ich kam mir vor wie Nährvater Joseph auf den Bildern, welche die Flucht nach Aegypten darstellen und auf welchen ich denselben auch nie reitend oder fahrend gesehen habe, sondern immer nebenher wandelnd und den Esel am Zügel führend. Mein einziger Trost war, wenn meine Katharina hie und da durch eine Spalte des Bratrohrs ihr liebes Gesichtchen zeigte oder mir die Hand herausbot, um sich zu überzeugen, daß ich weder vom Regen verschwemmt, noch im Kothe versunken sei.

Endlich war Wien erreicht und die Trübsal war aus – wie ja seitdem auch meine Freude „aus“ geworden ist. Aber nun begann eine selige Zeit, eine Zeit der Arbeit und der Sorge, denn es galt, zu erwerben und dem so rasch gebauten Hause einen dauernden Grund zu untermauern – eine Zeit des vollsten Glücks, denn die Monate und Jahre bewiesen, daß wir Beide in der raschen Wahl nicht fehlgegriffen hatten. Anfangs ging es freilich schwer und langsam, aber es ging doch – und es war nicht recht, daß ich oben diese Zeit mit einer kalten, nächtlichen Winterwanderung verglichen habe. Es war Frühling, doppelter, dreifacher Frühling … der Natur, des Lebens und der Liebe; aber jetzt, da ich dies schreibe, ist es Winter um mich, dreifacher Winter, in dem Du mich nicht hättest so allein lassen sollen, liebe Katharina; ach, gerade zu dieser letzten Winterwanderung hätte ich Deine weiche, liebende, sorgende Hand am meisten bedurft!

… Wir hatten uns allgemach aus der Entbehrung zu dem Zustande emporgearbeitet, daß wir hatten, was wir brauchten; heimsten und trugen wir doch Beide einmüthig ein wie die Bienen. Zumal seit wir in Schärding waren, gelangten wir schon zu jenem Grade von Wohlhabenheit, die für die Zukunft zurückzulegen vermag. Ich war mit Frau und sechs Kindern wohlgekleidet; die Miethwohnung, die wir inne hatten, war reichlich und anständig eingerichtet. Stattliche, „feternde Betten“ standen herum, in den Schränken hatte sich manches Stück Leinwand angesammelt, der Keller und die Vorratskammer war gefüllt, und was die Hauptsache war, in meinem Arbeitszimmer im Landgerichtsgebäude lag wohlversperrt in meinem Pulte ein kleines Etui von rothem Maroquin, und in diesem ein nicht unbeträchtliches Sümmchen, das wir erübrigt hatten, und das alle Anlagen zu gutem Wachsthum verriet.

Wir waren darum freudig im Gemüth, und als der Katharinentag des Jahres 1808 herankam, war ich, wie jedes Jahr, darauf bedacht, diesen Tag als einen Ehrentag meines guten trefflichen Weibes durch ein Fest zu begehen. Diesmal hatte ich mir etwas ganz Besonderes ausgesucht. Unsere älteste Tochter Constanze war ein Mädchen von sechzehn Jahren, gut, sanft, liebenswürdig, zu Allem geschickt und von so hoher Schönheit, daß ich es wohl sagen darf, wenn ich auch ihr Vater bin … oder vielmehr war, denn sie hat ja auch schon lange vor uns fortgemußt in der schönsten Pracht ihrer Jahre! Sie war das leibhafte Abbild ihrer Mutter, aber doch geistig wie körperlich noch veredelt und verklärt, und von einer Anmuth umgeben, die ihr alle Herzen gewann. Sie war darum auch der Augapfel des ganzen Hauses, und wenn sich in demselben, wie das ja überall vorkommt, ein Wölkchen zusammenziehen wollte, so durfte sie sich nur an’s Clavier setzen und ein Lied zu singen anfangen, so war Alles ausgeglichen. Es war unmöglich, dem seelenvollen Ton ihrer schönen Stimme, der bewußtlosen Kunst ihres Gesanges zu widerstehen. – Darauf hatte ich meinen Plan gebaut. Die Honoratioren der Stadt hatten zur erlaubten Gemüthsergötzung in den langen Wintermonaten ein Liebhabertheater eingerichtet, bei dem auch ich mein komisches Talent geltend machte. Zwar geschah das unter stetem Widerspruche meiner Katharina, die dem Theater und Allem, was damit zusammenhing, nicht grün war, aber sie mußte das wienerische Blut in meinen Adern gewähren lassen. Ich hatte veranstaltet, daß man die Schweizerfamilie gab und Constanzen war die Rolle Emmelinens zugetheilt. Es war das erste Mal, daß sie die Bühne betreten sollte, und mit dieser Talentprobe ihrer Tochter sollte die Mutter überrascht werden.

Der Abend der Vorstellung war herangekommen, ohne daß Katharina, die sich um das Theaterwesen wenig kümmerte, gemerkt hätte, was vorging, denn Constanze hatte die Partie außer dem Hause bei dem alten Lehrer einstudirt, der zugleich das Orchester leitete. Der Zuschauerraum war überfüllt, und Katharina saß vorne in der ersten Reihe zwischen zwei vertrauten Nachbarinnen, die zu [723] verhindern hatten, daß die Ueberraschung nicht in die Brüche gehe. Constanze selbst mußte ein kleines Unwohlsein vorschützen, um daheim bleiben zu können, bis die Mutter sich entfernt hatte. Jetzt stand sie in der Schweizertracht, ein wahrer unschuldsvoller Engel, im Garderobezimmer vor mir da und rückte sich vor dem Spiegel vollends zurecht, während draußen die Ouverture begann. Ich selber prangte im Costume des Peter, denn um die Vorstellung möglich zu machen, hatte ich, unbeschadet meiner Controllorschaft, mich herbeilassen müssen, die Tölpelpartie zu singen. Da sah ich mit Verwunderung, wie die Thüre aufging und durch die Spalte das langweilige Gesicht des Amtsdieners halb verlegen und halb ängstlich hereinsah. „Ach, Ihr Gnaden, Herr Controllor,“ rief er, als er mich erblickte, „kommen Sie doch in Eile herüber aufs Amt. Ein französischer Courier ist angekommen. Der Herr Landrichter ist verreist, wie Sie wissen. Der Courier will Pferde und seinen Paß visirt haben. Er muß in einer halben Stunde wieder fort.“

„Er ist ein Esel, Kratzdorn,“ entgegnete ich ihm mit aller Ruhe, deren ich in dem kritischen Augenblick fähig war. „Die Pferde habe ich nicht im Sacke bei mir, für die soll der Posthalter sorgen, und daß ich hier nicht weg kann, wird er begreifen. Die Ouverture ist aus, der Vorhang geht im Augenblick auf, ich habe die erste Scene und muß hinaus. Und wenn das nicht wäre, soll ich vielleicht hinaus und das löbliche Amt in dem Hanswurstenanzug prostituiren, den ich anhabe? Der Courier soll seine Papiere schicken …“

„Aber das will er nicht,“ jammerte der Diener. „Er giebt sie nicht aus der Hand … er macht ein fürchterliches Gesicht, und wenn Sie nicht bald kommen, giebt’s sicher ein Unglück!“

In dem Augenblick klingelte es draußen, und der Vorhang stieg empor. „Der Franzos soll sich menagiren; er ist auf kaiserlich österreichischem Boden und nicht etwa in Feindesland … Ich muß hinaus …“

Ich rannte auf die Bühne, spielte und sang mein Duett, so gut ich es in der Verwirrung vermochte, und eilte wieder ab, höchst begierig, welche Antwort der leidige Kratzdorn mir inzwischen zurückgebracht haben werde, aber zu meinem Staunen kam er nicht mehr. Inzwischen war es draußen fortgegangen, und Emmeline war aufgetreten. Sie sang so schön, daß ich bald an nichts andres mehr dachte und an den Courier erst wieder erinnert wurde, als am Schlusse des ersten Actes der Kratzdorn wieder kam, diesmal aber mit vergnügt lächelndem Gesichte. „Es ist gut gegangen,“ sagte er. „Der Franzose mußte erfahren haben, wo Sie sind, und war mir nachgekommen in aller Rage. Die Komödie aber hat ihn besänftigt, wahrscheinlich hat er so etwas noch nie zu sehen bekommen. Er sitzt nun draußen und läßt Ihnen sagen, er habe zuerst vorgehabt, in Bayerbach Rast zu machen; nun wolle er es hier thun und sich die Oper mit ansehen. Wenn’s aus ist, will er wegen seiner Papiere mit Ihnen reden.“

Nun ging es ohne Störung zu Ende, unter ungeheurem Beifall, und der Beifall war nicht mehr als natürlich, denn eine solche Emmeline ist wohl auf keiner Bühne gesehen und gehört worden. Was sind all’ die künstlichen Schöpfungen, die man in den Treibhäusern zieht – das war eine freie Waldblume, wie die einfache Natur sie giebt: das war keine Künstlerin, welche sich zur Emmeline macht, das war Emmeline selbst. Auch meine Katharin war davon ergrisfen. „Mädchen,“ sagte sie, indem sie sie auf die schöne Stirne küßte, „wie kommst Du mir dazu? Du trägst einen edlen Genius in Dir; er kann das Glück Deines Lebens sein, wenn Du ihn nicht verscheuchst … Aber Eins bitt’ ich Dich, von den Bretern bleibe mir weg und laß den heutigen Beweis Deines Talents genug sein. Die Breter verführen und ziehen ab, bewahre Du Deinen ganzen Reichthum für Dich und schmücke damit, wie jetzt das Haus Deiner Eltern, so dasjenige, das Dich einst als Frau empfangen wird.“

Gerührt umarmte sie die Tochter und gelobte, was die Mutter verlangte. Bald war der Theaterputz abgelegt, und wie es Brauch war, versammelte sich Alles, was mitgewirkt hatte, und auch ein Theil der Zuschauer in einem Saale des Hauses. Dieses Nachkosten des Genossenen bei einem Glase wärmenden Bischof bildete den nothwendigen und angenehmen Schluß jedes Theaterabends.

Erst wie man da in langer bunter Reihe lachend und plaudernd beisammensaß, wurde ich wieder an den französischen Courier erinnert und zwar durch ihn selbst. Er trat ein, von dem fatalen Kratzdorn geleitet, und brachte nicht geringe Bewegung in die Gesellschaft. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Schönheit, den die Obersten-Uniform der Chasseurs unvergleichlich kleidete. Ich wußte natürlich, warum er kam, und eilte ihm pflichtschuldigst entgegen, um die so lange verschobene Paßvisa nachzuholen und mich wegen der Zögerung gebührend zu entschuldigen. Aber ich hatte mich getäuscht, denn der Oberst fragte nicht nach mir, sondern nach – Emmeline. Ehe es mir möglich gewesen war, mir für meine Explicationen Gehör zu verschaffen, hatte er die Gesuchte bereits gefunden. Er stellte sich ihr und der neben ihr sitzenden Mutter mit dem leichten soldatischen Anstande vor, den der Krieg lehrt; im nächsten Augenblicke saß er schon neben Constanzen und war mit ihr, die genügend französisch sprach, in ein lebhaftes Gespräch verwickelt. Ich postirte mich natürlich in die Nähe, aber ich stand geraume Zeit unbeachtet nebenan, wie ein verirrtes Fragezeichen. Erst als Kratzdorn hinzutrat, den der Oberst schon als ein Anhängsel der Ortsobrigkeit kannte, und als er durch Gebehrden und Fingerzeige mich ihm vorgestellt hatte, wendete sich derselbe nach mir um. Ich hatte schon die Miene in die gehörigen Autoritätsfalten gelegt, als er mich fester in’s Auge faßte und mich offenbar von der Bühne her erkannte. „Ah,“ rief er lachend, „das ist Monsieur Pierre, nicht wahr? Ich danken Ihnen tausendmal. Sie haben mich sehr ergötzt, Sie waren sehr drollig!“ Dazu lachte er von Herzen und versicherte mich einmals über’s andere, wie sehr ich „drôle“ gewesen sei. Ich fing schon an, darüber empfindlich zu werden, als er wie einlenkend sein Portefeuille hervorzog und mir hinreichte. Es war Alles in Ordnung; Alphons de Faure, Oberst im Gardes-Chasseur-Regiment, Adjutant Sr. Majestät des Kaisers Napoleon, reiste in geheimen Aufträgen nach Wien. Ohne mir einen Blick zuzuwenden, nahm er das Papier wieder in Empfang, sah flüchtig hinein und fuhr dann angelegentlich in seiner Unterhaltung mit Constanze fort. Es hatte den Anschein, als sei Niemand außer ihr im Zimmer; und es war doch eine beträchtliche Anzahl von Respects-Personen des Ortes zugegen, welche auch Töchter besaßen und mitgebracht hatten, die in ihren Augen einer so besondern Aufmerksamkeit mindestens ebenso würdig gewesen wären. Ich fand es begreiflich, daß sie die Köpfe zusammen steckten und zischelten, denn abgesehn von meiner Tochter fing meine eigene Stellung an, mich jeden Augenblick mehr zu wurmen. Ich stand hinter dem Stuhle des Obersten wie ein angemalter Türke an einem Kaufladen, und begann dem noch immer in Amtsstellung hinter mir verharrenden Kratzdorn in deutscher Sprache ganz laut einige Ausrufungen zuzuschleudern, bei deren Gebrauch ich auf den festen Glauben sündigte, daß der Oberst nur französisch verstehen werde. Das Blut stieg mir in’s Gesicht und ich weiß nicht, was ich vielleicht gethan hatte, wären nicht die Klänge des Posthorns hörbar geworden, mit denen der Postillon von der Straße herauf bemerklich machte, daß ihm das Warten in der Novemberkälte nicht sehr angenehm war. Es war die Melodie des bekannten Volksliedes:

