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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[65] No. 5.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Das Thurmzimmer.
Geistergeschichte aus Herder’s Leben.
Von Levin Schücking.
1.

In den Weserbergen, unweit des Bades Eilsen, liegt eine reizende kleine Ritterburg, die jetzt als Sommer- und Jagdschloß dem fürstlichen Hause Schaumburg-Lippe dient. Auf einer mäßigen Anhöhe erhebt sie sich über den Wipfelkronen prächtiger alter Eichen und Buchen; zu ihren Füßen, in der Thalschlucht, die sich nach Nordwest hinabsenkt, ruhen dunkle Weiher, die man die Hexenteiche nennt, einer über dem anderen, so schattig, so kühl, so still, von den mächtigen Aesten überhangen, von der Phaläne überflattert, an den Stellen, wo die Sonne durchbricht, ein helles Grün zeigend, neben dem um desto schneeiger die Kelche der weißen Seerosen leuchten – es ist eine Welt wie ein Waldmärchen, in deren duftige Stille von der Höhe herab die zierliche mittelalterliche Burg wie ein Traum niederblickt.

Märchen und Traum … das waren wenigstens die Eindrücke, welche ein junger Mann zu empfinden schien, der – es war im Jahre 1772 – eines Abends, um die Zeit, wo der Sommer in den Herbst überzugehen beginnt, in diesem kleinen Thale hinaufschritt, auf reinlich gehaltenen Kiespfaden, die neben den Weihern emporführten. Er ging das Haupt gesenkt, die Blicke auf den Boden heftend und nicht immer der Berührung mit den grünbelaubten Zweigen ausweichend, die sich weithin über Pfad und Teich ausstreckten.

Er mochte etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein; ein aristokratisches Gesicht mit scharfen grauen Augen und etwas gekrümmter Nase, deren Flügel scharf und weit geschnitten waren, verrieth einen ursprünglich hellen und feinen Teint, der aber offenbar in Wetter und Wind Schaden gelitten; der junge Mann mußte sich um seinen Teint eben so wenig gekümmert haben wie um den regelmäßigen Schnitt des schönen, stolzen Mundes, denn er hatte einen starken braunen Bart, welcher die ganze Oberlippe bedeckte, darüber wachsen lassen.

Gekleidet war er in grünes Jägergewand nach dem kleidsamen Schnitte der Zeit. Das kastanienbraune Haar bedeckte ein dreieckiges Hütchen mit weißblauem Federbesatz; um den grünen Rock mit breiten Klappen und Aufschlägen war ein Hirschfänger geschnallt, und zierliche silberne Sporen klirrten an den feinen Klappenstiefeln.

Dieser durch sein Aeußeres so einnehmende junge Herr also ging an den Weihern am Fuße der Ronsburg hinauf, wie ein Mensch verloren in das „doux cossire“ von dem Pierre Vidal, der Troubadour, singt, oder in süßschmerzlich Liebessinnen, wie wir es ausdrücken. Und wie ihn dies Sinnen so zerstreut machte, daß sein feiner Castorhut jetzt schon zum zweiten Male durch einen Baumzweig von seinem Haupte ab und zu Boden geworfen war, so nahm er auch nicht wahr, daß er von einer Steinbank aus, die am obersten der Weiher am Fuß einer mächtigen alten Eiche stand, aufmerksam beobachtet wurde. Sonst, und wäre er nicht so sehr in seine Träumerei verloren gewesen, hätte er die Gestalt, welche ihn von da oben beobachtete, so viel die Baumstämme und die Zweige es ihr erlaubten, längst entdeckt, sie war auffallend genug. Schon dadurch, daß es eine Dame war, die allein hier saß, mit einem Buche in der Hand, über das sie auf den Kommenden hinwegblickte, eine Dame in dunkelgrünem Kleide, welches am Knie aufgesteckt das silbergraue Untergewand und den Fuß im Schuh mit hohem rothen Absatz sehen ließ. Auf der Bank neben ihr lag ein weißer Strohhut mit lang herabhängenden weißen Bändern, ein Fächer, ein Strauß von Feldblumen und eine kleine braune Arbeitstasche.

Erst als der grüne Jägersmann am Rand des obersten Weihers angelangt war, erblickte er die Gestalt der einsamen Dame und eilte nun rasch zu ihr hin.

Als er in ihre Nähe gekommen, machte er ihr eine tiefe Verbeugung, die sie mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte, zugleich nahm sie den Strauß und den Hut von ihrer Seite, um ihm auf der Steinbank Platz zu machen.

Er erfaßte ihre Hand, die vom langen weit über die Knöchel reichenden dänischen Handschuh verhüllt war, und zog sie an die Lippen, dann sagte er, indem er sich auf die Steinbank niederließ:

„Welche Ueberraschung, Antonie, Sie hier zu sehen … aber welch Wagniß, Ihre einsamen Spaziergänge so weit auszudehnen!“

„Ich bin nicht allein,“ versetzte die Dame, „ich habe mein Mädchen nach oben in’s Schloß gesendet, um mir ein Glas Milch zu verschaffen. Auch ist es nicht hübsch von Ihnen, Herr Rittmeister Baron Fauriel de Saint Roche, daß Sie mich schelten, statt über diese unerwartete Begegnung in Entzücken zu gerathen!“

„Sie haben Recht, Antonie,“ versetzte er noch einmal ihre Hand erfassend, die sie ihm eine Weile ließ, um sie ihm dann wieder zu entziehen und mit dem Strauße zu spielen. „Sie haben Recht, ich bin entzückt, Sie zu sehen und sie nach Eilsen heim begleiten zu können; welches Glück, mit Ihnen im Scheine des Mondes unter den Wipfelkronen der alten Buchen durch den Wald zu schreiten!“

„So ist’s recht,“ antwortete Antonie lachend, „das ist die Sprache, die ein Verliebter führen muß; es steht fast wörtlich so in dem Buche, worin ich eben las, und worin Sie böser Mensch mich zu stören kamen, in diesem Romane da. Aber geben Sie sich nicht so sehr Ihren Hoffnungen auf die empfindsamen mondscheindurchwobenen [66] Entzückungen eines nächtlichen Spaziergangs hin, daraus wird nichts!“

„Daraus wird nichts?“ sagte der junge Mann fast erschrocken, „Sie werden mir doch nicht verwehren, Sie zu Ihrem Schutze heimzubegleiten?“

„Ich verwehre es Ihnen!“

„Aber weshalb … das ist ja unbegreiflich, ich darf Sie doch nicht allein heimgehen lassen …“

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß mein Mädchen bei mir ist?“

„Aber, Antonie, weshalb mir das Glück rauben wollen?“

„Weshalb?“ versetzte sie lächelnd. „Ist mein Wille nicht genug? Ich will es nicht!“

„Ihr Wille ist mir genug, ich entsage, Antonie,“ sagte der Rittmeister mit einer Stimme, deren trauriger, entsagungsvoller Ton ein Kieselherz erweicht hätte.

Antonie lachte.

„Aber Sie leiden furchtbar unter meinen Launen, nicht wahr, Herr von Fauriel?“ sagte sie.

Der junge Mann nickte, schwermüthig zu Boden sehend.

„Ja sehen Sie,“ fuhr sie fort, „eine Schauspielerin muß ihre Launen haben dürfen … wehe dem, der sich in ihren Netzen fangen läßt! Weshalb waren Sie so thöricht, sich darin fangen zu lassen?“

Sie sah ihn mit einem unendlich schelmischen und spöttischen Blicke an.

„Ach ja,“ antwortete er mit einem tiefen Seufzer und einen tragischen Ton annehmend, „das muß freilich wahr sein, es ist nicht das erste Mal, daß ich es mir heute sagen lassen muß. Sie sagen es jetzt und Er sagte es vorhin … Die beiden Menschen, die mir am höchsten stehen in der Welt, sagen es, es muß also wohl wahr sein!“

„Er?“ fiel Antonie ernsteren Tones ein, „wer ist der Er, der es wagt, Sie zu beklagen, weil Sie an den Triumphwagen einer Kokette gespannt seien?“

„Wer?“ antwortete der Rittmeister seufzend, „wer kann es anders sein als mein erlauchter Gebieter, der Graf?“

„Der Graf … und der hat eine so schlechte Meinung von mir … was muß ich hören … sagen Sie mir Alles … Alles!“

„Ach, es war nicht recht, daß ich davon begann!“

„Zuerst, wie kamen Sie und Er dazu, von mir zu sprechen?“ „Antonie,“ antwortete der junge Mann zärtlich ihre Hand erfassend, „ich will Ihnen Alles gestehen … zürnen Sie mir nicht … wollen Sie es mir versprechen?“

„Versprechen? Ich will nichts versprechen, aber Sie sollen mir Alles gestehen, auf der Stelle, hören Sie?“

„Nun ja, nun ja. Ich sprach den Grafen heute, um ihn um die Erlaubniß zu bitten, um Ihre Hand zu werben.“

„Verwegener! Das wagten Sie?“ antwortete sie betroffen, aber, wie es schien, mehr erregt als erzürnt durch diese Mittheilung. „Und was antwortete der Graf?“

„Der Graf antwortete: ‚Nein!‘ Sein Bescheid lautete scharf und bestimmt. ‚Ich kann nicht dulden, daß die Officiere in meinem Elite-Corps solche Verbindungen eingehen,‘ sagte er. ‚Eine Dame, die sich‘ … aber ich kränke Sie, Antonie … es ist genug, um Ihnen zu erklären, weshalb ich sehr ernst gestimmt, sehr traurig und doch sehr entschlossen bin.“

„Es ist nicht genug … ich will Alles wissen und Sie haben mir versprochen, Alles zu sagen. Mir liegt in diesem Augenblicke weit mehr daran, zu erfahren, was der Graf gesagt, als wozu Sie entschlossen sind, Baron Fauriel!“

„Wie heftig Sie sind! Der Graf sagte: ‚Eine Dame, die allein in einem Badeort auftaucht, ohne daß man weiß, von wannen sie kommt, die einen unbekannten Namen angiebt, die sich eine Schauspielerin nennt und von der man nicht einmal weiß, ob sie es wirklich ist, eine solche Dame ist keine passende Partie für den Rittmeister Baron Fauriel. Sie werden niemals meine Einwilligung zu einer Ehe mit einer Schauspielerin erhalten, lassen Sie sich das vergehen!‘“

Antonie hatte sich während dieser Worte zornig auf die Lippen gebissen.

„Vortrefflich,“ sagte sie jetzt bitter auflachend. „Die Welt verehrt diesen Grafen Wilhelm zu Schaumburg als einen der genialsten und größten Männer seiner Zeit. Und dieser gepriesene Geist liegt so angebunden in den Fesseln des Vorurtheils, so schwergekettet unter dem Joch philisterhafter Engherzigkeit, daß auch er glaubt, ein Mädchen, welches sich von einem mächtigen Gefühle für das Ideale hinreißen läßt und die Bühne betritt, um dort für die Darstellung und Verkündigung erhabener und schöner Gefühle zu leben, welches den Muth hat, der inneren Stimme zu gehorchen, die es auf den dornenvollen Pfad, der Kunst führt … ein solches Mädchen sei ein verlorenes Geschöpf, und seine Kriegsknechte, seine Rittmeister entehrten sich …“

„Halten Sie ein, Antonie,“ unterbrach Fauriel sie hier, „ich theile ja völlig Ihre Entrüstung, und wenn der Graf bei seiner Ansicht bleibt … und das wird er, fürcht’ ich … werde ich sofort meinen Abschied verlangen.“

„Ihren Abschied verlangen? Armer Schäfer Sie! Was wollen Sie beginnen? Haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie ein armer Glücksritter sind, ohne andere Habe als Ihren Degen?“

„In der That, das bin ich … aus dem Blut hugenottischer Flüchtlinge, vom Grafen durch die Aufnahme in sein berühmtes Muster-Corps hoch geehrt und …“

„Und ihm für immer zu Dankbarkeit verpflichtet; denn ich weiß, wie er Sie schätzt und bevorzugt …“

„Alles das ist wahr und dennoch werde ich, sobald ich noch einmal mit dem Grafen gesprochen und ihn bei seinem Nein beharrend gefunden, mein Entlassungsgesuch einreichen. Ich werde anderswo Dienste suchen.“

„Wollten Sie in der That so viel für mich opfern?“ fragte sie ihn ernst und groß ansehend.

„Das und noch mehr … mein Leben gäbe ich für Sie dahin, Antonie. Das hat in mir fest gestanden, dies Gefühl ist in mir unwandelbar dasselbe geblieben, seit ich Sie vor vier Wochen drüben im Badeort sah und es mir gelang, mich Ihnen zu nähern. Aber freilich, ich muß, bevor ich jenes Opfer bringe, Ihres Herzens sicher sein und daß ich das sein kann, hat leider, leider nicht so unwandelbar in mir festgestanden, ich habe oft schwere Stunden seitdem verlebt, wo …“

„Wo meine Launen Sie verzweifeln machten, wo Sie mich eine Kokette nannten, ist’s nicht so, Baron?“

Er nickte traurig mit dem Kopfe, dann aber sagte er:

„Nein, nein, nicht ganz so schlimm! Aber nun, Antonie, nun ist die Stunde gekommen,“ fuhr er, ihre Hand ergreifend und mit seinem treuherzigsten Blicke sie ansehend, fort, „die Stunde, wo Sie mir’s sagen müssen, ob Ihr Herz …“

„Ach,“ fiel sie mit einer gewissen Härte ein, „Sie wählen nicht den rechten Augenblick, mein Herz erweichen zu wollen … mein Herz fühlt nur beleidigten Stolz, Zorn und Rachsucht!“

Dabei entzog sie ihm ihre Hand.

„Wie furchtbar grausam Sie sind, Antonie!“ sagte der Rittmeister mit flehendem Ton. „Sie wissen, weshalb ich Sie drängen muß, ich habe Ihnen den Schritt genannt, den ich thun will …“

„Den Schritt eines unbesonnenen Kindes! Sie sollen ihn nicht thun. Ich verbiete es Ihnen!“

„Wenn ich nun aber will?“

„Wohl denn, dann breche ich Ihren Willen, indem ich Ihnen zuflüstere,“ fügte sie sich zu ihm hinüberneigend und plötzlich ihrer stark und voll tönenden Stimme einen wahren Sirenenklang schmelzender Weiche gebend, „indem ich Ihnen zuflüstere, daß es dessen nicht bedarf, daß ich mit dem Grafen reden und ihm eine andere Ansicht beibringen werde …“

„O, glauben Sie nicht, daß Sie das können … Sie kennen ihn nicht!“

„Ich kann’s, ich verspreche es Ihnen … wenige Stunden Geduld und Graf Wilhelm wird nichts mehr einwenden gegen die Verbindung seines geliebten Rittmeisters Baron Fauriel von Saint Roche mit der armen Antonie Sponheim. Es wird sich dann nur fragen, ob sie nichts mehr einzuwenden hat – nur das noch!“

Der Rittmeister sah sie eine Weile mit ernstem, forschendem Blicke an.

„Sie antworten nicht, was denken Sie?“ fragte sie.

„Ich denke, daß Sie aufrichtiger gegen mich sein sollten!“

„Bin ich das nicht?“

„Nein! Ich weiß längst, daß Sie nicht das sind, wofür Sie sich geben. Sie sind keine arme Antonie Sponheim, wenigstens keine Schauspielerin!“

[67] Antonie lachte, ein wenig gezwungen, laut auf.

