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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[81] No. 6.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

„Es wird besonders meinem Bruder, der jetzt fern von mir weilt, eine große Freude sein,“ sprach Fräulein von Walde, als sie sich vor einer hohen Flügelthür von Elisabeth verabschiedete, „wenn er hört, daß ich die Musik wieder aufnehme. Oft hat er stundenlang in einer dunklen Ecke gesessen und meinem Spiele zugehört. Später haben mich meine kranken Nerven gezwungen, der lieben Musik zu entsagen. Jetzt fühle ich mich aber wieder viel kräftiger, der Arzt hat mir wieder zu spielen erlaubt, und nun will ich tüchtig üben, um den Bruder zu überraschen, wenn er zurückkommt.“

Wie geflügelt eilte Elisabeth durch den einsamen Park und den Berg hinauf, und als sie die Reihenfolge ihrer Eindrücke den sehnsüchtig harrenden Eltern mitgetheilt hatte, da schloß sie mit den Worten: „Deiner Lehre nach, Väterchen, dürfte ich mir heute eigentlich noch kein festes Urtheil über die neue Bekanntschaft bilden; denn Du verwirfst den ersten Eindruck als etwas Trügliches, das uns leicht ungerecht macht. Aber was kann ich für meine widerspenstige Phantasie? So oft ich an die beiden Damen denke, sehe ich eine junge, einsame Hängebirke, die einer vom Sturm getragenen Wetterwolke ihre elastischen Zweige willenlos preisgiebt.“ –

Von nun an ging, nach schon andern Tags getroffener Vereinbarung, Elisabeth zweimal wöchentlich hinunter nach Lindhof. Diese Musikstunden wurden für das junge Mädchen sehr bald eine Quelle hoher Genüsse. In den Zwischenpausen pflegte sich Helene in ihren Fauteuil zurück zu lehnen, und Elisabeth setzte sich dann auf einen Fußschemel zu ihren Füßen, entzückt der flötenartigen, melancholischen Stimme lauschend, mit der das arme, mißgestaltete Wesen aus seiner Vergangenheit erzählte. Dann trat jedesmal das Bild des fernen Bruders in den Vordergrund. Sie konnte nicht genug rühmen, wie er für sie sorge und denke, wie er, obgleich bedeutend älter und sehr ernst, sich bemühe, auf ihre kleinen Liebhabereien und Eigenheiten einzugehen. Sie erzählte ferner, daß er die Besitzung Lindhof einzig aus dem Grunde gekauft, weil die Schwester bei einem längeren Besuch am Hofe zu L. gefunden habe, die Thüringer Luft wirke ganz besonders wohlthätig auf ihren leidenden Zustand. Aus Allem ging hervor, daß er Helene zärtlich lieben müsse.

Eines Nachmittags, als ungewöhnlich lange musicirt worden war, trat ein Bedienter ein und meldete einen Besuch.

„Bleiben Sie heute Abend bei mir zum Thee,“ sagte Fräulein von Walde zu Elisabeth. „Mein Arzt aus L. ist gekommen und es haben sich auch einige Damen aus der Nachbarschaft melden lassen. Ich werde Jemand hinaufschicken zu Ihrer Mama, damit sie sich über Ihr Ausbleiben nicht ängstigt. Mein Zwiegespräch mit dem Doctor wird nicht lange dauern, bald bin ich wieder bei Ihnen.“

Damit ging sie hinaus. Es waren kaum zehn Minuten vergangen, als die Thür sich wieder öffnete und Fräulein von Walde am Arm eines Herrn eintrat, den sie Elisabeth als Herrn Doctor Fels aus L. vorstellte. Er war ein stattlicher Mann mit einem geistvollen Gesicht, der sich bei Nennung ihres Namens sogleich lebhaft an Elisabeth wandte und ihr in ergötzlicher Weise erzählte, wie er sowohl, als die ganze ehrsame Bewohnerschaft von L. des Erstaunens und Entsetzens kein Ende gewußt hätten, als es laut geworden sei, daß das alte Schloß Gnadeck wieder Bewohner, und zwar aus Fleisch und Bein, beherberge.

Plötzlich rauschte es im Nebenzimmer, und gleich darauf erschienen zwei weibliche Gestalten, eine alte und eine jüngere, von etwas absonderlichem Aeußeren in der Thür. Die große Aehnlichkeit in den Gesichtszügen ließ sogleich erkennen, daß die Eingetretenen Mutter und Tochter seien. Helene von Walde begrüßte die Damen als Frau und Fräulein von Lehr, und Elisabeth erfuhr später, daß sie, in L. wohnhaft, den Sommer gewöhnlich im Dorfe Lindhof zuzubringen pflegten, wo sie sich in einem Bauernhaus eingemiethet hatten.

Unmittelbar nach den Eingetretenen kam die Baronin Lessen am Arme ihres Sohnes und von einem Herrn begleitet, der von den Anwesenden als Herr Candidat Möhring angeredet wurde.

Die Baronin war dunkel, aber mit ausgesuchter Eleganz gekleidet; sie sah imposant aus. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen und schien sehr unangenehm überrascht durch Elisabeth’s Anwesenheit. Sie maß das junge Mädchen mit einem hochmüthig fragenden Blicke und erwiderte ihre Verbeugung mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken.

Helene hatte den Blick aufgefangen und trat ihr näher, indem sie begütigend flüsterte: „Ich habe meinen kleinen Liebling heute hier behalten, weil es durch mein Verschulden doch gar zu spät geworden war.“

Elisabeth’s feinem Ohr entging jedoch diese Entschuldigung nicht. Sie war empört und wäre am liebsten durch das Fenster geflohen, in dessen Nische sie stand, hätte nicht gerade der Stolz ihr geboten, zu bleiben und dem Hochmuth der Baronin die Stirn zu bieten. Diese schien indeß durch die Sühne des hinter ihrem Rücken begangenen Verbrechens zufriedengestellt zu sein. Sie nahm Helene in ihre Arme, streichelte zärtlich ihre Locken und sagte ihr tausend Schmeicheleien. Dann forderte sie die Anwesenden auf, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, wo servirt sei. Sie machte [82] die Honneurs am Theetisch und entwickelte dabei die allerdings nicht wegzuleugnende Gabe, das Gespräch in Athem zu erhalten. Mit bewunderungswürdigem Geschick wußte sie es außerdem einzurichten, daß Helene stets der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten blieb, ohne daß die Anderen dadurch irgendwie hätten verletzt werden können.

Frau von Lehr erzählte sehr viel und machte jedesmal beim Schlusse irgend einer empörenden Neuigkeit von der Sündhaftigkeit der Weltkinder eine Miene, als trage sie als Lamm die Sünde der Menschheit auf ihrem Rücken. Welch ein Contrast zwischen ihr und Helenens Madonnengesichtchen, über dessen Jugend heute ein ganz besonderer Schimmer zu liegen schien! Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht, aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen, und um die blaßrothen Lippen spielte ein entzücktes Lächeln, so oft sie das volle Rosenbouquet vom Schooße aufnahm, das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte. Er saß neben ihr und mischte sich einigemal in das Gespräch. Sobald er sprach, schwiegen sämmtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu, obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und, wie es Elisabeth vorkam, auch durchaus keinen originellen Gedanken verrieth.

Er war ein schöner, junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen, die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit und Charakterstärke hätten schließen lassen; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte, dem imponirte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr. Diese Augen, obgleich groß und tadellos geschnitten, entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten, das uns oft den geistreichen Menschen verräth, selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat. Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden, dauerhaften Glanz, der von einem tiefen Gemüth ausgeht und der uns nicht hinreißt, wohl aber anzieht und fesselt. Aber auch davon verriethen die großen, schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur.

Diese Beobachtung indeß machten vielleicht nur sehr Wenige; denn es war nun einmal, und zwar vorzüglich am Hofe zu L., hergebracht, in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen, dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe, und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben. Das bewies vor Allen Frau von Lehr’s sehr corpulente Tochter, indem sie sich jedesmal, als gälte es die Verkündigung eines Evangeliums, über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog, so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat. Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen.

„Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten, mit denen uns Herr Candidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat?“ fragte sie, sich an Elisabeth wendend.

„Ich bedaure, sie nicht gehört zu haben,“ entgegnete Elisabeth.

„So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht?“

„O ja … Ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof.“

„So,“ sagte die Baronin Lessen, indem sie zum ersten Male den Kopf nach Elisabeth umwandte, wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam, „und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof?“

„Gewiß, gnädige Frau,“ entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame. „Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers, der übrigens nicht in der Kirche, sondern außerhalb derselben, unter den Eichen, seinen Vortrag hielt. … Als der Gottesdienst beginnen sollte, da stellte es sich heraus, daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne. Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet, wie es schon oft geschehen sein soll. Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen, als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll und der ehrwürdige, alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob, genau so zu Muthe, wie da ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte.“

„Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtniß zu haben, mein Fräulein,“ warf hier Frau von Lehr ein. „Wie alt waren Sie damals, wenn man fragen darf?“

„Elf Jahre.“

„Elf Jahre? .… O, mein Gott, wie ist das möglich?“ rief die alte Dame entsetzt. „Können das christliche Eltern wohl über’s Herz bringen? … Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit, das müssen Sie mir bezeugen, bester Doctor!“

„Ja wohl, meine Gnädigste,“ entgegnete dieser ernst. „Ich erinnere mich, daß Sie den Croup-Anfall, an welchem sie leider Ihr Jahr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten, einem Besuch des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben.“

Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an. Der Doctor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt, als er hie und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute, die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren, als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte. Als Elisabeth selbst zu sprechen begann, hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet, ebensowenig wie die Anderen, die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten; deshalb bemerkte Niemand, daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimüthigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden. Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort; aber er mußte wohl seine Leute kennen, denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll: „Ja, der Herr nahm den kleinen, frommen Engel zu sich, er war zu gut für diese Welt. .… Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen?“ wandte sie sich wieder an Elisabeth.

„Nur sein Tempel, gnädige Frau … Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christenthums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren, denn ich weiß nicht, daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein … Es ist meines Vaters Grundsatz, seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen; er meint, so junge Seelen seien unfähig, die hohe Bedeutung desselben zu verstehen, langweilten sich bei der Predigt, die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten, und so entstünde von vorn herein eine saloppe Anschauung … Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche.“

„O der glückliche Vater,“ rief der Doctor, „daß er dies durchführen kann und darf!“

„Nun, was hindert Sie, Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen?“ fragte malitiös die Baronin.

„Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen, gnädige Frau. Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug, einen Hauslehrer für sie zu halten. Sie selbst zu unterrichten, daran hindert mich mein Beruf; mithin bin ich gezwungen, sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen und das Bibellesen. In Kinderhände aber gehört die Bibel wahrhaftig nicht.“

Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung. Auf ihren blassen, vollen Wangen waren allmählich zwei rothe Flecken aufgeblüht, welche für Alle, die sie kannten, das Zeichen inneren Zornes waren. Deshalb stand auch Fräulein von Walde, die sich während des ganzen Gespräches passiv verhalten hatte, sofort auf, bot ihrer Cousine den Arm und führte sie an’s Fenster, indem sie fragte, ob es ihr wohl genehm sei, wenn sie mit Elisabeth ein wenig musicire.

Dieser Blitzableiter wurde zwar mit einem Kopfnicken bewilligt, aber die Baronin zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend, auf die sich die ersten, leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten. Ihr Blick zeigte einen kalt-grausamen Ausdruck, wie er jener gewissen Art wasserblauer, hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann. Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel, ein Zeuge tiefen Grolles, der auch nicht verschwand, als Schubert’s Erlkönig, zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen, in dämonischer Gewalt erbrauste. An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne, wie der Wellengesang am Uferfelsen.

Als der letzte Accord verklungen war, erhoben sich die beiden Damen, und der Doctor, der regungslos zugehört hatte, eilte auf sie zu. Sein Auge glänzte; er dankte begeistert für den Genuß, [83] der ihm, wie er versicherte, seit vielen Jahren nicht zu Theil geworden sei, und sprach dann eingehend über Schubert’s herrliche Tonschöpfung, wobei er ein feines Urtheil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verrieth.

Plötzlich wurde mit hartem Anschlag ein voller Accord auf dem Flügel gegriffen. Erschrocken drehten sich die Plaudernden um. Der Candidat saß am Clavier mit hochgehobenem Kopf und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweiten schrillen Accord auf die Tasten fallen, dazu begann er mit näselnder Stimme die Melodie des grausam mißhandelten Chorals zu singen. Das war zu viel. Der Doctor griff nach seinem Hut und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin. Die Letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung.

Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doctors. Er drückte Elisabeth’s Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung beiden Uebrigen.

Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene, die sich still in einer Sophaecke niedergelassen hatte.

„Unerträglich!“ rief sie, und ihre scharfe Stimme klang gedämpft, als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre, während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete, das fast schüchtern und beklommen den Blick zu ihr erhob. „Und Du duldest es so widerstandslos, Helene,“ fuhr sie fort, „daß man in Deinen Zimmern unsere Standesvorrechte, unsere Frauenwürde, ja, das Heiligste, was wir treulich behüten und pflegen, mit Füßen tritt?“

„Aber, liebe Amalie, ich sehe nicht ein –“

„Du willst nicht einsehen, Kind, in Deiner unerschöpflichen Geduld und Langmuth, daß dieser Doctor mich beleidigt, wo er kann. Nun, ich muß mir das gefallen lassen, weil es nicht in meinem Hause geschieht und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide, als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte… Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende, sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird. Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden… Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich, daß dieser Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusch das Zimmer verläßt, während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik, durch den Choral, tief bewegt sind?“

„Ach, das mußt Du dem Doctor nicht so übel nehmen,“ sagte Fräulein von Walde. „Er ist an seine Zeit gebunden, hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen, ehe wir zu spielen anfingen.“

„Indeß der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen,“ unterbrach sie die Baronin höhnisch. „Nun, ich bescheide mich… Es liegt leider in unserer traurigen Zeit, daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden.“

„Aber, mein Gott, Amalie, was willst Du denn, daß ich thun soll? Du weißt ja nur zu gut, daß Fels mir unentbehrlich ist … er ist der erste und einzige Arzt, der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht!“ rief Helene und ihr Auge schimmerte feucht, während die Röthe der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg.