„’s Warten thuet weh, döß weiß’ ich scho,
Mach’ mer nur auf, sonst g’frier’ i o!“

Das half. Obwohl der Oberst aller Wahrscheinlichkeit nach den Text nicht kannte, erhob er sich rasch, wie Jemand, der sich plöttzlich an etwas Vergessenes erinnert, ergriff meinen Arm und führte mich bei Seite. „Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er im reinsten und geläufigsten Deutsch, das mir ein sehr empfindliches Frösteln verursachte, denn ich dachte nicht anders, als er werde sich über meine ausgekramte Blumenlese von Kraftausdrücken einen Commentar erbitten. „Rufen Sie gefälligst auch Ihre Frau Gemahlin und Ihre Tochter,“ sagte der Oberst, als wir in einer Fensterbrüstung angekommen waren. „Meine Zeit ist bis auf wenige Augenblicke um, und diese will ich benützen, um eine wichtige Angelegenheit in Ordnung zu bringen.“ – „Also eine förmliche Verhandlung mit Zeugen,“ dachte ich, indem ich den beiden Verlangten zuwinkte, die auch nicht säumten, mit nicht geringerer Neugierde hinzuzutreten. – „Sie werden über das, was ich Ihnen zu sagen habe,“ begann der Oberst, „minder erstaunt sein, wenn Sie bedenken, daß es den Soldaten in den immerwährenden Kriegen zur Gewohnheit wird, Alles rasch und, so zu sagen, im Fluge abzuthun. Ich bin Oberst, wie Sie sehen, und werde, wenn mich nicht früher eine Kugel trifft, in ein paar Jahren General sein; ich besitze ein anständiges Vermögen und bin aus einer guten elsässischen Familie – ich hoffe daher, daß Sie gegen meine Verheirathung nichts werden einzuwenden haben.“ – Ich sah den [724] Redenden etwas verblüfft an und bemerkte mit einer Verbeugung, daß ich nicht wüßte, wie ein kaiserlich königlicher Controllor zu Schärding dazu kommen solle, sich in eine solche Angelegenheit zu mischen. „Weil es Ihre Fräulein Tochter ist,“ entgegnete er, „mit welcher ich mich verbinden will. Mein Fräulein, ich bitte Sie hiermit in Gegenwart Ihrer Eltern um Ihre Hand – Mein Herr, – Madame, ich ersuche um Ihre Einwilligung.“ – Constanze stand hoch erröthend mit niedergeschlagenen Augen da; ich und Katharina sahen uns einen Augenblick verblüfft an. „Aber mein Herr,“ rief sie dann, „wir sehen Sie zum ersten Mal … „Ist das nicht auch mein Fall mit Ihnen?“ entgegnete der Oberst artig. „Und doch kenne ich Sie alle schon so gut, um Ihnen einen solchen Antrag zu machen … Sagen Sie mir vor Allem, Fräulein Constanze,“ fuhr er, zu derselben gewendet und ihre Hand er greifend, fort – „sagen Sie mir, ob Sie meinem Antrage nicht abgeneigt sind; ob Sie sich entschließen können, meine Gattin zu werden.“ Constanze, obwohl beklommen, schlug ruhig ihr großes dunkles Auge auf und heftete es fest auf den Fragenden.

„Sie haben das Aussehen eines edlen Mannes, Herr Oberst,“ sagte sie dann. „Geben Sie mir Gelegenheit, mich davon und von der Ernsthaftigkeit Ihrer Frage zu überzeugen, so werde ich keinen Grund haben, mit meiner Antwort zurückzuhalten.“

Der Oberst ergriff ihre Hand. „Das genügt mir,“ sagte er. „Ich bin nicht so thöricht, zu verlangen, daß Sie mir schon jetzt Ihr bestimmtes Jawort geben; aber ich werde Ihnen beweisen, daß mein Aussehen Sie nicht getäuscht hat, und Sie werden einwilligen.“

„Aber mein Herr,“ schaltete ich eiligst ein, um meine väterliche Autorität doch ein Bischen geltend zu machen, „Sie begreifen doch, daß man eine so wichtige Angelegenheit nicht mit einem Fuß auf dem Wagentritt abmachen kann, als wenn wir uns zu einer Spazierfahrt für ein paar Stunden verabredeten? Das ist bei uns zu Lande nicht üblich; ich müßte doch vor Allem Ihre Papiere prüfen und die gegenseitigen Bedingungen feststellen …“

„Dazu werden wir noch Zeit genug haben,“ unterbrach mich der Oberst rasch. „Verstehen Sie mich recht. Ihre Tochter hat einen raschen und tiefen Eindruck auf mich gemacht; sie ist eben so geist- und gemüthvoll als anmuthig und schön. Ich werbe um sie und werde mich von diesem Augenblicke an als verlobt betrachten – von Ihnen aber und von Constanzen verlange ich entgegen nichts, als daß Sie meinen Antrag nicht geradezu zurückweisen; nichts als die Versicherung, daß Sie über diese kostbare Hand nicht verfügen wollen, bis Sie wieder von mir gehört haben.“

Jetzt fand es Katharina für gut, sich in’s Mittel zu legen. „Nun, nun, Herr Oberst, damit hat es ohnehin keine Gefahr; Constanze wird sich so schnell nicht verheirathen. Wir Frauen haben in solchen Dingen ein bestimmtes und sicheres Gefühl; darum sage ich Ihnen, daß ich der ganzen Art Ihres Auftretens glaube. Dennoch soll ein vielleicht doch flüchtiger Augenblick weder Sie binden, noch bei meinem Kinde Hoffnungen oder Wünsche erwecken, deren Erfüllung so ungewiß ist. Wir sagen daher auf Ihre freundliche Werbung nicht Nein, aber auch nicht Ja. In Jahresfrist werden Sie Zeit genug haben, sich das Ja zu holen, wenn Sie es dann noch zu erhalten wünschen …“

Der Oberst verbeugte sich und küßte galant Katharinens Hand. „Ich begehre nichts Besseres,“ sagt er, „Sie werden sehen, wie bald ich wiederkomme.“ Er wollte noch mehr sagen, aber erneuter Posthornruf unterbrach ihn. „Ich muß fort,“ rief er, indem eine düstere Wolke über seine Züge lief. „Ihre Hand, Constanze! Lassen Sie mich in Ihrem Auge lesen, mit welch’ schönen Hoffnungen ich von Ihnen gehe. Leben Sie wohl! ich preise die Schickung, die mich hieher geführt, denn ich nehme ein volles Herz, eine beglückende Erinnerung mit.“ Ihre Hand festhaltend, sah er ihr einen Augenblick tief und innig in’s Gesicht; der Ausdruck desselben war edel und, von einer wehmüthigen Regung erweicht, doppelt schön. Ich selbst konnte mich einer unwillkürlichen Rührung nicht erwehren, als ich die stattliche Gestalt in voller Manneskraft und Schönheit betrachtete und die tiefe Empfindung gewahrte, die der starke Mann kaum niederzukämpfen vermochte. „Gedenken Sie meiner, Constanze,“ rief er dann rasch, indem er ihre Hand an die Lippen führte, und mit einem flüchtigen „Leben Sie wohl“ für Katharina und mich war er aus dem Saale. Noch eh’ wir Zeit gefunden, uns über das ungewöhnliche Erlebnis; eine Bemerkung zu machen, hörten wir von der Straße herauf den Wagen fortrasseln und das Posthorn, immer schwächer werdend, in der Ferne verklingen. – Damit war wieder alles Außerordentliche aus unserem Leben verschwunden, und die Tage vergingen in gewohnter Gleichmäßigkeit und behaglicher Zufriedenheit. Des Vorgefallenen ward nicht erwähnt; ich und Katharina unterließen es, weil wir am Tage und bei ruhiger Ueberlegung uns überzeugt hielten, daß das Ganze nicht mehr war, als eine schöne, augenblickliche Aufwallung. Constanze schwieg ebenfalls; sie war dieselbe in der liebevollen, gewinnenden Anmuth ihres Umgangs und Betragens; nur war ihr ganzes Wesen entschiedener und jungfräulicher, sie hatte vollständig aufgehört, ein Kind zu sein.

So ging der Winter vorbei, der März neigte sich bereits zu Ende, und die Kriegsgerüchte, die uns schon früher geängstigt hatten, kamen drohender wieder, wie Gewitterwolken, die man schon vorübergezogen glaubt, mit einer Wendung des Windes plötzlich und schwärzer als zuvor wiederkommen. Regimenter über Regimenter drängten sich heran und blieben nach allen Richtungen hin im Innviertel stehen, überall nur wenige Stunden von der bayrischen Grenze. Die Quartiermacher und Marschcommissäre gaben einander die Thüre der Amtsstube in die Hand, und wir kamen gar nicht zu Athem vor lauter Arbeit. Es war bei Allen ausgemacht, daß der Krieg wieder beginne und daß es diesmal einen Kampf auf Leben und Tod mit dem gewaltigen Franzosenkaiser gelte, der insgeheim die Vernichtung und Zerstückelung Oesterreichs beschlossen hatte. Darum war Alles getroster als sonst, denn man fürchtete nicht, daß die schlimme Zeit von 1805 sich wiederholen werde, sondern hoffte, daß dieser Krieg der letzte sein und den so hart entbehrten Frieden für immer bringen werde.

Eines Morgens war schon sehr früh Alles in dem kleinen Schärding auf den Beinen. Ueberall standen die Leute in Gruppen vor den Häusern beisammen, und wer fort konnte, eilte der Rathhausgasse zu und suchte in der Nähe des Brauhauses zum Stöger Posto zu fassen. Dahin sah man auch hie und da in größter Eile die eine oder andere schwarze Gestalt mit stattlichem Schiffhut und im Rathsherrnmantel lossteuern. Dort stand auch ich mit dem Landrichter und allem Amtspersonal, denn Kaiser Franz war in die Stadt gekommen und beim Stögerbräuer abgestiegen. Schon standen wir Beamten an der Thüre, um zur Audienz vorgelassen zu werden, als uns der Kammerdiener die Thüre wieder vor der Nase zuschlug und eilig auf ein paar Männer zutrat, die erst nach uns in’s Vorzimmer gekommen waren. Es waren zwei Landleute in Tyrolertracht. Der Eine war ein starker, breitschultriger Mann im kurzen, braunen Lodenrock, über der kurzen Lederhose den breiten, mit weißen Pfaufederstiften gezierten Gürtel. Er hatte ein ernsthaftes und doch freundliches Gesicht und trug einen breiten, schwarzen Bart, der bis auf die halbe Brust herabfiel. Der zweite war jünger, eine hochaufgewachsene, schlanke Gestalt im langen, grünen Rock und gleicher Weste. Der Kammerdiener flüsterte nur ein paar Worte mit den Beiden, dann führte er sie mitten durch uns hindurch und, ohne sie erst anzumelden, zum Kaiser hinein.

„Geben Sie Acht, Herr Controlor,“ raunte mir der Bierbrauer Waninger zu, der als Rathsherr hinter mir stand, „das hat etwas zu bedeuten. Den Einen von den Tyrolern kenn’ ich recht gut vom Sehen; ich bin ja öfter hineingereist, um Wein einzukaufen. Der Kleine mit dem Barte, das ist der Sandwirth Hofer aus dem Passeyerthal, und auch der Andere kommt mir bekannt vor. Er hat die Unterinnthaler-Tracht, so wie man sie um Rinn herum trägt, und ich werde mich nicht beirren, das Gesicht schaut in die Speckbacher-Familie hinein. Was die nur beim Kaiser wollen!“

Das war nun wohl nicht zu errathen, aber daß sie nichts Unangenehmes gebracht hatten, das sah man klar, als sie wieder herauskamen, und mit vergnügten und entschlossenen Gesichtern an uns vorbeischritten, denn da trug Jeder von ihnen eine schwere goldene Ehrenkette mit einer Denkmünze über der Brust. Wenige Tage darnach kam die Nachricht, daß die Tyroler aufgestanden waren, um wieder von Baiern loszukommen und mit dem alten Kaiserreiche vereinigt zu werden. Es hat mich meine Lebtage gefreut, daß ich die beiden Männer gesehen habe, und besonders gefiel es mir von Hofer, als ich sein schmähliches, aber mannhaftes Ende auf den Wällen von Mantua erfuhr, daß er den Kugeln der Franzosen so aufrecht entgegen getreten war, als ich ihn aus dem Audienzzimmer des Kaisers hatte kommen und den Weg zu dem blutigen Ende beginnen sehen.

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Autor: Hermann von Schmid
Titel: Das Bombardement von Schärding
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 47, S. 737–740
Teil 2


[737] „Unsere eigene Audienz bei Kaiser Franz war sehr kurz; denn er war sehr pressirt und unten wurde schon der Wagen angespannt, um weiter zu reisen. Er ermunterte uns, wir sollten „halt getrost sein, es werde Alles recht werden.“ Damit entließ er uns, und das war auch der Bescheid, den er im Wegfahren mit beiden Händen winkend dem Volke zurief, das sich um den Wagen drängte und in leicht erklärlicher Besorgniß bat, uns nicht zu verlassen.