„Nein,“ fuhr der Rittmeister unbeirrt dadurch fort, „Sie sind es nicht. Dieses zuversichtliche Versprechen, den starren, an Befehlen gewöhnten Sinn des Grafen Wilhelm durch wenig Worte umwandeln zu wollen, beweist es mir auf’s Neue. Glauben Sie, ich hätte das nicht längst erkannt? Sie haben nichts vom Wesen einer Schauspielerin …“

„Nicht alle ihre Launen, Koketterien und was man uns sonst noch schuld giebt?“

„Nein, nichts als das Wesen der schönen, verwöhnten Frau. Sie haben nicht die Toilette einer Schauspielerin, nicht den Geschmack – Sie suchen die Einsamkeit, Sie entziehen sich den Menschen, den Huldigungen der Männerwelt, der Bewunderung des Publicums, das Eilsen erfüllt …“

„Nichts als Schauspielerkunst, nichts als eine raffinirte Art, Netze zu spannen,“ lachte Antonie fröhlich auf, „der Graf selbst hat es Ihnen ja noch heute gesagt …“

„Lassen wir den Grafen und bleiben beim Thema; ich weiß, ich fühle es, Antonie, daß um Sie die Atmosphäre reinster und bezauberndster Weiblichkeit liegt …“

„Aber, mein Gott, weshalb sollte ich denn das ‚landgräflich hessische Hofschauspielerin‘ in meinen Paß haben setzen, weshalb mich dafür halten lassen? – ist es ein so beneidenswerthes Loos, von der Welt als Schauspielerin über die Achsel angesehen zu werden, daß man versucht sein könnte, die Schauspielerin zu spielen, wenn man’s nicht ist?“

„Ihren Paß, Fräulein Antonie Sponheim, habe ich nicht gesehen,“ antwortete mit einer gewissen Ironie der Rittmeister … „und das ‚Weshalb‘ ist es eben, was Sie mir anvertrauen sollten! So lange Sie es nicht thun, muß ich glauben, das Weshalb läge in Ihrem Wunsche nach Freiheit, Unabhängigkeit, in dem Wunsche, der Aufmerksamkeit der Welt zu entgehen und ihrer lästigen Neugier! Bei einer Künstlerin, einer Schauspielerin findet man nichts Auffallendes, wenn sie allein steht, allein reist, allein einen Badeort besucht und keine Gesellschaft, keine Anlehnung an irgend Jemand sucht. Eine andere junge Dame, die dasselbe thäte, wäre der ganzen Spürsucht, der ganzen Klatschleidenschaft des Badepublicums ausgesetzt, man würde nicht ruhen, bis man sie in den großen Kreis, in das ermüdende Tretrad der täglichen Vergnügungen gepreßt! Eine Schauspielerin aber läßt man ihre Wege gehen –“

„Richtig,“ fiel Antonie spöttisch ein, „denn man compromittirt sich ja durch ihre Gesellschaft.“

„Also Sie räumen ein, Antonie …“

„Ich räume nichts ein. Nein, nein, nichts. Aber Ihre Worte beunruhigen und betrüben mich, Fauriel. Sie lieben mich also in der Voraussetzung, daß ich nicht bin, was ich scheine, würden mich, wenn ich wirklich eine Schauspielerin wäre, nicht lieben …“

„O mein Gott, Antonie,“ rief der Rittmeister aufspringend, eifrig, das Gesicht hell geröthet, aus, „welches Wort! Sie wissen, daß meine ganze Seele, mein Leben, der letzte meiner Gedanken Ihnen gehört, daß ich Sie liebe mit einem Wahnsinn …“

„Genug, genug, mein wahnsinniger Freund, ich sehe, da kommt mein Mädchen, hören Sie nur noch dies,“ sie legte lächelnd die Hand auf seinen Arm und mit schelmischem Blick in sein Auge schauend sagte sie: „Sie sollen den Beweis haben, daß ich eine Schauspielerin bin, eine große Schauspielerin, und Ihr Graf soll erfahren, was es heißt, eine Künstlerin zu beleidigen, er soll es bald erfahren, und nun gehen Sie, gehen Sie!“

Sie nahm ihren Hut, ihren Strauß, ihren Fächer und ihre Tasche auf und ging hastig einem jungen Mädchen entgegen, das von der Heerstraße, die rechts an der Berghöhe entlang lief, zu ihr in das Thal niederstieg.

Der Rittmeister wagte nicht, ihrem Befehle zu trotzen; er sah sie hinaufwanden und zwischen den Bäumen verschwinden. Nachdem er noch lange so gestanden, erst ihr nachschauend und dann in Gedanken verloren, wandte auch er sich und stieg linkshin empor, wo die Pfade der das Thal ausfüllenden Anlage oben an der Rückseite des Schlosses zusammenliefen.

Als die junge Dame mit ihrem Mädchen sich dem vorderen Eingang in das kleine Burgschloß genähert – denn nach der Vorderfronte des Schlosses hat sich Antonie gewendet – war ihr ein Lakai entgegengetreten, der bereits seit einer Stunde sich müßig schlendernd hier umgetrieben hatte.

Er machte eine höchst respectvolle Verbeugung vor der Dame und sagte, seinen Hut in der Hand: „Ich habe die Demoiselle erwartet, um sie gleich in ihre Wohnung zu führen; dem Herrn Grafen soll ich sofort Ihre Ankunft melden, haben Sie die Güte, mir zu folgen; ich denke, es wird uns Niemand sehen.“

„Ist der Herr aus der Stadt, welcher zur morgigen Jagd eingeladen, bereits angekommen?“ fragte die Dame.

„Noch nicht. Der Herr Hofprediger wird wohl bald eintreffen.“

Die Fremde und ihr Mädchen folgten dem Diener, der sie in das Gebäude und dort eine breite Treppe hinaufführte; oben schritt er mit ihnen durch einen Corridor, dann führte er sie eine zweite, aber kürzere Treppe hinauf und über einen kleineren Corridor in ein Entresolzimmer, dessen Fenster auf den Hof hinausgingen.

„Dies ist das Zimmer für die Demoiselle,“ sagte er dabei und fügte, indem er auf eine dem Eingange gegenüberliegende Thür zuschritt und diese öffnete, hinzu: „Hier ist das Schlafzimmer für die Demoiselle sowohl, wie für die Jungfer. Wenn die Demoiselle jetzt nichts weiter zu befehlen hätten, so will ich gehen und Sie Sr. Erlaucht melden.“

„Hat denn die Meldung solche Eile?“ sagte die Dame, indem sie, auf der Schwelle des Schlafzimmers stehend, einen prüfenden Blick in dasselbe warf. „Laß Er uns doch erst ein wenig zu Athem kommen und uns ausruhen. Bring Er mir ein Glas frisches Wasser sogleich, und Seinen Grafen in einer halben Stunde, nicht eher!“

Der Lakai warf einen Blick des Erstaunens über solch’ respectwidrige Sprache auf das übermüthige junge Mädchen, doch wagte er keine Bemerkung zu machen und ging.

„Wo ist der Handkoffer?“ fragte, als er verschwunden war, Antonie ihre Begleiterin.

„Hier steht er, hinter dem Waschtisch! Soll ich ihn öffnen?“

„Ja. Nimm das helle Kleid heraus, ich will es anziehen.“

Antonie war mit ihrer Toilette bald fertig, während ihr Mädchen unaufhörlich von dem Grafen plauderte, wie er wohl aussehen und ob er auch sie anreden würde, der berühmte Kriegsheld, dessen schöne Garde so merkwürdige Reiterstücklein ausgeführt im siebenjährigen Kriege, und trat dann in das vordere Zimmer, wo sie sich niedersetzte, um die Erlaucht zu erwarten. Unterdeß senkte sich draußen der Abend nieder; in dem Entresolzimmer zog die Dämmerung ein.

Nach einer Weile klopfte er. Dann steckte der Lakai den Kopf durch die Thür und meldete flüsternd: „Der gnädige Herr!“

Gleich darauf warf er weit die Thür auf und der Graf trat über die Schwelle.

Es war eine schlanke, geschmeidige Gestalt, deren stolze Haltung sie höher erscheinen ließ, als sie war. Die Züge zeigten, trotzdem, daß der Graf keineswegs mehr jung war, das bleibende Gepräge männlicher Schönheit, gehoben durch den Glanz eines feurig leuchtenden, blauen Auges; es war eine gewinnende Erscheinung, die auffallen mußte, auch wenn sie nicht den Nimbus ihrer erlauchten Geburt und ihres Ruhmes gehabt hätte.

Antonie trat ihm ein paar Schritte entgegen, doch blieb sie dabei in dem von stärkerer Dämmerung erfüllten Hintergrunde des Entresolzimmers.

„Seien Sie mir willkommen, meine gute Demoiselle,“ sagte der Graf, ihr die Hand reichend, im freundlichsten Tone. „Es freut mich, Sie zu sehen; Sie haben alle meine Sympathie, nicht allein durch das, was meine hochverehrte Freundin, Prinzessin Sidonie, mir über Sie schreibt, sondern auch durch den Muth, mit dem Sie hierher kamen, um die geniale, prächtige Idee unserer liebenswürdigen Prinzessin auszuführen … ich habe gern, wenn Frauen sich nicht damit begnügen, ihr Schicksal wie eine passive Blume hinzunehmen, die Regen und Sonnenschein gleich still über sich ergehen läßt; wir Menschen sind keine Blumen und man muß schon selber die Hände rühren …“

„Und doch, Erlaucht,“ versetzte Antonie mit einer überaus schüchternen Stimme und in gebeugter Haltung, „finden Sie mich in einer erklärlichen Zaghaftigkeit und in der ängstlichsten Aufregung. Auf Prinzessin Sidoniens Rath habe ich zugesagt und bin gekommen … und nun ich hier bin, ist mir zu Muthe wie Jemandem, der eine große Sünde begehen will … mein Gott, wenn der ganze Anschlag nur dahin führte, daß mir mein Bräutigam [68] auf ewig zürnte, daß er mir niemals vergäbe, daß ich die Hände in einem kleinen Complot wider ihn gehabt … auch finde ich es so verwegen, so ruchlos, mit solch’ übernatürlichen Dingen seinen Spott zu treiben …“

„Beruhigen Sie sich, Demoiselle, die übernatürlichen Dinge thun uns am wenigsten, wenn wir herzhaft ihrer spotten.“

„Aber Erlaucht haben doch der Prinzessin geschrieben, daß wirklich in diesem Schlosse ein Gemach sei, worin den Bewohnern die Gestalt dessen, an dem sie am meisten gesündigt, erscheine, und dadurch ist die Prinzessin ja erst auf den Gedanken gekommen, da müßte ich meinem Bräutigam erscheinen … ach, es war gewiß ein recht frevler, verwegener Gedanke … aber wenn eine Prinzessin ihn einmal gefaßt hat und auf solch’ einer Idee besteht … wozu läßt unsereins, ein armes unglückliches Mädchen, das noch obendrein von ihrem Herzen gedrängt wird und wie ein Vertrinkender nach einem Strohhalm greift, sich nicht überreden!“

Antonie sprach das Alles in einem überaus kläglichen und beinahe weinerlichen Tone.

„Beruhigen sie sich doch, meine gute Demoiselle Flachsland,“ sagte der Graf lachend. „Es handelt sich ja im Grunde nur um eine recht hübsche Mystification, einen Scherz mit einer tant soit peu moralischen Nutzanwendung am Ende … weshalb die Sache so tragisch ernst nehmen? Man wird doch noch heitern Muths in solch einer alten Ritterburg, wie diese, eine kleine Spukscene aufführen dürfen! Wenn es Ihnen gefällig ist, so will ich Sie jetzt in die Localitäten einweihen und Ihnen zeigen, wie Alles auf’s Beste vorbereitet ist. Kommen Sie, wir müssen gehen, weil sonst die Dunkelheit zu groß wird!“

Der Graf ging voraus und Antonie folgte ihm. Er schritt durch das Schlafzimmer, durch dessen halboffene Thür das Mädchen gespannt der Unterredung zugehorcht hatte, und am Ende des Schlafzimmers riegelte er eine Thür auf, welche auf eine kleine schmale Galerie führte, die, an einer Wand entlang laufend, rechts über die niedrige Brüstung fort in ein großes hohes Gemach hinunter blicken ließ. Am andern Ende der Galerie verschwand der Graf mit der ihm folgenden Dame in einer schmalen gewölbten Bogenthür, welche durch eine dicke Mauerwand gebrochen war.

Nach etwa zehn Minuten kamen Beide zurück. Der Graf beurlaubte sich nun von der mit tiefen Knixen ihn entlassenden Dame.

„Nun gute Nacht, meine liebe Demoiselle Flachsland,“ sagte er, „Sie haben gesehen, wie Alles einfach und leicht auszuführen ist, und haben, hoffe ich, Ihre Aengstlichkeit verloren … gute Nacht!“

„Der liebe Gott wird mir Muth geben, gnädiger Herr,“ antwortete Antoine, indem sie ihn bis an die Thür des Wohnzimmers begleitete. „Und das Versprechen, welches Sie mir gaben, Erlaucht?“ fügte sie hinzu.

„Ich denke daran, seien Sie darüber ruhig!“

Er trat mit einem freundlichen Kopfnicken über die Schwelle.


2.

Eine Stunde später saß der regierende Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe mit einer ziemlich zahlreichen Gesellschaft von Gästen zu Tische, Herren seines kleinen Hofstaates und nächsten Gefolges, und mehreren Eingeladenen, die an den Hofjagden Theil nehmen sollten, welche für die nächsten Tage angeordnet waren – es fand am anderen Tage die Eröffnung der niederen Jagd statt.

Neben dem Grafen, zu seiner Rechten, saß ein Herr von Bülow, ein General des großen Friedrich, dann ein junger Herr in schwarzer Tracht, neben diesem der Rittmeister Baron Fauriel in seiner grünen Jagduniform – alle übrigen Herren trugen diese Jagduniform, nur ein Adjutant des Grafen waren voller Militairuniform. Schon dies mußte die Augen auf den allein schwarzgekleideten Gast lenken. Der schwarze Gast war aber schon durch seine persönliche Erscheinung ein Mann, der die Aufmerksamkeit fesselte. Er war etwa siebenundzwanzig Jahre alt, eine wohlgebaute Gestalt von mittlerer Größe, eher mager als stark, frei und ungezwungen in seinen Bewegungen; es lag etwas Selbstbewußtes in seinem ganzen Wesen, das sich offenbar nicht im Mindesten von der fremden Atmosphäre, in welcher er sich befand, beengt fühlte. Und weshalb auch sollte er es? der Mann mit dem ansprechenden Gesicht hat eine Stirn, auf der Intelligenz und geistige Energie ausgeprägt lagen, ein schönes kühn blickendes dunkles Auge und einen auffallend hübschen weichen, von feiner Empfindung und tiefem Gemüth sprechenden Mund – er war offenbar eine Persönlichkeit, welche sich in keinem Kreise gedrückt zu fühlen brauchte. Vielleicht auch hatten ihn seine Umgebungen bisher gerade an das Gegentheil gewöhnt und ihn – verwöhnt. Es lag etwas in seinem Wesen, was auf das Bewußtsein, Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, deutete.

Es war nur etwas, das seinen ansprechenden Kopf entstellte: seine Augen waren ein wenig entzündlich geröthet und am obern Nasenbein trug er die Narbe irgend einer Operation oder Verwundung.

Der Graf erzählte seinen Gästen von England, wo er, ein Enkel König Georg’s des Ersten, seine Jugend verlebt hatte. Er sprach von den wunderbaren Gegensätzen im Character des englischen Volkes, von der Genialität, womit es in seiner Politik sich von allen Rechtsbegriffen emancipirt, während es sein inneres Leben nach einem Rechtswesen geregelt habe, wie es nicht gebundener, drückender, in unbeugsamem und grausamem Formalismus erstickender gedacht werden könne.

„Und ein anderer Gegensatz, fast noch greller,“ sagte, als der Graf eine Pause machte, der schwarze Gast, „liegt in dem Nationalcharakter der Engländer. Der hervorstechendste Zug darin, die Welt ist darüber einig, besteht aus dem nüchtern praktischen Sinn, der Richtung auf das Reale und Zweckmäßige, dem klugen Scharfsinn, der Alles um sich her so zu gestalten strebt, daß es, was es leisten soll, auf die beste und einfachste, sicherste und dauerhafteste Weise leistet. Dieser practische Verstand des Engländers jagt weder in seinen politischen Bestrebungen noch in seinem Industrialismus irgend Chimären nach. Und daneben steht die Thatsache, daß es kein Volk giebt, auf welches das Chimärische, Abenteuerliche, Phantastische mehr Reiz übt als gerade die Engländer. Die Engländer haben einen Sinn für das Wunderbare, eine Leidenschaft für alles Excentrische, einen Hang zum Phantastischen, eine Schwäche für alles Abenteuerliche, die uns ‚unpraktischen‘ Deutschen unbegreiflich sind.“

„Sie haben Recht, mein lieber Hofprediger,“ fiel hier der Graf ein, „wenn wir einen dieser schroffen, kühlen, zugeknöpften und blasirten Briten sehen, sollten wir nicht glauben, daß der Aberglaube eine so große Herrschaft auf ihn übe – der hängt ja auch mit dem abenteuerlichen und phantastischen Naturell zusammen – daß das Gemüth dieser Menschen so weit offen stehe allen Eindrücken von Grauen und Schauern vor den Schatten des Jenseits. Ich habe ein ganz ernhaftes, durch geriebene Betriebsamkeit reich gewordenes Parlamentsmitglied aus Sheffield in einer Gesellschaft vom schottischen ‚Zweiten Gesicht‘ lange Geschichten erzählen hören, ohne daß auch nur ein einziges Wort des Zweifels laut geworden wäre!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein gelehrter Schauspieler.


An einem schönen Sonntag spazierte ein Knabe an der Hand seiner Mutter, nicht wenig stolz auf seinen neuen Anzug, zu den Thoren von Leipzig hinaus in’s Freie. Am „Täubchen“ zu Reudnitz wurde Halt gemacht und ein Käsekuchen gemüthlich verzehrt. Plötzlich entstand ein Auflauf, die Menge drängte sich um einen Mann, den Director einer Hunde- und Affenkomödie, mit seinen vierfüßigen Schauspielern.

Unter den Zuschauern befand sich der Knabe, welcher Carl Grunert hieß; derselbe verfolgte mit weit aufgerissenen Augen die interessante Vorstellung. Herzlich lachte er über die grotesken Sprünge und die tolle Ausgelassenheit der Affen, während die Treue und Enthaltsamkeit der Hunde, die trotz ihres Appetites nichts von den vorgesetzten Speisen berührten, einen tiefen Eindruck auf sein kindliches Herz machten. Er wurde nicht müde, die thierischen

[69]

Carl Grunert als König Lear.

Künstler zu bewundern, und als das Schlußspiel zu Ende war, lief er der Bande in den nächsten Biergarten nach, wo dieselbe Vorstellung von Neuem gegeben wurde. Glücklich zog er neben einem großen Pudel her, der auf seinem Rücken einen kleinen Affen in einem prächtigen himmelblauen Kleide mit silbernen Borten trug und sich von ihm den Kopf gemüthlich krauen ließ. Ein angehender Kunstmäcen und Bauerbursche hatte dem Hunde aus Anerkennung für seine Leistungen einen Wurstzipfel hingeworfen; der Künstler vermochte einer solchen Lockung nicht zu widerstehen und sprang darnach, indem er dem Knaben zwischen die Beine fuhr und ihn niederwarf.