„Ich dächte, mein Fräulein,“ begann hier Frau von Lehr, die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte, langsam und feierlich, „vor Allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden, die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie. … Im Uebrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen, die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doctor Fels aufnehmen können… Glauben Sie mir, liebes Fräulein, es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich, wenn sie sehen müssen, wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Rathgeber in Ihrem Hause aus- und eingehen darf.“

„Wenn ich auch das Opfer bringen wollte, einen anderen Arzt zu nehmen,“ entgegnete Helene, „so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun. Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolph hält sehr viel auf den Doctor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen.“

“Ja, Gott sei’s geklagt!“ rief die Baronin. „Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolph’s Charakter, die ich nie habe begreifen können! … Mit diesem sogenannten Freimuth, den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte, imponirt ihm der Herr Fels… Nun, ich wasche meine Hände, werde mir aber für künftig die Besuche des Herrn Doctor verbitten und halte mich bei Dir, liebe Helene, für die Zeit stets entschuldigt, wenn Du ihn bei Dir siehst.“

Fräulein von Walde erwiderte kein Wort. Sie erhob sich, während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt, als vermisse sie etwas; es schien Elisabeth, als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld, der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte.

Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung, und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruch. Beide sagten dem Candidaten, der seinen Vortrag geendet hatte und nun verlegen seine Hände reibend am Flügel stand, noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene, die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte.

Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden, nur schwach beleuchteten Corridor stehen. Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Wort in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt. Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen; denn sie hatte lebhaft gewünscht, er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich ernstes Wort ein Ende machen. Noch mehr aber mißfiel es ihr, als sie bemerken mußte, daß er, über das Buch hinweg, sie unausgesetzt fixire. Möglich war es schon, daß er in ihren Zügen den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte, aber sie meinte, dafür habe er sie nun lange genug angestarrt. Sie fühlte, daß sie endlich unter seinem Blick tief erröthete, und ärgerte sich darüber um so mehr, als dies ihm gegenüber, ganz gegen ihren Willen, schon einige Mal der Fall gewesen war. Ein eigenthümlicher Zufall wollte nämlich, daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete, sei es nun im Corridor, auf der Treppe, oder daß er plötzlich hinter einem Bosket hervortrat. Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte, wußte sie selbst nicht. Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen, ehe sie noch daheim war.

Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gang. Ein schwarzer, tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht, und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht. Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat, sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte, rasch auf sie zu, als ob er ihr etwas sagen wolle.

In dem Augenblick erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe. „Ei, Herr von Hollfeld,“ rief die alte Dame hinab, „wollen Sie denn noch eine Promenade machen?“

Die Züge des jungen Mannes, die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren, nahmen sofort einen gleichgültigen, ruhigen Ausdruck an.

„Ich komme aus dem Garten,“ sagte er in eigenthümlich nachlässigem Ton, „wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe. Bringe Fräulein Ferber nach Hause,“ gebot er dann dem Hausknecht, der eben zu diesem Zweck mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat, und schritt, nach einer Verbeugung gegen die Damen in den Corridor zurück.

Als Elisabeth eine Stunde später, am Bett der Mutter sitzend, ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse abstattete, gedachte sie schließlich noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur, woran sie die Bemerkung knüpfte, daß sie sich doch gar nicht denken könne, was er eigentlich von ihr gewollt habe.

„Nun, darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen,“ sagte Frau Ferber. „Sollte es ihm jedoch einmal einfallen, Dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen, so weise sie unter allen Umständen zurück. Hörst Du, Elisabeth?“

„Aber, liebe Mama, was denkst Du denn?“ rief lachend das junge Mädchen. „Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten, als ein solches Anerbieten … Hat er ja Frau und Fräulein von Lehr, die sich jedenfalls zu den sehr vornehmen Leuten zählen, allein nach Hause gehen lassen, da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen.“


[84]
6.

Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen, das, wie er sagte, von seinem Minister freudig begrüßt worden war und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde, allsonntäglich im Forsthause das Mittagsbrod einzunehmen… Das waren Freudentage für Elisabeth.

Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten. Im wehenden weißen Kleide, die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend, als könne ein schöner, heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen, schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment, wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thal aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete; wenn rechts und links auf dunklen, verschwiegenen Waldwegen die Kirchengänger der verschiedenen Filiale ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruß und Handschlag zu ihnen gesellten, bis sie in zahlreicher Gesellschaft, unter dem Geläute der Glocken, den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten, wo meist der Onkel schon wartete. Er begrüßte sie dann schon von Weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hutschwenken. In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt, in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit, die vor dem Größten nicht zurückschrickt, jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen, hinter dem wir große Entschlüsse, kühne Thaten, nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemüths vermuthen. Deshalb meinte auch Elisabeth, es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend, wenn ein einzelner, kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken stecke; genau so aber erscheine ihr der gerade, feste Blick des Onkels, sobald er in einem weichen Gefühl schmelze. Und sie hatte oft genug Gelegenheit, diese Metamorphose zu beobachten; denn sie war sein Augapfel geworden. Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit, deren sein reiches, volles Herz fähig war, auf sein liebliches Bruderskind über, das, wie er deutlich mit großem Stolz fühlte, ihm in vieler Beziehung geistig verwandt war, wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauch echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten.

Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge. Bald hatte sie alles das, was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte, herausgefunden und griff da, wo Sabinens Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte, unmerklich und mit so vielem Tact ein, daß die alte, treue Dienerin niemals verletzt wurde, während um den Onkel ein ganz neues, behagliches Leben aufblühte, da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte.

Auf dem Heimweg aus der Kirche, der dann gemeinschaftlich angetreten wurde, führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand, „wie ein kleines Schulmädchen“ sagte sie, und es sah auch genau so aus.

Am fernsten Ende des langen, dunklen Laubganges, denn es war ein sehr schmaler Holzweg, der vom Dorf Lindhof nach der Försterei lief, blinkte wie ein goldener Punkt die helle, sonnenbeglänzte Lichtung, auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag. Mit jedem Schritt näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer, bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte, wie sie, den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt, die Hand schützend über die Augen haltend, nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief; denn es galt ja, droben unter den Buchen, hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen, wie der gewissenhafte Festungscommandant auf seinen Wällen.

Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrothe Pyramide, die ersten Walderdbeeren, die der kleine Ernst, aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte. Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte, er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extra-Ueberraschung zurückbleiben; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth, wie längst versprochen, nach L. fahren, wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe. Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen.

Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend. Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen.

„Courage hat der Doctor freilich gezeigt,“ rief er lachend, „aber was hilft’s ihm, es war doch die letzte Tasse Thee, die er gestern in Lindhof getrunken hat.“

„Unmöglich, Onkel, es wäre empörend!“ rief Elisabeth, „das kann und wird Fräulein von Walde nicht zugeben, sie wird sich aus allen Kräften widersetzen.“

„Nun,“ sagte er, „ich wünschte nur, wir könnten auf der Stelle das Fräulein um ihre heutigen Gesinnungen gegen den Doctor befragen, da solltest Du Dein blaues Wunder sehen… Wie sollte auch in solch einem gebrechlichen Gehäuse eine starke Seele stecken; mit der wird das herrschsüchtige Weib bald fertig, und jeder andere Zügel fehlt, denn ‚der Himmel ist hoch und der Czar ist weit‘, sagen die Russen… Gelt’, Sabine, wir haben schon gar verwunderliche Dinge erlebt, seit die Frau Baronin das Regiment führt?“

„Ach, ja wohl, Herr Oberförster,“ entgegnete die Alte, die eben ein neues Gericht auf den Tisch setzte, „wenn ich nur an die arme Schneider denke… Das ist eine Taglöhnerswittwe aus Dorf Lindhof,“ wandte sie sich an die Anderen, „sie hat immer rechtschaffen gearbeitet, um sich durchzubringen, und hat ihr auch Niemand was Unrechtes nachsagen können; aber sie muß vier kleine Kinder ernähren, das arme Weib, und lebt nur von der Hand in den Mund… Und da ist’s ihr einmal im vorigen Herbst recht schlecht gegangen; sie hat nicht gewußt, wie sie die Kinder satt machen soll, nu, und da hat sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, was freilich nicht recht war, sie hat von einem herrschaftlichen Acker eine Schürze voll Kartoffeln mitgenommen. Der Verwalter Linke aber hat hinter einem Busch gestanden; das sehen, vorspringen und auf die Frau losschlagen ist Eins gewesen. Ja, wenn er’s bei einem kleinen Denkzettel hätte bewenden lassen, da wollte ich nichts sagen; aber er hat gar nicht wieder aufgehört und hat sie sogar wüthend mit dem Fuße getreten… Ich hatte dazumal gerade etwas in Lindhof zu besorgen, und wie ich da unter den Kirschbäumen beim Dorfe hingehe, sehe ich einen Menschen an der Erde liegen, es war die Schneider; sie hatte ein erschreckliches Blutbrechen, konnte kein Glied mehr rühren, und keine Menschenseele war bei ihr. Da hab’ ich Leute gerufen, und die haben mir geholfen, sie nach Hause zu bringen. Der Herr Oberförster war zwar damals verreist, aber ich habe mir gedacht, er würde mir’s auch nicht verwehren, wenn er da wäre, und habe das arme Weib verpflegt, so viel in meinen Kräften stand… Die Leute im Dorfe waren wüthend über den Verwalter, aber was konnten sie denn machen? Es wurde zwar gesagt, die Sache käme vor Gericht; ja, da kann man warten… Der Linke ist einer von den Frommen; er ist die rechte Hand bei der Frau Baronin, verdreht die Augen und thut Alles im Namen des Herrn. Es durfte doch um keinen Preis unter die Leute kommen, daß so ein Frommer mitunter auch recht unmenschlich sein könne, und da ist die Frau Baronin alle Tage in die Stadt gefahren und hat sich sehr herabgelassen; kurz und gut, die Geschichte ist vertuscht worden, und die Schneider, die noch immer nicht ordentlich fort kann, hat ihre Schmerzen leiden müssen, und ist ihr und ihren Kindern weder ein Trunk, noch ein Bissen Brod vom Schlosse aus gereicht worden während ihrer schweren Krankheit… Ja, der Verwalter und die alte Kammerjungfer bei der Baronin, die treiben’s arg in Lindhof. Die sitzen in der Bibelstunde und in der Schloßkirche und schnüffeln und merken sich fleißig, wer fehlt, und das hat schon manchen ordentlichen Menschen um die Arbeit im Schlosse gebracht.“

„Na, jetzt wollen wir uns aber nicht weiter ärgern,“ sagte der Oberförster. „Mir wird jeder Bissen im Mund bitter, wenn ich an diese Geschichten denke, und unser schöner Sonntag, auf den ich mich die ganze Woche freue, soll keinen anderen Schatten haben, als den sich die schuldlosen, weißen Wölkchen da droben erlauben.“

(Fortsetzung folgt.)



[85]
Ein Fürst als Mann von Wort.


Graf Guido von Flandern mit seiner Tochter im Kerker.
Nach einem Originalgemälde von G. Laves in Hannover.

Wenn in einem Lande der Tod einen Mann vom Thron genommen hat, an dessen Grab nicht blos das eigene Volk, sondern die gesammte europäische Presse den Tribut der Ehrerbietung und Anerkennung niederlegt und den sie des seltenen Ausspruchs würdigt, daß der Nekrolog, der an seiner Bahre zu schreiben sei, in der Geschichte unserer Tage einzig dastehen werde, so wendet sich unser Blick von selbst in die Vergangenheit dieses Landes und sucht nach Ebenbürtigen auf den alten Thronen. Einem solchen begegnen wir zwar in der Geschichte der belgischen Lande nicht wieder, aber eine That strahlt aus den glorreichsten Tagen der freien und glücklichen Vläminger des Mittelalters zu uns herüber, und diese That, die einen Fürsten ziert und sein Volk befreite, verdient den Zeitgenossen eines Königs Leopold zur Ehre der alten belgischen Zeiten vorgeführt zu werden.

[86] Wir müssen bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts zurückgehen. Damals gab es in Europa kein blühenderes Land, als die Grafschaft Flandern. An Wohlstand und Bildung den gepriesensten Städten Italiens nicht nachstehend, erfreuten die flandrischen Städte sich eines Bürgerthums, das die mit saurem Schweiß und harten Kämpfen errungenen Freiheiten gegen die feudale Aristokratie wie gegen die herrschenden Dynasten zu vertheidigen wußte. Die Männer führten Werkzeug, Pflug und Schwert mit gleicher Tüchtigkeit, und unter den Häuptern der Zünfte zeichneten sich nicht wenige, wenn es galt, als Hauptleute auf dem Schlachtfeld aus.

Nach diesen Reichthümern wie nach diesen Freiheiten hielten die französischen Machthaber längst den begehrlichen Blick hingerichtet, und zwar, um jene für sich auszubeuten und diese, als eine zu gefährliche Verlockung für die unter dem Lilienwappen seufzenden Nachbarn, zu vernichten. Leider boten die inneren Kämpfe zwischen dem Volke und den „Geschlechtern“, sowie die vielen Erbfolgekriege zwischen den fürstlichen Familiengliedern den Königen Frankreichs nur zu häufig die Gelegenheit, für ihre Eroberungspläne Boden zu gewinnen. Und auch hier war es nie das Volk, welches die fremde und stets feindliche Macht zu Rath und Hülfe in das Land zog, sondern leider an der Schelde und Maas wie am Rhein, ja wie sogar an der Weser und Elbe, der Adel und die Fürsten; nur selten hat in ihnen die Vaterlandsliebe über die Eigenliebe gesiegt.

Eine solche Gelegenheit bot dem französischen Könige Philipp dem Schönen der flandrische Graf Guido von Dampierre.