Wenige Tage darauf ging die Hauptarmee unter dem Erzherzog Karl als Generalissimus über den Inn und rückte auf allen Punkten in Baiern ein. Auch durch Schärding ging es Tag und Nacht über das Brückenthor hinaus, und wer die endlosen Züge von Infanterie, Cavallerie, von Geschützen und Wagen aller Art sah, der konnte wohl hoffen, daß eine so ungeheuere Rüstung nicht erfolglos bleiben werde. Ueberdies war an allen Ecken die Proclamation des Erzherzogs Karl angeschlagen und ermuthigte alle Herzen durch den muthigen, kriegerischen Geist, der daraus hervor wehte. Sie war „an die deutsche Nation“ gerichtet, und wer da las: „Unsere Sache ist die Sache Deutschlands! Seid unsrer Achtung werth! Nur der Deutsche, der sich selbst vergißt, ist unser Feind“ … der mußte hoffen, daß dieser Aufruf zur Einigkeit von den deutschen Völkern nicht werde überhört werden. Wer hätte damals für möglich gehalten, daß derselbe Kriegsheld, der so feurige Worte sprach, in nicht ganz einem Jahre dem feindlichen Kaiser die eigene Schwester als Braut zuführen würde! Wer hätte geglaubt, daß die Deutschen noch einmal sich selber zerfleischen würden! Und doch kam Alles so – gerade wie auf dem Theater, wo die Sache auch meist einen ganz andern Ausgang nimmt, als es Anfangs den Anschein hat – der Unterschied zwischen der Welt- und der Breter-Komödie ist blos der, daß in jener Blut und Thränen wirklich und wahrhaft vergossen werden, während man sie hier glücklicher Weise mit der Schminke wieder abwischen und trocknen kann. –

Es stand nur wenige Tage an, so kamen schon die Hiobsposten und so schnell nacheinander, daß man kaum Zeit hatte, dazwischen gehörig Athem zu schöpfen. Napoleon, den man in Spanien festgehalten geglaubt hatte, war in vier Tagen herbeigeflogen, und hatte er auch nur wenige Franzosen um sich – die Deutschen in unbegreiflicher schmachvoller Verblendung ließen sich von ihm gegen die eigenen Brüder führen. „Ich bin nicht als Kaiser der Franzosen zu Euch gekommen,“ sagte er zu den Baiern, Würtembergern und andern Rheinbündlern vor Regensburg. „Ich bin nur als Beschützer Eures Landes und des rheinischen Bundes in Eurer Mitte. Kein Franzose ist unter Euch! Ihr allein sollt die Oesterreicher schlagen!“ Kronprinz Ludwig von Baiern mußte die Rede verdollmetschen – und sie schlugen gegen einander. Deutsche gegen Deutsche, dem Franzosenkaiser zu Gefallen. Die Schlachten von Thann, Abensberg, Eckmühl entschieden den Rückzug der österreichischen Armee – der Weg nach Wien lag offen, und bald hielt Napoleon dort seinen Einzug.

Wir überzeugten uns bald durch den Augenschein von der Wahrheit dieser Nachrichten. Kein Tag verging, an dem nicht versprengte Schaaren in aller Hast über die Innbrücke hereindrängten, gehetzt und zerfetzt, zum Theil ohne Waffen, zum Theil mit Trümmern, Alles bunt wie in einem Sieb durcheinander gewürfelt. Dazwischen kamen Wagen mit leichter Verwundeten, und jeder Trupp brachte die Nachricht, daß die Franzosen in Eilmärschen heranrückten und ihnen auf der Ferse seien. Obwohl Niemand wußte, wie es uns in der nächsten Stunde selbst ergehen würde, war doch Alles wetteifernd bereit, die armen, erschöpften Leute zu stärken und ihnen dies und das für ihren weitern Marsch zuzustecken. Ich habe es da wie oft bei anderer Gelegenheit erfahren, wie sehr der Mensch geneigt ist, seines Gleichen im Unglück zu bedauern und zu unterstützen; aber im Grunde steckt doch der Schelm dahinter. Der Mensch ist dabei immer eigensüchtig; fremdes Leid rührt ihn nur, so lang es wirklich ein fremdes ist; sobald es ihn mit trifft, ist das Mitleid verraucht, und der Gedanke und die Sorge für das liebe Ich bleibt als schmutziger Bodensatz allein zurück. Aber auch das ist nicht immer wahr; manchmal giebt es doch ein Herz, dessen Fibern blos dazu vorhanden sind, um wie die Saiten einer Aeolsharfe nur von äußerem Anhauch zu beben und zu tönen, für sich selber aber starr und stumm zu sein.

Ein solches Herz hatte ein Trainsoldat, den ich unter den Flüchtigen bemerkte. Es war ein unbedeutender Bursche, der mir unter der Schaar kaum aufgefallen wäre, wenn er nicht einen Andern unterm Arme geführt hätte, einen großen, schwarzgelben Burschen von einem slavonischen Regiment. Der Führer war unverletzt und flink auf den Beinen, aber der Geführte hatte einen Prellschuß an’s Knie bekommen, der ihn anfangs nicht viel belästigt haben mochte, unterwegs aber sich zu einem sehr schmerzhaften Uebel ausgebildet hatte, das dem armen Menschen den Gebrauch des Fußes und damit das Gehen ohne Beihülfe unmöglich machte. Er hatte aus irgend einem Grunde auf keinem der Wagen Platz bekommen und hätte also allein und um so hülfloser liegen bleiben müssen, als er nur sein slavonisch Kauderwelsch zu reden wußte. Der Trainsoldat, der an ihm vorüber kam, konnte es aber nicht über’s Herz bringen, ihn so am Wege liegen zu lassen; [738] er blieb zurück und wurde der Führer und Krückenstock des Halblahmen. Im Städtchen mußte er mit ihm liegen bleiben, um dem Erschöpften Ruhe zu gönnen, aber als die Franzosen einrückten, galt es, sich wieder auf die drei gesunden Beine zu machen, die Beide mit einander hatten. Dem Trainsoldaten wäre es da ein leichtes gewesen, seinen größern Antheil aus der ungleichen Verbindung zurückzuziehen und sich das Leben zu retten; aber er wich nicht von seinem jammernden Gefährten, mit dem er einmal Halbpart gemacht hatte. So hinkten sie denn zusammen aus dem Thore und kamen zusammen nicht weit. Als ich nach einigen Tagen des selben Weges kam, lagen Beide todt mit zerhauenen Köpfen im Straßengraben, und der treue Trainsoldat hielt den Arm des Slavoniers so fest, als wenn sie Beide nur schliefen und er nach dem Aufwachen sein Führeramt gleich wieder antreten müßte.

Endlich hörten die Durchzüge auf, eine Handvoll Grenzer unter General Dedovich faßten in der Stadt mit ein paar Feldschlangen Posto, die nicht viel besser waren als große Schlüsselbüchsen. Die Innbrücke war kaum abgeworfen, als es am andern Ufer schon lebendig ward und bald darauf, wie unabsehbar, von Uniformen und Waffen durcheinander wimmelte und blitzte. Es war Massena mit seinem ganzen Corps und einer solchen Uebermacht, daß jeder Widerstand hinter den wurmstichigen Mauern und Thürmen eine Thorheit gewesen wäre. Da Dedovich dennoch mit solchen Gedanken umzugehen schien, eilte die geängstigte Bürgerschaft zu ihm und suchte ihn davon abzubringen. Der wollte aber nichts davon hören, und so gingen die Parlamentäre zwischen den beiden Ufern hin und her bis zum Nachmittag. Die Franzosen drüben waren indessen nicht müßig, sondern marschirten und zogen hin und her, als hätten sie irgend was Großes im Sinn. Nachmittags gegen vier Uhr war ich eben auf das flache Dach des Landgerichtsgebäudes gestiegen, weil man von dort aus das ganze jenseitige Innufer übersehen konnte. Die Franzosen waren nun ruhig und standen, soweit die Stadt reichte, gegenüber in einer langen, langen Reihe, wie unbeweglich. Das Einzige, was sich rührte, waren einige Feldjäger und Adjutanten, die hin und her liefen und ritten. Ein Parlamentär, der das weiße Fähnlein in der Hand hielt, sprengte gegen die Innbrücke vor. Es galt offenbar, die Stadt noch ein letztes Mal zur Uebergabe aufzufordern. Mir ward ordentlich schwer um’s Herz, denn zum ersten Male dachte ich so recht heiß daran, was uns Allen und den Meinigen mit bevorstünde, wenn es zu Feindseligkeiten kommen würde. Bis dahin war kein Zweifel in mir aufgestiegen, daß es mit einer friedlichen Uebergabe und mit den deshalb geminderten Drangsalen eines feindlichen Durchzuges abgehen werde.

Unwillkürlich wandte ich mich wie zu meiner eigenen Beruhigung ab und sah über die Dächer in der Richtung hin, wo das Haus lag, das wir bewohnten. Im angenehmen Gegensatze zu der feindlichen Unruhe da drüben stieg der wohlbekannte Giebel ruhig und friedlich in den kühlen, aber heitern Aprilhimmel empor, und über demselben hing wie ein leichtes Kränzchen eine gekräuselte Rauchwolke. Sie verkündete mir, daß das die Stunde sei, in der meine gute, liebe Katharina die Kinder alle mit etwas Obst und einem Stückchen Brod, sich selbst aber mit einem Schälchen Kaffee regalirte. Verlockt von den schwebenden Rauchringen ließ ich meine Phantasie durch den dunkeln Schornstein bis in die trauliche Wohnstube hinuntergleiten. Da saßen sie Alle in dem behaglichen, wohleingerichteten Raume, vergnügt, gesund und sorgenlos, und ich wollte mich eben im Geiste mitten unter ihnen niederlassen – da weckte mich ein Schuß aus meiner Verzückung und setzte mich aus dem weichen Wolkenwagen ziemlich unsanft auf den derben Boden der Wirklichkeit nieder. Ich wendete mich nach dem feindlichen Ufer – und sah den französischen Dragoner, der als Parlamentär vorgeritten war, sich noch einen Augenblick schwankend im Sattel halten und im nächsten mit schwerem Fall von dem bäumenden Schimmel herabstürzen. Ich schrie laut auf und streckte die Arme aus, als wenn ich im Stande gewesen wäre, den Gefallenen wieder aufzuheben, der regungslos liegen blieb, während der Gaul an der Fronte hinabjagte. Man hat nie erfahren können, welche boshafte oder unüberlegte Hand den unglückseligen Schuß losgebrannt hatte; es hätte auch nichts genutzt, denn er war gefallen, und wer es gethan, der hat wohl auch ungekannt die ärgste Strafe in sich selbst herumgetragen. Die Wirkung davon war so rasch, als auf einen Ruf der Wiederhall von den Bergen zurückkommt – in einem Nu schwenkte die ganze Reihe in Abtheilungen nach innen und ließ eine ebenso lange Linie von Geschützen aller Art sichtbar werden, die also schon für alle Fälle dahinter aufgestellt gewesen war. Ich sah, wie die Kanoniere die Lunten bewegten, und mein unfreiwilliger Angstruf verhallte in dem krachenden Gebrüll, das mit einem Male losbrach, als wenn die Erde einen Sprung bekommen hätte. Zugleich hörte ich auf allen Seiten um mich herum, wie von den einschlagenden Kugeln die Balken krachten und das Mauerwerk splitterte. Aus der Tiefe der Straßen scholl der Schreckensruf der so entsetzlich enttäuschten Einwohnerschaft herauf, ein Schrei, so wild und kreischend, daß ich den Ton nicht vergessen würde und wenn ich noch einmal siebzig Jahre alt würde. Instinctmäßig hatte ich mich der Stadt zugewendet und sah den Gipfel unseres Wohnhauses halb eingestürzt. War ich bis dahin verblüfft gewesen, so gab mich dieser Anblick mir selbst wieder und damit auch die alte Freudigkeit des Gemüthes. „Die Deinigen bedürfen Deiner,“ rief’s in mir; „Du bist der Mittelpunkt ihres Daseins! Was soll aus ihnen werden, wenn auch Dir der Kopf dreht und Du das Herz nicht auf der rechten Stelle behältst?“ Wie eine gedrückte Uhrfeder richtete sich mein ganzes Inneres schnellkräftig auf, und diese Schnellkraft theilte sich auch meinen Beinen mit, denn ich weiß heute noch nicht, wie ich die thurmhohen Stiegen des Landgerichtsgebäudes herunterkam. Hier standen alle Thüren sperrangelweit auf und zeigten nichts als leere Zimmer, aus denen Alles in wilder Eile geflohen war. Auch ich hielt mich nicht länger auf, als nöthig war, um das große, eichene Hofthor des Eingangs hinter mir in’s Schloß zu werfen. Mit einem Satze stand ich dann unter der gegenüber liegenden offnen Säulenhalle des Rathhauses, von wo ich die Straße und meine Wohnung übersehen konnte. Es war eine erbauliche Lage. Während das Ohr von dem Gebrüll der fast ununterbrochenen Schüsse nicht zur Ruhe kam, hatte die Gasse das Ansehen, wie bei starkem Platzregen, wenn die Tropfen so heftig auffallen, daß sie wieder in die Höhe springen. So rutschten, hüpften und pfiffen die Kugeln auf dem Pflaster umher; groß und klein, ganz und halb ausgewachsen. Die Franzosen trieben wahren Luxus mit den eisernen Bällen, die sie uns im muthwilligen Spiele auf die Köpfe warfen. Die Wirkung zeigte sich überall. Dort klirrten Fenster, hier polterte eine zusammenstürzende Wand, auf der einen Seite krachten und brachen die stärksten Dachbalken wie Besenstiele, und auf der andern schlug das grelle Kreischen empor, mit welchem eine zitternde Familie die eisernen Gäste begrüßte. Staub wirbelte empor, und an manchen Stellen zeigten schwarze qualmende Rauchwolken das Herannahen eines noch schlimmeren Feindes – des Feuers. Ueber all dem Getöse und durch das Kanoniren hindurch wimmerten und klangen auf den angeschossenen Kirchthürmen die Glocken, als wären sie die Stimmen und das Schmerzensgeschrei derselben.