Hinter ihm drein drängte und schob die nachstürzende Menge, ohne den Gefallenen zu beachten. Unaufhaltsam rollte er weiter, bis er in dem feuchten Chausseegraben mit seinem neuen Sonntagsanzug lag. Hier fand ihn die besorgte Mutter, welche ihn herauszog und mit einigen Püffen regalirte. Trotzdem wurde seine Liebe zur Kunst durch das Mißgeschick nicht abgekühlt, sondern gerade umgekehrt geweckt und gesteigert. Von nun an ahmte er Alles nach, was ihm nachahmungswürdig schien, den Ausrufer auf der Straße, den Prediger auf der Kanzel, dessen Gebehrden und Haltung er getreu copirte. Besonders aber begeisterte ihn das wirkliche Theater mit seinen menschlichen Schauspielern, die er [70] später in Gesellschaft seiner ebenfalls kunstliebenden Mutter sehen durfte. Daneben besuchte er die berühmte Thomasschule, wo Grunert den Grund zu einer in seinem Stande seltenen classischen Bildung legte. Lange schwankte er zwischen der Kanzel und der Bühne, bis er sich endlich für die letztere entschied, umgekehrt wie der bekannte Bischof Dräseke, der aus einem Schauspieler ein frommer Theologe wurde.[WS 1]

An den Ufern der Elster, dicht hinter Gerhard’s Garten, lag eine Wiese, die jetzt ein Stadttheil Leipzigs geworden; hier las der junge Künstler Schiller’s „Jungfrau von Orleans“ im Grase mit so lauter Stimme, daß der Besitzer des Grundstücks auf ihn aufmerksam wurde und ihn wegen Niedertretung des Grases, mit Prügel und Polizei bedrohte. Von dieser Naturbühne vertrieben, wurde das Rosenthal Zeuge seiner fleißigen declamatorischen und mimischen Uebungen. Auch bildete er mit andern von gleichem Streben erfüllten Knaben nacheinander vier Liebhabertheater-Gesellschaften. Es wurden Decorationen gemalt, Leseproben abgehalten, aber nur ein Stück wirklich aufgeführt, wobei der kleine Grunert seine Rolle so gut spielte, daß er von dem nachsichtigen Publicum herausgerufen wurde.

Mit diesem ersten Erfolge wuchs sein Vertrauen und er faßte ernstlich den Entschluß, sich ganz dem Theater zu widmen. In dem Städtchen Waldenburg in Sachsen betrat er zum erstenmale die Breter, welche die Welt bedeuten, und zwar als „Räuber“ in dem Schauspiel „die Fackeljungen von Cremona“. In seinem Banditenkleide stolzirte er hinter dem Prospect der kleinen Bühne und probirte zuvor noch einige kühne Stellungen, von denen er sich eine große Wirkung auf die Zuschauer versprach. Während er kühn den Dolch schwang und mit dem rechten Fuß nach hinten trat, um seine malerische Attitude zu vervollständigen – sank er plötzlich unter das Podium. Mit schmerzenden Gliedern suchte er sich aufzurichten, was aber nicht so leicht ging, da der unterirdische Raum zu niedrig war, um gerade zu stehen. Er mußte auf den Knieen liegen bleiben, zugleich rutschte ihm, ebenfalls auf den Knieen, die ehrwürdige Gestalt eines Greises mit langen, weißem Bart entgegen, in der einen Hand ein brennendes Licht, in der andern ein Buch haltend.

„Herr Jeses! Sein Sie das?“ fragte dieser in reinstem sächsischen Dialect.

Der Greis war nämlich der Souffleur der Truppe, welcher zugleich eine kleine Aushülfsrolle in dem Stücke spielte.

„Sie wollen,“ fügte der würdige Mann hinzu, „also ooch zu Dalichens (Thaliens) Fahne schwören, junger Gunstanfänger! Un da griechen Se hier unden ‘rum. Vermudlich um kleich die Gehrseite gennen zu lernen. Wo viel Licht, is ooch viel Schadden. Les extrémités se touchent!

So debutirte Grunert mit einem Durchfall, noch ehe er die Bühne betreten hatte, aber er ließ sich durch solche ominöse Anzeichen keineswegs abschrecken, sondern verfolgte mit der ihm eigenen Ausdauer sein hohes Ziel.

Schon vor diesem Debut hatte er den Versuch gemacht, Aufnahme bei einer größeren Bühne zu finden. Im Leben der schüchternste Mensch, suchte Grunert mit Herzklopfen den geistreichen Schauspieler Jermann auf, der damals unter Küstner’s Leitung am Leipziger Theater eine hohe Achtung genoß. Ihm trug er bescheiden sein Anliegen vor und bat zugleich um dessen Rath und Protection. Jermann warnte ihn jedoch vor der gefährlichen Laufbahn; es gäbe, sagte er ihm, schon genug unglückliche Schauspieler und das Theater sei nichts weniger als ein Paradies, worin die Poesie blühe.

Niedergeschlagen, aber nicht entmuthigt bat Grunert, ihn doch wenigstens zu prüfen, wozu sich Jermann auch bereit finden ließ, indem er ihm den Monolog aus „König Yngurd“ von Müllner zum Lesen gab. Während des Vortrages sprang der Künstler vom Stuhle auf, maß den jungen Anfänger mit blitzenden Augen, fuhr mit der Hand durch die Haare und sagte ihm zum Schlusse: „Sie dürfen nicht nur, sondern müssen zum Theater.“

Seitdem verlor Jermann den talentvollen Novizen nicht mehr aus den Augen und als er selbst die Regie des Augsburger Theaters übernommen hatte, rief er den damals noch nicht zwanzigjährigen Grunert zu sich und beschäftigte ihn in den bedeutendsten Rollen. Leider mußte Jermann schon nach einigen Monaten der Kabale seiner Collegen weichen und Augsburg verlassen. Unterdeß hatte sein Schützling und Schüler außer seinen Rollen mit einem befreundeten jungen Gelehrten fleißig Latein getrieben, Horaz und Goethe gelesen, sich in eine junge Sängerin verliebt und sie in zärtlichen Versen besungen, darüber aber die Sorge um seine Zukunft vergessen und sich nicht um ein neues Engagement bekümmert.

Von Neuem schwankte er zwischen der Kunst und Wissenschaft, so daß er sich um eine Unterstützung bewarb, um die Leipziger Universität besuchen zu können. Dieselbe wurde ihm jedoch abgeschlagen, dafür aber erhielt er einen ehrenvollen Antrag von den Actionären des Freiburger Stadttheaters, den er unter diesen Verhältnissen freudig annahm. Da hatte er Alles, was sein Herz begehrte, Theater und Universität, die Mittel für seine artistische und gelehrte Bildung, die er seitdem mit unablässigem Fleiße verfolgte, den Umgang mit bedeutenden Männern, wie den bekannten Professoren, Baron von Reichlin und Zimmermann, welche seine Studien vertieften und förderten.

Bald vertraute man ihm die Regie des Theaters an; ja der akademische Senat ernannte ihn zum Lehrer und nahm Grunert’s Vorlesungen „über die Kunst des schönen Vortrags“ in den Lectionskatalog der Universität auf. Diese doppelte Stellung benützte er oft in origineller Weise seinen Zuhörern gegenüber. So unterbrach er sich einmal, während der Theatervorstellung, mitten in seiner Rede als „König Philipp“ und machte den Jünglingen im Parterre mit trockenen Worten klar, daß Schiller ganz Recht habe, wenn er in des „Don Carlos“ Brieftasche „abgerissene Gedanken aus dem Tacitus“ finden lasse und daß sie daher Unrecht hätten, deshalb zu lachen, wie dies der Fall gewesen war. Und als bei einer nächsten Vorstellung es den Studenten komisch vorkam, daß „Sultan Soliman“ in Körner’s „Zriny“ ausrief: „Der ungarische Bär soll die Tatze des türkischen Löwen fühlen,“ wendete Grunert als „Soliman“, im grünen Kaftan auf dem Sopha liegend, das Haupt mit dem langen, weißen Bart gegen das Parterre, sah lange schweigend hinunter und fragte im gemüthlichen Tone: „Ihr habt wohl wieder viel Bier getrunken?“

Sonderbarer Weise schadeten ihm diese Randglossen bei der lebhaften Jugend nicht, sondern erhöhten noch seine Popularität und den Beifall, der oft nach des Künstlers bescheidener Meinung an ungehöriger Stelle erfolgte, so daß er einmal in dem Schauspiele „die Versöhnung“ von der Frau von Weißenthurm laut ausrief: „Wie kann man mich da nur applaudiren!“ Er selbst aber sagte von sich in einem Epiloge, daß er nur dann seine Aufgabe glücklich gelöst zu haben glaube:

„Wenn statt des ungemeßnen Beifalls Rauschen
Des Athems leises Weh’n
Kaum schüchtern hauchte durch beklommnes Lauschen“.

Schließlich machte ihn der Freiburger Magistrat zum selbstständigen Director des Theaters, wobei Grunert so wenig auf seinen Vortheil bedacht war, daß er zum Nutzen der Kunst Alles wieder ausgab, was er einnahm, und besonders deutsche Dramen, denen anderswo die Aufnahme verweigert wurde, zur Aufführung brachte, wie das freisinnige „Pasquill“ von Maltitz und sogar „Don Juan und Faust“ von Grabbe, natürlich nicht zum Vortheil seiner Casse.

Zu den Genien der Kunst und Wissenschaft gesellte sich in Freiburg noch die Liebe in der Gestalt eines holden Weibes. Bei einem Ausflug in das Elsaß fuhr Grunert von Breisach bis Bischofsheim den Rhein hinab; bald darauf hörte er, daß zu derselben Zeit, wo er auf dem Strome dahin glitt, ein junger Schauspieler Namens Wolgemuth in den Wellen ertrunken sei und eine junge, unversorgte Wittwe in tiefster Trauer hinterlassen habe. Wenige Monate später führte das Geschick die schöne, anmuthige Frau als Mitglied des Freiburger Theaters in seine Nähe. Sie wurde seine Gattin und ihm die liebevollste Freundin und zugleich erwarb sie sich durch ihre einsichtsvolle und stets aufrichtige Kritik den Dank ihres Gemahls.

Unterdeß fand Grunert’s Talent immer mehr verdiente Anerkennung; einen Ruf von Immermann nach Düsseldorf mußte er ablehnen, dagegen nahm er ein Jahr später die Stelle eines Hofschauspielers und Regisseurs in Hannover an, wo er durch strenge Selbstkritik und den Einfluß des vorsichtigen und tactvollen Directors von Holbein, sowie durch die höheren Ansprüche des gebildeten Publicums wesentliche Fortschritte machte. Aus dem ihm lieb gewordenen Wirkungskreise schied er nur, um die ihm angetragene Oberregie und das Fach der ernsten Charakterrollen in Mannheim [71] zu übernehmen. Um jedoch seiner Kunst ganz frei zu leben, verzichtete er auf diese ihm in Aussicht gestellte Directorialgewalt und nahm ein Engagement am Stadttheater zu Hamburg an, wo er der würdige Nachfolger eines Eckhof und Schröder wurde.

Im Jahre 1846 wurde Grunert mit lebenslänglicher Anstellung nach Stuttgart berufen, wo er sich schnell die Gunst des Hofes und des Publicums im reichsten Maße zu erringen wußte. Von dem damaligen Hoftheater-Intendanten Dingelstedt in München eingeladen, an den dortigen Mustervorstellungen mit Anschütz, Devrient, Laroche und Döring Theil zu nehmen, wurde ihm von dem Könige von Würtemberg die Erlaubniß dazu versagt, wahrscheinlich aus Groll gegen Dingelstedt, der eben erst vor Kurzem den Dienst desselben verlassen hatte. Grunert war entschlossen, den Zorn seines Königs zu wagen, doch unterblieb sein Auftreten aus „höheren Rücksichten“ und er selbst mußte sich mit den Auszeichnungen begnügen, die ihm in München als bloßem Zuschauer gezollt wurden. Auch von dem Gastspiele der deutschen Künstler in London wurde er durch den damals erfolgten Tod seiner Frau zurückgehalten.

Für diese Verluste fand er jedoch hinlängliche Entschädigung durch die Anerkennung der akademischen Jugend in Tübingen, die ihm einen Fackelzug brachte und das feierliche Comitat zu Pferde mit wallenden Fahnen gab, während er im Wagen an der Seite des berühmten Aesthetikers Professor Vischer saß. Zugleich wurde eine Sturmpetition bei der philosophischen Facultät der Universität angeregt, um für ihn den „doctor honoris causa“ zu erlangen. Dieser Antrag der jugendlichen Enthusiasten wurde jedoch von dem Senat abgelehnt, da das Statut die akademische Würde nur für wissenschaftliche, aber nicht für künstlerische Verdienste gestattet. Auf Andringen seiner Freunde schrieb darauf Grunert eine philosophisch-ästhetische Abhandlung, ein lateinisches „curriculum vitae“ (Lebenslauf) und wurde darauf feierlichst zum „Doctor“ und „Magister der freien Künste „cum laude“ (mit Auszeichnung) creirt.

Im Jahre 1801 wollte Grunert, nachdem er verschiedene Anträge großer Hofbühnen zurückgewiesen hatte, lediglich aus Liebe zur Kunst die Direction des Theaters in seiner Vaterstadt Leipzig übernehmen. Das Publicum hegte enthusiastische Erwartungen für die Regeneration der Bühne unter seiner Leitung, er selbst glaubte in dieser Weise den geeignetsten Abschluß seiner Künstlerlaufbahn zu finden und somit der Literatur und dem deutschen Leben wahrhaft zu nützen. Aber die Verhandlungen zerschlugen sich, da „der Rath“ das Theater nur für drei Jahre unbedingt vergeben wollte, während Grunert mindestens eine zehnjährige Frist fordern zu müssen glaubte. Unter diesen Umständen blieb er in Stuttgart um so eher, da der König die Entlassung blos unter der Bedingung ertheilen wollte, wenn Grunert auf die Pension für sein achtzehnjähriges Wirken verzichtet hätte.

Als Künstler nimmt Grunert, abgesehen von seinem großen Talente, schon durch seine ungewöhnlich hohe Bildung eine hervorragende Stellung ein. Er ist gleichsam der Schauspieler der studirenden Jugend, der gelehrten Welt, der Träger und Vermittler von Wissenschaft und Kunst, die sich in ihm harmonisch verschmelzen. Seine Leistungen tragen daher weniger den Stempel unmittelbarer Inspiration, als tiefen, gewissenhaften Studiums, ohne darum die Gluth der Begeisterung und Leidenschaft vermissen zu lassen. Vor Allem versteht er es, den Gedanken des Dichters zum Bewußtsein der Hörer durch seine vollendete Rhetorik zu bringen; weshalb der „weise Nathan“ zu seinen besten Rollen zählt. Aber eben so sehr besitzt er die Kunst der Individualisirung, der scharfen psychologischen Auffassung, so daß er mit Recht zu den ersten Charakterdarstellern der deutschen Bühne zählt. Dabei fehlt ihm auch nicht der unentbehrliche Humor, selbst die übermüthige Komik des Lustspiels und der Posse steht ihm zu Gebot. Der Vielseitigkeit seines Talentes entspricht der Reichthum seines Repertoirs, das die hochtragischen Gestalten Shakespeare’s, Schiller’s, Lessing’s und Goethe’s ebenso wie die bürgerlichen Figuren eines Iffland und die seinen Salongestalten der französischen Komödie umfaßt. Während er als „Lear“, dessen Rolle jedenfalls zu seinen meisterhaftesten und gewaltigsten Leistungen gehört, jeder Zoll ein König erscheint, ist er als „Graf Ranzau“ in Scribe’s „Bertrand und Raton“ ein so vollendeter Diplomat, daß ein solcher selbst über ihn sagte, nur ein Diplomat könne diese Rolle ihm nachspielen, wenn derselbe nämlich ein so guter Schauspieler wie Grunert wäre.

Die höchsten Triumphe feierte jedoch der Künstler als Vorleser besonders antiker Dramen. „Hier vereinigt,“ wie Vischer von ihm sagt, „Grunert mit der Energie der Charaktergebung die ideale Würde und Großheit, wie sie der monumentale Stil der Antike fordert.“




Ein Pariser Kind.
Zur Charakteristik der Pariser Frauen.
(Schluß.)


Einstmals, an einem jener sogenannten Familientage, die Jeanneton besonders quälten, in einem großen Kreise strickender und häkelnder Damen und vieler im Nebenzimmer rauchender und Whist spielender Männer, erschien unter ihnen ein junger Musiker, ein entfernter, nur auf der Durchreise befindlicher Verwandter. Seine freien, reizenden Phantasien auf ihrem Flügel elektrisirten die junge Frau. Zum heimlichen Entsetzen Aller wich sie nicht von seiner Seite, als er spielte, und als er geendet, reichte sie ihm mit dem Ausdruck naiver Bewunderung beide Hände und bat, ihr einmal einige Lieder zu begleiten.