Die Leser müssen uns erlauben, nur ein paar Zeilen der Familiengeschichte hier einzufügen, weil sie zum Verständniß der Stellung Guido’s zu seinem Volke gehören. In Flandern genoß auch die weibliche Linie das Recht der Erbfolge; durch die Vermählungen regierender Gräfinnen kamen oft Ausländer auf den flandrischen Grafenthron, und von diesen, die das stolze Volk der Vläminger nicht verstanden, nicht zu würdigen wußten, sondern, von dem glänzenden Reichthum desselben geblendet, ihre Habgier entfalteten, wurden die meisten inneren Kämpfe hervorgerufen. Dagegen konnte jeder volksthümliche Regent darauf bauen, daß er fest auf dem Throne saß, den das Volk schützte.

Guido war der zweite Sohn aus der zweiten Ehe der Gräfin Margaretha der Zweiten von Flandern und Hennegau mit Wilhelm von Bourbon-Dampierre. Zwei Söhne erster Ehe erfreuten sich der Liebe der Mutter nicht, die den drei jüngeren Söhnen das reiche Erbe allein zuwenden wollte. Das war eine fruchtbare Zwietrachtssaat. Der Bruderkrieg begann nach dem Tode des Grafen Wilhelm (1241) und wüthete, bis der Papst und Frankreich Friede geboten und die Erbfolge dahin regelten, daß die Söhne erster Ehe einst in Hennegau, die zweiter in Flandern herrschen sollten. Theilung der Nachbarn war stets in Frankreichs Interesse! – Wir übergehen nun die weiteren Kämpfe, zu welchen auch noch England, Holland und der deutsche Kaiser beigezogen wurden und in welchen der älteste der bevorzugten Söhne Margaretha’s durch Mörderhand fiel. Sie selbst starb im Jahre 1279, und nun ward der Aelteste erster Ehe, Johann, Graf von Hennegau, und Guido Graf von Flandern.

Zwar von französischer Abkunft, aber auf flandrischem Boden geboren, war Guido unähnlich dem Mann, der gegenwärtig auf Belgiens Throne sitzt und ebenfalls eines Fürsten von fremder Abstammung einheimischer Sohn ist, denn übel geleitet und dem Volke fremd geblieben, gab er sich französischen Einflüsterungen hin, die seinem Verderben dienten. Anstatt in seinem Volke seine treueste Stütze zu achten, ließ er sich zu Angriffen auf die Freiheiten und Reichthümer der stolzen Bürger verführen. Es gelüstete ihn nach einer der französischen ähnlichen Herrscher-Souveränetät über Volk und Aristokratie, und in diesem Bestreben unterstützte Philipp der Schöne ihn nach Kräften, um ihm den heimischen Boden unter den Füßen wegzunehmen. Verhaßt im Lande, hatte Guido nur noch den Erzfeind zum Freund, bis er dessen falsches Spiel endlich erkannte. Von diesem Augenblick an, wo er sah, daß die Unabhängigkeit seines Landes und seine eigene Freiheit zugleich bedroht seien, hielt er treu zu seinem Volke und suchte in England Hülfe gegen seinen mächtigen Dränger. Seine Tochter Philippa sollte sogar mit dem englischen Prinzen Eduard vermählt werden.

Trotz all dieser anscheinend so energischen Schritte Guido’s gelang es dennoch den Schmeicheleien Philipp des Schönen, den Grafen zu einer persönlichen Zusammenkunft in Paris zu bereden, wo eine dauernde Freundschaft zwischen den beiden Fürsten geschlossen werden sollte. Guido folgte der Einladung, die an die ganze Familie gegangen war; er, seine Tochter und selbst sein Sohn Robert mit der Blüthe des vlämischen Adels zogen mit großer Pracht in Paris ein, – um sofort in die Gefängnisse zu wandern.

Dieser Wortbruch empörte ganz Flandern, tüchtige Volkshelden,[WS 1] wie Peter de Konink, der Zunftmeister der Wollenweber, der Fleischer Breyel und der Canonicus Wilhelm von Jülich stellten sich an die Spitze der gerüsteten Schaaren und fochten tapfer für ihre Unabhängigkeit. Guido selbst und sein Sohn waren gegen große Versprechungen aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Selbst England und die Niederlande erschienen im Felde – aber das Kriegsglück war bei Frankreichs Fahnen und Guido fiel abermals in Gefangenschaft.

Der neue Kampf, der nun begann, gehört zu den glorreichsten aller Volksbefreiungsthaten. Das Land war von Franzosen überschwemmt, Philipp hatte sich als Graf von Flandern huldigen lassen, der allzeit dem Kronenglanz gefügige Adel hatte sich auch hier gefügt, nur die Bürgertreue und der Bürgerstolz verschmähten jeden Frieden mit dem Feind, dessen übermüthige Heerführer, Jacques de Chatillon, Robert von Artois u. A., auf Ehre und Gut der Bürger gleich drückend die Faust legten, bis die Tage der Rache anbrachen und die „Frühmette von Brügge“ (ein allgemeiner Mordsturm gegen alle Franzosen in dieser Stadt) und die Schlacht von Kortryk (genannt die Sporenschlacht, weil die siegreichen Bürgerschaaren fünftausend goldene Sporen der erschlagenen Fürsten und Ritter sammelten und in der Kirche von Kortryk aufhingen) den französischen Uebermuth demüthigten (1302).

Während dieser Zeit hatten Guido und seine Tochter in dem Gefängniß des Louvre vergebens auf Erlösung gehofft. Philipp der Schöne hatte alle Mittel der Ueberredung angewendet, um den alternden Grafen zur freiwilligen Entsagung auf Flandern zu bewegen. Endlich bedrohte er ihn mit dem Aergsten, mit dem ein Vater zu bedrohen ist, mit der Entehrung seiner Tochter – und er entehrte sie.

Der Moment, in welchem die unglückliche Tochter ihrem Vater die ihr angethane Schmach entdeckt, ist es, den der talentvolle Künstler G. Laves in Hannover, nach dessen Bilde unsere Illustration gezeichnet ist, zur Darstellung bringt.

Als die Nachricht von der Niederlage von Kortryk (Courtrai) nach Paris kam, war Philipp der Schöne entschlossen, sie auf’s Blutigste zu rächen. Ein neues Heer rückte im nächsten Frühling (1303) über die Grenze. Aber so tief erschüttert war das Selbstvertrauen der französischen Krieger, daß sie vor den geordneten Schaaren des flandrischen Volksheeres den Muth verloren; der stolze König sah sich zum Abschluß eines Waffenstillstands genöthigt.

Was nun, das Schwert nicht vermochte, sollte die List vollbringen. Philipp ging zu seinem Gefangenen und versprach ihm die Freiheit und noch weit mehr, wenn es ihm gelinge, selbst als Sendbote bei den Seinen in Flandern einen günstigen Frieden zu vermitteln; zugleich nahm er dem Grafen das Ehrenwort ab, zurückzukehren in die Gefangenschaft, wenn sein Bemühen vergeblich sei.

Graf Guido, der im Elend zum Greis geworden, ging nach Flandern. Aber nicht für, sondern gegen Philipp führte er das Wort. Männlicher, als einst der blühende Mann, stand der Achtzigjährige vor seinem Volk und beschwor es, die Waffen nicht niederzulegen, sondern fest zu beharren im Kampf für die Vollendung der Selbstständigkeit und Freiheit vor Frankreichs Macht. Und als er so sein Volk noch einmal in all der Tapferkeit und Zuversicht gesehen, die seinem Rechte den Sieg verhieß, errang er sich selbst den höchsten Siegeskranz: kein Bitten und Flehen, kein Freundes- und kein Priesterwort konnten ihn abhalten, ein anderer Regulus, seinem Worte als Mann getreu in den Kerker des Erzfeinds zurückzukehren.

Das ist die That, die aus Belgiens Vergangenheit noch in die Gegenwart herüberstrahlt, welche leider so viel zu erzählen wenn von gebrochenen Worten und nicht gehaltenen Schwüren, und deren Andenken dieser Artikel erneuen soll. Graf Guido von Dampierre, Flanderns gefangener Fürst, starb im Gefängniß, 1304, aber sein Volk ward frei.



[87]
Das Thurmzimmer.
Geistergeschichte aus Herder’s Leben.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Der Glaube an dieses ‚Zweite Gesicht‘ könnte doch auch in unserm guten Deutschland vorkommen, Erlaucht,“ bemerkte hier der Hofmarschall, der an der linken Seite des Grafen saß.

„Mag sein,“ fiel der Hofprediger ein; „aber daß nicht eine einzige Stimme aufgeklärterer Einsicht sich erhöbe und geradezu ausspräche, was eine Hallucination werth ist, das könnte in gebildeten Kreisen Deutschlands nicht mehr vorkommen, hoffe ich behaupten zu dürfen.“

„Mit Unrecht, Herr Hofprediger,“ entgegnete der Hofmarschall, „ich bin überzeugt, man braucht in einer Gesellschaft nur zu sagen: ‚alle Menschen von tieferem Gemüth glauben an das Wunderbare und alle Menschen von ausgebildeterem Seelenleben haben in ihrem Leben irgend eine Erfahrung gemacht, welche die Philosophie nicht erklären kann‘: so verstummt der Zweifel und jedes Mitglied einer Tafelrunde fühlt das Siegel von seinem Munde genommen und erzählt eine Geschichte, die ihm begegnet ist!“

„Um sein ausgebildetes Seelenleben zu beweisen,“ versetzte der Hofprediger lachend, „aber versuchen Sie diesen Terrorismus nicht heute Abend, ich würde seinem Schrecken trotzen!“

Die Erlaucht streifte mit einem spöttischen Blick den Hofprediger und sah dann mit einem Augenzwinkern des Einverständnisses den Hofmarschall an.

„Vielleicht,“ sagte der Graf lächelnd, „würde morgen der Herr Hofprediger anders reden, wenn er in der obern Thurmstube das Quartier unsers theuren Gastes, des Herrn Generals, inne hätte.“

„Mein Quartier?“ rief hier der General von Bülow, „ich hoffe nicht, daß Sie mich in eine Gespensterstube einlogirt haben, Herr Hofmarschall?“

„O nein, so schlimm ist’s nicht,“ entgegnete der Hofmarschall, „ich habe das beste Fremdenzimmer für den Herrn General herrichten lassen; das Gemach ist allerdings Gegenstand einer Volkssage oder eines Aberglaubens der Gesindestube, wenn Sie wollen, aber es ist seit Jahren nicht mehr die Rede davon gewesen und zu einem General des großen Friedrich würden sich keine Gespenster wagen!“

„Redensarten, lieber Herr, Redensarten,“ rief der General aus, „ich habe nicht die geringste Lust, das auf den Versuch ankommen zu lassen, ich liebe eine ungestörte Ruhe …“

„Aber in der That, Herr General,“ fuhr der Hofmarschall fort, „es ist seit so langer Zeit nicht …“

„Nichts da,“ unterbrach ihn der General, „ich bekenne mich zum crassesten Gespensterglauben, ich bedanke mich für Ihr Thurmzimmer und …“

„So weisen Sie dem Herrn General ein anderes an, Hofmarschall,“ fiel der Graf ein.

„Erlaucht, alle Zimmer sind besetzt und ich müßte dann einen der anderen Herren bitten, das seine dem Herrn General zu überlassen. Wenn der Herr Hofprediger nichts dawider hätte …“

„Nicht das Mindeste,“ sagte dieser kühl.

„Desto besser,“ fuhr der Hofmarschall fort, und die Erlaucht fiel mit den Worten ein:

„Ein Mann, wie der Herr Hofprediger, hätte jedenfalls auch die wenigste Gefahr zu laufen, wenn an dem besagten Zimmer wirklich etwas Unheimliches haftete!“

„Und weshalb ich die wenigste, wenn Ew. Erlaucht geruhen?“ fragte der Hofprediger.

„Deshalb,“ entgegnete der Graf mit einem etwas malitiösen Lächeln, das um seine feinen, beredten Lippen spielte, „weil der alten Sage nach dem, welcher in dem Thurmzimmer schläft, dort dasjenige Wesen erscheinen soll, an welchem er in seinem Leben das größte Unrecht beging, sich am schwersten versündigte.“

„Das ist ja eine ganz besondere Art von Spuk,“ rief lachend der General von Bülow aus, „jetzt erst bedank’ ich mich recht für ein solches Nachtquartier … eine alte, graue Kriegsgurgel, wie Unsereins, die in ihrer Jugend nicht besser war, als andere auch, wär’ da ja ihres Lebens nicht sicher!“

„Aber Sie werden mir eingestehen, daß ein Mann, wie unser Hofprediger da, am wenigsten von uns grauen oder grünen Sündern zu befahren hat!“

Der Hofprediger zuckte die Achseln. Er fühlte sich verstimmt, zu einer Gefälligkeit gegen den preußischen General gepreßt zu sein, denn obwohl das Land seine Heimath war, haßte er doch Preußen seit den Tagen, wo er in langer, schwerer Furcht geschwebt, daß man ihn zum Militär ausheben und ihn gewaltsam in das grausenhafte Soldatenelend jener Tage hinabziehen werde. Und dann lag etwas in dem Mienenspiel des Grafen, in den Blicken des Generals und des Hofmarschalls, was ihn betroffen machte. War es Spott, war es auf eine Neckerei abgesehen … glaubte diese hochmüthige Militär- und Hofwelt, den Bücherwurm und muthlosem Kirchenmann in ihm hänseln zu können? Der schwarze Gast hatte seine Eitelkeit; schon der bloße Gedanke an so etwas reizte ihn … er beschloß, auf seiner Hut zu sein.