Gegenüber unter der Thür meines Wohnhauses sah ich die Meinigen alle miteinander stehen; zwar verwirrt und betroffen, aber wohlbehalten. Ich sah Katharina, Constanze, sah meinen Hans, der eben vor ein paar Tagen von Kremsmünster in die Osterferien gekommen war, sah die Kleinern alle und rief ihnen zu getrost zu sein. „Mir ist nichts geschehen,“ rief ich, denn ich sah wohl, daß sie deshalb unter der Thüre standen, um nach mir auszusehen. Sie hatten mich bald ebenfalls erblickt und da sie sahen, daß ich Anstalt machte, über die kugelbesäete Gasse zu ihnen zu kommen, da riefen und winkten sie mir ab, denn es war in der That wahrscheinlicher, daß ich zehn Mal getroffen würde, ehe ich einmal hinüberkam. Ich ließ mich aber nicht irre machen, denn in der Rathhaushalle und unter der Hausthüre konnten wir beiderseits doch nicht immer stehen bleiben. Ich paßte also ab, wie gerade wieder eine recht tüchtige Bescheerung auf die Steine niedergeprasselt war. Nun, dacht’ ich, müssen die Kanoniere doch Athem schöpfen und wieder laden, und mehr als einige Secunden bedarf ich nicht, um hinüber zu kommen. Ich begann also meinen Marsch, ungefähr in der Weise, wie ich einmal gelesen habe, daß der Eiertanz getanzt wird, nur mit dem Unterschied, daß ich nicht zwischen Eiern, sondern zwischen Kugeln ging und daß sie nicht blos ruhig am Boden lagen, sondern in allerlei anmuthigen Bewegungen darauf herumsprangen und mir die Tanzmelodie vorpfiffen.

Dennoch kam ich unversehrt hinüber und landete in den Armen der Liebe, wie ein zweiter Leander, freilich ohne die Anwartschaft, so oft besungen zu werden, wie jener. Es war ein Wiedersehen eigener Art; mein Weib fiel mir weinend an’s Herz, und [739] die Kinder hingen sich an Arme und Kleider, wie sie eben ankommen konnten. Wir hatten Alle nasse Augen und vermochten nichts zu reden, doch waren wir von Herzen froh, denn das muß wahr sein, so vielerlei Lebenstöne im Menschenherzen zum Freudenaccorde zusammentönen, das Wiedersehen von Wesen, die man so recht geliebt hat, ist und bleibt doch die jubilirende Discantsaite, die über Alles hinaus vibrirt. An meiner Harfe ist sie abgerissen, denn fast Alle meine Lieben sind stumm geworden vor mir – aber ich werde sie wieder hören, wenn ihr Herz und meines ungeformt und neu bezogen sein wird … Welch’ Entzücken wird das sein, zu dem sich irdisches Wiedersehen verhält, wie das Stimmen der Instrumente in einem Orchester zur Musik!

Die einschlagenden Kugeln um uns herum fuhren gar bald mißtönend in die Freudenharmonie des Augenblicks und zwangen uns, an Flucht und Rettung zu denken. Eine der ersten Kugeln war in den Lichtfall des Hauses gefahren und hatte einen Schutthaufen vor unserer Wohnungsthüre aufgethürmt, der die Passage absperrte. Wir waren gezwungen, hintenaus durch ein Fenster, wie durch das Thürchen eines Vogelkäfigs, auf eine Dachkammer zu retiriren, um von da aus zur Stiege zu gelangen. Auf diesem Umwege trugen und schleppten wir nun alles Werthvolle, was sich von der Stelle rücken ließ, mühsam in den Keller unter dem Hause. Hier dachte ich Alles am besten gesichert, denn ich hoffte, das Gewölbe würde den Kugeln und dem Feuer widerstehen, und war also zunächst nur darauf bedacht, die Meinigen aus der immerwährenden Lebensgefahr zu bringen. – So war der Abend herangekommen, aber die gewohnte Dunkelheit blieb aus – es war so hell wie am Tage, denn der Feuerschein, der Tags über nicht bemerkt worden war, stieg von allen Seiten in die Höhe. Wohin man blickte, qualmten die Giebel, auf denen das Feuer wie rasend fort lief und sprang. Darüber ragten die Thürme der Pfarrkirche und der Sebastianskirche brennend wie riesenhafte Kerzen empor. Zum Glück ließ mit dem Ueberhandnehmen des Brandes das Schießen nach, denn nun konnte man doch an die Möglichkeit denken, mit einem Familienzuge unversehrt in’s Freie zu gelangen. Dafür drohte aber gleich wieder ein anderes Uebel, denn man hörte bereits das Schreien und Johlen der Franzosen, die, noch ehe die Beschießung ganz aufgehört hatte, eiligst eindrangen, um noch möglichst viel in den brennenden Häusern plündern zu können. Uebrigens wäre längeres Verweilen auch deshalb unmöglich gewesen, weil das Haus über uns bereits ebenfalls in Flammen stand und jeden Augenblick der Einsturz des Dachstuhles zu besorgen war.

So traten wir denn, in der Eile nur mit dem Nothdürftigsten bekleidet, unsere betrübte Wanderung an, indem ich meinen jüngsten Knaben auf dem Arme trug und ein anderes Kind an der Hand führte. Constanze führte meine schweigende Katharina und zugleich eine ihrer Schwestern; mein Sohn Hans schritt uns als Avantgarde und Beobachtungscorps voraus. Keiner sprach ein Wort, nur die kleinern Kinder ließen das leise Schluchzen hören, von dem ihre junge Brust erzitterte. Gegenüber an der Rathhaushalle angekommen, wollten wir eben in ein Seitengäßchen einbiegen, das zum Allerheiligenthor und von da auf der Landseite in’s Freie führt. Da dröhnte hinter uns ein donnerähnliches Krachen – unwillkürlich standen wir Alle still und sahen zurück. In der Richtung gegen unser Wohnhaus hin wälzte sich eine ungeheuere weiße Rauchwolke empor, und als sie sich langsam verzog, war die stille Stätte meines häuslichen Glücks nicht mehr zu sehen. Nur die Umfassungsmauern und einige Trümmer der Zwischenwände ragten noch empor; das schwere, brennende Dach war eingestürzt und hatte durchgeschlagen – in dem Schutte lag die Frucht achtzehnjährigen Fleißes, die Hoffnung unseres Alters, die Bürgschaft für die Zukunft der Meinigen begraben. Damit uns auch kein Fünkchen Hoffnung übrig bleibe, stieg es aus den Kelleröffnungen ebenfalls weißqualmend heraus, ein Beweis, daß das Gewölbe, dem ich so sicher vertraut hatte, dem Einsturze nicht widerstanden hatte. Ich habe auch seither auf die Dauer keines Gewölbes mehr gebaut, als des luftigen, blauen und sonnenhellen über uns! Das allein habe ich als feststehend erprobt, und wenn auch die Naturforscher sagen, der Himmel sei kein Gewölbe, sondern nur eine optische Täuschung lasse ihn als solchen erscheinen, so weiß ich das besser.

Die Wirkung dieses Anblicks auf die Meinigen war erschütternd. Die Kleinen brachen laut und ungestüm in das schon so lang zurückgehaltene Weinen aus; ihnen war jetzt erst unser Leid in seinem ganzen Umfange klar geworden. Constanze hielt sich, um nicht umzusinken, an Hans, der mit den Zähnen knirschte und die Hände ballte, im Ingrimm des Jünglings, der nur das Unrecht fühlte, das uns widerfuhr. Meine Katharina fiel mir mit einem kurzen Schrei an’s Herz. „Mann!“ rief sie, „Ferdinand! Wir sind Bettler – was soll aus unsern Kindern werden!“ – Ich fühlte, wie sich mir das Herz in der Brust zusammenkrampfte. Hätte ich nachgegeben, so hätte mich die Empfindung überwältigt und mir die Fassung geraubt – es gelang mir aber, meine Bewegung mit einer Thräne im Auge zu erdrücken. Mein Auge ruhte auf der Schaar der Meinigen, die mich umdrängte, und sie Alle, so gut es ging, an mich ziehend, rief ich aus: „Du edles, menschenfreundliches Dichterherz! Ich danke Dir für Deinen Gesang, dessen tiefe Wahrheit Du nie an Dir selber erfahren mögest … Ich danke Dir, Dein Lied ist die Bannformel meines Elends geworden –

Was Feuerswuth mir auch geraubt,
Ein süßer Trost ist mir geblieben;
Die Häupter zähl’ ich meiner Lieben –
Und sieh, mir fehlt kein theures Haupt!

Hatten mich die Meinigen zu Anfang meiner Exclamation etwas verwundert angeblickt, so empfanden doch bald auch sie die tröstende Gewalt dieser Worte; enger umschlungen standen wir einen Augenblick, gehoben und beruhigt im Bewußtsein des Sichangehörens. Nur Katharina seufzte in hausfräulicher Sorge, wenn auch leiser, noch einmal: „Wir sind alle beisammen, und alle miteinander Bettler! Wir besitzen nichts mehr!“ „Nichts?“ entgegnen ich ihr, und fühlte wie es mir immer heiterer um Herz und Stirne wurde. „Wirklich nichts? Nun, dann besitzen wir genau so viel, als wir vor achtzehn Jahren hatten – Liebe, Muth und Kraft wie damals, um noch einmal zu beginnen! Ja, wir haben noch gewonnen, denn unsere Erinnerungen, unsere Erfahrungen sind nicht mit verbrannt. Und haben wir nicht sechs Helfer und Genossen, die uns beistehen und ermuntern, wenn ja der Kopf ermüden und das Herz lahm werden sollte? – Selbst ein schöner Nothpfennig ist uns geblieben und zeigt, wie gut es ist, wenn man sich, wie die Hühner, zwei Plätzchen aussucht, die Eier zu verlegen … hast Du das ersparte Sümmchen in meiner Amts-Session vergessen? Das wird uns für die erste Zeit überm Wasser halten. Darum komm, ich will das Etui holen und dann eilig fort!“

Mit beflügelten Schritten machten wir uns auf, mitten durch brennende Häuserreihen bis an das Landgericht. Die Hitze war so arg, daß wir Tücher und Mäntel und was wir sonst besaßen, um den Kopf nehmen mußten, um nicht von der heißen Luft erstickt und an den Haaren versengt zu werden. Als wir an dem Gebäude ankamen, stand desselbe ebenfalls bereits in Flammen, doch war das Erdgeschoß an seinen starken Wänden noch unversehrt, bis auf das Eingangsthor, das Schutt und brennende Balken verrammelten. Ich mußte also trachten, durch das Fenster hineinzukommen, und stand eben davor und überlegte, wie ich es anfangen sollte, als mir aus dem Fenster ein blaues Bein, dann noch ein zweites, und dann die ganze Gestalt eines österreichischen Grenzers entgegen kam. Mit einem Satze sprang er herab – das verhängnißvolle Etui von rothem Maroquin unterm Arm. Der Bursche hatte sich offenbar von seinem längst abgezogenen Corps entfernt, und war zurückgeblieben, um Beute zu machen. Jetzt, auf dem Boden angelangt, sprang er in weiten Sätzen wie eine wilde Katze davon und wäre uns im Augenblick entkommen, hätte ich ihn nicht in derselben Weise verfolgt. Ich erinnere mich in meinem Leben nicht wieder so flink auf den Beinen gewesen zu sein, aber bei dein unverhofften Anblick war mir das Blut siedend aufgestiegen und der Zorn hatte mir Kraft gegeben. Ich erreichte den Räuber meines letzten Besitzthums, faßte ihn am Kragen und machte ihm, da ich bald merkte, daß der Kerl nicht deutsch verstehe, durch Gebehrden bemerklich, daß das Etui mein Eigenthum sei und er es mir zurückgeben solle. Der Soldat begriff mich auch sogleich und war zu Anfang erschrocken über den unvermutheten Anfall. Wie er aber sah, daß ich allein und waffenlos vor ihm stand, fletschte er mir unter dem langen Schnurrbart die weißen Zähne entgegen, grinste mir ein kauderwelsches „nix Dein“ zu und versetzte mir zugleich mit dem Griff seines Säbels einen Schlag auf den Kopf, daß ich zurücktaumelte und ihn loslassen mußte. Er entfloh, aber das rächende Schicksal war schon hinter ihm und ließ ihn nicht weit kommen. Diesmal hatte das Schicksal die Gestalt eines [740] baumlangen bärtigen französischen Pioniers, der unter den Ersten der Eingedrungenen nun ebenfalls sein gutes Glück versuchte. Der Mann mußte gesehen haben, was vorging, denn als ich mich, von den herbeigeeilten Meinigen umringt, wieder aufrichtete, sahen wir ihn dem Grenzer nacheilen, zugleich aber uns mit Gebehrden zurufen, die sich nicht anders deuten ließen, als er wolle dem Räuber mein Eigenthum abjagen. Wir hatten uns auch nicht getäuscht. Als der Pionier sah, daß der Blaue einen zu großen Vorsprung hatte, zog er eine Pistole aus dem Gürtel seines Schurzfells, schoß, und mit dem Knall sahen wir den armen Teufel mit dem Maroquin Etui einen Luftsprung machen und dann schwer aufs Pflaster niederschlagen. Wie der Pionier ihn erreichte, nahm er ihm richtig das Etui ab, öffnete es und schob es dann gemüthlich in die Brusttasche seines Schurzfellen, indem er uns freundlich lachend zuwinkte wie Einer, der sich für ein unerwartetes reichliches Geschenk bedankt. Mein Sohn Hans entbrannte vor Ingrimm und wollte dem neuen Frevler nach. Ich ließ es nicht angehen. „Willst Du seine Axt am Kopfe haben?“ rief ich. „Laß ihn laufen – wenn ihm das Geld nicht mehr Segen bringt, als dem armen Slovaken dort, ist er übel genug daran! Es ist kein Grund zum Zorn da – lachen wir lieber über uns selbst, daß wir mit offnem Munde dagestanden sind und eine Weile geglaubt haben, der Pionier verfolge den Räuber unsertwegen und werde so gefällig sein, das Geld uns zurückzubringen … Kommt aus der Stadt, in der wir nichts mehr zu suchen haben. Wir wollen unser Leben und die Kraft für die Zukunft bewahren, die uns noch vorbehalten ist, und wollen froh sein, daß uns das Leben geblieben ist!“

„Das nackte Leben!“ seufzte meine Katharina, indem wir an einandergehängt durch die qualmende Straße schritten, „das Leben und was wir auf dem Leibe tragen! Sonst ist Alles verloren! Und dabei willst Du, leichtsinniger Mensch, daß man froh sein soll!“

„Wir haben Ursache dazu,“ erwiderte ich, „wir haben doch noch etwas, das ist immer ein Trost! Denk wie schlimm es wäre, wenn wir in der Kälte ohne warme Kleider herumlaufen müßten … oder wenn wir Eins von den Unsern so da liegen sähen!“

Wir schritten im Augenblick an dem todten Grenzer vorüber, und die verdrehten weißen Augen starrten uns unheimlich aus dem verzerrten Gesicht an. Er ist mir seitdem oft eingefallen im Leben, wenn ich sah, daß der Eine mit Fleiß und Sorge erwarb, der Andre das Erworbene mit List an sich brachte und ein Dritter Beide mit Gewalt bei Seite schob.