„Wenn Ihr so viel könnt, wie ich glaube, so müßt Ihr die Accorde zu meinem Gesang finden, ohne die Lieder zu kennen,“ sagte sie. Und glühend vor Freude, bebend vor Erregung stimmte sie ihre kecken Chansons an, eine nach der andern, und er folgte ihr, als ob er in seinem Leben nichts Anderes gethan, als die Lieder Jeanneton’s begleitet. Es war wie im Eldorado. Sie stand wie sonst neben dem Flügel, vor ihr die lauschende Menge. Unwillkührlich gesticulirten die kleinen Hände. O, wie schön sie war! Der junge Musiker blickte wie verzückt in dies strahlende Antlitz, dessen Augen funkelten, dessen Lippen lächelten. Wie ein Wunder erschien sie ihm, wie eine Perle – im Sande verloren. Ihre Stimme klang so süß und lockend, ihr Wesen war so fremd und bestrickend. Träumte er denn, sang diese Frau wirklich jene kecken berauschenden Lieder in dem Hause Ellernburg am Familientage? Saß dort wirklich die strenge Isidore und verließ nicht eben die hochblonde Marie den Salon? Andere folgten ihr mit Zeichen des Entsetzens. Und in der Thür Männerkopf neben Männerkopf, spöttische oder erstaunte oder erregte Gesichter. Und mitten unter ihnen das bleiche, bewegte Antlitz Eugen’s. Und Eugen’s Hand war es, die endlich sich auf Jeanneton’s Arm legte. Sie schrie auf, als sie ihn ansah. Sanft faßte er ihre Hände und führte sie in ihr kleines Zimmer. Dort schloß er sie heftig in die Arme und beschwor sie, nie wieder jene Lieder zu singen.

„Du hast mir das Herz zerrissen, Jeanneton,“ sagte er, „denn ich mußte sehen und hören, wie sie mein Weib verurtheilten, und konnte ihnen kein Wort verbieten. Ich habe unsäglich gelitten! Singe so oft Du willst, nur niemals jene Lieder, ich will nicht, daß sie eines Menschen Ohr wieder hört!“

Er sah ganz verwandelt aus, als er so redete, so wild und verzweifelt, daß sie sich vor ihm fürchtete.

„Ich will Dir alle Lieder der Welt zu Füßen legen, singe sie, singe nur diese nicht wieder!“

„Gefallen sie Dir denn nicht mehr?“ fragte sie bebend.

„Hier nicht, hier tödten sie mich!“

„Aber andere kann und werde ich nie lernen,“ sagte sie leise und brach in Thränen aus. „Geh’ nur zurück zu ihnen und sage, daß ich krank geworden, ich bleibe für den Rest des Abends hier.“ –

Eugen hielt Wort. Er verschrieb die schönsten Lieder, er brachte ihr Mendelssohn, Schumann und Schubert mit französischem Text in den prächtigsten Ausgaben. Sie schüttelte den Kopf, durchblätterte die Sammlungen und erklärte, kein einziges singen [72] zu können. Das war das erste Weh, der erste Kampf. Arme Jeanneton! Die Fortsetzung ließ nicht lange auf sich warten. Jeder Tag brachte irgend ein Ungemach, eine Qual, einen Schmerz, gegen den kein Sträuben schützte. Immer enger zog Isidore ihre Kreise, immer machtloser erschien Eugen ihr gegenüber. Die junge Frau glich jenem bunten Falter, der sich in das Netz einer Spinne verirrte, die feinen Fäden wanden sich immer dichter um die flatternden Flügel.

Isidore Ellernburg hatte Recht; es war Wahnsinn und Frevel die Kleine zur Herrin des grauen Hauses in der Winkelstraße zu machen und es kamen allmählich Momente, wo Eugen selber Ähnliches dachte.

Und da es geschah, daß Jeanneton unter diesen wunderlichen Verhältnissen trotzig und eigenwillig wurde, wie ein Kind das man unverdient straft, so kam es, daß Eugen sich oft und öfter in die Zimmer seiner Schwester zurückzog, nicht um über seine junge Frau bei ihr zu klagen, sondern nur um ruhig neben ihr zu sitzen und sich von ihr umsorgen zu lassen. Heiterer und zärtlicher kam er dann zu der Kleinen zurück, aber für Jeanneton war das ein neuer Schmerz. Auch kam er allezeit mit einigen sanften Ermahnungen und guten Rathschlägen, und das war es, was sie immer mehr erbitterte und reizte. Bald bat er sie, jene kleinen widerspenstigen Locken zu verbannen, die er früher so tausend Mal bewundert, bald versuchte er sie zu überreden, die Schneiderin Isidorens anzunehmen, um ihre etwas, wie er sie jetzt bezeichnete, „extravagante“ Toilette zu moderiren, und legte ihr zugleich einen von Isidoren gewählten Kleiderstoff zu Füßen.

All dergleichen Bemühungen hatten aber keinen Erfolg. Jeanneton ließ die reizenden Locken nur noch verwirrter hängen, verschenkte sofort den grauen Kleiderstoff an eine arme Frau und schnitt und fertigte sich ihre Roben nach wie vor nach ihren Pariser Mustern. Die Haushaltungsangelegenheiten waren längst vollständig in die Hände Isidorens übergegangen, seit die Kleine einmal, als ihre Schwägerin ihr einen Rechenfehler im Ausgabebuch nachgewiesen, das Buch in tausend Stücke zerrissen. Immer längere Zeit verlebte Jeanneton in ihrem Stübchen, das sie stets sorgfältig hinter sich verschloß. Was sie dann wohl that? Isidore hätte es gar zu gern gewußt und alles Horchen half doch nichts. Da hörte man eben nur den Vogel lustig flöten und die süße Stimme der jungen Frau sang, zuerst leise wie aus weiter Ferne, dann lauter und immer fröhlicher der klugen Drossel nach. Daß dies offenbar ein gefährliches und unverzeihliches Vergnügen war, suchte das Fräulein dem Bruder täglich von Neuem mit unendlicher Geduld zu beweisen.

„So lange Du ihr die Grille dieses albernen kleinen Verstecks nachgiebst, so lange wird sie keine demüthige deutsche Frau. Je mehr sie sich in dieser Weise isoliren darf, desto mehr löst sie sich von Dir. O Eugen, das einzige Mittel Deinen Schritt wieder gut zu machen ist, sie fest und unerbittlich an Dich zu ziehen, sie keinen Augenblick aus Deiner Hand zu lassen, sie mir anzuvertrauen und Alles aufzubieten, damit in den Räumen, die Deine Mutter bewohnte, keine Unwürdige umherflattere, deren Wesen all’ Deinen Verwandten Mißtrauen einflößt, eine Frau, über deren räthselhaftes Gebahren Jeder die Achseln zuckt oder lacht. Es ist eine Schande, daß Du ihr gestattest jene Lieder zu singen, so oft sie Lust hat, die keine Frau anhören dürfte, geschweige selbst singen. Was geschehen, ist nicht ungeschehen zu machen, aber an Dir ist es jetzt, Jeanneton zu einer Gefährtin zu erziehen, die Deiner würdig. Du mußt es, wenn Du sie noch liebst!“

Ob er sie noch liebte? Wenn er sie sah, wenn er den Arm um ihre reizende Gestalt schlang, wenn sie in ihrer frischen, neckischen Weise mit ihm plauderte und ihre dunkeln Augen so zärtlich zu ihm aufblickten, so durchdrang es ihn mit überzeugender Gewalt, daß er nie ein anderes Weib so lieben könne und werde, wie sie, daß Alles, was für ihn Poesie hieß, sich in ihr verkörperte. Dann hätte er sie forttragen mögen in ein zauberisches Land, um dort für sie einen Feenpalast aufzuführen, eine Märcheneinrichtung hervorzuzaubern, wo man aus goldenen und silbernen Bechern und Schalen Honigseim schlürft und Blumensalat verspeist. Fand er sich aber bei seiner Schwester, in jenen Umgebungen, die er von Kindheit auf gewöhnt, war er dem persönlichen Zauber Jeanneton’s entrückt, so ertappte er sich auf dem Wunsche, seine Kleine so ruhig und sorglich, so ernst und geschäftig mit Küchenschürze und Schlüsselbund schalten und walten zu sehen, wie eben Isidore; dann wünschte er von Herzen sie genau so zu sehen, wie alle Frauen seines Bekanntenkreises. Nach Männerart kam ihm aber nie der Gedanke, daß er doch im Grunde die Schuld trage an allen Mißstimmungen und wunderlichen Wandlungen im grauen Hause, weil seine Hand die wilde Rose in ein Treibhaus verpflanzt, in dessen schwüler Luft sie welken mußte.

Und ein Tag kam, ein böser Tag, wo Eugen mit Jeanneton am Arm zwischen den Taxuswänden hin und wieder wanderte, um ihr begreiflich zu machen, daß sie ihm zu Liebe ihr kleines Asyl aufgeben und statt dessen bei Isidoren die Zeit seiner Abwesenheit verbringen müsse. Viele Worte fielen, heftige, bittere Worte, und Jeanneton’s kleine Hände rissen im Vorbeistreifen Zweig um Zweig aus den Hecken und die zierlichen Füße stießen wie unwillig und ungeduldig die welken Blätter bei Seite, die von den hohen Buchen in den offenen Gang langsam herabfielen. Die Sonne leuchtete so klar, der Himmel war so blau, in den Gebüschen jagten sich zwitschernde Vögel. Die schlanke Frauengestalt im dunkeln Seidenkleide war plötzlich stehen geblieben: „Sieh, da blühen noch Rosen! rief sie mit dem Ausdruck kindlicher Freude. Und am Ende des Ganges leuchtete eine verspätete Monatsrose.

„Laß bei uns immer Rosen blühn!“ flüsterte er zärtlich, „sei gut, Jeanneton, gieb nach, erfülle meine Bitten!“ Und halb sie führend, halb sie tragend, näherten sie sich der einsamen Blume. Er brach sie und reichte sie der jungen Frau. Aber als ihre Finger sie berührten, fielen die Blätter ab.

„Ich bin’s, die Alles zerstört,“ sagte sie erschrocken und traurig und blickte auf die zerstörten Blumen. „Nein, nein, das soll nicht mehr sein, sei ruhig, Eugen, ich liebe Dich und ich will versuchen, zu thun, was Du willst – sie zu lieben. Ja, die Rosen. sollen blühen!“

Und mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit warf sie die Arme um seinen Nacken. „Komm, wir wollen den kleinen Vogel holen aus meinem Stübchen und ihn zu Isidoren bringen, und ich will Dir auch zeigen, was ich dort that, wenn ich allein war, und Du wirst nicht zürnen.“

Und sie gingen Beide innig aneinander geschmiegt in das Haus zurück, durch den Flur und die Reihe von Zimmern bis an das kleine Stübchen mit den weißen Muslinvorhängen. Aber was war das? Die Thür stand offen, das Fenster auch; wehe, wo war der Vogel? Leer der Bauer, der kleine Sänger, der Liebling Jeanneton’s, ihr Trost und ihre Freude, war entflohen! Wer hatte es gethan? Starren Auges blickte die junge Frau auf die offene, kleine Thür des Käfigs und dann sagte sie mit tonloser Stimme: „Sie hat es gethan und einzig sie. Jetzt ist Alles vorbei.“ –

O, diese schlimme Nacht, die dem schlimmen Tage folgte! Kein Schlaf senkte sich auf die verweinten Augenlider der jungen Frau. Und dieser Sturm von Gedanken, diese Thränen und diese Kämpfe! Dann und wann richtete sie sich lauschend auf und schaute zu ihm herüber. Er schlief so tief und fest. Die schöne Stirn war ihr zugewandt, um den Mund spielte ein heiteres Lächeln. Von wem mochte er wohl träumen? Ach, was hätte sie darum gegeben, ihn gerade jetzt erwachen zu sehen, noch einmal seine Stimme zu hören, seine Lippen auf den ihrigen zu fühlen! Aber es war besser so, der Abschied war leichter, und Abschied mußte genommen werden, ohne Verzug, gleich. Leise erhob sie sich, leise schlich sie hinaus in ihr Stübchen. Arme Jeanneton! Eugen träumte ruhig weiter. Er stand ja in dem glänzend erleuchteten Saal des Café Eldorado und hörte die süßen Lieder eines reizenden Geschöpfes im weißen Kleide.

Währenddem schlüpfte eine zierliche Gestalt in unscheinbarem Reiseanzuge, eine Reisetasche am Arm, über den Hausflur und öffnete die Thür. Fährst du nicht auf mit einem jähen Angstruf, sorgloser Träumer? – es ist dein Weib, das jetzt über deine Schwelle hinausschreitet in die schweigende Herbstnacht. –

Eugen las am nächsten Morgen bebend und todtenbleich wieder und wieder folgende Worte:

„Auf Wiedersehen, Geliebter! Ich würde wahnsinnig geworden sein – ich mußte fliehen, es war so nicht mehr zu ertragen. Du mußt wählen zwischen mir und ihr, eher kann ich nicht wieder zu Dir kommen. Laß uns geschieden bleiben, bis Dein freier Wille uns wieder zusammenführt. Schreibe mir nicht, ich werde auch nicht schreiben. Du sollst ungestört entscheiden, wem von uns Beiden Du angehören willst. Ich gehöre nicht in Euer Deutschland;

[73] Du mußt zu mir kommen, wenn Du willst, daß ich leben soll! Besinne Dich in aller Einsamkeit darauf, wie sehr Du mich liebst. Ich erwarte die Entscheidung mit Zuversicht, denn ich schließe diese Zeilen, wie ich sie begann, – mit dem magischen Worte: Auf Wiedersehen!
Jeanneton.

Ich werde unter dem Schutze meiner alten Freundin als Deine Frau still in meinem alten Stübchen leben, ich werde wieder arbeiten, wie zuvor. Dein Geld brauche ich nicht. Ach, Liebster, Du weißt, ich habe es immer beklagt, daß Du ein reicher Mann bist. Jetzt ist wieder Alles wie einst, aber doch noch schöner, denn wir sind unzertrennlich. Hörst Du?“

Im ersten Augenblick nach Lesung dieses von Thränen halb verwischten Blattes wollte er nach Paris abreisen, im zweiten sank er vernichtet in seinen Sessel, im dritten brauste er im wilden Zorn auf, um endlich in Isidorens Zimmer zu erscheinen, die vor seinem Anblick laut aufschrie. Eine lange Unterredung fand nun zwischen Bruder und Schwester statt – als sie geendet, war Eugen ruhiger. Das Städtchen wurde baldigst von der plötzlichen Abreise der jungen Frau nach Paris in Kenntniß gesetzt, und ehe Jeanneton ihre geliebte Heimath wieder betrat, hatte die Fama sie bereits in aller Form von ihrem Manne geschieden. –

Der Winter war vergangen, der Frühlingstraum ausgeträumt, der Juni zog mit seinem glänzenden Gefolge von Blüthen und Schmetterlingen über die Erde. Die Rosen blühten auf im düstern Garten des grauen Hauses in der Winkelstraße in L. und füllten Eugen’s Herz mit Sehnsucht nach ihr und trieben ihn auf den Weg nach Paris – trotz des scheinbaren Sieges der Schwester, trotz der auf ihre unablässigen Bitten und Mahnungen endlich eingeleiteten Scheidung.

Am nächsten Morgen, so hatte er ihr gelobt, sollte die Scheidungsklage eingereicht werden. Eugen hatte eingesehen, daß Jeanneton ihn böslich verlassen; daß er eine Mesalliance eingegangen; daß Jeanneton nicht leben konnte in der Atmosphäre, in der die Frauen seines Hauses sich wohl gefühlt; daß sie ihn vergessen; daß sie nur von ihm gegangen, um ihr lustiges Leben weiter zu führen, dem er sie entrissen, und daß er, wenn es ihm gelungen, sie gewaltsam zu halten, nur elend, unsagbar elend geworden wäre. Isidore hatte Recht, das unselige Band mußte zu seinem und ihrem Frieden gelöst werden, er wollte die Klage einreichen.

Aber am Abend ging er noch einmal hinab in den Garten und genau jene Wege, die er damals mit Jeanneton gewandelt, als Isidore den kleinen Vogel entfliehen ließ. Und die Rosen blühten und er tauchte sein Gesicht in die duftenden Kelche, und in der Nacht darauf war er abgereist. „Zürne nicht, Isidore, ich kann nicht anders! Es ist Wahnsinn, ich weiß es, aber ich kann nicht von ihr lassen. Sie ruft mich, und da ist nichts in der Welt, was mich zurückhalten könnte; auch Du nicht. Als ich heut’ Abend an den Rosenbüschen vorbeistreifte, da hörte ich deutlich ihre Stimme, die zu mir sagte: ,Komm!‘ O, Du kannst es nicht fassen, daß kein Mann widerstände, dem Jeanneton sagte: ,Komm!‘ Ich weiß nicht, was die nächste Zukunft bringen wird, ob ich wiederkehre, ich weiß nur, daß sie es ist, die meine Seele in den Händen hat!“ –

Der kleine Wagen hielt vor dem wohlbekannten Hause der Rue Faubourg Poissonnière. Die Sonne neigte sich zum Untergange. Eugen sprang über den Schlag heraus. Eine zitternde Ungeduld trieb ihn die Treppenstufen hinauf. Wie einen Strom, der alle Gedanken mit fortriß, fühlte er die Liebe zu seiner Kleinen sein ganzes Wesen durchwallen. Er wollte sie auf den Händen tragen fortan, die Süße, die Langentbehrte. Niemand sollte ihr ferner ein Leid anthun. Er wollte mit ihr in Paris leben, sie sollte seine fremde, angebetete Blume sein. Hochaufathmend blieb er endlich vor ihrer Thür stehen und mit zitterndem Finger zog er die Schelle. Eine alte Frau trat ihm entgegen und sah ihn mit blöden Augen an. Wie Eis fühlte er es plötzlich auf seiner Brust. „Wo ist Jeanneton, wo ist meine Frau?“ stammelte er.