„Es ist allerdings eine ganz absonderliche Art von Sage,“ bemerkte er mit großer Ruhe; „sie ist wesentlich verschieden von allen gewöhnlichen Vorstellungen des Aberglaubens, die eine bestimmte und individuelle Form übernatürlicher Erscheinung an einen bestimmten Ort knüpfen. In dieser Sage aber, wie Ew. Erlaucht sie uns mittheilen, wechselt die Form der Erscheinung je nach der Persönlichkeit, die das Spukzimmer bewohnt; sie ist nicht an den Raum, sondern an die Person gebunden; weshalb folgt sie dann nicht der Person, wenn sie an diese sich knüpft, auch außerhalb des Raumes? Was hat sie überhaupt mit dem Raume zu thun?“

„Ich kann Ihnen nur sagen, was ich selbst, schon als Knabe, darüber gehört habe,“ entgegnete der Graf. „Man soll in alten Zeiten und noch im vorigen Jahrhundert in kritischen Fällen das Gemach der Rechtspflege zur Verfügung gestellt haben. Man hat Mörder da einquartiert und ohne ihr Wissen einen Wächter nächtlicher Weile im selben Raum versteckt, überzeugt, daß die Gestalt des blutigen Erschlagenen ihnen erscheine, daß diese Thatsache sie überführen und durch die auf sie ausgeübte Schreckenswirkung zum Geständniß zwingen würde. So wird erzählt wenigstens!“

Die Gesellschaft lauschte, wenn nicht gläubig, doch sehr still und aufmerksam dieser Mittheilung der Erlaucht; nur der Hofprediger schüttelte den schönen, ausdrucksvollen Kopf und sagte:

„Das lautet Alles sehr märchenhaft! Märchenhaft mehr als volkssagenhaft, und das Einzige, was daraus hervorgeht, ist, daß man in den düstern Zeiten der umnachteten Vergangenheit arme Gefangene nicht allein einer physischen Folter, sondern auch einer moralischen durch Gespensterschrecken unterwarf. Dem Himmel sei Dank, daß alles das hinter uns liegt und über uns die Morgenröthe einer Humanität tagt, die alle Schatten der Nacht und des Aberglaubens als eines freien, klaren Menschengeistes unwürdig verjagt.“

„Sie haben Recht, mein lieber Herr Hofprediger, und wer ein reines Gewissen hat, fürchtet sich nicht vor Erscheinungen derer, an welchen er ein Unrecht beging!“

Bei diesen Worten des Grafen glaubte der Hofprediger abermals das spöttische Lächeln aufzucken zu sehen, das ihn schon früher beunruhigt. Aber zur Beobachtung blieb ihm keine Zeit, der Graf machte dem General eine leichte, wie anfragende, Verbeugung und stand dann auf, um die Tafel aufzuheben.

Die Gäste traten zur weitern Unterhaltung in Gruppen zusammen oder zerstreuten sich.

Der Graf aber zog sich in seine Gemächer zurück. Hier kam nach einer Weile der Hofmarschall zu ihm, der eine kurze, heimliche Unterredung mit ihm hatte; dann trat der Hofjägermeister ein, um noch einige Befehle für die morgende Jagd entgegenzunehmen. Als auch er gegangen, ließ der Graf durch den Kammerdiener die Armleuchter mit den brennenden Wachskerzen auf seinen Schreibtisch stellen und verbot jede weitere Störung für den Rest des Abends.

Er ging eine Weile, wie sich sammelnd, auf und ab, dann setzte er sich nieder und schrieb:

[88] „Sie wissen es, Prinzessin, nach dem Verlust meiner holden Marie, dieses auf Erden wandelnden Engels, die auch Ihnen nahe stand, sind Sie mein einziges Glück; der Verkehr mit Ihnen, wenn auch, ach! durch die Ferne gehemmt, giebt meinem Leben seinen theuersten Werth. Von dem Augenblick an, wo Sie mir schrieben, um mich wie ein süßer Engel des Trostes in meinem Schmerz aufzurichten, ich Ihnen antwortete und so unser Briefwechsel sich entspann, von dem Augenblick an ist aller Inhalt meiner Seele nur noch die Freundin, die mit mir empfindet.

Unser kleiner Plan ist seiner Ausführung nahe gerückt. Er ist Ihre Erfindung, nur ein Gemüth, wie das Ihre, Prinzessin, konnte in der warmen Empfindung für eine tief leidende Freundin einen solchen Plan entwerfen, um ihrem Leiden ein Ende zu machen. Daß er der Erfinderin würdig ausgeführt werde, dafür habe ich alle Sorge getragen. Caroline Flachsland hat mir von Eilsen geschrieben, daß sie dort unter einem andern Namen angekommen und sich daselbst in stiller Zurückgezogenheit halten werde, bis sie Weiteres von mir höre. Ich habe sie heute hierhin beschieden, in der Abendstunde ist sie ungesehen hier angelangt. Herder ist mit anderen Herren zu einer Jagdpartie geladen und befindet sich unter meinen Gästen, unter Einem Dach mit Carolinen! Auf die Entwickelung bin ich gespannt … jedenfalls der kleinen Demüthigung meines jungen Consistorialrathes und Hofpredigers mit Behagen entgegensehend! Nicht allein die kühle Zurückhaltung, worin dieser eitle Mann sich meinem offenen, herzlichen Entgegenkommen gegenüber verhält und meinem Hofe, zu dessen Schmuck ich ihn berief, fern bleibt, hat mich gegen ihn eingenommen. Auch sein Betragen gegen seine Braut ist verletzend für mich. Welches Licht wirft es auf einen Souverain, wenn seine hochgestellten Diener und Beamten, wenn seine Consistorialräthe und Hofprediger vorwenden, ihre Braut nicht zum Altare führen zu können, weil der Landesherr sie zu karg besolde, um eine Frau ernähren zu können! Konnte dieser Mann eine größere Undankbarkeit gegen mich begehen, nachdem ich Alles gethan, um ihm seine Stellung so angenehm und so einträglich zu machen, wie ich irgend vermochte? Aber ich glaube, es giebt nichts Undankbareres in der Welt, als einen Dichter binden und sich verbinden zu wollen; nichts, was mehr eine wolkenhaft sich auseinanderwälzende Expansionskraft besäße, als der Dampf in eines Gelehrten Hirn.

Ich werde diesen Brief morgen mit der Erzählung dessen schließen, wie sich die Sache entwickelt.“

Während der Graf diesen Brief schrieb und darin an den Tag, legte, wie sehr auch er, der berühmte Soldat, der Mann der exacten Wissenschaften, der starke, schöpferische Geist, von der Strömung seiner Zeit beherrscht wurde und im Verkehr mit den tonangebenden Menschen seiner Tage dem Banne jener thränenfeuchten Sentimentalität und Verhimmelungssucht verfallen war, worin alle tiefen „Seelen“ von damals sich spiegelten; während dessen, sagen wir, hatte der Consistorialrath Herder – der Graf hat uns des Mannes erlauchten Namen verrathen – sein Thurmzimmer sich angeschaut. Die Dienerschaft brachte sein Reisegeräth herein und verließ ihn dann, des Generals von Bülow Koffer und Gepäck mit sich fortnehmend. Herder sah nichts Auffallendes an dem Raume; er war nicht einmal ein rechtes Thurmzimmer, er stieß nur an den runden Burgthurm und mochte daher den Namen haben.

Das Einzige, was es von gewöhnlichen Zimmern in alten Schlössern unterschied, war, daß es sehr hoch war und über den durch die dicken Mauern gebrochenen auf den Hof hinaus gehenden kleinen beiden Fenstern eine oben an der Wand herlaufende hölzerne Galerie hatte. An beiden Enden führten Thüren auf diese Galerie, eine niedrige links, eine etwas höhere, aber schmälere, von einem breiten Mauerbogen überwölbte rechts in den Thurm hinein.

Im Uebrigen war es mit der Ausstattung von bürgerlicher Bescheidenheit versehen, die ja dazumal auch in Fürstenschlössern noch herrschte. Eine grüne Tapete, eingelegte Möbel mit blankem Messingbeschlag, einige Kupferstiche an den Wänden, ein Bett mit grün- und weißgestreiften Umhängen von Baumwollenstoff … das genügte damals im Landhause eines regierenden Herrn für die anspruchsvollsten seiner Gäste.

Herder warf den schwarzen Frack ab, um seinen bequemen und wärmeren grauen Jagdrock anzulegen, und nahm seinen Hut, um das Schloß zu verlassen. Er wollte draußen noch eine Stunde die Luft der schönen Sommernacht genießen und still mit sich allein seinen Gedanken nachhängen.

Still war es draußen. Alles Leben hatte sich in das Schloß und seine Höfe zurückgezogen; obwohl der Mond aufdämmerte, und ein lauer Abendwind leise die träumenden Wipfel des die Burg einhüllenden Waldes bewegte, obwohl all’ ihren wunderbaren Zauber die Nacht entfaltete: Niemand von diesem kleinen Hofe war dadurch hinausgelockt worden.

Herder wünschte sich Glück dazu, so allein jenen Zauber auf sich wirken lassen zu können. Er durchwanderte die Anlagen; er zog die frische und doch noch so milde Luft, den würzigen Duft des Waldgeruches ein, er sah zur groß und glänzend aufsteigenden Mondesscheibe empor; er beobachtete das Spiel des bläulichen Lichts mit den flüsternd bewegten Blättern und den sanft geschaukelten Seerosen auf den Hexenteichen … aber er war ein wenig unwillig mit sich selbst, daß dies Alles ihn nicht mit jenen Entzückungen erfülle, von denen eine tiefe, schwärmerische, auf der Höhe der Empfindungsfülle jener Zeit stehende Seele sich pflichtschuldigst dabei hätte überströmt fühlen müssen. Daß in solchen Entzückungen nicht das wahre und gesunde Gefühl besteht, kam in ihm nicht zum Bewußtsein, wenn ihm auch die Ahnung davon kam. Zum Bewußtsein aber kam ihm, daß er nicht die Stellung in seinem jetzigen Wirkungskreise gefunden, die ihn auf die Dauer befriedigen und fesseln könne. Der Graf hatte in ihm den geistvollen, in der Aufgangsperiode seines Ruhmes stehenden Mann an sich ziehen, mit dem Egoismus des großen Herrn ihn für sich vorwegnehmen, gesellschaftlich ausbeuten wollen. Herder aber war gekommen mit dem vollen Selbstgefühl, der vollen Ichlebigkeit, die er besaß; er wollte seinem eigenen Leben, seiner geistigen Arbeit nachgehen und er wollte ganz und vollaus seinen Beruf erfüllen. Er wollte als Prediger sich in keine Rücksichten verschlingen lassen, die ihn hinderten, in der Kirche das Wort der Wahrheit zu künden, das Antlitz dem Volke im Schiffe zuwendend, wie den Chorstühlen der Privilegirten und dem fürstlichen Oratorium.

Während Herder diese persönlichen Verhältnisse überdachte, hatte er sich nach langem Auf- und Abwandern endlich ermüdet gefühlt und unfern des Schlosses in der Gegend des obersten Hexenteichs Platz zum Ausruhen auf einer Gartenbank genommen. Er übersah von hier aus einen Theil des Burghauses, das den Hauptbau des kleinen Schlosses bildete, und das obere Stockwerk des sich rechts daran schließenden runden Thurmes. Der Mond stand hell und voll über dem Gebäude … und – Herder rieb die Augen, um dann schärfer hinzusehen – oben auf dem flachen, nur von einem Zinnenkranz umgebenen Dache des Thurmes, das ein oft benutzter Aussichtsstandpunkt war, sah er eine helle weibliche Gestalt, die, zwischen einem Paar der Zinnen, die Hände auf diese gelegt, stille dastand und in die Nacht hinauszublicken schien.

Die Erscheinung war überraschend, doch auch erklärlich; es konnte eine Person vom weiblichen Hofgesinde da oben die Nachtluft genießen wollen. Was für den jungen Hofprediger nur Auffallendes, Aufregendes dabei, das war, daß die Umrisse der Gestalt, ihre Haltung ihn eigenthümlicher Weise an seine Braut erinnerten. Diese Erinnerung war mit keinem Gefühle verbunden, welches seine Stimmung rosiger machte. Sein Verhältniß zu der unglücklichsten Freundin in Riga, aus deren Armen er sich vor zwei Jahren gerissen, und jetzt das zu seiner Braut Caroline Flachsland war nicht so, daß er darin die Ermuthigung zu gesteigertem Selbstbewußtsein sehen konnte. Er hatte mit glühender Seelenschwärmerei Carolinen zu Füßen gelegen und Beide hatten sich ausgiebigst verhimmelt. Aber zarter Frauensinn ist realerer Natur, um aus bloßer Verhimmelung auf die Dauer Befriedigung zu schöpfen. Was der Hofprediger seelenhafter im Sinne idealer Freundschaftshingabe gedeutet sehen wollte, hatte Caroline einfacher und klarer, vielleicht auch ein wenig praktischer aufgefaßt. Der Briefwechsel, den Beide führten, war deshalb eine Quelle unsäglichen Schmerzes für Caroline geworden. Bald von Hoffnungen, bald von Gedanken der Entsagung bewegt, bald neuen Ergüssen der Leidenschaft und dann wieder tiefer Niedergeschlagenheit sich hingebend, befand die Arme sich in einem Zustande rastloser Pein, die verschärft wurde durch die Misère einer höchst drückenden äußeren Lage, worin sie sich befand.

So war das Verhältniß Herder’s zu Caroline Flachsland, die in ihrem Aufenthaltsort Darmstadt an einer unvermählten, am [89] dortigen Hofe sich aufhaltenden und durch Bildung und Liebenswürdigkeit glänzenden Prinzessin von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld, – dieselbe, an welche wir den Grafen vorhin schreiben sahen – eine warme Freundin und Vertraute ihrer Schmerzen gefunden hatte.

Wir erklären uns jetzt, weshalb Herder, nachdem er lange die befremdliche Erscheinung im Mondlicht da oben angeschaut, die ihm das Bild der fernen leidenden Geliebten vor die Seele zauberte, tief aufseufzte, dann mit einem leisen Schütteln, das durch seine Gestalt hinlief, aufstand und mit raschen Schritten, als wolle er der über ihn gekommenen Stimmung entgehen, dem Schlosse zueilte. Als er die dunkle Baumpartie, welche ihn von diesem trennte, hinter sich hatte und wieder zur Plattform des Thurmes aufblickte, war die Gestalt verschwunden. Die Schloßuhr schlug Zehn, ein großer Theil der Bewohner schien schon zur Ruhe gegangen, um sich für die Anstrengungen des morgenden Jagdtages zu stärken.