Endlich gelangten wir durch das Allerheiligenthor in’s Freie. Es war vollständig Nacht geworden, aber die brennende Stadt leuchtete weit in das Dunkel hinein. Vom Inn her blies es uns kalt auf den Leib, und Schnee begann in feuchten Flocken zu fallen, welche vergingen, wie sie auf den Boden gelangten. Müde und niedergebeugt erreichten wir nach kurzer, aber mühevoller Wanderung den Bauer in der Waitzenau, ein großes, auf der Höhe des Innufers einsam und ziemlich versteckt gelegenes Hofgut. Ich kannte den Bauer und war oft im Sommer mit den Meinigen dahin spaziert, damit wir uns an der trefflichen Milch erlaben und die minder auf den Wiesen und im anstoßenden Walde sich ausspringen konnten. Dort hoffte ich freundliche Aufnahme und Sicherheit zu finden und fand mich nicht getäuscht, obwohl wir nicht die Ersten waren, sondern das Haus schon von Flüchtigen angefüllt fanden. Dennoch brachte uns die Bäuerin voll Mitleid und Geschäftigkeit in einer Kammer unter und schüttete uns ein Strohlager auf, auf das wir erschöpft niedersanken, glücklich, von den drohenden Wechselfällen befreit zu sein und den höllischen Lärmen nicht mehr zu hören, der wie ein großer, entsetzlicher Schrei endlos über den brennenden Giebeln brüllte. Auch einige Lebensmittel brachte die Bäuerin herbei, und war auch uns und den Größern aller Appetit vergangen, so ließen doch die Kleinen den Milchschüsseln alle Ehre widerfahren. Ein Viertelstündchen später lagen sie schon auf dem Stroh in so festem Schlaf, als wären sie nie in einem Bette gelegen, und als hätten sie das schützende Dach der eigenen Behausung über sich und nicht das Nothdach fremden Mitleids. Hans ging leise ab und zu und spähte in die Nacht hinaus, ob Alles ruhig bliebe, während ich nun erst der Abspannung inne wurde, die ich den Tag über ausgehalten hatte, und in der Ecke niederkauerte. Vor mir hatte sich Katharina hingelagert und suchte, den Kopf auf meinem Schooße, im Schlummer das fieberhafte Unwohlsein zu bezwingen, das die Reihe der erlebten Erschütterungen in ihr hervorgerufen hatte. Nebenan lehnte sich Constanze, bald ebenfalls der Ermüdung erliegend und im Einnicken halb unwillkürlich an meine Schulter sinkend. Auf dem Simse des einzigen Fensters brannte ein trübes Oellämpchen, wie es die Bauern in den Ställen haben, bei seinem Scheine überblickte ich nun die Lieben alle, deren Leben an das meinige geknüpft war.

Sie schliefen, und mit dem Schlafe war Beruhigung über sie gebreitet, und mit gerührter ahnender Seele dachte ich der Geschicke, die ihnen bevorstehen würden im Leben. In einer Art von wachendem Traum oder traumhaftem Wachen sah ich in ihre Zukunft hinaus, und das war ein weites, schönes, sonnenbeschienenes Land. Ihre wirklichen Wege sind um Vieles anders geworden, und ich dachte später bei allen Leiden, die über sie kamen, an dieses Gesicht und erkannte, daß wir Menschen in solchen Dingen überall das Spiel unserer eigenen Wünsche sind. Wir glauben etwas Gegenständliches außer uns zu sehen, und es sind doch nur Phantome, wie die Fata Morgana, nur Spiegelbilder unserer Phantasie, die wir glauben, weil wir sie wünschen. Es wäre dabei auch nicht so viel Schlimmes, würde nicht meistens über den Träumen die Wirklichkeit übersehen – wie ich es that. Als ich zu mir kam, ruhte mein Blick mit Entzücken auf Constanzens Angesicht, auf welchem der Schlaf herrliche Rosen aufblühen gemacht hatte. Ich sah sie lange an und erblickte darin bestätigende Vorboten und Zeugen meiner schönen Träume; wäre ich weniger von diesen befangen gewesen, so hätte ich in jener unheimlichen Röthe den ersten Stich des Wurmes erkannt, der meine holdeste Blüthe zu benagen begann. Vielleicht wäre damals noch Hülfe möglich gewesen, und sie hätte nicht von hinnen gemußt in der ersten Schönheit des Lebens.

Inzwischen war es Tag geworden, und die Sonne schien so hell durch die trüben Scheiben des Kammerfensters auf das Stroh darin, wie sie gestern in die freundlichen Zimmer und auf Alles, was ich besaß, geschienen hatte. Damit war auch die Ruhe zu Ende und ich wurde arg aus meinen Phantasiern aufgeschreckt, wie denn das Träumen immer von der Wirklichkeit gestraft wird. Rauhe Männerstimmen schrieen durcheinander, Waffen klirrten, Schüsse knallten und verriethen, daß unsere Drangsale noch lange nicht vorüber waren. In der Dunkelheit hatten die anrückenden Abtheilungen der Franzosen den zur Waitzenau führenden Waldweg nicht bemerkt; bei beginnender Tageshelle stürmte bald ein wilder Trupp heran, um zu plündern und Beute aller Art mit sich fortzuschleppen. Bald genug, noch ehe wir sie erblickten, verkündete das Geschrei der übrigen Flüchtigen, die im Bauernhause untergebracht waren, daß sie sich schon an’s Werk gemacht hatten.

Ich rieth den Meinigen, die, aus dem Schlafe aufgeschreckt, zweifach ängstlich dastanden, sich so ruhig als möglich zu halten. Unsere Kammer lag seitwärts und nach hinten zu; es war möglich, daß sie nicht bemerkt wurde. Der Mensch hört eben nie auf, sich selbst zu täuschen, und wenn ihm das eine Spielzeug in der Hand zerbricht, hascht er eiligst nach einem neuen. Es vergingen aber nur Minuten, so sahen einige Köpfe von keineswegs einschmeichelndem Ausdruck durch die Scheiben; im nächsten Augenblicke war die Thür aufgerissen, und wir waren von einer wild durcheinander schreienden und mit Waffen gesticulirenden Schaar umringt. Wir hatten ihrer nicht mißzuverstehenden Gebehrdensprache nur die ebenso deutliche des Bittens entgegen zu setzen, sie erwies sich aber von weit geringerer Wirksamkeit. Die Burschen waren von allen Regimentern und Waffengattungen zusammengewürfelt; Chasseurs und Voltigeurs, Husaren, Uhlanen und Dragoner, Kanoniere, Füsiliere und Grenadiere. Zu anderer Zeit und unter anderen Umständen mochte eine solche Begegnung sehr interessant sein, denn sie gab Gelegenheit zu umfassenden Costumestudien. Leider waren wir nicht dazu aufgelegt und hätten nur gewünscht, daß auch unsere bärtigen Vis-à-vis sich in gleicher Stimmung befunden hätten.“

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Autor: Hermann von Schmid
Titel: Das Bombardement von Schärding
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 48, S. 753-758
Teil 3 // Schluß


[753] „Die bei uns eingedrungenen Soldaten zeigten aber für Alles, was wir an uns trugen, eine so außerordentliche Aufmerksamkeit, daß sie sich nicht mit dem Sehen begnügten, sondern wie Kinder Alles anrühren und behalten wollten. Obwohl es mir schwer fiel, mich von meiner Uhr zu trennen, fand ich mich doch in dem Gedanken darein, daß ich auch ohne sie recht gut wußte, welche Stunde für mich geschlagen hatte. Auch der Abschied von meinem Siegelring fiel mir nicht gar zu schwer; auch ohne ihn besaß ich den wohl ausgefertigten und besiegelten Urkundsbrief, daß ich ein Bettler geworden war. Schwerer ward es mir, meinen Ueberrock verschwinden zu sehen, denn wir waren sehr befreundet mit einander, und noch jetzt muß ich ihm nachsagen, daß er mich immer sehr warm gehalten hat, viel wärmer als Uhr und Siegelring. Mein einziger Trost war, daß mir der zweite Rock blieb, den ich der Kälte wegen darunter gezogen hatte, allein die Freude war von sehr kurzer Dauer. Ein Zweiter, ein baumlanger Chasseur, sah gar keinen Grund, weshalb er sich nicht mit dem zweiten Rock begnügen sollte, nachdem der erste nicht mehr zu haben war. Ein Dritter fand meine Weste allen billigen Anforderungen entsprechend, ein Vierter mochte glauben, daß ich viel freier athmen würde, wenn er mich von meiner Halsbinde befreite, und war aufopfernd genug, sich statt meiner dieser Beklemmung zu unterziehen. Der Fünfte endlich fand zu guter Letzt an meinen Stiefeln Geschmack und lud mich mit einer höflichen, aber zweifellosen Handbewegung ein, auf die Bank niederzusitzen und die Stiefel auszuziehen. Als das nicht ging, weil von meiner Seite die nöthige Bereitwilligkeit fehlen mochte, verschmähte er nicht einmal, meinen Kammerdiener zu machen. Er nahm eins meiner Beine nach dem andern, setzte sich rittlings darauf und ritt mir so die Stiefel recht angenehm von den Füßen herab. Ich habe auch nicht verfehlt, hiervon Nutzen zu ziehen, und habe diese Methode später im Falle Bedürfens mit entschiedenem Erfolge angewendet.

Inzwischen war es meinen Leuten nicht besser gegangen; Schuhe, Strümpfe, Röcke, Hauben – Alles fand Liebhaber. Ich wunderte mich dabei nur über die Vorsicht, mit welcher diese Krieger auf ihre Angehörigen dachten, denn da sie die meisten Sachen für sich unmöglich gebrauchen konnten, mußte ich annehmen, daß sie dieselben ihren Frauen und Kindern zum Angedenken bestimmt hatten. Constanzen, die ein schwarzseidenes Kleid trug, rissen sie den Rock eben so schnell als kunstfertig ab, daß sie nur das Leibchen behielt. Den Rock schlitzten sie im Nu mit den Säbeln in lange schmale Streifen, und banden sie sich mit sichtbarem Seelenvergnügen als Cravatten um den Hals. Nachdem sie so ihre Arbeit ebenso rasch als gründlich beendet hatten, griffen sie artig salutirend an ihre Mützen und Helme und entfernten sich. Der letzte in der Thüre war ein blutjunger Mensch, ein Voltigeur, und trug den Shawl meiner Katharina über’m Arm. Ich bemerkte es, sprang hinzu und faßte ihn am Arm, indem ich auf Katharinen hinwies, die in gesteigertem Fieber auf dem Stroh lag und das Kleidungsstück hart vermißte. Ich bat ihn, der Kranken das einzige letzte Schutzmittel nicht zu nehmen – aber er machte sich lachend von mir los und eilte den Uebrigen nach.

Wir blieben wortlos zurück und machten unsern Gefühlen in verschiedenartigen Ausrufungen Luft. Da ging die Thüre wieder auf, und der Voltigeur kam zurück. Ohne ein Wort zu sagen, trat er zu Katharinen hin, breitete den Shawl über sie aus und legte eine Bouteille Wein neben sie hin. Dann trat er zu mir, faßte meine Hand und rief: „Ik ’aben gedacht an meine Mutter daheim dans la France – ik wollen faire du chagrin für eine Mutter en Allemagne.“

Der brave Junge verschwand, aber mit seinem Geschenk war das Glück. So oft wir auch im Laufe des Tages neuen Horden in die Hände fielen, die unser Besitzthum musterten, so legte doch Keiner Hand an den Shawl. Er blieb uns, und Katharina trug ihn noch nach Jahren – nie ohne den warmen Wunsch, daß der gutherzige Voltigeur zurückgekehrt sein möge zur Freude der Mutter, an die er so redlich gedacht.