„Sind Sie es, der Mann der Kleinen? Nun, es ist gut, daß Sie da sind. Sie hat vorhergesagt, daß Sie kommen. Vielleicht macht es sie gesund! Aber seien Sie leise mit ihr!“

Er hörte kaum die Hälfte der Worte – er stand im Zimmer. Die weißen Muslinvorhänge waren zurückgeschlagen, der Goldschein der scheidenden Sonne füllte den kleinen Raum. Aber er war anders eingerichtet, als damals. Ein Himmelbett stand drüben an der Wand und daneben etwas Rosenrothes, Blumenbekränztes. Großer Gott, war es eine Wiege? Er warf aber keinen Blick hinein auf das leise athmende, sanft schlummernde Etwas, das darin lag; er trat mit stockendem Athem an das Bett. Da sah er sie, die Kleine, da ruhte der blasse, reizende Kopf auf den Kissen still und müde, aber groß und glückselig schauten die Augen zu ihm auf, so glückselig, so geheimnißvoll, so strahlend, wie nie zuvor.

„Eugen, ich wußte, daß Du kommen würdest, wir sind unzertrennlich für Zeit und Ewigkeit – da ist das Kind! Und es soll – Isidore heißen. Hörst Du?“

Es war ein qualvoll entzückender Augenblick, als er vor ihrem Bette auf die Knie sank und das schlafende Kind in ihre Arme legte und immer und immer wieder ihre wachsbleichen Hände küßte und wie in alter Zeit tausend und abertausend thörichte Zärtlichkeiten in ihr Ohr flüsterte. „Du sollst jetzt nicht mehr mich bewundern, nur das Kind! Gott segne Euch!“

Arme Jeanneton, es war der letzte Sonnenstrahl für dich! Drei Tage später war sie eingeschlafen in seinen Armen, ahnungslos und lächelnd wie ein Kind. Draußen blühten die Rosen und die kleine Isidore lächelte im Schlaf.


Das Töchterchen Jeanneton’s wurde der angebetete Liebling der ganzen Familie ihres Vaters und das Sonnenlicht für sein Herz. Jeder, der sie sah, war von ihr entzückt, und sie gehörte zu jenen seltenen Wesen, denen das „Verzogenwerden“ in keiner Weise schadet. Dank ihrer Tante, die mit abgöttischer Zärtlichkeit an ihr hing, lernte sie Waschlisten schreiben, das Ausgabebuch führen und mit der Köchin den Speisezettel berathen. Ihre Stimme war von dem süßesten Klang und ihr Musiklehrer stolz auf den Erfolg, mit dem sie besonders Lieder sang. Aber allabendlich, in dem Zimmer ihres Vaters, Niemand durfte dabei sein, da sang die Kleine jene drei französischen Chansons, die er sie gelehrt: „Die braune Therese“, „Hans, der nicht lügt“ und „Ach, wüßtest Du, wie ich Dich liebe“. Wenn sie ihn dabei mit den Augen der todten Mutter anblickte und mit hinreißender Grazie das Köpfchen dazu neigte, als ob sie’s ihr abgelauscht, da geschah, was eben sonst Niemand sah: der ernste Mann mit den melancholischen Augen lächelte.




Erinnerungen an meinen Bruder Heinrich Heine.
Von Maximilian Heine.
I.


In einer aufgeregten Stunde gab ich dem theuren Bruder Heinrich das Versprechen, und er meinte, der jüngere dürfe dieses dem älteren Bruder nach den Naturgesetzen schon zusagen, sein künftiger Biograph zu werden. Es war vorauszusehen, daß nach des Dichters Ableben eine Fluth biographischer Schriften über ihn erscheinen würde; dictirt von der innigsten Liebe und heitersten Verehrung, oder von dem blassesten Neide und persönlichsten Hasse. Die Einen versetzten ihn in einen Himmel, welchen wir mit den schärfsten Teleskopen nicht erreichen können, die Anderen in eine Hölle, deren Gluth, Gott Lob, weder dem Verstorbenen, noch seinen Feinden schaden wird.

Das muß sich jeder große, geniale, den wichtigsten Zeitfragen sich rücksichtslos hingebende Schriftsteller gefallen lassen, zumal wenn er bei Lebzeiten die Peitsche der Satyre, den Morgenstern des Witzes und die Herkuleskeule der Verachtung alles Geistlosen und Niedrigen so glorreich wie unbarmherzig geschwungen hat.

Kaum ist ein Jahrzehnt dahin, daß sein Grab geschlossen wurde, noch stehen sich die Meinungen auf dem politischen, religiösen [74] und socialen Felde zu schroff entgegen, noch ist in der Literaturgeschichte nicht die unentbehrlichste, objective Ruhe eingetreten, als daß ich jetzt schon, zumal wo es einen nur so nahe stehenden Verwandten betrifft, ein ganzes biographisches Lebensbild des Dichters und Menschen zeichnen könnte.

Die Erörterung, was Heinrich Heine seinen Zeitgenossen und den folgenden Generationen Nützliches und Unvergängliches geleistet, muß späteren Decennien vorbehalten bleiben. Wohl aber kann ich heute schon einen Theil meines dem geliebten Bruder gegebenen Versprechens lösen, indem ich die folgenden kleinen Bilder aus dem Leben des Dichters mittheile, welche der künftige Biograph in den Rahmen seiner literarhistorischen Arbeit einflechten kann und die manchen der Irrthümer, viele Verwechselungen und falsche Angaben berichtigen werden, die sich in die gegenwärtigen Biographien Heinrich Heine’s absichtlich und unabsichtlich eingeschlichen haben. Ist doch namentlich das Privatleben des Dichters auf das Niedrigste verleumdet worden. Die guten Freunde werden in diesen meinen Aufzeichnungen mit aufrichtiger Theilnahme wahrnehmen, wie der Knabe, der Jüngling sich oft geberdet hat, ehe er der große Liebling des deutschen Volkes geworden. Mögen diese kleinen Lebenszüge, die ich ohne alle systematische Ordnung gebe, wie sie mir gerade vor die Erinnerung treten, zur wahren Kenntniß des Menschen, zur Aufklärung manches socialen Verhältnisses und, ich will auch dies hoffen, zur Sühne des beleidigten Genius ihr Scherflein beitragen.

Später sollen die Briefe Heinrich Heine’s an seine Geschwister, gleichfalls kleine Bilder zur Kenntniß des Dichters, und die eigenen Aufzeichnungen meines Lebens folgen.
M. H.


Als Heinrich Heine das Gymnasium in Düsseldorf besuchte, war er am Schlusse des Schuljahres einer von den Schülern, die bestimmt waren, bei dem öffentlichen Schulactus ein Gedicht vorzutragen.

In jener Zeit schwärmte der junge Gymnasiast für die Tochter des Oberappellationspräsidenten von A …. Diese war ein wunderschönes, schlankes Mädchen mit langen, blonden Locken. Ich bin überzeugt, daß manches seiner ersten Gedichte an diese reizende, fast ideale Erscheinung gerichtet war. Der Saal, in welchem der Schulactus stattfand, war Kopf an Kopf gefüllt. Ganz vorn, auf prachtvollen Lehnstühlen, saßen die Schulinspectoren. In der Mitte zwischen denselben stand ein leerer goldener Sessel.

Der Oberappellationspräsident kam mit seiner Tochter sehr spät, und es blieb nichts Anderes übrig, als dem schönen Fräulein auf dem leerstehenden, goldenen Sessel, zwischen den ehrbaren Schulinspectoren, den Platz anzuweisen. Heinrich Heine war gerade in der Declamation des „Tauchers“ von Schiller in vortrefflichem Schwunge bis zur Stelle gelangt, wo es heißt:

„Und der König der lieblichen Tochter winkt,“

da wollte es sein Mißgeschick, daß sein Auge gerade auf den goldenen Sessel fiel, wo das von ihm angebetete schöne Mädchen saß. Heinrich stockte. Dreimal wiederholte er die Stelle: „Und der König der lieblichen Tochter winkt“, aber er kam nicht weiter. Der Classenlehrer soufflirte und soufflirte; Heine hörte nichts mehr. Mit großen, offenen Augen schaute er, wie auf eine plötzlich erschienene überirdische Gestalt, auf den goldenen Sessel hin und sank dann ohnmächtig nieder. Keiner im Saale ahnte die Ursache. „Das muß die große Hitze im Saale gethan haben,“ sagte der Schulinspector zu meinen herbeieilenden Eltern und ließ alle Fenster öffnen.

Nach vielen Jahren hat er mir den Zusammenhang dieser Jugendbegebenheit erzählt, indem er sich oft mit dem Ausrufe unterbrach: „Wie war ich damals unschuldig!“


Unsere Mutter, die überhaupt für eine ziemlich strenge Erziehung war, hatte von unserer ersten Jugend an uns daran gewöhnt, wenn wir irgendwo zu Gast waren, nicht Alles, was auf unseren Tellern lag, aufzuessen. Das, was übrig bleiben mußte, wurde der „Respect“ genannt. Auch erlaubte sie nie, wenn wir zum Kaffee eingeladen waren, in den Zucker so einzugreifen, daß nicht wenigstens ein ansehnliches Stück zurückbleiben mußte.

Einstmals hatten wir, meine Mutter und ihre sämmtlichen Kinder, an einem schönen Sommertage außerhalb der Stadt Kaffee getrunken. Als wir den Garten verließen, sah ich, daß ein großes Stück Zucker in der Dose zurückgeblieben war. Ich war ein Knabe von sieben Jahren, glaubte mich unbemerkt und nahm hastig das Stück Zucker aus der Dose. Mein Bruder Heinrich hatte das bemerkt, lief erschrocken zur Mutter und sagte ganz eiligst: „Mama, denke Dir, Max hat den Respect aufgegessen!“

Ich habe dafür eine Ohrfeige bekommen, vor der ich mein ganzes Leben Respect behalten habe.


Von meiner frühesten Jugend an liebte ich die deutschen Dramatiker; viel mag zu dieser Neigung beigetragen haben, daß ich, fast Kind noch, sehr oft in das Theater mitgenommen wurde. Es war dies die Zeit, wo die Ritterspiele auf der Bühne im vollen Flor standen. „Johann von Montfaucon“, „die Kreuzfahrer“ etc. waren des Knaben Lieblingslectüre. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Mein Bruder Heinrich bemerkte ungern diese meine Lectüre.

„Max,“ sagte er eines Tages zu mir, „solche Bücher verderben den Geschmack, ich werde Dir ein anderes Buch schenken, damit magst Du Dich in Deinen Freistunden beschäftigen. Es ist auch ein Theaterstück.“ Bei diesen Worten nahm er von seinem Tisch ein kleines, in schwarze Pappe eingebundenes Büchlein und sagte: „Dies schenke ich Dir.“ Ich schlug des Büchleins Decke auf und las zum erstenmal den Titel: „Faust, von Goethe. Der Tragödie erster Theil“.

Ich blickte in die ersten Blätter hinein, die den wunderschönen Prolog enthalten, dann, nach echter Knabenart, schlug ich die letzte Seite auf, wo die Worte:. „Heinrich her zu mir,“ – „Sie ist gerettet,“ mir so räthselhaft klang. Ich sah meinen Bruder ganz erstarrt an, als wie Einer, der da sagen wollte: „Die Komödie begreife ich nicht.“ Er nahm darauf das Buch in die Hand, griff rasch zur Feder und schrieb Folgendes auf die innere Seite des Deckels:

„Dies Buch sei Dir empfohlen,
Lies nur, wenn Du auch irrst:
Doch, wenn Du es verstehen wirst,
Dann wird Dich auch der Teufel holen.“

Viele Jahrzehnte waren darüber hingegangen, als wir bei meiner Anwesenheit in Paris, einige Jahre vor dem Tode des Dichters, auf Goethe’s „Faust“, zweiten Theil, zufällig zu sprechen kamen. „Ich habe nie vergessen, Heinrich,“ sagte ich, „was Du mir einst in dem ersten Theile des „Faust“ zur Erinnerung eingeschrieben hattest, und citirte obige Verse.

„Nun, Max, was antwortest Du mir jetzt?“

Ich nahm ein Stück Papier und schrieb mit Bleifeder Folgendes

„Lieber Bruder, hab’s verstanden,
Leider! wie Du’s selbst gedacht,
Doch den Goethe nicht begriffen,
Der den zweiten Theil gemacht.“

Mein Bruder lächelte, drückte mir die Hand und sagte: „Dieses Blättchen soll zu meinem Nachlaß gehören.“

Der von Heinrich mir geschenkte „Faust“ ist mir auf eine unbegreifliche Weise schon längst abhanden gekommen. Die Verse mit seiner vollen Namensunterschrift, Ort, Datum und Jahreszahl waren kalligraphisch schön geschrieben. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß vielleicht nach einem Jahrhundert dies Büchlein auf irgend einer Auction seltener Autografen erscheinen mag und ein origineller Engländer dafür eine gute Summe von Pfunden Sterling bieten wird. Ich protestire jedoch hiermit feierlichst gegen den Verkauf dieses mir unehrlicher Weise abhanden gekommenen Buches, wenn nicht die Hälfte der dafür gebotenen Summe für dieses mein Eigenthum meinen derzeitigen Erben, mögen sie Heine oder Arendt-Heine heißen, auf das Gewissenhafteste ausgezahlt wird.


Es war die Absicht unserer Mutter, daß wir sämmtliche Geschwister recht musikalisch gebildet würden. Heinrich sollte Violine spielen lernen. Ein Lehrer wurde angenommen, die Musikstunden wurden bestimmt, die auf einem oberen Stübchen eines in dem Garten gelegenen Flügels unseres Hauses in Düsseldorf stattfinden sollten. Meine Mutter kümmerte sich um nichts weiter, als daß der Lehrer allmonatlich richtig bezahlt wurde. Heinrich that, nämlich in Worten, als ob er ganz für die Violine lebte.

So war ein Jahr hingeflossen, als einstmals um die Zeit der Musikstunde meine Mutter im Garten spazieren ging. Zu ihrer größten Befriedigung hörte sie ein gutes und fertiges Violinspiel. Sie freute sich schon in der Seele über die Fortschritte ihres [75] Erstgeborenen und eilte die Flügeltreppe hinauf, um dem gewissenhaften Lehrer recht sehr zu danken. Als sie die Thür öffnete, sah sie zu ihrem großen Erstaunen, wie Heinrich der Länge nach auf einem Divan lag und der Lehrer vor ihm auf und ab ging und ihn mit seinem Violinspiel unterhielt. Die Sache klärte sich damit auf, daß auf diese Weise die Musikstunden gegeben worden waren und mein Bruder nicht die Tonleiter rein zu spielen vermochte. Der Lehrer wurde verabschiedet, und bei dem ausgesprochenen Widerwillen Heinrich’s gegen die Violine hatte ein für alle Mal der Musikunterricht sein Ende. –

Bei dieser Gelegenheit will ich auch erzählen, wie der Tanzunterricht sein Ende nahm, gegen den Heinrich einen noch größeren Widerwillen hatte. Der Tanzlehrer, klein, dünn, schmächtig, aber grob, quälte den Knaben immerfort mit Battements, so daß er alle Geduld verlor und Grobheit gegen Grobheit austauschte. Ein vollständiger Conflict begann, und der auf’s Höchste gereizte Knabe warf den leichten Tanzlehrer aus dem Fenster. Glücklicher Weise fiel er auf einen Misthaufen und wurde von meinen Eltern mit einer Geldsumme entschädigt. Heinrich hat nie im Leben wieder getanzt.


Ich erinnere mich noch, als ob es heute geschehen wäre, der Ueberraschung unserer Eltern beim Empfange der ersten Gedichte meines Bruders. Durch die Post kam das sauber gedruckte, grün eingebundene Bändchen mit dem Titelblatte: Gedichte von H. Heine, gedruckt im Jahre 1822. Verlag der Maurer’schen Buchhandlung in Berlin.

Wohl hegte man im elterlichen Hause seit mehreren Jahren den Verdacht, daß Heinrich poetischen Unfug, wie ein lieber Verwandter sich auszudrücken pflegte, treibe. Aber, daß er die Keckheit hätte mit einem ganzen Bande Gedichte, mit voller Namensunterschrift vor die Welt zu treten, das erregte beinahe Bestürzung.

Die so günstigen, öffentlichen Recensionen, das gute Urtheil zuverlässiger, geistig begabter Freunde der Familie, milderten allmählich den Eindruck des Schreckens. Mit wachsendem Wohlgefallen hielt der Vater das Büchlein in den Händen, die Mutter gönnte ihm unbelauscht einen freundlichen Blick, und, was mich betrifft, so imponirte mir gewaltig unser gedruckter Name. Von nun an folgte der Vater dem beginnenden Rufe des Sohnes und forschte nach den öffentlichen Urtheilen.