3.

Ein Lakai begleitete Herder in sein großes Thurmzimmer und zündete dort die Lichter auf dem Spiegeltisch an. Nachdem er gegangen, untersuchte Herder den Raum, überzeugte sich, daß die Thüren und die Blendläden wohl geschlossen und an seinem Bette nichts Verdächtiges zu bemerken, und dann nahm er sein Jagdgewehr und lud beide Läufe, um es so an das Fußende seines Bettes zu stellen.

„Man wird sich hoffentlich keinen rohen Jagdspaß mit mir erlauben wollen,“ sagte er sich, „sollte es aber dennoch sein, nun wohl, man wird sehen, daß ich auch mein Jagdgeräth habe. Gegen Geister giebt’s keine Gesetze, sondern gegen sie gilt nur Nothwehr!“ Er hätte die Lichter brennen lassen mögen, aber sie verhinderten ihn alsdann am Schlafen. So blies er sie aus, in dem Gedanken, daß er nur die Blenden der Fenster aufzureißen habe, um das Mondlicht oder später die Dämmerung der Sommernacht in den Raum eindringen zu lassen.

Er legte sich nieder. Seine Gedanken wendeten sich sehr bald wieder ihrer früheren Richtung zu. Der Argwohn, daß der Graf irgend ein Gaukelspiel, um ihn zu necken, beabsichtige, trat dabei in den Hintergrund und entschwand ihm endlich fast völlig. Es verstieß zu sehr gegen den ernsten Charakter des Grafen, zu sehr wider die Würde, die der junge Mann bereits einnahm, und ohnehin war ja nicht daran zu denken, weil man dies Spukzimmer eigentlich und ursprünglich nicht ihm bestimmt, sondern dem preußischen General eingeräumt hatte, er, Herder, war ja nur so zu sagen durch einen Zufall in den Raum, an dem eine Burgsage haften sollte, gekommen, nur, weil der alte preußische Degenknauf sich als einen solchen Hasen ausgewiesen hatte!

Herder’s Augen schlossen sich endlich. Er entschlief.

Er entschlief, ruhig und fest. Nur ein heftiges Geräusch in seiner Nähe hätte ihn wecken können. Das Geräusch, das ihn – er wußte natürlich nicht, ob nach längerer oder kürzerer Zeit – plötzlich erweckte, war auch heftig genug. Es war wie das Rollen eines Donners über seinem Haupte, das, rasch wieder an Stärke abnehmend, wie in der Ferne leise verhallte. Herder fuhr empor, er fühlte sein Bett unter der Heftigkeit der ersten Schläge erzittern … war ein Gewitter ausgebrochen? Es konnte nicht sein, am Nachthimmel war ja vorher nicht die geringste Wolke zu bemerken gewesen, und doch, ein Blitzstrahl zuckte auf und schnitt in die völlige Finsterniß, die im Raume herrschte, hinein, aber nein, es war kein Blitz, es war ein Lichtstrahl, ein heller Schein, oben rechts auf der Galerie.

Herder’s Bett stand an der der Galerie gegenüberliegenden Wand. Er konnte die Galerie übersehen ihrer ganzen Länge nach. So wie sein Auge dem oben auftauchenden Lichte zuflog, erblickte er eine Erscheinung, welche ihn völlig athemlos machte, welche ihm fast die Sinne wieder raubte, die er so eben rasch und schnellkräftig dem Traumleben entrissen und gesammelt hatte … eine Erscheinung, die ihn wie in den Schwindel des Traumlebens zurückstürzte und in schwerem Auf- und Niedergehen seine Brust sich heben ließ.

Die kleine Thür, die von der Galerie in den Thurm führte, hatte sich geöffnet. Unter dem Bogen derselben, in dem Rahmen der gewaltigen Thurmmauern stand eine hohe weibliche Gestalt, umflossen von einem hellgrauen Kleide, das braune Haar gelöst; es hing reich um die Schultern nieder; das Haupt, die schöne Stirn ein wenig gesenkt, die Wangen bleich, die Züge wie von tiefem Schmerze ausgeprägt, in ihrer Hand ein alterthümlicher Leuchter mit einem brennenden Lichte, welches diese von tiefer Schwermuth sprechenden Züge beleuchtete … und diese Züge, diese Gestalt – der erschrockene junge Mann konnte keinen Augenblick im Zweifel darüber sein – waren die seiner Braut!

Caroline!

(Fortsetzung folgt.)




Das Arbeitsmekka der Thüringer Frauenwelt.


Um die Markscheide dieses und des vorigen Jahrhunderts konnte man zu Michaelis und zu Ostern jeden Jahres aus einem kleinen Landstädtchen des nordöstlichen Thüringens ein schmächtiges Männchen mit einem Reff auf dem Rücken zur Leipziger Messe wandern sehen. In dem Reff barg sich des Mannes ganzer Reichthum, der Fleiß, die Arbeit seiner eigenen Hände. Da lugten hervor gestrickte grauwollene Jacken, gewirkte Unterhosen und jene berühmten weißen Zipfelmützen, die noch bis zur Neuzeit als das Wahrzeichen des echten deutschen Spießbürgerthums gegolten haben. Das Landstädtchen, aus dem jener Wandersmann zog, zählte dazumal kaum dreitausend Einwohner und bestand aus vielen kleinen, winkeligen Gassen mit niedrigen, meist unscheinbaren Häusern. Da sich die Bewohner den größten Theil ihrer Lebensbedürfnisse draußen im Felde selbst bauten, so sah man auf den meist ungepflasterten, hie und da von einem offenen, schmutzigen Bache durchflossenen Straßen auch überall die weder dem Gesichte, geschweige dem Geruche sehr zusagenden Spuren jener ländlichen Thätigkeit. Bei der vollständigen Reizlosigkeit der sogar theilweise morastigen Umgebung verirrte sich selten ein fremder Wanderer dahin. Selbst der sonst so wanderlustige Studio von dem nur zwei Stunden entfernten Jena kannte den Ort, wohin unwirthsame Wege führten, fast nur aus einem alten Liede, worin es hieß: „Knaster, den gelben, hat uns Apolda präparirt.“ So nämlich hieß der Ort. Oede und Stille lag über ihm, die nur durch das eigenthümliche Schnarren der vielen Wirkerstühle, dem Ohre nicht eben erquicklich, unterbrochen wurde. Und wenn nun gar die Nacht hereinbrach, so lagerte sich, wenn nicht gerade der „bleiche Wächter der Liebe“ am Himmel stand, tiefes Dunkel in den von keiner Laterne erhellten Straßen.

Das aber sollte anders werden mit dem Orte, und wie anders ist es geworden!

Aus dem kleinen, unbekannten Landstädtchen ist eine bedeutende, vielgenannte Fabrikstadt geworden. Neue, große Häuser, zum Theil stolze Paläste, erheben sich in ganz neuen Stadtvierteln. Die Bevölkerung ist rasch um mehr als das Doppelte gestiegen, und wenn sich Mittags und Abends die Arbeitssäle der hohen Häuser öffnen, so ziehen Tausende durch die einst menschenleeren, jetzt wohlgepflasterten und gaserleuchteten Gassen. Auf neu angelegten Straßen sucht sich die weite Umgegend der einst Verachteten allwärts zu nähern. Einer der bedeutendsten deutschen Schienenwege, die Thüringer Eisenbahn, führt knapp dort vorüber, obwohl diese Annäherung um den Preis von Menschenleben und Tausenden von Actien hat erkauft werden müssen. Stolz und hoch hebt sie ihr Haupt, die einst Verlassene.

Der aber, der zumeist diese Umwandlung geschaffen, war fast einzig jener schlichte Wandersmann mit dem Bündel auf dem Rücken. Auf der Leipziger Messe hatte sich mit seinem Geldbeutel auch der Kreis seiner Erfahrungen erweitert. Die simplen Jacken und Schlafmützen genügten ihm bald nicht mehr – den fremden Nationalitäten, welche ihm dort begegneten, gedachte er ihre bunten Kleider zu gewähren. Der Geist der Speculation kam über ihn. Er sann nach neuen Mustern in allerlei bunten, gefälligen Farben.

[90] Nicht blos für die hausbackene Zweckmäßigkeit, auch für den Luxus begann er zu arbeiten, von dem er viel bessere Procente zu erwarten hatte. Seine eigene Werkstatt wurde ihm zu klein. Er ließ andere Meister noch für sich arbeiten nach seinen vorgelegten Mustern und gab ihnen nur das bunte, wollene Garn dazu. Er wurde Unternehmer und Verleger, der Strumpfwirkermeister Christian Zimmermann. Ein nebenbei getriebener Lederhandel führte dabei seinem Betriebscapitale noch manche Quelle zu. Der eigene Wirkerstuhl, an dem er Tag und Nacht fleißig gesessen, verschwand, aber bald regten sich an seiner Stelle hundert andere für ihn. Das Reff wanderte in die Rumpelkammer, dagegen führten auf der Landstraße jetzt mehr und immer mehr hoch aufgethürmten Frachtwagen die Schätze des Hauses Christian Zimmermann dem großen deutschen Stapelplatz des Welthandels zu. Und als der Meister im Jahre 1843 sich zur ewigen Ruhe hinlegte, war aus dem armen Strumpfwirker ein reicher, weithin in der Handelswelt geachteter Fabrikherr geworden. Wie weit schon damals der Vertrieb des Geschäftes ging, bezeugt folgende in der Geschichte des Hauses bewahrte Tradition.

Eines Tages stand der Chef der Handlung auf dem Parquetboden des fürstlichen Empfangszimmers im Weimarischen Schlosse, dahin gerufen, von dem ihm wohlwollenden Landesherrn das Lob seiner Tüchtigkeit zu empfangen. Der leutselige Herr muntert ihn auf, seine Fabrikate zu immer größerer Vollkommenheit zu bringen, und läßt ihm bei der Gelegenheit namentlich bunte Artikel vorzeigen, welche er für seine fürstlichen Kinder in Italien gekauft hat. Der Fabrikant von Apolda betrachtet prüfend das ihm vorgelegte Gewebe. Dann bittet er um die Erlaubniß, mit einem Messer eine faltige Kante auftrennen zu dürfen. Man gewährt die Bitte, und der erstaunte Fürst erblickte eingenäht in das Gewebe das wohlbekannte Fabrikzeichen des Hauses Zimmermann. Was er in fernen Landen als kostbare Waare mit schwerem Geld erkauft – es war das Product seines eigenen vor ihm stehenden Staatsangehörigen.

Mit dem Tode seines Gründers ging das Geschäft Christian Zimmermann’s auf seine beiden Söhne, Wilhelm und Louis, über. Die Brüder wußten dasselbe immer mehr zu erweitern und ihm seinen Weltumfang zu verleihen. Während der eine durch weite Reisen die entlegensten Geschäftsverbindungen anzuknüpfen verstand, wußte der andere das Geschäft technisch mehr zu vervollkommnen, wogegen ein als Associé herangezogener Verwandter, Wiedemann, die innere kaufmännische Leitung besorgte und ein befreundeter Rechtsanwalt vielfach rathend zur Seite stand.

Rasch nacheinander, im Sommer und zu Weihnacht des Jahres 1854, in der Blüthe der Mannesjahre, starben schon die beiden Brüder Zimmermann, nachdem ihnen fünf Jahre vorher ihr treuer Compagnon Wiedemann vorangegangen war. Fast in jedem Hause in Apolda, wo nur immer das Schnarren eines Wirkerstuhls sich hören läßt, hängen in Glas und Rahmen die zu einer Gruppe vereinigten treuen Bildnisse der beiden Brüder und ihres Geschäftsgenossen mit der schmucklos rührenden Unterschrift: „Denkmäler in den Herzen der Apoldaer“, die einzigen Erinnerungszeichen, welche sich ihre treuen Arbeiter gönnten, nachdem sie, die Hochverdienten, die Errichtung eines Denkmals aus Stein und Erz, das ihnen jene zugedacht, als ihrem einfach geraden Sinne zuwider zurückgewiesen, sich selbst aber durch vielfache milde Stiftungen, deren großartigste die Gründung und Fundirung einer Realschule, bleibende Denkmäler in der Heimath ihres Wirkens geschaffen hatten.

Obwohl den Todten keine männlichen Erben folgten, so lebte doch ihr Geist in dem Geschäfte und dieses selbst fort. In den beiden jetzigen bekannten Vertretern des Geschäfts (Wiedemann und Kräuter) findet sich wieder die wunderbare Vereinigung des technisch industriellen mit dem kaufmännischen Genius.

Indeß kam für das fast allzurasch emporgeblühte Apolda – wo natürlich außer dem Zimmermann’schen Geschäft nach und nach noch eine große Anzahl ähnlicher Verleger oder Fabrikanten entstanden waren, obschon keiner von der Bedeutung der genannten Firma – auch einmal eine kurze Zeit der Prüfung. Es war dies die bekannte von Amerika ausgehende Handelskrisis vom Jahre 1857. Da sanken viel der allzu kühn emporgewucherten Häuser plötzlich in einer Nacht zusammen. Schreck und Angst überkam die ganze Stadt – nur das Haus der Gebrüder Zimmermann und die alten mit ihm fast zu gleicher Zeit aufgewachsenen Firmen standen unerschüttert in der aufgerüttelten Sturmfluth, die sich eben so rasch legte, wie sie kam.