Als wir nun allein waren und ich mein Häuflein übersah und seine Toiletten musterte, kam es mir gar zu drollig vor, wie wir Alle aussahen, und ich konnte mich nicht enthalten, darüber laut aufzulachen. Katharina hob sich halb verwundert, halb unwillig empor und rief mir zu: „Regler! Mann! Ferdinand! Bist Du denn wirklich von Sinnen gekommen, daß Du bei all dem Herzleid noch lachen kannst?“ Ich aber trat zu ihr hin und rief: „Sei getrost, mein liebes Weib! Ich habe meine fünf Sinne wirklich noch beisammen! Aber so, wie es nun mit uns steht, was kann ich da Klügeres thun, als lachen? – Habe ich nicht Recht gehabt, als ich sagte, es sei ein Trost, daß uns doch etwas übrig geblieben war? Und habe ich nun nicht wieder Recht, wenn ich sage, es ist ein Trost, zu wissen, daß wir nun gar nichts mehr haben? Was macht dem Menschen mehr Sorge, als zu erhalten, was er hat? Siehst Du, davon sind wir gründlich geheilt. Das Glück kann nun jeden Augenblick kommen und uns zu sich in sein Schiff nehmen, das Gepäck wird uns wenig Kummer machen!“

Das Glück kam aber nicht, sondern ein Trupp Franzosen um den andern, und keiner unterließ, uns seinen Besuch zu machen. [754] Sie nahmen an der Kahlheit unseres Salons nicht nur keinen Anstoß, sondern fanden denselben und unsere Toilette hie und da noch zu luxuriös, und überzeugten uns praktisch, wie wenig davon ganz unentbehrlich ist.

Darüber mochte es Mittag geworden sein, und der ungestümste aller Mahner und Gläubiger, der Magen – hier in einem ansehnlichen Pluralis vertreten – begann seine Befriedigung immer dringender zu fordern. Als es etwas ruhiger geworden war, machte ich mich aus unserm Versteck heraus und ging auf’s Fouragiren aus. Bei der Bäuerin war wenig mehr zu haben, denn auch ihr waren Kisten, Kasten und Truhen geleert worden. Sie wischte sich die Augen mit dem Rücken der Hand aus – mit dem Schürzenzipfel konnte sie nicht, weil sie keine mehr besaß. „Geben kann ich Euch nichts,“ sagte sie, „Ihr müßt halt suchen, wo Ihr noch was findet!“ – Ich ging also mit Hansen auf Entdeckungsreisen aus und war so glücklich, einen Brodwecken zu erwischen, den ein Franzose im Uebermuthe wieder weggeworfen haben mußte, denn er lag seitwärts vom Wege im Schmutz. Hans war im Stadel herumgekrochen und hatte das improvisirte Nest einer Henne entdeckt, mit einer Anzahl Eier gefüllt. Damit war für den Hunger gesorgt; wie triumphirend kamen wir mit unserer Beute herbei, und im Augenblick hatten die Frauenzimmer wie in ruhiger Zeit das Geschäft übernommen, den Tisch zu beschicken. – Wie es nun immer geht, daß man sich mit dem, was man hat, nicht begnügen will, kam mir der Gedanke, daß wir die Eier ohne Salz essen sollten, und ich sprang daher nach der Küche hinüber, uns diesen Luxus zu verschaffen.

Damit aber war uns, oder wenigstens mir, die ganze Mahlzeit versalzen. Kaum setzte ich den Fuß aus der Küche wieder heraus, als mir der dicke Bierbrauer Waninger um den Hals fiel und mich an seine Brust oder eigentlich an seinen Bauch drückte, daß mir fast der Athem ausging. „Gott sei Dank!“ rief er dabei ein über das andere Mal, „Gott sei Dank, daß ich Sie antreffe, verehrtester Herr Controlor! Ich habe eine schwarze Henne zur heiligen Mutter Anna verlobt, wenn ich Sie finde!“ Mir ahnte schon nichts Gutes, denn hinter dem Dicken sah ich ein Piquet Grenadiere stehen, die er sich offenbar nicht aus Spaß zur Begleitung erbeten hatte. Ehe ich aber zu fragen vermochte, war ich vollständig aufgeklärt. „Der Marschall Massena ist unten in der Stadt,“ fuhr Waninger fort, indem ihm fortwährend die Thränen über die runden Backen kugelten. „Er ist beim Weißmannbräuer einquartiert und ist außer sich vor Wuth, daß Niemand von den Beamten aufzufinden ist. Er will den Maire haben, denn wir sollen Contribution zahlen, und wenn er in einer Stunde nicht gefunden ist, will er die Stadt der Erde gleich machen und Alles über die Klinge springen lassen. Ich Mann des Unglücks habe ein Wörtchen davon fallen lassen, daß ich Sie gestern Abends noch in der Stadt gesehen habe, und seitdem habe ich diese sechs Teufel hinter mir, die mich nicht eher loslassen, bis ich den Herrn Amtscontrolor zur Stelle geschafft habe.“ „Herr,“ fuhr ich auf ihn los, „für den Freundschaftsdienst danke Ihnen der Teufel! Was soll ich bei dem Marschall in der ausgeraubten und ausgebrannten Stadt? Sagen Sie nur um Himmelswillen, wie Sie mich ausgekundschaftet haben!“

„Ach, verehrlester Herr Controlor,“ entgegnete Waninger schluchzend, „werfen Sie deshalb keinen Groll auf mich – ich bin ja selbst nur ein willenloses Werkzeug! Auf die Spur aber hat mir Ihr isabellfarbener Ueberrock geholfen. Es trägt Niemand einen solchen in ganz Schärding, und wie ich in stiller Verzweiflung meine Grenadiere da auf’s Gerathewohl vor’s Thor hinaus spazieren führte, da kam mir ein Franzose mit Ihrem Ueberrock entgegen. Den ließ ich durch meine Schutzengel festhalten, bis er gebeichtet hatte, und aus seiner Beschreibung errieth ich bald, Sie könnten nach der Waitzenau geflüchtet sein. Aber nun kommen Sie nur – es hilft doch einmal nichts, also wollen wir immerhin zusammen in den sauren Apfel beißen!“

Dagegen ließ sich in der That nichts einwenden; auch hatten die Grenadiere bereits begriffen, daß ich der Gesuchte sei, und nahmen mich und Waninger in die Mitte, uns abzuführen. Mit knapper Noth gelang es mir, ihnen begreiflich zu machen, daß ich ohne Stiefel den nassen Weg in die Stadt nicht machen konnte; aber sie wußten Rath, und im Nu hatte ich ein Paar vollkommen wasserdichte Holzschuhe an den Füßen.

Inzwischen war den Meinigen mein langes Außenbleiben aufgefallen; sie suchten mich und kamen nun in weinendem Chore herangestürzt. Das war nun allerdings das Schwerste, was uns getroffen hatte, denn bis dahin waren wir noch Alle unversehrt und vereinigt geblieben. Zudem konnte man nicht wissen, ob und wann ich wiederkommen würde, denn es war nichts Seltenes, daß die Beamten aufgehoben und in entlegene Länder geschleppt wurden, von wo sie gar nicht mehr oder erst nach Jahren zum Vorschein kamen. Auch mir konnte ein solches Loos bestimmt sein; meine Katharina und die Kinder hingen daher an mir, als ob es einen Abschied für’s Leben gelte. Auch mir ging es sehr nahe und ich fühlte, wie mir die Thränen über das Herz herauf schwellen wollten, aber ich drängte sie mit dem Gedanken zurück, daß wir Alle untersinken würden, wenn nicht wenigstens ich den Kopf über dem Wasser behielte. „Beruhigt Euch,“ rief ich, „mir wird kein Leid geschehen! Ich fürchte mich vor dem Marschall nicht, und Ihr sehr nun erst, welch’ angesehener Mann Euer Vater ist, daß ihn ein so großer Herr wie eine Stecknadel suchen läßt. Und dann – so lange Alles drunter und drüber ging, war von Amt und Geschäft keine Rede mehr – aber nun ist Alles ruinirt, da haben wir hinterher vollauf zu thun, und es ist nur meine verfluchte Schuldigkeit, wenn ich gehe. Dabei kann es nie sehr weit gefehlt sein!“

Aber was ich sagte, wollte nicht verfangen, vielleicht weil man dem Redenden anhörte, daß ihm dabei auch nicht ganz wohl zu Muthe war. Zuletzt machten die Grenadiere der Sache ein Ende, indem sie mich und Waninger zum Aufbruch zwangen. Ich schritt mit einer Empfindung hinweg, die sich nur fühlen, nicht beschreiben läßt; aber ich winkte immer mit lachender Miene zurück, so lange ich die Meinigen sehen konnte. Die hingen an einander erstarrt wie ein Bienenschwarm, den beim ersten zu frühen Ausflug der Nachtfrost erreicht hat.

Eine halbe Stunde später schritten wir dem Weißmann’schen Brauhause zu, das so unversehrt dastand, als ob den Tag zuvor anstatt Kugeln Schneeflocken gefallen wären. Das kam aber daher, weil Marschall Massena, als er 1805 in Schärding war, in diesem Hause gewohnt hatte und von den Bräuersleuten, wie auch von der schönen Tochter überaus gut und freundlich bewirthet worden war. Dafür war er so artig und befahl den Kanonieren in diese Richtung nicht zu schießen. Dafür erhielten die übrigen Häuser die verdoppelte Ladung, aber Massena’s frühere Wohnung sammt dem Capuzinerkloster daneben blieb verschont.

Darum herum, im Hofe, im Erdgeschoße und auf den Treppen wimmelte es von Soldaten. Viele drängten sich an uns heran, während wir hindurch marschirten, verhöhnten uns und machten drohende Gebehrden. Ohne Zweifel hielten sie mich für einen Spion, der aufgeknüpft werden sollte, oder wohl gar für den Unglücklichen, der den verhängnisvollen Schuß auf den Parlamentär abgefeuert hatte. Oben auf der Treppe angelangt, wurden wir von unserer Escorte einem Adjutanten übergeben, der sogleich mit uns in den Saal eintrat und uns vor oder richtiger hinter den Marschall führte. Dieser saß an einem mit Karten und Papieren überdeckten Tische, eben beschäftigt, eine Flasche Rothwein zum Dejeuner zu leeren. Er wendete uns den Rücken zu, ich aber sah sein Angesicht in dem gegenüber angebrachten hohen Pfeilerspiegel. Als der Adjutant rapportirte „Monsiour l’a-djoint du maire de Schaerding,“ sah ich, daß der ausdrucksvolle, von dichtem schwarzem Haar umgebene Kopf plötzlich zinnoberroth und dann kirschbraun wurde vor Zorn. Indem der Marschall aufsprang, sah ich schon ein gewaltiges Ungewitter über mich ausbrechen, aber wie er sich umwandte und mich erblickte, zuckte es hell über das dunkele Gesicht, das einen wohl in Verwirrung setzen konnte durch die strengen Züge und das wilde, flackernde Auge. Er lachte und rief, ob das die Robe sei, in welcher hier zu Lande die Maires erschienen. Ich sah allerdings befremdlich aus, denn ich hatte nichts am Leibe als Hosen und Hemd, war barhäuptig, und die Holzschuhe vollendeten meine Toilette in würdiger Weise. Als mir Waninger, der das Französische nothdürftig ratebrechte, die Frage verdeutscht hatte, war all meine Befangenheit verschwunden. Ich verbeugte mich mit allem möglichen Anstande und erwiderte: „Nein, Herr Marschall, das ist die Uniform, die uns Ihr Kaiser hat anziehen lassen!“ Der Marschall schien auf meine Antwort gespannt, denn er blickte fest auf den dolmetschenten Bierbrauer, der aber keines Worten mächtig dastand und sich den Angstschweiß von der Stirn trocknete. „Aber um aller Heiligen willen, verehrtester Herr [755] Controlor,“ jammerte er, „das wage ich nicht zu übersetzen! Das brächte Sie und mich in’s Unglück!“ Ich zuckte die Achseln; der Marschall aber, ungeduldig über die Zögerung, rief einen jungen Officier herbei, welcher meine Antwort übersetzen mußte. Als er sie vernommen, maß er mich einen Augenblick vom Kopf bis zum Fuß und ließ mir dann durch den Officier sagen, ich sei sehr kühn, aber er verzeihe mir, denn er sehe wohl, daß mir übel mitgespielt worden sei. Darauf ward mir bedeutet, mich niederzusetzen und zu schreiben, was mir dictirt würde. Es war das Verzeichniß der Lebensmittel, die ich binnen zwölf Stunden herbeischaffen sollte, und einer Kontribution an Geld. Anfangs schrieb ich geduldig, was mir Waninger seufzend verdolmetschte, denn da der junge Officier abgetreten war, mußte er wieder das gefährliche Amt übernehmen. Als aber die Zahlen gar kein Ende nahmen und alle zahmen Thiergattungen, wie sie kaum in der Arche Noah gewesen sein mochten, gleich nach Tausenden verlangt wurden, fing ich an auf meinem Sitze hin und her zu rücken und vernehmlich zu brummen. „Sagen Sie dem Herrn Marschall,“ rief ich dem entsetzten Waninger zu, „ob er mich für einen Taschenspieler hält, der Tauben und Meerschweinchen aus seinem Hute herauszaubern kann?“ Der unglückliche Dolmetscher bebte am ganzen Leibe.

„Das getraue ich mir nicht zu sagen – das lassen Sie sich von Jemand Anderem übersetzen!“ Dies Zwiegespräch wurde anscheinend unmerklich eingeschaltet, denn Massena fuhr fort im Saale auf und ab zu schreiten und zu dictiren. Ich sah ihm aber wohl an, daß ihm unsere Zwischenbemerkungen nicht entgingen. Zuletzt kam die Contribution. Bis kommenden Tag Mittags 12 Uhr sollten achtzigtausend Gulden baar erlegt sein. Das wart mir zu viel. „Das schreibe ich nicht!“ rief ich unmuthig und warf die Feder auf den Tisch. „Das heißt mit unserm Elend noch Spott treiben! Sagen Sie dem Longinus da, der herumsteigt wie der Hahn im Werg, daß ich das nicht schreibe!“ Der Dolmetscher war starr; Massena aber stand mit zwei gewaltigen Schritten hinter mir und gab mir einen derben Schlag auf den Rücken. „Est ce que vous êtes fâché, monsieur?“ rief er mit blitzenden Augen, als habe er nichts Geringeres vor, als mich in der Mitte abzubrechen.

