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Johann Wolfgang von Goethe: Elegien. In: Die Horen, 2. Bd., 6. St., S. 1-44

Fünfte Elegie.

Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert,
     Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir.
Ich befolge den Rath, durchblättere die Werke der Alten
     Mit geschäftiger Hand täglich mit neuem Genuß.

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Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt,

     Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt.
Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens
     Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab.
Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche,

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     Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.

Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages;
     Giebt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Elegien. In: Die Horen, 2. Bd., 6. St., S. 1-44. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Elegien_(Goethe).djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)