Fragen wir nun, welcher Art die Fabrikate sind, die Apolda’s Wollenindustrie erzeugt, so bedarf es nur eines Eintritts in den großen Mustersaal des Zimmermann’schen oder einer der andern Firmen. Hier ist es zunächst der prächtige Farbenreichthum, der den Eintretenden blendend in’s Auge fällt. In den buntesten Farben, von dem schreiendsten Roth bis zum milden Rosahauch, von dem düstern Schwarz bis zum lachenden Weiß in allen Schattirungen prangen hier die in je einer Species vertretenen Muster. Es sind deren nahezu an viertausend. Für jedes Alter, für jedes Geschlecht ist gesorgt. Von dem niedlichen schwarz- und rothgestreiften Kinderstrümpfchen, von dem rothen Röckchen und der kleinen runden Mütze des Knaben bis zu der warmen Bein- und Brustkleidung des alternden Rheumatikers, bis zu der kältescheuchenden Capuze der alten Großmama finden da ihre Vertretung. Der rohe Bauernknecht trifft seine Pudel- wie der gebildete Hausknecht seine runde Troddelmütze, der Handwerker seine bequeme Wollenjacke, wie der Mann von feinem Ton sein zartes Leibjäckchen. Die dralle Magd wird ihr Auge auf die ihre kräftige Taille im vortheilhaften Lichte zeigende Leibjacke mit dem grauweißen Besatze richten, während das Fräulein vom Hause den buntkantigen „Seelenwärmer“ mit gleichbewußter Koketterie um das schon warm genug schlagende Herz hüllt. Da liegt der reizende „Fanchon“, als lieber Substitut des unbequemen Hutes für Ball, Concert und einen raschen Abendgang, die „Schneehülle“, ihm verwandt, in der That wie aus dem feinsten Geflöck der Federn des Himmels gewoben, der kiss-me-quick (Küß mich schnell), seines gefährlichen Namens wegen von der gestrengen Mutter ebenso sehr gehaßt, wie von der Tochter gerade darum um so inniger geliebt, der Taillen- und Pulswärmer, die Halbärmel in den mannigfachsten Formen, derb und zart. Weiter in die Geheimnisse der Damenwelt einzudringen, dürfen wir nicht wagen, und doch fesseln uns jene feinen, seidenartig sich anfühlenden Halbstrümpfchen – zaubernd wirken sie auf unsere Sinne, denn wir erfuhren, daß sie ihren Weg nehmen dahin, wohin zwar die Phantasie unserer Dichter uns so schmeichelnd lockt, aber noch keines Christenmannes Fuß getreten, den Weg in’s Harem des Großsultans. Und siehe da, unserer wach gerufenen Einbildungskraft fängt es an, im ganzen Saale sich zu regen und bunt zu beleben, als wären wir mitten in einer Maskerade. Ganz fremdartige Gestalten, Croaten und Walachen in weißen, langen Mänteln, Neapolitaner mit den langen, rothen Schiffermützen, Spanier in kurzen Strümpfen, Türken im langen Kaftan, Griechen im hohen Fez, Russinnen in verbrämter Kazawaika, Polen, phlegmatische Amsterdamer, feurige Mexicaner und Brasilier treten in den Saal und hüllen sich in die für ihren Bedarf gemachten Stoffe. Vollständige Anzüge hängen an den Wänden – Alles aber, selbst die Gardinen der Fenster, ist gewirkt von dem Vließe des bekannten, dumm gescholtenen Thieres.

Die Gartenlaube wird bekanntlich gelesen, so weit die deutsche Zunge klingt,[1] der Vertrieb der Apoldaer Wollenwaaren kennt jene Sprachgrenzen nicht. Italien, Spanien, Ungarn und die Walachei, Rußland, die Türkei, Griechenland, Holland und das weite Amerika sind die außerdeutschen Exportsplätze Apolda’s.

Die Fabrikation der Waaren selbst geht ungefähr in folgender Weise vor sich. Sie beginnt nicht mit der Bearbeitung der Schafwolle, obwohl dies früher theilweis geschah. Man kauft vielmehr in Apolda die Wollengarne von den großen deutschen, englischen und französischen Garnspinnereien und läßt sie sodann im Orte selbst, in nächster Nähe und auswärts, namentlich in Berlin, färben. Die Garne werden sodann den Arbeitern zur Verarbeitung nach vorgelegten Mustern zugewogen. Die Arbeiter selbst sind der Mehrzahl nach in ihrer Wohnung auf ihren eigenen Stühlen arbeitende Strumpfwirkermeister, nur der geringere Theil arbeitet auf den Stühlen der Fabrikanten, insbesondere da, wo diese Stühle von complicirter Natur oder gar Fabrikgeheimnisse find. Das Garn wird zunächst gespult. Frauen verrichten diese ihnen von Alters her gewohnte Arbeit. Die Garnspulen werden an die Wirkerstühle befestigt, welche abspulend die Fäden dann zu einem Ganzen wirken. Von Wirkerstühlen giebt es sehr verschiedene Arten [91] und Abtheilungen, wovon auch der einfachste ziemlich complicirt in seinem Bau ist.

Es würde für den Zweck dieser Darstellung zu weit abführen, auch bei dem Mangel eigener Anschauung zu ermüdend sein, ja selbst gegen die geschäftliche Discretion verstoßen, die Construction derselben zu beschreiben. Im Wesentlichen lassen sich alle die verschiedenen Complicationen des Stuhls zurückführen auf die ursprünglichen Bewegungen des Strickens und Häkelns.

Die vier Thätigkeiten, welche die Mutter dem Kind, wenn es den ersten Strumpf stricken soll, vorlernt und welche das liebe, kleine Ding sich immer vorsagt: hineingestochen, aufgehoben, durchgezogen, abgetippt, diese vier Thätigkeiten übertragen sich auch auf den Wirkerstuhl, wenn es sich dort auch in hundertfachen Abstufungen und Complicationen wiederholt. Denn jede neue Gattung Waare erfordert einen neuen Stuhl. Der Wirkerstuhl bildet, wie beim Strickstrumpf die Finger durch die Bewegungen, durch das Aufheben und Senken vieler nebeneinander liegender Nadeln aus den einzelnen von den Spulen herabhängenden Fäden Maschenreihen, welche durch ihre Entstehung schon ineinander geschlungen sind und demnach eine zusammenhängende (gewirkte) Fläche darstellen. Die menschliche Hand reicht der Maschine nur den Faden und setzt dann zugleich mit dem tretenden Fuß den Stuhl in Thätigkeit. Bei gewissen Stühlen neuer Construction, namentlich bei den sogenannten mechanischen Stühlen, reducirt sich diese Thätigkeit fast auf nichts, oft nur auf das Drehen einer Kurbel.

Bereits ist man so weit, daß mehrere Stühle zugleich, durch breite Riemen verbunden, durch eine schwache Kraftäußerung in Thätigkeit gesetzt werden, und der Anfang zur Benützung der Dampfkraft ist damit gegeben. Für den Nichteingeweihten macht es einen wunderbaren Eindruck, wenn er z. B. vor einem „Rundstuhle“ stehend sieht, wie die zwölf oder sechzehn Garnfäden von verschiedener Farbe, welche von dem obersten Ringe aufgespult lose herabhängen, aus der in Bewegung gesetzten Maschine plötzlich, in wenig Secunden unten als bereits fertiger Longshawl oder als Puddelmütze, die nur abgeschnitten und oben zusammengeknüpft zu werden braucht, zum Vorschein kommen, wobei das Auge äußerlich nichts wahrnimmt, als eine Menge im Zickzack sich bewegender kleiner Nadeln, während das Ohr ein rasselndes, knatterndes Geräusch vernimmt. Den fertigen Strumpf, die fertige Hose oder Jacke liefert der Stuhl natürlich nicht, vielmehr nur die einzelnen Theile derselben, und Frauenhände, deren überhaupt sehr viele in Thätigkeit gesetzt sind, fügen die Stücken zu einem Ganzen. Aber auch in dieser Richtung ist man weit vorgeschritten und werden z. B. kleine Strümpfe auf einzelnen Maschinen ohne Naht bis zum Fersenstück gefertigt. Die meisten der vom Stuhle herabgekommenen Waaren werden dann noch gewaschen; die weißen Artikel, besonders Jacken und Hosen, geschwefelt und heiß erwärmt, erstere auch in hydraulischen Pressen gepreßt, letztere über hölzerne Formen gezogen, theilweis auch gerauht und appretirt, bis Alles zuletzt nochmals durch eine prüfende Frauenhand läuft (repassirt), die verbessernd und ergänzend nachhilft, hier einen Saum nähend, dort einen Besatz, Knopf und Knopfloch anfügend. Nun erst kommt es auf die Lagerräume und wird dort mit andern seiner Gattung zusammen in einem Raume sortirt, erhält Namen und Etikette und harrt nun seiner Bestimmung.

Die gewaltige Masse von Kisten, welche eigens mit deren Anfertigung beschäftigte Böttcher in dem geräumigen Hofe aufgestapelt haben, entführen die also gewonnenen Producte in die weiteste Welt. In dem geräumigen, geheimnißvoll stillen Parterresaal sitzen schweigend die zum Theil schon sehr ehrwürdigen Meister des Comptoirs und summiren die langen Zahlenreihen von Soll und Haben.

Wir sind mit unserer Betrachtung noch nicht am Ziele. Der Wirkungskreis der Apoldaer Fabrikarbeit ist noch lange nicht erschöpft. Ein ganz neues wunderbares Feld der von dort angeregten Thätigkeit müssen wir noch betreten: das ist die Hausindustrie der für die Apoldaer Fabriken arbeitenden Frauen. Das führt uns aber weit über die Bannmeile der Stadt hinaus. Zunächst in den nächstgelegenen Städten, dann aber weiter und weiter bis gen Leipzig und Halle, bis in’s Hessenland und an die Grenze des Franken- und des Voigtlandes – bis dahin erweitert sich das Fabrikweichbild Apoldas – überall regen sich fleißige Frauenhände, vom zarten Kinde bis zur greisen Matrone, im Solde der Apoldaer Fabrikanten. Wie viele es deren sind, das ist nicht zu ermitteln, am wenigsten weiß es der Fabrikant selbst, denn dieser hat es immer nur mit einzelnen Frauen, als seinen Agentinnen, zu thun, welche oft selbst wieder Unteragenten haben. Es ist wie eine geheime stillarbeitende Fabrik.

Die Agentinnen holen die Wollgarne und die Muster in Apolda und nun vertheilt sich die Arbeit in Tausende der zarten Hände. Da ist es das kleine Töchterchen, welches, nachdem es seine Schularbeiten gefertigt hat, emsig zur Häkelnadel greift, um für noch viel kleinere Bübchen und Mädchen Söckchen zu häkeln und mit deren Ertrag seine Sparbüchse zu füllen. Es reiht mit seinen zarten Fingerchen sich auch mit ein in die große Welt der Arbeit – es strickt für Apolda. Da ist die gebildete Haustochter, die ihren Schiller und Goethe vor sich liegen hat, sie will von dem heimlich Ersparten dem Papa oder einem noch heißer Geliebten ein Geburtstagsgeschenk machen – sie strickt für Apolda, zugleich mit dem Dienstmädchen, draußen in der Küche; die harten, schwieligen Hände wollen sich nicht um die glatten Filetnadeln schmiegen, aber der gewöhnliche Dienstlohn reicht nicht hin, um in den Besitz einer langersehnten Crinoline zu kommen – sie strickt für Apolda. Die junge Mutter, wie füllt sie die Stunden aus, welche sie Ruhe schaukelnd an der Wiege ihres Kindes zubringen muß? – sie strickt für Apolda, und mancher Zuckerplatz, der im Wirthschaftsgeld nicht mit berechnet ist, fällt dem lieben Schreier damit zu. Das alte Mütterchen, das da klagt und jammert, daß es doch, seit die müden Füße den Dienst versagen, zu gar nichts mehr nütze sei auf der Welt, es regt noch die knochendürren Hände und – strickt für Apolda und reiht sich so von Neuem wieder mit ein in das Reich der menschlichen Thätigkeit. Die sonst saßen und spannen in den langen thüringischen Winternächten – sie stricken jetzt für Apolda. Und es ruht gar vielfacher Segen in dieser Arbeit. Sie bietet eine theilweise Lösung der Frauenarbeitsfrage und hat vor allen andern derartigen Versuchen den unschätzbaren Werth für sich, daß sie das Weib nicht dem Kreis seiner weiblichen Pflichten entfremdet, daß sie es nicht davon abzieht, wo es allein seine gottgeweihte Heimath haben soll, von dem Heerde des Hauses. Und dann noch Eins. Bei uns ist bekanntlich nicht, wie drüben in der neuen Welt, alle Arbeit eine gleichgeachtete. Sie theilt sich noch ab nach Ständen und erzeugt den Begriff der Arbeitsscham. Auch hier hilft Apolda.

Die Pfarrer- und Beamtenwittwe, welche von ihrer kärglichen Pension nicht sich und die armen Waisen ernähren kann und doch aus den Tagen ihres Glückes nur eine feine, harter Arbeit ungewöhnte Hand errettet hat, sie sitzt vom frühen Morgen bis tief hinein in die Nacht an der Häkel- und Filetnadel, und auch die ältern Töchter helfen fleißig mit. Der Frauenhand fällt überhaupt der größte Theil der apoldaischen Fabrikarbeit zu. Ihr fällt namentlich auch anheim das Vertheilen der verschiedenen Waarenarten in den vielgegliederten Waarenspeichern, das Sortiren und Etikettiren. In den weiten Liefersälen tragen die Frauen und Mädchen, kommend und gehend, in großen gehäuften Körben die Garne fort und die Arbeiten zurück.

So ist Apolda für einen großen Theil der thüringer Frauenwelt das Mekka geworden, wohin man lohnender Arbeit willen pilgert.

Wenn wir schließlich noch erwähnen, daß nach statistischen Notizen vom Jahre 1864 in Apolda jährlich etwa 25,000 Centner wollner Garne im Durchschnittspreise von 3,750,000 Thaler verarbeitet werden und die jährlichen Arbeitslöhne in runder Summe 500,000 Thaler betragen, so geschieht dies, um damit unsere Angaben über den Umfang der Apoldaer Industrie nur zu rechtfertigen.

Auf der Weltindustrieausstellung zu London trat Apolda schon allein siegreich auf für die Ehre thüringischer Industrie, bei der kommenden zu Paris wird es einer der wichtigsten Kämpfer um den Siegespreis deutschen Gewerbfleißes werden.

Fr. Helbig.