War ich zuvor schon aufgeregt, so stieß die erlittene Mißhandlung dem Fasse vollends den Boden aus. Zornglühend sprang ich auf und trat vor den Marschall hin, der unwillkürlich einen Schritt zurück machte. „Ja,“ rief ich und vergaß im Eifer ganz, daß mich der Marschall nicht verstand, „Ja, ich bin fâché! Ich bin es als Beamter Sr. Majestät des Kaisers von Oesterreich nicht gewohnt, mit Schlägen tractirt zu werden! Das mag bei Ihnen Sitte sein; bei uns nicht, Herr Marschall! – Ja, ich bin entrüstet und scheue mich nicht, es zu zeigen! Es ist geradezu Hohn, mit dem Elend, in das Sie uns versetzt haben, von uns eine solch’ ungeheuere Summe zu verlangen. Ebenso gut könnten Sie fordern, ich solle bis morgen Mittags 12 Uhr die zusammengeschossene Stadt wieder aufbauen! Es ist Hohn mit unserer Armuth, diese Lieferungen zu verlangen, jetzt, nachdem Ihre Horden Alles ausgeplündert und kaum eine Klaue übrig gelassen haben! Es ist Hohn, Lieferungen zu fordern, die man kaum in Friedenszeiten und beim größten Ueberflusse aufbringen könnte, und es ist noch der größte Hohn, daß ich sie liefern soll, ohne alle amtliche Hülfsmittel und binnen einer Zeit, die nothwendig einen Hexenmeister voraussetzt. Wenn es auf die armen Schärdinger denn doch einmal abgesehen ist, so machen Sie ihnen rasch und ohne Flausen den Garaus! Und mich, der Ihnen die Wahrheit gesagt hat, und den Sie doch schon einmal ruinirt haben, mich lassen Sie füsiliren, damit mein Weib zur Wittwe und meine Kinder zu Waisen werden … und damit bin ich zu Ende!“

Der Marschall war während meiner ganzen Standrede unbeweglich geblieben und hatte kein Auge von mir verwandt. Dolmetscher Waninger war vor Schrecken halb ohnmächtig in einen Stuhl gesunken; die dienstthuenden Officiere und Soldaten standen lautlos an den Wänden herum, unter ihnen der junge Lieutenant, der schon einmal als Uebersetzer gedient hatte und jetzt zurückgekommen war. Diesem winkte Massena vorzutreten und befahl ihm, was ich gesagt hatte, auf’s Genaueste zu übertragen. Ich hätte es aus seinen Gebehrden entnehmen müssen, wenn ich auch noch weniger französische Worte verstanden hätte, als ich wirklich verstand. Der junge Mann gehorchte mit sichtbarem Widerstreben.

Als er geendet hatte, sah mich der Marschall noch einen Augenblick durchdringend an. Dann trat er näher vor mich hin, legte mir die Hand auf die Schulter und hielt, als wenn er sich revanchiren wollte, eine Gegenrede an mich hin. Auch ohne Waninger’s Hülfe, der diesmal sich nicht im Mindesten scheute, begriff ich den Inhalt. „Sie sind ein braver Mann,“ sagte. „Sie haben Muth; ich liebe das und sehe es gern, wenn man mir unumwunden seine Gedanken sagt. Zum Beweise dafür und zum Beweise, daß wir nur thun, was wir thun müssen, erlasse ich der Stadt die Contribution. Von den Lebensmitteln liefern Sie die Hälfte. Ich stelle Ihnen genügende Mannschaft zur Disposition – können Sie das in 24 Stunden schaffen?“

Diesen Ausgang hatte weder ich, noch Einer der Anwesenden erwartet. Alle athmeten in einer angenehmen Empfindung aus, ich aber faßte ohne Umstände des Marschalls Hand, schüttelte sie und dankte ihm ordentlich gerührt, weil er mich dafür, daß ich meine Schuldigkeit gethan, nicht bestrafte und so freundlich war, uns einen Theil von dem zu schenken, was uns ohnehin gehörte. Aber so ist der Mensch, wenn die Gewaltigen der Erde ihre Macht auch mißbrauchen, er erträgt es, so lange ihm ein Winkel gelassen wird, in dem er behaglich niederkauern kann. Erst wenn die Meute des Uebermuths ihn auch da aufstört, zeigt er Krallen und Zähne.

Der Marschall ging; ich ward in ein anderes Zimmer gebracht und mir bedeutet, meine Arbeiten zu beginnen. Ich that es so gut als möglich aus dem Kopfe, da alle Verzeichnisse und Register mit dem Landgericht in Rauch aufgegangen waren. Inzwischen ward von allen Seiten für meine Bequemlichkeit gesorgt: statt der Holzschuhe erhielt ich ein Paar abgeschnittene Reiterstiefel aus der Garderobe des Marschalls, und auch mein isabellfarbener Ueberrock, der an mir zum Verräther geworden, wurde ausgekundschaftet und mir wieder ausgeliefert. Auf des Marschalls Befehl wurde mir eine ausgesuchte Mahlzeit mit Wein aus seinem eigenen Flaschenkeller servirt. Der junge Adjutant, der mir halb zur Beschleunigung meiner Arbeit, halb als Wache beigegeben war, munterte mich auf, zu genießen – ich konnte ihm aber nicht Bescheid thun. Der Wein krampfte mir die Kehle zusammen, denn ich dachte an meine Kinder und an mein gutes Weib und an all die Bedrängnisse, denen sie vielleicht ausgesetzt waren. Aber auch dafür ward Rath. Ich hatte nur einige Worte über ihre Lage gesprochen, als mir der Adjutant anbot, meine Familie im Hause unterzubringen. Wenige Minuten nachher machte sich eine Ordonnanz mit einigen Zeilen von mir nach der Waitzenau auf den Weg, und ehe eine Stunde verging, sah ich die kleine Karawane wohlbehalten und unter dem Freudengeschrei der Kinder ihren Einzug halten. Ich durfte nicht zu ihnen hinab, denn man schien immer ein wenig zu fürchten, daß ich eine Gelegenheit zur Flucht benutzen würde – aber vom Fenster aus konnte ich ihnen zurufen und zuwinken; sie sahen Alle gesund und freudig zu mir herauf, die zwölf Kinderaugen und die meiner Katharina, wie Sterne, nur mit dem Unterschiede, daß ich in diesen Himmel hinab statt hinauf sehen mußte.

Sie wurden gegenüber in einem großen Zimmer im Nebengebäude einquartiert, und in freien Augenblicken konnte ich mein Herz damit stärken, daß ich hinüber sah und mich überzeugte, daß es ihnen an nichts mangelte. Sie hatten sogar einige Bettstücke und waren verhältnißmäßig sehr comfortable untergebracht. Auch mein betrübtes Lieferungsgeschäft ging mit Hülfe einiger Bürger, die sich unter meine Aegide geflüchtet hatten, über Erwarten gut von statten. Massena bezeigte mir seine Gunst auf jede Weise, ich ward täglich an seine Tafel gezogen und war hie und da so glücklich, einem Bedrängten durch mein Fürwort behülflich zu sein. Am vierten Tage waren die beabsichtigten Truppenbewegungen alle ausgeführt; auch der größte Theil der Lieferungen war da. Der Marschall beschloß daher aufzubrechen. Das geschah aber so unvermuthet, daß ich in dem unvermeidlichen Gedräng und Getreibe vergaß, mir von meinem Gönner eine Sauvegarde gegen die immer neu nachrückenden Truppentheile geben zu lassen. So zog er denn ab, ohne daß ich ihn nochmals sprechen konnte; im Vorbeireiten jedoch bemerkte er mich, und rief mir mit freundlichem Winke zu, daß ich bald von ihm hören solle.

Nun war es mir wieder gestattet, bei den Meinigen zu sein und mich mit ihnen des Wiedersehens zu erfreuen. Abgesehen davon begann aber für uns Alle eine neue und trübseligere Zeit, als wir sie schon durchlebt hatten. Daran waren zwei Dinge schuld. –

[756] Einmal war das Weißmann-Brauhaus das einzige Gebäude, das unversehrt geblieben war, daher stürmte Alles, was Unterkunft suchte und bedurfte, dahin zusammen – zum andern rückten fast jede Stunde neue Abtheilungen des französischen Heeres nach, die ebenfalls alle nicht den Ruinen und Brandstätten, sondern den bewohnten Oertern zueilten.

Bei dem Andrange der Obdachlosen und Flüchtigen konnten wir nicht umhin, den Einen oder Andern in unser ohnehin nicht sehr geräumiges Gemach aufzunehmen; das wiederholte sich aber öfter, und bald wurden wir ebenso wenig als der Hauseigenthümner gefragt, ob wir sie herein lassen wollten. Sie drängten sich eben herein, als wären sie alle auf einem im Untersinken begriffenen Schiff und unser Zimmer wäre das Boot, in das sich die Mannschaft flüchten müßte. Wäre es wirklich ein Boot gewesen, so wäre es schon am ersten Tage untergegangen oder umgeschlagen vor Ueberfüllung. Von Wohnen war nicht die Rede; wir lehnten nur an einander, und der war glücklich, wer eine Stelle an der Wand oder in einer Fensterbrüstung eroberte, wo er doch einige Stütze und die Möglichkeit des Ausruhens fand. Ein eroberter Stuhl, ein Tisch bildete den häuslichen Mittelpunkt einer Familie, der sorgfältig bewacht und mit schonungsloser Erbitterung vertheidigt wurde. Zu schlafen war den Meisten nur möglich, indem sie stehend an einander lehnten oder auf die Füße mühselig zusammen kauerten. In diesem Elend des Aufenthalts kam noch der Mangel an Nahrungsmitteln. Das Aermlichste und Ungenießbarste wurde wie ein Leckerbissen geachtet, und wer ihn durch Zufall oder auf andere Art errang, mußte auf der Hut sein, daß er ihm nicht von einem Rohern und Stärkern, den der Hunger zum Räuber machte, gewaltsam wieder entrissen wurde. Ich hatte mich mit den Meinigen zuletzt in den Winkel am Ofen zurückgezogen, hauptsächlich, weil unter den Füßen desselben die Kleinern, besonders bei Nacht, untergebracht werden konnten, ohne zertreten zu werden. Von dort aus konnte ich das entsetzliche Treiben wie aus einer Art Versteck betrachten. Ich konnte von da einen Blick thun in die Höhen und Untiefen des menschlichen Herzens, wie man von einem Bergrücken aus die weite Landschaft mit Bergen nur Thälern ausgebreitet sieht. Ich sah zwei Brüder, eisgraue Männer, die seit Jahren als Hagestolze miteinander ein ansehnliches Handelsgeschäft betrieben, sich wegen eines Stückes Fleisch in den Haaren liegen und erbittert miteinander kämpfen, bis der Eine ermattet und dem Verschmachten nahe zusammensank; aber ich sah auch eine Tagelöhnersfrau, die das Geschirr mit wärmender, im Capuzinerkloster erbettelter Suppe begierig an den Mund setzte, aber sogleich abbrach und sie einer andern Frau hinüberreichte, blos weil diese noch kränker und elender aussah, als sie selbst. Ich bemerkte einen jungen Mann, der mit thierischer Gier ein großes Brod verschlang, ohne auch nur einen Bissen seinem Weibe anzubieten, die vor Mattigkeit halb ohnmächtig am Boden lag; aber ich sah auch eine Frau, die den letzten zur nothwendigen eigenen Stärkung aufgesparten Schluck Wein einem unbekannten und ihr wildfremden Kinde gab, das sie mit verlangenden Augen angesehen hatte. Die das that, war meine Katharina.

Wir hatten in unserer Ecke mit unserem Vorrath trefflich hausgehalten, obwohl wir damit gegen unsere Leidensgefährten nicht gekargt hatten. Eine Hauptrolle spielten dabei einige Flaschen Rothwein, die letzten thatsächlichen Erinnerungen an Massena’s Gewogenheit. – Ich hatte anfangs gedacht, sie für äußerste Fälle aufzusparen; darum schien mir das Schürloch des von innen heizbaren Ofens der passendste Versteck dafür zu sein. Als ich aber eines Morgens nach meinem Schatze sah, fand ich, daß ein durstiger Nachbar gegenüber eine Ofenkachel ausgehoben und meinen Reichthum zu sich hinüber escamotirt hatte. Im ersten aufflamenden Zorn rannte ich um den Ofen herum, um ihn zur Rede zu stellen – aber ich war entwaffnet, als ich ihn sah. Er hatte es nicht einmal der Mühe werth gefunden, seinen Raub zu verbergen; bemeistert von dem vielleicht nie genossenen Getränke lag der Mann, ein ehrsamer Knopfmacher seines Zeichens, die leere Flasche in der Hand, im entzückten Schlafe da – neben ihm seine Lebensgefährtin, in deren Schooß eine zweite Flasche bewies, daß sie nicht gezaudert hatte, das Lebensschicksal des Gatten zu theilen, lächelnd trat ich zurück und war froh, daß eine etwas beiseite gekollerte Flasche dem einträchtigen Ehepaar entgangen war. Diese hatte ich nun wie ein Heiligthum bewahrt und wollte Katharinen das letzte Restchen reichen, die, noch immer vom Fieber geschüttelt, dessen am meisten bedurfte. Da erblickte sie neben uns ein Kind, ein Mädchen von kaum fünf Jahren, das, schwächlich gebaut, den Entbehrungen zu erliegen schien. Es war geraume Zeit im Zustande tiefen, betäubungsähnlichen Schlafs gelegen, und seine Augen hingen nun unwillkürlich, aber mit unverkennbarer Begier an dem gefüllten Glase. Als es getrunken hatte, neigte es das Köpfchen wie verklärt auf die Seite und entschlief wirklich, vielleicht weniger wegen des genossenen Weines, als weil ihm sein Wunsch erfüllt worden war.