Goethe stand damals in höchster Blüthe, sein vergötterter Name schien Alles zu verschlingen, was nur in der deutschen Literatur auftauchen wollte. Die Literaturgeschichte weiß von den sogenannten Goethekoraxen damaligen Zeit viel zu erzählen, die Alles verneinten, was nicht von dem hohen Meister hervorgegangen. Man sprach und schrieb nur über Goethe, und dies ewige Geträtsch, diese fast kindische Abgötterei mit dem Namen Goethe, der Anfang und Ende aller Literaturblätter und Journale bildete, machte unter diesen Umständen, nach den Ansichten des Vaters, die Concurrenz seines Sohnes Heinrich mit dem großen Goethe doch bedenklich.

„Wie soll mein Junge aufkommen?“ sagte mein Vater oft, „wenn man immer und immer nur von Goethe sprechen will?“

Dieser Umstand machte dem guten Vater die größten Widerwärtigkeiten; er hatte sich zuletzt, ohne daß er es wußte, in einen wahren Haß gegen Goethe hineingelebt. Nun wollte es noch der böse Zufall, daß unser ganzes Haus selbst für Goethe schwärmte, all’ überall ein Band von Goethe’s Gedichten zu finden war. So oft nun der Vater unwillkürlich einen dieser Bände öffnete und ihm der verhaßte Titel: „Gedichte von Goethe“ in die Augen fiel, verfinsterte sich sein sonst so heiteres, freundliches Antlitz. Wir aber konnten nicht ohne Goethe sein. Die Mutter erfreute sich an den Elegien, Heinrich las immer wieder die kleinen reizenden Gedichte, und ich lernte die „Braut von Korinth“ und den „Gott und die Bayadere“ auswendig.

Da verfiel mein Bruder auf einen absonderlichen Gedanken, um dem Kummer des Vaters ein Ende zu machen. Plötzlich waren die so elegant eingebundenen Bände der „Gedichte Goethe’s“ von ihren respectiven Plätzen verschwunden, und an ihrer Stelle lagen ganz armselig eingebundene Bücher, deren Titel lautete: „Gedichte von Schulze“. Heinrich hatte die Bücher umbinden, den Namen Goethe sanft auskratzen, und die Stelle mit „Schulze“ überkleben lassen. Als der Vater zufällig einen Band dieser Bücher öffnete und „Gedichte von Schulze“ las, legte er ganz heiter zufrieden den Band bei Seite und dachte bei sich: „weder dieser Schulze, noch ein Müller, noch ein Meier, werden dem Namen meines Sohnes hinderlich sein.“ Die Mutter aber, die sofort den Witz bemerkt hatte, nahm einst in Abwesenheit des Vaters einen Band, schlug den Titel auf, und sagte, indem sie den Finger auf die Stelle legte, wo „Goethe“ verschwunden und „Schulze“ hineinescamotirt war: „Mein lieber Sohn, möchtest Du einst nur halb so berühmt werden, wie ,Schulze‘, der Verfasser dieser Gedichte.“


Mein Bruder Heinrich war mehrmals gegenwärtig, wenn ich, als Primaner des Gymnasiums, meine prosodischen Arbeiten anfertigte. Ich hatte damals eine große Vorliebe für das classische Metrum und durch vieles Uebersetzen und tägliche Uebung eine außerordentliche Leichtigkeit in Anfertigung von deutschen Distichen erlangt. Obgleich Heinrich die Alten besonders hochschätzte und bereits damals durch seine Gedichte einen großen Namen als Poet erworben hatte, so hatte er sich doch im deutschen Hexameter bisher nie versucht. Wir sprachen viel über diesen Gegenstand. Ich citirte Goethe’s herrliche Elegien und forderte meinen Bruder auf, auch einmal in diesem Versmaße einen Gegenstand poetisch zu bearbeiten. Ich wiederholte mehrmals Goethe’s reizenden Vers, wo er auf den Nacken der Geliebten „mit fühlendem Auge und sehender Hand“ des Hexameters Maß scandirt hat.

Endlich ging Heinrich an die Arbeit, und als ich an einem der nächsten Vormittage in sein Zimmer trat, kam er mir mit einem Blatt entgegen, freudig ausrufend: „Siehst Du, auch ich bin unter die Hexameter gegangen.“ Er recitirte mir einige Zeilen eines Gedichtes: „Trost für Dito“, wobei ich aber schon beim dritten Hexameter (keine kleine Satisfaction für einen Primaner) dem bereits berühmten Dichter in die Rede fiel: „Um Gotteswillen, lieber Bruder, dieser Hexameter hat ja nur fünf Füße.“ Und nun scandirte ich ihm mit wichtigster Schulweisheit den Vers vor. Als er sich vom Fehler überzeugt hatte, zerriß er leider das Papier mit den Worten: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“

Ein paar Tage nach dieser Begebenheit, wovon übrigens nicht mehr gesprochen worden war, stand eines Morgens früh, als ich eben aufwachte, Heinrich vor meinem Bette. „Ach, lieber Max,“ begann er mit kläglicher Miene, „was für eine schauerliche Nacht hab’ ich gehabt.“ Ich erschrak. „Denke Dir, gleich nach Mitternacht, eben als ich eingeschlafen war, drückte es mich wie ein Alp; der unglückliche Hexameter mit fünf Füßen kam an mein Bett gehinkt und forderte von mir unter den fürchterlichsten Jammertönen und selbst schrecklichsten Drohungen seinen sechsten Fuß. Ja, Shylock konnte nicht hartnäckiger auf sein Pfund Fleisch bestehen, als dieser impertinente Hexameter auf seinen fehlenden Fuß. Er berief sich auf sein urclassisches Recht und verließ mich mit schrecklichen Gebehrden nur mit der Bedingung: daß ich nie wieder im Leben mich an einem Hexameter vergreifen wolle.“

Heinrich hat Wort gehalten, denn außer einigen zahmen Xenien, in Gemeinschaft mit Carl Immermann verfaßt, hat er nie wieder in diesem Versmaße gedichtet.


Als Heine in Bonn studirte, trug er gewöhnlich einen Studentenrock von schwarzem Sammet. Da der Rock ziemlich abgetragen war, so bestellte er bei seinem Schneider einen neuen Rock vom schönsten blauen Sammet und versprach seinem täglich kommenden Barbier seinen alten, welcher beständig im Vorzimmer an einem Nagel hing. Der Schneider brachte zur bestimmten Zeit den neuen schönen Rock und hing denselben an dem Nagel im Vorzimmer auf, von dem zufällig der alte Rock weggenommen war. Als Heine bald darauf rasirt wurde, sagte er dem weggehenden Barbier: „Heute können Sie den Rock draußen mitnehmen.“

Der Barbier dankte auf’s Verbindlichste, empfahl sich und nahm aus dem Vorzimmer den schönen neuen Rock mit.

Heine kleidete sich nun an, um in seinem schönen neuen Sammetrocke spazieren zu gehen, wozu ihn ein eintretender Freund einlud. Wie erschrak er, als sein neuer Rock weg war; er sagte aber nichts weiter als: „Hat der Barbier Glück!“ und zog den alten an.

Späterhin in seinem Leben, so oft von einem Menschen die Rede war, der sehr viel Glück hatte, sagte er nichts weiter, als: „Hat das Barbierchen Glück!“ und erzählte dann ganz gemüthlich, wie er seinen alten Sammetrock und sein Barbier den neuen behalten hat.



[76]
Ein Denkmal deutscher Eintracht in der Fremde.


Die Millionen von Deutschlands Söhnen und Töchtern, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Heimath gefunden, haben den germanischen Sitten und Bräuchen schon sehr weite Kreise gewonnen; unsere Volksfeste in ihrer biederen deutschen Gemüthlichkeit machen ungeheuere Propaganda und gleich Pionieren lichten sie täglich mehr die Urwälder amerikanischer Vorurtheile. Schon nimmt die deutsche Presse Amerikas eine imponirende Stellung ein, schon lächeln die Musen mit Wohlgefallen auf ihre deutschen Jünger in den Gauen Amerikas und in den bildenden Künsten sucht der edlere Geschmack nach deutschen Vorbildern; dennoch war es den Deutschen auf amerikanischem Boden noch nicht gelungen, für großartige, gemeinsame deutsche Unternehmungen eine Stätte zu finden. Noch vor einem Jahre konnten wir nicht auf deutsche Universitäten, deutsche Hospitäler, deutsche Kunsthallen in Amerika hinweisen. Da, mitten im Bürgerkriege bricht das

Aeußere Ansicht des Concordia-Hauses in Baltimore.

Eis, und Baltimore in Maryland hat die Ehre und die Mitglieder der dort bestehenden deutschen Gesellschaft Concordia haben das Verdienst, der deutschen Kunst den ersten Tempel gebaut zu haben. Einige Hunderte von Deutschen reichen sich die Hände, Männer aus allen Ständen, arm und reich, jung und alt, Frauen und Mädchen eilen herbei, um ihre Gaben auf dem Altar deutscher Bildung und Gemüthlichkeit niederzulegen. Und jetzt steht es vollendet das neue Concordiahaus, ein wahrer Prachtbau, errichtet von deutschen Arbeitern, verziert von deutschen Künstlern, besungen von deutschen Dichtern, ein Denkmal deutschen Sinnes und deutscher Einigkeit.

Imposant sind die Umrisse des Baus, schön ist seine Außenseite, doch die Großartigkeit ihrer äußeren Erscheinung ist noch übertroffen von der Zweckmäßigkeit und Pracht des Innern. In diesem Sinne ist das Souterrain für die Kegelbahnen, die Dampfheizungsapparate, die Kohlen- und Speisebehälter, die Wein- und Bierkeller und für die Wohnzimmer der Aufseher und Diener verwendet. Die untere Etage enthält in zweckmäßiger Vertheilung die eigentlichen Clubräume: in der Mitte einen fünfzehn Fuß breiten Corridor durch die ganze Tiefe des Gebäudes, rechts den großen Speisesaal, die Restauration und das Buffet, links das Lesezimmer, die Bibliothek, den Conversationssaal und das Spiel- und Billardzimmer. Oelgemälde an den Wänden, Teppiche oder eingelegte Fußböden und reiche Gasbeleuchtung zieren jedes Gemach. Ausgezeichnete Ventilation, Luftheizung, elegante Wasserleitungen sorgen für die Gesundheit, Armstühle und Sophas und andere Einrichtungsstücke von massivem Nußbaum nach dem neuesten Geschmacke für die Bequemlichkeit, während kostbare Spiegel und reiche Silber- und Porcellanservice den Wohlstand des Vereins anzeigen, ohne den Charakter übermüthigen Luxus zur Schau zu tragen. Für Alles ist gesorgt, wonach sich der Geschäftsmann sehnt, wenn er sich von der Last des Tages erholen will, ehe er sich in seinen Familienkreis zurückzieht. Auf einem Mosaikboden betritt man die Vorhalle; Fresken fesseln das Auge an den Wänden des Stiegenhauses, in dessen Mitte die massive eiserne Treppe emporsteigt. Weiche Matten dämpfen den Schall der Schritte in dem oberen Vestibul von wo aus der hohe, breite Haupteingang dem staunenden Auge die Dimensionen der Kunst-Halle vorführt, eines Theatersaals, in welchem mehr als zweitausend Personen auf den eleganten Stühlen und Sophas Platz finden.

Die Decke dieses Saals in ihren Arabesken, Schnitzarbeiten und anderen Verzierungen übertrifft Alles, was Amerika in seinen schönsten Bauten aufzuweisen hat. Vierzehn Brustbilder von Holz in Hautrelief, Koryphäen der verschiedenen Kunstzweige: Mozart, Haydn, Meyerbeer, Lachner, Lessing, Molière, Händel, Geoffrey Chaucer, Beethoven, Albrecht Dürer, Milton, Tasso, Hans Sachs und Peter Vischer[1] darstellend, bedecken in reizender Abwechselung mit geschmackvollem, symbolischem Schnitzwerk ringsherum die Façade der Galerie. An den Seitenwänden stellt gediegene Freskomalerei die lebensgroßen Statuen von Goethe, Schiller, Michael Angelo und Shakespeare in Nischen dar. In der Mitte der Halle schwebt ein prachtvoller Kronleuchter mit sechszig Gasflammen und rings um das Parterre und die Galerie in doppelter Reihe hängen zwanzig kleinere Candelaber, jeder mit sechs Flammen, so daß die volle Beleuchtung des Saales und der Bühne über dreihundert Gasflammen zählt. Die Bühne selbst kann zwar in Ausdehnung nicht mit den größeren Bühnen Deutschlands verglichen werden, doch übertrifft sie darin alle Bühnen Baltimores, und was den Geschmack der Decorationen und die Zweckmäßigkeit der Maschinerien betrifft, steht sie bei Weitem über dem Range eines Privattheaters.

Am 7. September 1864 wurde der Grundstein gelegt zu diesem schönen Bau und am 10. September 1865 begannen die Einweihungsfestlichkeiten, welche in sinnreicher Folgenreihe während einer ganzen Woche Genüsse der gediegensten Art boten und, da sie in ihrer Würde und echt deutschen Auffassung die volle Tragweite des Unternehmens bekunden, eine Schilderung in der Gartenlaube verdienen.

Der erste Abend war ausschließlich den Mitgliedern des Vereins gewidmet, damit sie, die Schöpfer, ungestört in traulicher Weise sich ihres schönen Werkes freuen sollten. Viele von diesen sahen jetzt zum ersten Male ihr eigenes Meisterstück in seiner Vollendung, und freudeglühend strömten die Festgenossen in den herrlich geschmückten Saal. Herzliches Händedrücken der Männer, freundliches Nicken der Damen verriethen das Vergnügen über den herrlichen Erfolg ihres Strebens. Ein vortreffliches deutsches Orchester, geleitet von dem deutschen Tonkünstler Professor Rose, eröffnete das Fest; deutsche Lieder, vorgetragen von den musikalischen Kräften des Vereins und dirigirt von dem tüchtigen deutschen Componisten Professor Lenschow, folgten in vorzüglicher Ausführung. In der Zwischenzeit hatte sieh das Damencomité des Vereins in reizender Gruppe um eine gigantische schwarz-roth-goldene Fahne auf der Bühne versammelt, die von ihnen dem Vereine als Ehrengabe überreicht werden sollte. Der Präsident Herr G. W. Nödel begab sich mit den Directoren und Beamten der Gesellschaft zu diesem Zwecke auch auf die Bühne und als die Musik verstummte, trat Frau Bissing, die Vorsteherin des Damen-Ausschusses, vor den Präsidenten mit einer

[77]

Die Kunsthalle der Concordia in Baltimore.
Nach der Natur aufgenommen von Ludwig Enke in Baltimore.

[78] eben so gut vorgetragenen wie sinnreichen Anrede, aus der wir die folgenden Worte wiederholen:

„Herr Präsident! Ich übergebe Ihnen hiermit im Namen der Concordia diese schwarz-roth-goldene Fahne, an welcher wir mit ebensoviel Eifer wie Liebe zu unserm herrlichen Vereine gearbeitet haben. Es ist das schönste Erinnerungszeichen an unsere alte Heimath, an unser liebes, schönes Deutschland, auf dessen ruhmvolle Vergangenheit eine ebenso ruhmvolle Zukunft folgen möge. Neben dem Sternenbanner, dem Symbol der errungenen und bewahrten Freiheit, giebt es keine schönere Fahne, als die schwarz-roth-goldene. Ihre Farben hat kein Zufall, keine Laune eines Fürsten, kein erfindungsreicher Wappenherold, sondern der tiefe, ewig schöpferische deutsche Geist aneinandergereiht, und schön und erhebend ist ihre Bedeutung: durch Nacht und Blut zum Morgenlicht der Einheit und Freiheit. So prange denn, herrliche Fahne, in den Hallen unseres neuen Gebäudes, als eine seiner sinnigsten Zierden, hoch geschätzt von den Mitgliedern der Concordia und ehrfurchtsvoll begrüßt von ihren Gästen.“

Sie schloß mit einem hübschen, für die Gelegenheit verfaßten Gedichte und überreichte die Fahne, die dann von Herrn Nödel im Namen des Vereins entgegengenommen wurde. Nach einer kurzen, sehr passenden und sinnreichen Danksagung an die Damen, wendete sich Herr Nödel an die Gesellschaft. Zuerst der Verdienste gedenkend, die sich die Mitglieder und namentlich die Beamten durch unendliche Opferbereitwilligkeit und Ausdauer bei dem schönen Unternehmen erworben hatten, sprach er die folgenden Worte:

„Als wir vor einem Jahre den Grundstein legten, sagte ich: ,Der deutschen Kunst wollen wir einen Tempel bauen!‘ Wollen wir dieser Worte eingedenk sein! Möge die deutsche Kunst hier eine Heimstätte finden, wo sie mit regem Sinn gepflegt wird! Was wir, Dank den bisherigen Bemühungen und im Einverständnisse mit der Aufgabe der Concordia, bereits leisten können, das wird Ihnen morgen Abend unser Concert, übermorgen unsere erste Theatervorstellung zeigen. Ich möchte mit diesen Worten die Mahnung verbinden, daß der jedesmalige Präsident der Concordia ein Protector der Kunst sein möge, damit nicht prosaische Gewinnsucht unsere schönen Zwecke in den Hintergrund dränge. Ebenfalls sagte ich an dem denkwürdigen Tage: ,Der deutschen Energie ein Denkmal‘. Wenn wir Deutsche bisher etwas anfingen, wurde es gemeiniglich von vornherein belächelt und bespöttelt. Wohl Mancher mag heute Abend hier sein, der mit Achselzucken die Kunde von unserm Vorhaben entgegennahm. Freilich waren es sechszig nicht sehr bemittelte Männer, aber in redlicher Durchführung eines so schönen Unternehmens waren sie unermüdlich, sie, die nimmer wichen und fest zu mir und zusammen standen. Sie hielten das Ziel unverwandt im Auge, und heute sind wir im Stande, die Eröffnung der Halle anzeigen zu können. Und dieses Denkmal ist nicht allein gebaut für uns in Baltimore. Es ist errichtet worden zu Ehren aller Deutschen in Amerika. Könnte ich doch auch meinem alten Vaterlande heute die Worte zurufen: ,Einigkeit macht stark‘. Möchten meine Worte wiederhallen in den Gauen Deutschlands, daß der Einigkeit auch die Freiheit auf dem Fuße folgt. Sodann sagte ich vorm Jahre: ,Der deutschen Gemüthlichkeit eine Stätte‘. Wenn nach des Tages Last und Mühen der Vater sich eine Erholung suchen will, dann findet er hier Alles, was er nur zur Geistes- und Körperstärkung wünschen mag. Und wie der Deutsche in Bezug auf Kunst, und besonders in der Musik, der Pionier auf amerikanischem Boden war, so soll nun auch die Gesellschaft Concordia darthun, was wir im geselligen, gemüthlichen Leben, ohne unser großes Ziel aus dem Auge zu lassen, zu leisten im Stande sind. Wir müssen unseren amerikanischen Mitbürgern nicht als deutsche ,Knownothings‘ uns gegenüberstellen. Wir müssen sie in unsere Mitte laden, sie zu uns heranziehen, damit sie den Inbegriff deutschen Lebens in unserer eigenen Mitte kennen lernen.“

Nicht weniger als drei Festgedichte von verschiedenen deutschen Dichtern Amerikas verherrlichten die Weihe des Tages in gelungenen Versen. Einige Männerchöre und Orchesteraufführungen schlossen den ersten Festtag, denen sich Jeder mit Vergnügen erinnern wird, welcher der Feier beiwohnte.