[92]
Die Wasserleitung der Stadt Leipzig.
Von Wilhelm Hamm.


Mit dem ersten Tage des laufenden Jahres hat die Stadt Leipzig ein Geschenk erhalten, auf welches sie stolz sein darf: es ist ihr an diesem Tage die neue Wasserleitung übergeben worden. Zwar fehlte und fehlt es der Stadt keineswegs an Wasser, sie liegt mitten in einem engmaschigen Flußnetz, welches ihr nicht selten mehr davon zukommen läßt, als sie gebrauchen kann, besitzt viele vortreffliche Brunnen und außerdem zwei sogenannte Wasserkünste, welche, durch die Stromkraft betrieben, das Flußwasser der Pleiße in die Stadt vertheilen. Nichtsdestoweniger waren Rath und Stadtverordnete Leipzigs einstimmig der Ansicht, daß die Beschaffung eines wirklich guten Wassers eine der ersten Aufgaben der Wohlfahrtspolizei und ein Zuviel in dieser Hinsicht gar nicht denkbar sei. So entstand mit Rücksicht auf das von Jahr zu Jahr in außergewöhnlichem Maße steigende Wachsthum der Stadt und ihrer Bevölkerung die neue Wasserleitung. Sie ist so musterhaft angelegt und ausgeführt, daß ihre Beschreibung einen Ehrenplatz in der Gartenlaube verdient, anderen Städten und deren Behörden zur Beherzigung und Nacheiferung!

Den Segen guten Wassers in ausreichender Menge recht würdigen lernt nur der, welcher ihn längere Zeit hindurch hat entbehren müssen. In den starkbevölkerten Städten steht nur allzuhäufig neben dem „Tod in der Luft“ der „Tod im Wasser“! Seit Jahrhunderten hat sich der Erdboden vollgesogen mit Fäulnißstoffen der Auswürfe, welche von der Feuchtigkeit der Niederschläge und dem Grundwasser weiter gespült werden, bis sie aus den durchlassenden Untergrundschichten in die Brunnen sickern, welche, von gewöhnlichen Handarbeitern ohne Kenntniß und Ueberlegung ausgeführt, sich meistens allzu nahe an den Heerden jener Miasmen befinden. Eine dauernde Brunnenvergiftung tritt ein, gegen die es kein Mittel giebt. Der Mensch ißt und trinkt den Tod in dem Wasser, das er zum täglichen Gebrauche schöpft. Es ist durch die neuesten Forschungen bis zur Ueberzeugung erwiesen, daß das Grundwasser der Träger und Verbreiter der Krankheitsstoffe der Cholera, des Typhus ist; die Wenigsten wissen, daß auch die Eingeweidewürmer, Tänien, Ascariden, Filarien (vielleicht sogar auch die Trichinen!) etc. mit größter Wahrscheinlichkeit durch das Brunnenwasser in den menschlichen Körper gelangen. Das sicherste Mittel gegen den Tod im Wasser sind aber die Wasserleitungen. Das haben schon die Alten erkannt, vor allen Andern die Römer. Noch heute zeugen in Italien und Iberien, am Propontis und am Rhein mächtige Trümmer von der Großartigkeit ihrer Aquäducte.

Bei dem Drang nach Centralisation, der unsere Zeit auszeichnet, und dem Anwachsen der Städte in seinem Gefolge reichen gewöhnlich die vor vielen Jahren angelegten Wasserversorgungsanstalten in gegebener Frist nicht mehr aus und dann gilt es, deren neue schaffen. Da fragt es sich nun zunächst: Wie groß ist der völlig hinreichende Wasserbedarf per Kopf der Bevölkerung und Tag? Die Leistungen der altrömischen Aquäducte, selbst die Annahmen in südlichen Ländern darf man dabei für den gemäßigten Himmelsstrich nicht zur Unterlage nehmen. Sammelt man dagegen die bisherigen Erfahrungen der Neuzeit in Deutschland, Frankreich und England, so kommt man zu dem bescheidenen Resultat, daß der Wasserbedarf einer Bevölkerung, alle gemeindlichen Zwecke mit einbegriffen, sich durch drei bis vier Kubikfuß täglich vollkommen hinreichend decken läßt. Darnach würde die Stadt Leipzig gegenwärtig täglich mit 350,000 Kubikfuß Wasser versorgt werden müssen.

Dieses Quantum zu liefern vermochten die beiden alten Wasserkünste der Stadt – die schwarze und die rothe Kunst – ebensowenig, wie ein zu allen Zwecken taugliches Wasser zu spenden. Im Gegentheil war theils durch die jetzt schon oberhalb der Werke stattfindende Inficirung der Pleiße, theils durch die Verschlämmung der Leitungen das Röhrwasser nach und nach so verschlechtert geworden, daß es nur noch zu den allerniedrigsten Gebrauchszwecken zu verwenden war. Gleichzeitig hatte sich bei einer gründlichen chemischen Untersuchung der in der Stadt angebrachten Pumpbrunnen die erschreckende Wahrnehmung ergeben, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl derselben ein für den Genuß unbrauchbares Wasser enthalte. Hier war also Abhülfe dringend geboten und mit Energie ward sofort danach gestrebt, sie zu schaffen. Nach vielen Plänen und Versuchen, welche anfänglich sich vorzugsweise auf Beibehaltung der Wasserkünste, etwa mit Hinzufügung einer Hülfsdampfmaschine gründeten, aber sämmtlich später verworfen werden mußten, entschloß man sich, dem Beispiele Hamburgs, Magdeburgs, Berlins zu folgen und eine eiserne Röhrenleitung zu schaffen, da die vorhandenen hölzernen Röhren doch nicht vergrößert werden konnten. Der Baudirector des Rathes der Stadt Leipzig, Ferdinand Dost – dessen große Verdienste wir hiermit dankbar anerkennen – entwarf die ersten Pläne zur erneuten Wasserversorgung seiner Mitbürger. Zunächst ergab sich das überraschende Resultat, daß die sämmtlichen Kräfte der alten Künste bei niedrigen Wasserständen – wie sie in den Jahren 1857 und 1858 vorgekommen waren – nicht mehr als 121,000 Kubikfuß Wasser, also nur den dritten Theil des Bedarfs zu liefern vermöchten. Damit war über sie der Stab gebrochen; die Angelegenheit trat in neue Phase; man ließ das Alte, das Halbe fallen und beschloß das Ganze, das Richtige: die Anlage einer neuen Wasserleitung mit Dampfmaschinenbetrieb. Technische Schwierigkeiten fürchtete man dabei nicht, vorausgegangene Beispiele anderer Städte hatten gezeigt, daß die ausgebildete Mechanik unserer Tage selbst solche zu überwinden vermag, welche unbesiegbar scheinen.

Vor Allem war nunmehr die Auffindung ergiebiger Quellen in erforderlicher Lage die Hauptsache. Rathsbaudirector Dost fand dieselben auf den sogenannten Bauerwiesen, südlich oberhalb der Stadt, bei dem Dorfe Connewitz, dicht an dem Pleißeflusse gelegen. Ein daselbst schon im Jahre 1860 angelegter Versuchsbrunnen von einhundert Quadratellen Oberfläche gab bei fünf Ellen Tiefe außerordentlich reichliches Wasser von einer Qualität, die nach den chemischen Analysen der Professoren Kühn und Hirzel wie auch nach praktischen Versuchen zu jedem häuslichen Gebrauch nichts zu wünschen übrig ließ. Nach dieser glücklichen Entdeckung war über die Hauptsache kein Zweifel mehr vorhanden; mit Einmüthigkeit beschlossen die Vorstände der Gemeinde das neue Werk, und übergaben die Ausführung desselben den bewährten Ingenieuren Grisell und Docwra aus London unter festbestimmten Modalitäten, während die Stadt selber sich die Verwaltung und den Betrieb vorbehielt.

Nach dieser geschichtlichen Einleitung kommen wir nunmehr zu der eingehenden Beschreibung der Leipziger Wasserleitung, wobei wir mit besonderem Dank zu bemerken nicht unterlassen wollen, daß uns authentische Unterlagen dazu von dem städtischen Raths-Bau-Amte bereitwilligst zur Verfügung gestellt worden sind. Die erforderlich gewesenen Bauanlagen und Leitungen lassen sich in drei Kategorieen bringen: 1. Die Stammanlage. 2. Die Hochanlage. 3. Das Röhrennetz.

Die erstere, die Stammanlage, befindet sich auf dem obengenannten Quellenterrain und umfaßt ein Maschinenhaus, ein Kesselhaus, einen Kohlenschuppen, Wohnungen für Maschinenmeister und Heizer. Diese Gebäulichkeiten stehen in der Nähe von zwei Sammelbrunnen, aus welchen vermittels eiserner Heber das Wasser dem Pumpbrunnen des Maschinenhauses zugeführt wird. Die ersteren werden von jenen vorerwähnten mächtigen Quellen gespeist, welche der unter der Wiesennarbe gelagerten Kiesschicht entspringen und Sommers wie Winters stets eine gleiche Temperatur von sieben und einem halben Grad Réaumur zeigen. Mit dem einen dieser Sammelbrunnen steht der nicht weit davon vorbeifließende Pleißefluß durch einen neunhundert Ellen langen Canal zu dem Zweck in Verbindung, um zur Aushülfe dienen zu können, wenn einmal die Quellen nicht mehr ausreichen sollten. Das Flußwasser passirt jedoch, bevor es in den Sammelbrunnen gelangt, ein Filtrirbassin mit Kies und Gerölle, um darin alle etwaigen Unreinigkeiten abzusetzen. Das Maschinenhaus enthält zwei Dampfmaschinen, von welchen jede stark genug ist, um den gesammten Wasserbedarf von vier Kubikfuß in der Secunde zweiundsiebenzig Ellen hoch zu heben. Nur eine davon ist in stetem Gange, die andere dient als Reserve, damit keine Stockung des Betriebes durch nothwendige Reinigung oder Reparatur eintreten kann. Zur Dampferzeugung sind vier Kessel vorhanden, drei davon reichen zur Unterhaltung des stärksten Betriebes hin. Der Kohlenschuppen steht mit dem Kesselhaus derart in unmittelbarer Verbindung, daß die Heizer beim Kohlenholen die Kessel nicht aus den Augen verlieren.

[93]

Längendurchschnitt des Hochwasserreservoirs.
Terrain zwischen Wasserkunst, Hochwasserreservoir und Leipzig.
– – – – – Röhrenstrang.
Querdurchschnitt des Hochwasserreservoirs nebst Wächterhaus.

Füllung des Reservoirs.

a. Erdschicht. b. Beton. c. Backsteinlage. d. Beton. e. Thonschicht. f. Einfallrohr. g. Abflußrohr.

Gezeichnet von Ad. Eltzner

Apparat zur Leitung des Wassers.

h. Sicherheitsrohr. i. Eisenkasten. k. Ventil zur Füllung des Kastens. l. Ventil zum Abfluß des Wassers. m. Verbindung mit dem Filterbassin. n. o. Ventile zu dem Röhrenstrang nach der Stadt.

[94] Sobald die Dampfmaschine ihre Pumpe spielen läßt, tritt das Wasser durch den Windkessel in die sechstausend einhundert Ellen lange Steigeleitung, deren Röhren achtzehn Zoll Durchmesser besitzen. Die im Windkessel befindliche Luft, welche nicht entweichen kann, wird durch die Wassersäule der Steigeleitung, entsprechend der Höhe derselben, zusammengepreßt und gleicht durch ihre Elasticität die absatzweise Bewegung der Pumpenkolben aus, so daß die Strömung des Wassers durch die Röhren eine vollkommen stetige ist. Als Platz für die Hochanlage wählte man die dazu höchst zweckmäßig gelegene Höhe von Probsthaida.

Das hier angelegte Hochreservoir, welchem die Wasser der Steigeleitung zufließen, um aus ihm in die Stadt zu gelangen, ist einundsiebenzig Ellen lang auf einundfünfzig Ellen Breite; wenn es vollständig gefüllt ist, beträgt seine Wasserstandshöhe sieben Ellen und sein Inhalt zweimalhunderttausend Kubikfuß Wasser. Es bildet ein mächtiges aus Ziegeln in Cement erbautes Gewölbe, welches von allen Seiten derartig mit Erde umhäuft worden ist, daß die äußere Temperatur der Luft keinen Einfluß auf das darin befindliche Wasser auszuüben vermag.

An der nordwestlichen Ecke des Gewölbes befindet sich ein kleiner, thurmähnlicher Ausbau mit einer Oeffnung, durch welche man vermittelst einer eisernen Leiter hinab in die Tiefe gelangen kann; außerdem ist daselbst ein zwölf Zoll weites Standrohr und ein Schwimmer angebracht. Das erstere steht in Verbindung mit der Steigeleitung; wird deren Ausfluß abgeschlossen, so steigt darin das Wasser in die Höhe und bringt dann durch den entstehenden größeren Druck die Maschine zum Stillstand. Der Schwimmer hat den Zweck, die Ab- und Zunahme des Wassers zu messen. Aufgabe des Hochreservoirs ist, den von den Pumpen über Bedarf gelieferten Wasservorrath anzusammeln und für die Zeit des Mehrbedarfs aufzubewahren. Man weiß durch Erfahrung, daß die Wasserentnahme der Städte je nach den Tageszeiten eine sehr schwankende ist; während sie in den Stunden nach Mitternacht fast gänzlich aufhört, consumiren die Mittagsstunden oft das Doppelte und Dreifache des Zuflusses; hier muß also Vorsorge getroffen werden.