Zu allem Leiden kam noch, daß in der Enge des Zimmers und in der abgeschlossenen Luft auch die Gesundheit leiden mußte. Ueber achtzig Menschen waren darin eingepfercht, ein Drittel davon war krank, und es verging kein Tag, wo nicht mitten unter uns der Tod sich seine Opfer holte. Es war ein eigenthümliches ernstes Gefühl, immer das Sterben so als Wandnachbar zu haben und die letzten schweren Seufzer zu hören, und doch ist es im Leben überall und zu jeder Minute nicht anders! Aber eine vorsichtige Hand hat uns all das auseinander und in die Ferne gerückt. Wäre das Leid jeder Stunde in der Welt in eine Stube zusammengedrängt, so wäre in keiner für das Lächeln eines Säuglings Raum.

Das Entsetzliche unserer Lage wurde durch die ununterbrochen nachrückenden Franzosen in’s Unglaubliche gesteigert. Die später kamen, wurden immer wilder und erbitterter als die früheren, denn sie waren alle beutelustig und doch fanden sie bei uns nichts mehr, sie hätten uns denn ausgezogen bis auf die Haut. Darüber ließen sie ihren Unmuth in Mißhandlungen aus: sie stießen mit den Bajonneten in die eingekeilte Menge, die nicht auszuweichen vermochte. Alle Augenblicke knallte ein Schuß, und die Kugel fuhr sausend über unseren Köpfen an die Wand, schwere Steine schmetterten in den Menschenknäuel; Jammergeschrei, Wehklagen und weinendes Gebet bezeichneten jeden Wurf.

Es war unmöglich, länger so auszuhalten. Zu dieser Ueberzeugung hatte ich mich zuvor allein aufgemacht, um eine andere Unterkunft zu suchen, und es gelang mir, eine solche in dem Landgerichtsgebäude zu finden. Ein Gewölbe des Erdgeschosses hatte dem Brande widerstanden und bot eine ebenso abgelegene als sichere Zuflucht. Fliegenden Schritts kam ich zurück, um die Meinigen dahin abzuholen.

Wir waren schnell marschfertig. Kaum waren wir aber aus dem Zimmer in den Hofraum herausgetreten, als wir uns von einer halb betrunkenen Soldatenschaar umringt sahen. Diese hatten sich ein großes Lagerfaß mit Bier aus dem Keller herausgewälzt, den obern Boden eingeschlagen und schöpften nun achtlos und in verschwenderischem Uebermaß mit Schüsseln, Häfen und Geschirren aller Art den ungewohnten Trank, dessen Wirkung sich bald fühlbar machte. Die Einen lagen singend und zechend am Boden herum. Andere hatten sich zu einem wüsten und ausgelassenen Tanze zusammengefunden, und wieder Andre hatten sich weitere Kurzweil ersonnen. Aus der Capuzinerkirche hatten sie die Fahnen herbeigeschleppt und schritten nun damit in wilder Procession tobend und johlend im Hofe herum, hinter sich die Tumba, auf welche sie ein geschlachtetes Schwein ausgestreckt hatten und psalmodirend herumtrugen.

Der Ueberfall, den wir erlitten, galt Constanzen, deren Schönheit den wüsten Gesellen aufgefallen war. Ein wüster, bärtiger Dragoner riß sie von Katharina’s Arm, drückte sie ungestüm an sich und wollte sie küssen. Das Mädchen aber schleuderte ihn mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, von sich, daß er taumelte und beinahe zu Boden fiel. Das machte ihn um so begieriger und die Uebrigen wüthend. Schreiend hielt uns die ganze Schaar umringt, während der Dragoner mit Constanzen rang und sie an sich zu reißen versuchte. Der Uebermuth, schrie er, müsse gezüchtigt werden! Nun begnüge er sich nicht mit einem Kusse, sondern das Mädchen müsse ihm ganz angehören und ihm folgen. Wiehernder Beifall seiner Cameraden begleitete seine Worte. Vergebens bemühte ich mich, meine Tochter aus den Klauen des Unthiers zu befreien, vergebens weinte und flehte meine Katharina – vor unsern entsetzten weinenden Augen sahen wir das arme Mädchen im Nu durch ein Dutzend roher Fäuste von uns gerissen und durch die höhnende Schaar von uns getrennt. In ohnmächtiger Verzweiflung raufte ich mir das Haar, im herzerreißendsten Tone erscholl die Stimme Katharina’s: „Mein Kind! Constanze! Laßt mir meine Constanze!“ – Da, im entscheidenden Augenblicke, tönte [757] hinter dem Rücken der Soldaten ein starkes männliches „Halt“. Es war eine Stimme, der man es mit dem ersten Laute anhörte, daß sie gewohnt war zu gebieten und ihrem Gebote gehorcht zu sehen. Betroffen und ernüchtert wichen die Soldaten zurück, und der Rufende, ein junger Mann in Obersten-Uniform, stand vor uns. „Mein Herr,“ sagte er zu mir mit echt deutschem Accent, „Ihre Fräulein Tochter heißt Constanze? Darf ich mir Ihren Familien-Namen erbitten?“ – „Nun,“ fuhr er fort, nachdem er denselben gehört hatte, „was kommt Euch in den Sinn, Kameraden, diese Dame zu beleidigen? Sie ist eine der Unsrigen, die Verlobte eines Eurer tapfersten Officiere!“ – Wie auf ein Zauberwort machten die Dragoner nach allen Seiten Platz, und der Eine von ihnen, ein riesenhafter Wachtmeister, faßte Constanzen an der Hand und führte sie mit steifer soldatischer Verbeugung an Katharina’s Seite zurück. – „Ich bin erfreut,“ fuhr der Officier fort, „daß ich Ihnen dienen und den Wunsch eines Freundes vollziehen kann. – Alphonse de Faure ist mein Jugendgespiele, mein Waffengefährte, mein Bruder; er hat mir erzählt, daß und wie er mit Ihrem Hause bekannt geworden, und hat mich beauftragt, Ihnen seine Grüße zu bringen, wenn mich das Kriegsgeschick nach Schärding führen sollte. – Ich bin hier,“ begann er wieder, indem er Constanzens Hand faßte und ihr einen schönen Ring mit einem blitzenden Edelstein an den Finger schob – „lassen Sie mich meinen Auftrag erfüllen. Mit diesem Ringe giebt Ihnen Alphonse Ihr Wort zurück: Sie sind frei und ungebunden, wie zuvor – er ist bei Eckmühl auf dem Felde der Ehre gefallen. In meinen Armen ging er hinüber, und der Gedanke an Sie, mein Fräulein, dieser Auftrag für mich war sein letztes irdisches Geschäft.“

So kurz unsre Begegnung mit dem Obersten gewesen war, fühlten wir uns alle von der unerwarteten Botschaft ergriffen – Constanze begann leise zu schluchzen. „Ich danke Ihnen für diese Thränen,“ fuhr der Franzose selbst ergriffen fort, „ich danke Ihnen im Namen unsres so früh geschiedenen Freundes. Sie haben ihn nur flüchtig gekannt. Aber seien Sie versichert, so oft Sie beim Anblick dieses Rings sich seiner erinnern, haben Sie eines tadellosen Ehrenmannes, eines edlen Herzens gedacht!“

Damit verließ er uns, und wir begannen, fortan unbelästigt, den Weg zu unsrer neuen Zuflucht fortzusetzen. Als wir eine Strecke gegangen waren, bemerkte ich erst, daß ein Dragoner mit voller Bewaffnung hinter uns herschritt. Auf mein Befragen erklärte er, er sei uns als Sauvegarde beigegeben und eine solche werde uns von diesem Augenblick an verbleiben.

So geschah es auch, und die nächsten Tage gingen in Ruhe vorüber, so weit sie unter unsern Umständen möglich, war. Endlich hörten auch die Durchzüge auf – wir waren endlich frei, und niemand hinderte die Bürger mehr, in den Ruinen ihrer Häuser sich neue Nester ihres Fleißes und ihrer Emsigkeit anzubauen. Alles war rührig, den Schutt wegzuräumen und daraus hervorzusuchen, was etwa der Gewalt des Feuers, mehr oder minder erhalten, entgangen war. Jede Kleinigkeit wurde mit Entzücken begrüßt [758]  – war sie doch ein Angedenken frühern Besitzes und Glückes, und der Vorbote von künftigem. Das Leben begann in Allen wieder zu pulsen, denn die Triebfeder desselben war wieder in Thätigkeit – die Hoffnung! – Zuerst wurden die Werkstätten der dringendsten Bedürfnisse wieder hergestellt, die Backöfen, Metzgereien und Brauhäuser, und um den dreieinigen Kern schoß alles Uebrige krystallartig an. Mit der Sicherheit der Wege kam auch das Landvolk mit seinen geretteten Vorräthen wieder zu Markt, der Handel und Wandel ging seine Wege, und mit dem Verkehr waren auch dessen Verwicklungen wieder da. Der Landrichter, der sich noch zu guter Zeit geflüchtet, lag auswärts krank und konnte nicht zurück kommen; wohl oder übel mußte ich also selbst und allein, und, so zu sagen, aus dem Nichts zu amtiren anfangen.

Es vergingen aber mir wenige Tage, da bekam ich schwarz auf weiß den Beweis in die Hände, daß ich Recht gehabt habe, auch im größten Leid den Muth und meine Heiterkeit zu behalten. Ich erhielt meine Ernennung als Landrichter in Bayerbach, eine ebenso angenehme als einträgliche Stelle, in der ich hoffen durfte, die erlittenen Verluste wieder ersetzen zu können. Dolmetscher Waninger hatte überall ausgetrommelt, wie keck ich mit dem Marschall gesprochen hatte; das mochte in Wien bekannt geworden sein, und wie mich schon die Bürger mit Dank und Erkenntlichkeit überhäuften, ward mir auch diese Belohnung und Auszeichnung dafür zu Theil.

Wir standen eben an den Ruinen des Hauses, wo wir gewohnt hatten, und sahen zu, wie man das Kellergewölbe öffnete und ausgrub. Es war doch nicht ganz eingestürzt, die Bogen der einen Ecke hatten widerstanden, und so war uns ein beträchtlicher Theil nothwendiger Dinge, hauptsächlich Kleider und Wäsche, wiedergegeben. Die Freude darüber wurde zum Entzücken, als ich das schicksalwendende Blatt entfaltete. Mit dem einen Arm hielt ich es jubelnd empor, mit dem andern schloß ich meine Katharina an’s Herz, um uns herum die freudeweinende Schaar unserer Kinder. Um die ganze Gruppe aber bildete sich im Augenblick durch die zusammenlaufenden Menschen ein weiter Ring – lauter Leute, die dann heran kamen, mir dafür dankten, daß ich die Brandschatzung von der Stadt abgehalten, und die mir mit Thränen in den Augen und mit warmem Händedruck versicherten, wie ungern sie mich von sich ließen!

Wir verließen Schärding einige Tage später, auf einem nothdürftig zusammengetriebenen Fuhrwerk, betrübt und doch freudigen Herzens! Hinter uns her schallte der herzliche Lebewohlruf der bittern, so schwer geprüften Schärdinger, und uns entgegen kam die Nachricht von der Schlacht von Aspern geflogen. Alle Glocken in den umliegenden Dörfern klangen zusammen, und unsere Herzen schlugen noch erhabener, denn wir durften doch hoffen, daß, wenn uns auch noch manche Prüfung auferlegt sein sollte, die deutsche Kraft sich endlich doch ermannen und zum Siege über die fremde Zwingherrschaft vereinigen werde!

So habe ich nun niedergeschrieben, was ich in jenen denkwürdigen Tagen erlebt und gesehen. Damit schließe ich für diesmal. Wie es mir von da an erging, und wie mich das Unglück noch tiefer zu stürzen vermocht, als ich damals gestürzt war, das will ich ein ander Mal erzählen, wenn ich Zeit und Gesundheit dazu habe. – Vielleicht – hoffentlich aber holen mich meine schon hienieden engelgleiche Constanze, mein munterer und so schwer heimgesuchter Fritz, meine gute, vielgeprüfte Lina bald nach. Hoffentlich kommen sie bald mit all den Edlen, die ich begraben sehen mußte, und führen mich hinüber, um mit meiner Katharina die goldene fünfzigjährige Hochzeit nachzufeiern – hier unten ward sie mir ja wenige Tage vorher entrissen!

Das Eine nur habe ich noch beizufügen, daß nach Jahren, als die Pfarrkirche von St. Johann in Schärding wieder aufgebaut war und eingeweiht werden sollte, die guten Schärdinger sich meiner erinnerten und mich zu diesem Feste einluden. Ich schlug es nicht aus; traf ich doch gar viele alte Bekannte, mit denen ich mich an die grauenhaften Stunden erinnern konnte, die wir durchgemacht hatten. Von außen waren nur wenige Spuren davon übrig geblieben; das Städtchen war neu und wohnlich ausgebaut, und das Leben bewegte sich darin, als wären jene schlimmen Tage nur ein Traum gewesen. Nur die Kirche von Sanct Sebastian lag noch in Ruinen und liegt so bis zur Stunde, ein ernstes Denkmal für den 26. April 1809 und das Bombardement von Schärding.“