Am nächsten Abende fand die musikalische Weihe statt, welche in einem meisterhaften Concerte die akustische Vollendung der Halle über allen Zweifel erhob. Der dritte Abend war der Bühnenweihe gewidmet; für diesen Zweck wurde „Narciß“ von Brachvogel aufgeführt. Tüchtige Kräfte, wunderschöne Costüme und Decorationen ließen auch an diesem Abende nichts zu wünschen übrig und zeigten, daß Dramaturgie und Concertmusik schon jetzt in der Concordia in mehr als gewöhnlich würdiger Weise vertreten sind. Die letzten zwei Tage der Festwoche waren der Gemüthlichkeit geweiht, und zwar am Mittwoch durch einen glanzvollen Ball, am Freitag durch ein luxuriöses Banket.

Während der ganzen Woche, mit Ausnahme des ersten Abends, stritten sich angesehene Gäste um die Ehre, gegenwärtig zu sein. Der Präsident der Vereinigten Staaten war leider durch Geschäfte verhindert, selbst zu kommen, doch waren mehrere hohe Würdenträger zugegen, unter denen wir Herrn Chapman, Bürgermeister von Baltimore, und General-Major Hancock von amerikanischer Seite, Herrn General-Major Franz Sigel aber von deutscher Seite erwähnen. Die gesammte Festwoche war eine Reihe von in Amerika unerhörten Genüssen und Vergnügen, die auf Mitglieder und Gäste einen unauslöschlichen Eindruck machten.

Es ist eine Thatsache: die Concordia hat Unglaubliches geleistet, und die Errichtung ihrer Kunsthalle wird fortan eine Epoche in der deutschen Kunstgeschichte Amerikas ausmachen: Nicht nur eine Pflanzschule für dramatische und musikalische Ausbildung wird sie sein, sondern als erstes Beispiel von deutscher Einigkeit und Energie im edlen Streben wird sich von ihrer Entstehung die künftige Entwickelung und Erhebung der edlen Künste unter den Deutschen Amerikas datiren, und Städte wie New-York und Philadelphia werden bald versuchen, die Leistungen Baltimore’s nicht nur nachzuahmen, sondern zu übertreffen. Doch auch in anderer Beziehung ist ihr Entstehen von unberechenbarer Tragweite; wir meinen mit Rücksicht auf unser liebes altes Vaterland. Die Errichtung der Concordia muß in natürlicher Folge bald die Bande noch enger knüpfen, die zwischen den Deutschen an beiden Küsten des atlantischen Oceans schon jetzt bestehen. Um Tüchtiges zu leisten, müssen wir bald um neue Vorbilder, neue Kräfte in den bildenden Künsten nach Deutschland senden, und bald werden deutsche Künstler, die, gewöhnt an die Ansprüche des classischen alten Vaterlandes, spöttisch auf Amerika herniedersahen, ihre Vorurtheile bekämpfen und die Gestade suchen, welche ihnen so viele Aufmunterung bieten. Schon jetzt betreten Schauspieler die Bühnenbreter der Concordia, die allein für diesen Zweck aus Deutschland verschrieben waren.

Wir möchten gern die Namen aller der Künstler nennen, die bei Bau und Aufführung der Concordia mitgewirkt haben, doch der uns zugemessene Raum verbietet dies; dagegen wäre es ungerecht, den Lesern der Gartenlaube die Namen derjenigen zu entziehen, deren Energie und Hochsinnigkeit das verdienstvolle Unternehmen seinen Ursprung und sein Gelingen zu verdanken hat. Damit wollen wir nicht die Verdienste der Mitglieder im Allgemeinen verkennen oder verkleinern, sondern meinen nur, daß von der Leitung und Verwaltung eines solchen Unternehmens das Meiste abhängt und deshalb der Präsident und die Beamten desselben eine besondere Anerkennung verdienen. Es sind dies die Herren: G. W. Nödel, Präsident der Gesellschaft, gebürtig aus Melsungen in Kurhessen, Carl Pracht aus Grünberg im Großherzogthum Hessen, Christian Ax aus Daaden, Kreis Altenkirchen, Regierungsbezirk Coblenz, Georg Wilhelm Gail aus Gießen, Heinrich Meyer aus Battbergen in Hannover, Johann Uhrich aus Rüdigheim in Kurhessen, August Wattenscheidt aus Elberfeld, H. Q. Brink aus Bramsche in Hannover, A. Weiskettel aus Dassel in Hannover, W. F. Bissing aus Burgdorf in Hannover, Adolph Hinze aus Nordhausen (ist zugleich Verbreiter der Gartenlaube in Baltimore), Xavier Köhler aus Schwäbisch Gemünd, Eduard Neumann aus Greifenberg in Schlesien, Julius Stesch aus Breslau, G. Fazius aus Biedenkopf im Großherzogthum Hessen, A. C. Hirsch aus Frankfurt am Main, August Weidenbach aus Naumburg an der Saale, Emanuel Klein aus Pest in Ungarn und Carl Lenschow aus Dassow in Mecklenburg-Schwerin. Adolph Claß aus Heilbronn und W. Kammerhueber aus München waren die Architekten.

Möge der reichste Segen auf ihrem schönen Werke ruhen!

C. F. M. Fähty,     
Oberst in der Vereinigten-Staaten-Armee.
[79]
Blätter und Blüthen.


Eine Bärenjagd. Es war Anfangs October vor J., als ein schlanker Gebirgswalache der Naja (einer Alpe im Südwesten Siebenbürgens, die im Sommer zur Schafweide benützt wird) zu mir hereintrat, um mich im Namen seines Oberhirten zu einer Jagd auf einen Bären einzuladen, der seit geraumer Zeit dessen Heerden decimirte. Früher schon hatte ich diesen Wunsch gegen den alten Oberhirten geäußert und dieser versprochen, mir bei nächst bester Gelegenheit das Vergnügen und die Gefahr einer solchen Jagd zu verschaffen. Erfreut, endlich Gelegenheit zur Erfüllung eines Lieblingswunsches zu haben, nahm ich die Einladung gern an, und schon nach drei Stunden – weil mein Walache mich sehr zur Eile gemahnt – ritt ich in seiner Begleitung gerüstet aus dem Weichbilde des gemüthlichen Städtchens B. dem sich vor uns erhebenden Hochgebirge zu. Meine Rüstung war sehr einfach. Gute, schließende ungarische Stiefeln, Beinkleider aus Hirschhaut, eine passende Jacke aus ebendemselben Stoffe und ein fester Wollenmantel, hier zu Lande „Guba“ genannt, bildeten meinen Anzug. Um die Hüften hatte ich einen Hirschfänger aus steierischem Stahl und am Sattel hing ein zuverlässiger Doppelstutzen von Peterlongo in Innsbruck.

Mein Gefährte hatte mich um ein Kugelgewehr ersucht, da das seinige zerbrochen wäre. Ein Messer wie ich, meinte er, hätte er nicht, wohl aber ein starkes Schlachtmesser, welches nicht zu verachten sei. So ausgerüstet trugen uns die kleinen, aber starken und ausdauernden Bergrosse rasch dem Gebirge zu und dann den steilen Bergpfad zur Alpe Naja hinan. Nach mehrstündigem Ritte gelangten wir an einzelne, mit fettem Alpengrase bewachsene freie Stellen, auf welchen feiste Schafe weideten, und kurze Zeit darauf, nachdem wir mit Lebensgefahr eine aus zwei Buchenstämmen gebildete Gebirgsbrücke passirt, hielten wir vor der Stinne (übliche Bezeichnung für eine siebenbürgische Sennhütte) des greisen Oberhirten Pasku an.

Lautes Freudengeschrei empfing uns. Der alte Hirt und seine Gehülfen kamen uns ehrerbietig entgegen und der Alte half mir rasch vom Pferde, indem er mich in der melodischen Sprache der Walachen willkommen hieß. Seine Gehülfen, stramme, schlanke Gestalten, echte Gebirgssöhne, standen in bescheidener Entfernung, beeilten sich aber, als ich die Stinne betreten, mir Milch und Käse vorzusetzen und einen weichen Sitz aus Schaffellen zu bereiten.

Inzwischen war es Nacht geworden. Die Gehülfen des Alten entfernten sich, um den Hunden, die während ihrer Abwesenheit die Heerden bewacht, die Hut zu erleichtern, und freudiges Gewinsel antwortete dem Rufe der die Heerden suchenden Hirten. Nun näherte sich mir der Alte.

„Herr!“ hub er an, „die Nacht ist da. Bald verläßt der Bär seine Höhle, um sich ein Schaf zum Schmause zu holen. Du bist ein erfahrener Mann, und ich wage nicht, Dir Vorschriften zu machen. Doch da Du noch keinen Bären gejagt, so verüble mir nicht, wenn ich Dir einige Winke gebe, denn ich bin ein alter Jäger und elf Bären erlagen schon meiner Kugel und meinem Messer.“

Ich nöthigte ihn zum Sitzen, und nachdem ich ihm einen Schluck aus meiner Jagdflasche gegeben, fuhr er fort: „Die Jagd des Bären ist so gefährlich nicht, wenn man kalt und bedächtig ist. Der Bär ist feige, Herr, und wenn er gut getroffen ist, sucht er das Weite. Gefährlich aber ist’s, wenn man ihn nur leicht verwundet, denn dann ist er wüthend, und flieht der Jäger, so ist dessen Tod gewiß. Gewaltigen Laufes erreicht ihn das Ungeheuer und tödtet ihn in schrecklicher Umarmung. Wenn der Schütze aber Stand hält und dem heranstürmenden Thiere in die linke Brustseite schießt, erlegt er es sicher. Hast Du etwa fehl geschossen, Herr, und verfolgt Dich der Bär und sind wir nicht in der Nähe, so erwarte ihn festen Standes, drehe Deine Büchse um und schlage ihm mit dem Kolben zwischen die Augen, da ist er sehr empfindlich und stürzt alsogleich zu Boden, worauf Du ihm mit Deinem langen Messer den Garaus machen kannst. Unser unliebsamer Gast hier ist ein dunkler Bär, ein alter, großer Geselle, der mir manch’ guten Hund getödtet. Nächtlich erscheint er bei den Schafen und jedesmal schleppt er das feisteste davon. Schießen konnten wir bisher nicht auf ihn, weil kein Mondlicht war; da nun aber heute der Vollmond beginnt, soll sein Pelz herhalten. Nur kaltes Blut und sicherer Schuß, und die Jagd bleibt, trotz aller Gefahr, ziemlich gefahrlos.“

„Lege Dich aber,“ fügte er aufstehend hinzu, „ein wenig zur Ruhe, da Du ermüdet bist, damit Du dann nach Mitternacht, wo sich der ,Dunkle‘ einzufinden pflegt, bei Kräften bist. Für Dein Werken laß mich Sorge tragen.“ An seine hohe Pelzmütze greifend, entfernte er sich mit dem Gruße: „Und nun süße Ruhe, Herr!“

Ich mochte etwa vier Stunden geruht haben, als ich erwachte und meine Uhr repetiren ließ. Es war zwölf ein halb Uhr. Sogleich erhob ich mich vom Lager und beim flackernden Lichte eines Kienspahnes rüstete ich mich für die kommenden Dinge. Mein Herz klopfte rascher, ich war ganz fieberisch erregt. Kaum hatte ich den Hirschfänger umgürtet und wollte nun eben den Stutzen frisch laden, als sich der Stinne rasche Tritte näherten und der Alte eintrat. Sichtbar erfreut, daß ich schon ohne sein Wecken auf und gerüstet sei, begrüßte er mich freundlich und sprach: „Die Zeit ist da! Wir wollen nicht säumen. Der große Stern steht über der Felskuppe und da wird sich der Bär bald einstellen.“

Ich lud den Stutzen vollends. Der Alte besichtigte die Ladung seiner alten Büchse und nahm dann ein gewaltiges Messer, welches er in seinen Gürtel steckte.

„Komm, Herr!“ sprach er leise.

Ich folgte ihm.

Bald darauf gelangten wir zu den Schafheerden, die ruhig am Boden lagen. Die Hirten saßen um ein mächtiges Feuer, welches sie mit riesigen Scheiten unterhielten. Als wir uns genähert, erhoben sie sich und kamen uns entgegen. Jeder derselben trug eine einläufige Büchse und ein starkes Messer. Der Alte postirte seine Leute um die Heerden herum; mich stellte er bei einem dicken Baumstumpfe auf, an welchem der Bär die Beute vorbeizutragen pflegte. Er selbst verbarg sich etwa neunzig Schritte von mir in ein Gestrüpp.

Zwischen mir und dem Alten lag eine Grasfläche, die der Mond hell beschien; somit konnte ich ziemlich sicher zielen.

Etwa zwei Stunden lagen wir auf dem Anstande, doch vom Bären zeigte sich noch immer keine Spur. Schon fing ich an zu zweifeln, ob er wirklich kommen würde, als die Hunde plötzlich wüthend anschlugen und mehrere Schüsse dazwischen krachten, die das Echo lautdonnernd wiederholte. Einige Augenblicke später raschelten die Büsche in meiner Nähe, meine Pulse flogen fieberisch und ich mußte sehr an mich halten, um der Weisung des Alten gemäß mit kaltem Blute einen sichern Schuß zu thun. Da plötzlich trabte ein dunkles, unförmliches Thier, ein zappelndes Schaf im Rachen, heran. Bald kam es an die freie Stelle, ich setzte an, zielte, schoß, ein dumpfes, jammerndes Gebrumm war die Antwort auf meinen Schuß. Als sich der Rauch verzogen, war der Bär verschwunden, nur das verendende Schaf, das er fallen gelassen, lag am Boden.

Ich lud wieder. Da stand der Alte vor mir und lachte, indem er zu Boden blickte: „Gut getroffen, Herr! Der hat es. Seht nur, wie breit die Schweißspur ist!“

Inzwischen kamen auch einige Burschen eilig heran, um den Bären zu verfolgen. Doch der Alte hielt sie zurück: „Laßt ab! bald graut der Morgen, dann wollen wir ihn gemeinsam verfolgen. Bringt das getödtete Schaf zur Stinna; die fetten Keulen, am Feuer geröstet, schmecken so übel nicht.“

Beim Imbiß erzählte mir ein junger Schäfer, daß der Bär, durch den Schatten einiger Büsche gedeckt, ungesehen in die Heerde eingedrungen, dann aber, nachdem ihn die Hunde angegriffen und sie auf ihn geschossen, mit einem feisten Widder im Rachen, gemüthlich durch das Gestrüpp geeilt sei, bis er mir schußgerecht gekommen.

Der Morgen war herangebrochen, als wir uns zur Verfolgung des kranken Wildes aufmachten. Bald standen wir an der Stelle, wo ich den Bär getroffen, und eine lange Schweißspur bezeichnete die Richtung, in welcher er geflohen. Der Alte bückte sich zur Erde und betrachtete den Schweiß aufmerksam.

„Habt ihn gut getroffen, Herr! In die Leber, das Blut ist ganz schwarzbraun. Gewiß ist er schwer verwundet und nicht weit von hier.“ Der Schweißspur folgend, gingen wir eine weite Strecke vorwärts, bis wir an einen Quelllauf gelangten, wo wir die Spur gänzlich verloren. Doch der Alte wußte auch hier gleich Bescheid. „Kenne solche Finten!“ brummte er. „Er ist im Wasser den Bach entlang gelaufen, um zu seinem Lager zu kommen.“ Einige Augenblicke später hatte er den Lauf der Quelle mit Erde und Geröll verstopft, und als das Wasser abgelaufen, zeigte uns der erfahrene Alte in der schwarzen Erde deutliche Spuren von Bärenpranken. Vor uns erhoben sich einige Felsblöcke von dichtem Unterholz umwachsen. Hier stand der Alte still. Er warf rasch seine überflüssigen Kleider abseit und entblößte seine muskulösen Arme vom hindernden Hemde. Darauf faßte er, sein langes Messer zwischen die Zähne nehmend, seine Büchse und winkte mir nebst zwei rüstigen Sennen, ihm zu folgen.

Wild durcheinander geworfenes Geröll hemmte unsere Schritte. Da erblickte unser Alter, indem er uns in eine enge Schlucht führte, die in einem kleinen, freien, mit Himbeersträuchen umwachsenen Platze auslief, wieder Schweiß. Sogleich bedeutete er den beiden Sennen, hier zu bleiben und die Schlucht zu sperren. Mich selbst postirte er an einem ungeheuren Felsblocke und bat mich nochmals, ja recht kaltblütig zu sein. Während er sich umwendete, erdröhnte vom Eingange der Schlucht ein Schuß, bald darauf ein zweiter, und dann das Geräusch von brechenden, dürren Aesten.

„Er kommt!“ flüsterte der Alte, indem er die Büchse anlegte. „Steigt schnell auf den Felsen, ich will’s allein mit ihm abmachen.“

Das Himbeergebüsch theilte sich, und aus demselben trabte ein stattlicher brauner Bär, wild umherblickend, hervor. Der Alte zielte einen Moment, traf ihn aber unglücklicherweise nur in den Hinterschenkel. Laut aufbrüllend stürzte nun die zur höchsten Wuth gereizte Bestie auf den Alten los, der die Büchse weggeworfen und den Bär mit blankem Messer erwartete.

„Seht her!“ rief er mir noch kaltblütig zu, „so tödten wir unsere Heerdenverwüster.“ Alsogleich stemmte er den rechten Fuß zurück und das Messer in der Rechten schwingend, zog er mit der Linken hastig seine Pelzmütze vom Haupte. Der Bär war auf den beiden Hinterfüßen hustend und schnaubend am Alten. Ein Moment, dann faßte ihn der kräftige Alte mit der nervigen Linken, an der er die Pelzmütze hatte, am Unterkiefer und blitzesschnell fuhr ihm darauf sein Messer mehrere Male in die Seite. Der Bär brüllte gräßlich und seine Pranken krampfig ausstreckend, beugte er sich nach dem Alten.

Dieser jedoch sprang, nachdem er ihm noch einen gewaltigen Stich in die Seite versetzt, rasch zur Seite. Der todtwunde Bär taumelte noch hin und her, stürzte aber dann plötzlich, indem sich ihm Ströme Blutes aus den Wunden und dem Rachen ergossen, todt zu Boden. Ich hatte wie versteinert dem Kampfe zugesehen und nun erst kam wieder Leben in mich.

„Hoi-oi-o! Hoioiooo!“ ertönte jetzt des Alten Sammelruf, und bald umstanden Alle den erlegten Bären.

Es war ein schönes, am Widerrist drei Fuß hohes und fünf Fuß langes, ausgewachsenes Exemplar des braunen Bären. Unser Alter schätzte ihn, weil er keine gelbe Halsbinde hatte, auf neun Jahre. Mühsam wurde er auf zusammengelegten Stämmen bis zur Stinne hinabgeschleppt und hier wog ihn der Alte auf meinen Wunsch. Er war vierhundert und zwölf Pfund schwer. Bei meinem Abschiede überließ mir der wackere Alte das Fell nebst den Tatzen und bat mich nur, ihm die geringe Schußprämie zu verschaffen. Nachdem ich dieses versprochen und Alle beschenkt hatte, begleitete mich der Alte noch weit das Gebirge hinab und trennte sich erst von mir, nachdem wir alle gefährlichen Stellen passirt hatten.



[80] König Leopold von Belgien als Cafetier in spe. Der Fürst behielt auf seinen zahlreichen Reisen sehr gern das Incognito bei und es machte ihm großes Vergnügen, wenn er zuweilen irgend ein humoristisches kleines Abenteuer erlebte. So kam er eines Tages nach Valence, besuchte dort den schönen Championnet-Platz und betrachtete lange Zeit mit wahrem Genuß die herrliche Aussicht auf das Rhone-Panorama, welche man von da aus hat. Nach einiger Zeit fühlt sich der König jedoch ermüdet und durstig, sah sich nach irgend einem Ruheplätzchen um und trat dann in ein an dem Platze gelegenes Café chantant ein, welches einem gewissen Lebeau gehörte.

Es war acht Uhr Morgens und der Saal war völlig leer, der König unterhielt sich deshalb damit, die hübschen Malereien zu betrachten, welche die Wände des Kaffeehauses bedeckten, und machte dem Besitzer desselben einige Complimente darüber. Dann setzte er das Gespräch fort, indem er sprach: „Sie müssen viel Geld verdienen, nicht wahr?“

„Nun, so so,“ entgegnete Lebeau. „Sehen Sie, wenn Sie vielleicht eine gute Speculation machen wollen, so haben Sie die beste Gelegenheit. Ich habe die Absicht, mich vom Geschäft zurückzuziehen, und da mein Café chantant, das überdies reizend gelegen ist, Ihnen zu gefallen scheint, will ich es Ihnen zu einem annehmbaren Preise überlassen; Sie sind gerade der rechte Mann dafür.“

„Das ist schon ein ganz plausibler Vorschlag,“ meinte der König lächelnd, „so ein Café chantant scheint mir auch ein ganz nettes Geschäft zu sein, allein ich werde doch wohl nicht darauf eingehen können.“

„Das ist schade,“ erwiderte Lebeau, „denn wenn Sie von der Präfectur die Erlaubniß erlangten, hier singen zu lassen, auch wenn im großen Theater gespielt wird, was ich bis jetzt nicht durchsetzen konnte, so wäre Ihr Glück bald gemacht und Sie könnten sich binnen einiger Zeit zurück ziehen und ein Landgütchen kaufen, obgleich die Abgaben, welche Sie an das Theater und die Armencasse zu zahlen hätten, ziemlich bedeutend sind.“

„Nun, ich werde mir die Sache noch überlegen, wer weiß, zu was ich mich entschließe,“ antwortete König Leopold.

Eine Stunde darauf begab er sich auf die Präfectur, gab sich dem Präfecten zu erkennen und erlangte natürlich sofort die von dem Kaffeehausbesitzer gewünschte Erlaubniß, welche er diesem sogleich zustellen ließ.

Lebeau war wie aus den Wolken gefallen, als er so plötzlich wie durch Zauber seinen langjährigen Wunsch erfüllt sah: er rannte in aller Eile nach dem Postbureau, um dort wo möglich noch den fremden Reisenden zu treffen und sich bei ihm zu bedanken; der König war aber schon fort und Lebeau erfuhr nun, wer es gewesen sei, dem er angetragen hatte, sein Café zu kaufen.




Die deutsche Nordpolexpedition. Schon in einem früheren Artikel haben wir unsern Lesern von der beabsichtigten deutschen Nordpolexpedition berichtet. Seitdem ist die Angelegenheit in ein neues Stadium getreten, und man darf sich der Hoffnung hingeben, das wichtige Nationalunternehmen als gesichert betrachten zu können. Wir werden demnächst aus ganz competenter Feder einen neuen ausführlichen Aufsatz über diese deutsche Nordfahrt veröffentlichen und wollen heute nur in kurzen Worten nach den Tagesblättern erzählen, wie weit augenblicklich die Sache gediehen ist.

Dr. Petermann hatte im August vorigen Jahres seinen Plan, den Nordpol durch eine Fahrt an Spitzbergen vorbei aufzusuchen, der deutschen Geographenversammlung in Frankfurt a. M. vorgelegt, und Fachmänner, wie der k. k. österreichische Admiral (jetzige Minister) v. Wüllerstorff und der königlich preußische Corvettencapitän Werner, hatten sich so warm für dieses Unternehmen ausgesprochen, daß die Geographenversammlung beschloß, sich dieser Angelegenheit auf’s Eifrigste anzunehmen. Es wurde sogleich ein Centralcomité für diese Angelegenheit, unter Leitung des Dr. Petermann, bestellt und in Folge der von diesem ausgegangenen Aufforderung wurden Lokalcomité’s errichtet.

Da es vor Allem darauf ankam, für eine solche Expedition einen passenden Führer zu erwählen, so wurde vom Centralcomité der schon erwähnte Capitän Werner in’s Auge gefaßt, der sich gleich bereit erklärte, das Commando zu übernehmen, wenn ihm dasselbe von seiner Regierung gestattet werde. Um dies zu fördern, begab sich Dr. Petermann selbst nach Berlin, woselbst er vom Minister v. Bismarck auf’s Zuvorkommendste aufgenommen wurde. Derselbe zeigte das wärmste Interesse für den Plan und stellte seinerseits lebhafte Unterstützung der Sache in Aussicht.

Von Berlin zurückgekehrt, berief Dr. Petermann eine Versammlung des Centralcomités auf den 17. Decbr. v. J. nach Gotha, wozu vom Dresdner Lokalcomité Dr. A. Stübel als Bevollmächtigter abgesendet wurde. Nach Entgegennahme der Mittheilungen des Dr. Petermann und weiterer Besprechung derselben wurde dann schließlich der folgende Antrag des Hrn. Hopf zum Beschluß erhoben:

„Der deutsche Nordfahrtsausschuß begrüßt mit großer Freude die Nachricht, daß die königlich preußische Regierung geneigt ist, die deutsche Nordfahrt aus ihren Mitteln zur Ausführung zu bringen. Derselbe ist überzeugt, daß auf diesem Wege bei den der preußischen Regierung zu Gebote stehenden großen Hülfsmitteln auch Großes zu erreichen und das wesentliche Ziel zu erlangen sei. Der Ausschuß ist aber ebenso sehr überzeugt, daß damit seiner eigenen Thätigkeit keine Grenze gesetzt werde, und er stellt sich auch ferner die Aufgabe, die Betheiligung auf alle Weise rege zu erhalten und dafür zu sorgen, daß die deutsche Nordfahrt zu Stande komme und die wissenschaftlichen Kräfte, welche sich in seiner Mitte befinden, dabei zur Mitwirkung und Geltung gelangen.“

So darf man denn wohl sagen, daß, nachdem, nach den neuesten Nachrichten, die preußische Regierung die Summe von Sechsmalhunderttausend Thalern für das Unternehmen bereits bewilligt hat, der Plan einer deutschen Nordpolexpedition aus dem Gebiete des Gedankens in das der realen Wirklichkeit getreten ist.




George Sand als Rednerin. So beredsam, so schwungvoll und kühn George Sand mit der Feder ist, so wenig steht ihr die Gabe der Rede zu Gebote, wenigstens Fremden gegenüber. Sieht sie erwartungsvoll die Augen der Menge auf sich geheftet, so ist es ihr, als ob sie ein Schwindel ergriffe; die Zunge ist ihr wie gelähmt und sie vermag kein Wort hervorzubringen.

Man hatte sie vor Kurzem ersucht, zum Besten irgend eines wohlthätigen Zweckes einen kleinen Vortrag zu halten, und sie hatte bereits ihre Zusage ertheilt, da bat sie einige Tage darauf, man möchte sie um Gottes willen dieses Versprechens entbinden, sie sei durchaus nicht im Stande, es zu erfüllen, und damit wies sie selbst auf die Geschichte hin, die ihr vor einigen Jahren in Toulon begegnete.

Sie hatte dort den Wunsch geäußert, ein Kriegsschiff besichtigen zu können, und wenigstens zehn Marineofficiere hatten sich beeilt, ihr Schiff dazu anzubieten. Einer davon erhielt den Vorzug. Frau George Sand folgte seiner Einladung und fand das Schiff geschmückt wie zu einem Feste oder einer Admiralitätsinspection. Die ganze Bemannung hatte den Auftrag, ihr die Honneurs zu machen, und Alle, Officiere wie Matrosen, waren an ihrem Posten.

George Sand betrachtete Alles genau und freute sich der peinlichen Sauberkeit und Ordnung, der Schnelligkeit und Pünktlichkeit, mit der jeder Befehl ausgeführt wurde. Aber beim Abschied wurde ihr doch etwas bänglich, sie mußte zwischen einem doppelten Spalier der ganzen Mannschaft durchpassiren.

Aller Augen waren auf sie wie erwartungsvoll gerichtet, und das genirte George Sand unbeschreiblich. Sollte sie eine Ansprache an diese kleine Armee halten, die sie wie einen Admiral ehrte? Der Hals war ihr wie ausgetrocknet, sie konnte die Lippen kaum öffnen. So zögert sie, stammelt einige unverständliche Worte und kommt endlich ganz verwirrt am Ende des Spaliers an, wo sie dem Schiffsjungen, der die Reihe auf der einen Seite schloß, eine tiefe Verneigung macht, den auf der andern Seite stehenden Officier aber vertraulich auf die Wange klopft und freundlich zu ihm sagt: „Guten Tag, mein kleiner Freund!“

Hinterdrein hat sie selbst sehr darüber gelacht, in dem Augenblick selbst jedoch soll ihr gar nicht wie Lachen zu Muthe gewesen sein.




Jonas der Zweite. Kaufmann H. in Rochlitz in Sachsen, dessen Erzählung völlig glaubwürdig ist, beobachtete jüngst folgenden eigenthümlichen Vorfall aus dem Thierleben. Als er seinen Goldfischchenbehälter mit frischem Wasser füllte, entschlüpfte ihm einer seiner Lieblinge in einen größeren Wassertrog und – war sofort spurlos verschwunden. Da das den Trog füllende helle und klare Wasser eine Uebersicht des Gefäßes in alle Winkel hinein gestattete, ohne eine Spur des Goldfischchens zu liefern, so mußte der Verdacht entstehen, daß das mit noch einigen großen Speisekarpfen den Trog bevölkernde einzige Ungeheuer, ein Hecht, einen Mord an dem Goldfischchen begangen und dasselbe verschlungen habe. Die rächende Nemesis ereilte den Hecht sofort.

Sein Todesurtheil wurde gefällt; er wurde abgekehlt, der Leib ihm aufgeschlitzt und erhielt dann in siedendem Wasser die gehörige Vorbereitung zum letzten Racheacte, der Verspeisung. Da – o Wunder – zeigten sich nach der vorsichtigen Eröffnung des jedoch nicht mit gekochten Hechtmagens an dem wirklich darin versenkten Goldfischchen noch Lebensspuren, welche durch schleunige Versetzung desselben in sein natürliches Lebenselement, das frische Wasser, zu seiner alsbaldigen vollständigen Auferstehung und Wiedergenesung führten, und – so lebt es heute noch, in höchster Gemüthsruhe an einer rosafarbenen Oblate knabbernd, sein harmloses Dasein fristend, und nur zu beklagen ist es, daß es heute noch eben so stumm ist, wie zuvor. Sonst könnte es uns seine Todes- und Wiederauferstehungsgeschichte gewiß viel ausführlicher und besser erzählen, als dieses hiermit geschehen ist.



Flotow in Paris. Herr von Flotow, dessen Oper „Martha“ die Pariser jetzt zur höchsten Begeisterung hinreißt, verließ den Schauplatz seiner Triumphe plötzlich am Tage nach der zweiten Aufführung. Jetzt erzählt man sich über diese rasche Abreise eine kleine Geschichte, die sehr zu seinem Vortheil einnimmt.

„Wie,“ sagte ein Bekannter zu ihm, „Sie verlassen Paris am Tage nach einem solchen Erfolge?“

„Ich muß.“

„Ohne die Folgen zu bedenken?“

„Ja wohl.“

„Sie machen den Journalisten keinen Besuch?“

„Nein, ich habe keine Zeit.“

„Sie würden gut thun, wenigstens noch vierzehn Tage hier zu bleiben.“

„Es ist unmöglich, man erwartet mich zu Hause.“

„Haben Sie es denn gar so eilig?“

„Ja, sehr eilig, ich muß unbedingt am Weihnachtsabend zu Hause sein.“

„Unbedingt? Denken Sie denn nicht an Ihren Ruhm?“

Jetzt zog Flotow seine Brieftasche heraus, zeigte dem Bekannten die Photographien seiner Frau und seiner beiden Kinder und entgegnete:

„Sehen Sie hier, lieber Freund, das ist mir mehr werth, als der Ruhm!“




Zur Beachtung.
Verzögerungen in der Correctur, welche der von Leipzig entfernt lebende Verfasser selbst besorgt, machen es leider nothwendig, daß wir für eine Nummer die interessante Erzählung Goldelse unterbrechen und mit der Fortsetzung erst in nächster Nummer wieder beginnen.
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wo bleiben Carl Maria von Weber, wo Gluck und Mendelssohn-Bartholdy?
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Bischof Dräseke hat weder jemals die Bühne betreten, noch auch nur die Absicht gehabt, sich der Laufbahn eines ausübenden dramatischen Künstlers zu widmen (vergleiche: Berichtigung durch Theodor Dräseke, Heft 16, S. 256).