Eben diese großen Schwankungen im Wasserbedarf verschiedener Zeiten haben auch bedeutenden Einfluß auf die Bestimmung der Weite sowohl der Röhren, welche das Wasser aus dem Hochreservoir in die Stadt führen, als auch derjenigen der Röhren des Netzes in der letzteren selbst. Es ist einleuchtend, daß die Fähigkeit der Röhren für den größten Bedarf berechnet sein muß, wenn man nicht die geringere Weite durch größere Geschwindigkeit, dadurch aber einen Verlust an Druckhöhe herbeiführen will. Daraus geht denn hervor, daß unter Aufrechterhaltung aller hydrotechnischen Vortheile das Wasser von den Pumpen wohl durch ein achtzehn Zoll weites Rohr nach dem Hochreservoir befördert werden kann, daß jedoch zur Ableitung nach der Stadt Röhrenstränge von einem fast dreimal größeren Querschnitt erforderlich sind. Es wäre zwar weniger kostspielig gewesen, anstatt der beiden zwanzig Zoll weiten Röhren, welche das Wasser von dem Hochreservoir nach der Stadt leiten, nur Eine größere Röhre zu wählen, allein alsdann wäre die Stadt in die Gefahr gekommen, bei einem etwaigen Röhrenbruch ganz ohne Wasser zu sein.

Die Weite der in der Stadt selbst gelegten Röhren beruht, wie schon erwähnt, gleichfalls auf der Voraussetzung, bei der stärksten Wasserentnahme werde die Durchflußgeschwindigkeit nicht so groß werden, um die erforderliche Druckhöhe zur Versorgung der Häuser-Etagen darunter leiden zu lassen. Hierbei hat man sich zu erinnern, daß durch die Geschwindigkeit, mit welcher das Wasser in den Röhren fließt, ein Theil seines Drucks und sonach auch seiner Steighöhe verloren geht. Dieser Verlust nimmt mit der Geschwindigkeit progressiv zu, oder beträgt der Druckhöhenverlust einen Fuß auf den Fuß Geschwindigkeit, so steigt er auf vier bei zwei, auf sechszehn bei vier und so fort. Daraus geht die Bedingung hervor, daß die Röhrenweite der durch das Reservoir gegebenen Druckhöhe bei stärkster Wasserentnahme auch zur Versorgung der höchsten Häuser entspreche. Es gelten die nämlichen Gesetze auch für die Leiteröhren in den Häusern selbst; denn sobald an einer derartigen Röhre durch vermehrte Ausflüsse die Geschwindigkeit über das gebräuchliche Maß gesteigert würde, so müßten die höheren Stockwerke in dem Wasserzufluß beeinträchtigt werden. Dies ist auch der Grund dafür gewesen, daß die Weiten der Röhren und Hähne einer genauen gesetzlichen Bestimmung unterworfen sind, indem nur durch eine solche eine völlig gleichmäßige Vertheilung des Wassers über die ganze Stadt erzielt werden kann. Zugleich erreicht man dadurch, daß selbst in den höchsten Etagen der Häuser ein Quantum von zwei gewöhnlichen Wasserkannen voll oder ein Kubikfuß Wasser in einer und dreiviertel Minute oder achtzig Secunden jederzeit abgezapft werden kann. Zur Nutzbarmachung der Wasserleitung für den öffentlichen Dienst sind in den Straßen der Stadt vierhundert und zwanzig sogenannte Wasserposten angebracht worden. Man versteht darunter drei Zoll weite, von dem Röhrennetz abgezweigte eiserne Röhren, welche unter eisernen Deckeln einmünden, die mit dem Straßenpflaster in gleicher Höhe liegen. Die Enden dieser Röhren sind mit Gewinden zum Anschrauben von Schläuchen versehen, vermittelst deren in der kürzesten Zeit ein mächtiger Wasserstrahl nach jeder beliebigen Richtung hingeleitet werden kann. Welche großen Vortheile, welche ungewöhnliche Sicherheit und Beruhigung für die Bürger aus einer derartigen Anordnung hervorgehen, braucht nur angedeutet zu werden.

Sämmtliche zur Leipziger Wasserleitung verwendeten eisernen Röhren sind nur mit Blei gedichtet. Ihre Gesammtlänge beträgt 121,612 Ellen oder neun und ein Drittel deutsche Meilen! Das Wasser, welches sie zu fassen vermögen, berechnet sich auf 114,000 Kubikfuß. Für die Hausleitungen sind Röhren von einem Zoll lichter Weite aus reinem Blei gewählt worden, nicht aus verzinntem, da sich bei sorgfältig damit angestellten Versuchen ergeben hat, daß sich an mangelhaften Stellen der Verzinnung schon nach fünfviertel Jahren starke Ansätze von Bleisalzen gebildet hatten, während Röhren aus reinem Blei keine Spur von Zersetzung zeigten. Um aber auch bei den letzteren die Auflösung von selbst ganz geringen Mengen Blei zur Unmöglichkeit zu machen, werden dieselben vor ihrer Verwendung mit einem gänzlich schützenden Ueberzuge von unauflösbarem Schwefelblei versehen.

Das durch die Steigeleitung in das Hochreservoir gebrachte Wasser steht in keiner Verbindung mehr mit den Maschinen und kann als für sich bestehende Quelle gelten, welche durch natürlichen Druck die zur Versorgung der Stadt nothwendige Bewegung hervorbringt. Es ist vorgesehen, daß bei etwa später eintretendem größerem Wasserbedarf unmittelbar hinter dem Hochreservoir Filter angebracht werden können, in die sich das Wasser der Steigeleitung zunächst ergießt, um dann geläutert in jenes zu treten.

Die Herstellung der Leipziger Wasserleitung hat etwa zwei Jahre in Anspruch genommen. Getreu nach den Stipulationen des Contractes haben die Unternehmer dieselbe zum festgesetzten Zeitpunkt dem Rathe der Stadt überliefert. Am 15. December 1865 wurde zum ersten Male das gesammte städtische Röhrennetz mit Wasser versorgt und eine amtliche Probe der Leistungen der neuen Wasserkunst an verschiedenen Punkten vorgenommen. Dieselbe entsprach vollständig den gestellten Forderungen und jubelnd sah die Menge theilnehmender Zuschauer einen Strahl von fünfviertel Zoll Stärke bis zur Dachhöhe der höchsten Gebäude und von Zollstärke noch darüber hinaus sich erheben. Die Unternehmer haben die Aufgabe glänzend gelöst, ein musterhaftes Werk herzustellen!

Zur Vervollständigung fügen wir hier ein Verzeichniß der Kosten verschiedener Wasserwerke des In- und Auslandes bei, sowie den Betrag derselben auf den Kopf der Einwohnerzahl.

Stadt Einwohner Kostenbetrag
Marseille 280,000 ca. 170/0 Mill. Thlr., pro Kopf ca. 60 Thlr. Sgr.
Glasgow 420,000 100/0 23 24
Madrid 370,000 81/2 23
London 2,800,000 471/2 17
New-York 850,000 140/0 16 21
Paris 2,000,000 290/0 14 15
Wien 700,000 91/2 13 12
Dijon 26,000 0,333,000 13
Altona 46,000 0,543,000 12
Besançon 35,000 0,426,000 12
Dresden 135,000 11/2 Mill. 11
Zittau 14,000 0,150,000 10 15
Brüssel 250,000 31/2 Mill. 10
Liverpool 500,000 50/0 10
Magdeburg 60,000 0,500,000 09
Leipzig 85,400 0,750,000 09
Bordeaux 132,000 1,120,000 09
Hamburg 220,000 20/0 Mill. 09
Lyon 320,000 20/0 06 08
Amsterdam 280,000 1,650,000 06
Berlin 540,000 3,184,000 05 28
Glauchau 20,000 0,100,000 05
Plauen 20,000 0,085,000 04 09

[95] Zum Nutz und Frommen anderer Städte stellen wir auch noch die Preise des Wassers aus der neuen Leitung, und zwar nur für den gewöhnlichen Hausbedarf, zusammen. Es wird für das zu diesem erforderliche Wasser jährlich entrichtet: 1. Von jedem bewohnbaren Raum (über fünfundzwanzig Quadratellen Grundfläche, Werkstätten mit einbegriffen) achtzehn Silbergroschen; 2. von jeder Küche (sowohl Koch- als Waschküche) achtzehn Silbergroschen; 3. von jedem Badezimmer achtzehn Silbergroschen; 4. von Bequemlichkeitsanstalten, je nach dem Wasserverbrauch, ein bis vier Thaler; 5. von Waschküchen, für gemeinsamen Gebrauch aller Bewohner eines Hauses bestimmt, drei bis sechs Thaler; 6. von jedem Watercloset ein Thaler fünfzehn Silbergroschen; 7. für Wasserständer zum gemeinsamen Gebrauch eines Hauses wird eine Ermäßigung von dreiunddreißig und einem Drittel Procent gewährt. Ebenso hat der Leipziger Stadtrath allen Denjenigen, welche bis zum 31. December 1865 sich zur Herstellung von Privatwasserableitungen für den gewöhnlichen Hausbedarf in ihren Grundstücken angemeldet haben, auf ein volles Jahr hindurch Ermäßigung des zu entrichtenden Wasserzinses um fünfzig Procent bewilligt, Anordnungen, welche nur dazu beitragen konnten, die Betheiligung eine recht allseitige werden zu lassen. Schon erblickt man überall in den Gärten vor und hinter den Häusern Bassins errichtet, aus welchen im Frühling lustige Springbrunnen in die Höhe tanzen werden; die Schönheit der Stadt erhält dadurch einen neuen Reiz; größer aber ist der Vortheil der Annehmlichkeit, der Reinlichkeit, der Gesundheit!

In ihrer neuen Wasserleitung hat sich die Stadt Leipzig ein Denkmal gesetzt, besser, als Statuen von Erz und Marmor. Sie ist ein Monument des wackeren Bürgersinns, der Einigkeit, der richtigen Erkenntniß des Guten und des Verständnisses der Zeit. Mit erhebendem Gefühl sieht der Bürger den klaren Strahl, der ihm die Sicherheit des besten irdischen Besitzthums verbürgt, und nicht mit Unrecht mischt sich darein der Stolz, Bürger einer Stadt zu sein, welche solche Werke schafft.




Blätter und Blüthen.


Der Untergang des Dampfschiffes London am 10. Januar. Von einem Augenzeugen geschildert. Das stürmische Wetter zu Beginn dieses Jahres wird gar Vielen unvergeßlich bleiben, es führte neben einer Menge anderer und kleinerer Seeunfälle ein furchtbares Unglück herbei. Das nach Melbourne in Australien bestimmte Dampfschiff London, mit einer Menge froher, hoffnungsreicher Ansiedler und Auswanderer bevölkert, die in Australien eine Heimath suchten oder bereits gefunden hatten, ging drei bis vier Tagereisen von Plymouth unter und zog zweihundert und zwanzig kostbare Menschenleben mit in die unerbittliche Tiefe! Blos neunzehn Menschen gelang es, das Schiff zu verlassen und uns die schreckliche Kunde zu bringen, und darunter befanden sich nur drei Passagiere. Es bleibt nicht die leiseste Hoffnung, daß außer ihnen noch eine oder die andere der auf dem Schiffe gewesenen zweihundert neununddreißig Personen das Land erreicht haben könne, denn die neunzehn Ueberlebenden sahen fünf Minuten, nachdem ihr Boot abgestoßen war, das Schiff mit allen Zurückbleibenden unter den schäumenden Wogen verschwinden.

Das Schiff verließ Plymouth am 6. Januar und gelangte während eines argen Wetters in den Canal. Am 7. und 8. tobte der Sturm immer entsetzlicher, allein das Schiff hielt sich tapfer, am 9. aber vernichtete er nacheinander den Klüverbaum, den Vor-Topmast, die Bramsegelstenge und den Hauptmast, außerdem wurde auch noch das erste Boot von den Wellen fortgerissen.

Am 10. legte man um, da man versuchen wollte, in den Hafen zurückzugelangen, aber die Sache wurde dadurch nur schlimmer, denn die Wogen stemmten sich mit furchtbarer Macht dem entgegen, rissen die Luken weg, drangen in den Maschinenraum und verlöschten das Feuer, so daß das Schiff nun völlig in ihrer Gewalt war. Die unglückseligen Passagiere arbeiteten verzweiflungsvoll daran, das Wasser aus dem Raume zu schöpfen, sie waren unermüdlich mit ihren Eimern, doch ach, es war unmöglich, das Leck zu verstopfen, und das Wasser stieg höher und höher. Erst als das Schiff immer tiefer sank, wurden die Boote herabgelassen. Das erste schlug um, das zweite ist dasjenige, welches glücklich entkam, aber es wurde zwanzig lange, bange Stunden von dem tobenden Orkan hin- und hergetrieben, bis die unglücklichen neunzehn Insassen endlich von der italienischen Brigg Marianopel aufgenommen wurden. Eben als ihr Boot abging, sahen sie, wie die Passagiere und die Mannschaft auf dem Schiffe damit beschäftigt waren, noch zwei andere Boote herabzulassen – da hörten sie mit einem Male einen hundertstimmigen, gellenden Schrei und das Schiff verschwand vor ihren entsetzten Blicken, bevor die Anderen Zeit gehabt, es zu verlassen.

Dies war nur das Ende des furchtbaren Trauerspiels. Keine Feder kann beschreiben, was diese zweihundert neununddreißig Menschen während der vier entsetzlichen Tage gelitten zwischen Todesangst, wieder aufkeimender Hoffnung und gänzlicher Verzweiflung, während das Schiff fort und fort von Wind und Wellen auf- und niedergeschleudert wurde, so daß die Armen nicht einen Augenblick Ruhe oder Schlaf fanden – zum Essen oder Trinken hatte ohnedies Niemand Lust und Appetit. Und wie viel Thränen fließen um ihren Tod, wieviel Herzen brechen vielleicht in dem Gram um die verlorenen Theuren und ihr schauriges Schicksal! Wieviel bittere Vorwürfe treffen das Andenken des mit zu Grunde gegangenen Capitains, dem man die Schuld an all diesem Jammer zuschiebt, da er ohne Compaß in See gegangen, so daß das Schiff den eigentlichen Curs verlor und auf ein Riff aufstieß; ebenso meint man, er hätte können während der ersten zwei Tage Mittel finden, Flöße und andere dergleichen Rettungswerkzeuge vorzubereiten – allein richten wir nicht über ihn, es mag unsäglich schwer sein, in solcher Lage die Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit zu bewahren. Die geretteten sechszehn Leute der Mannschaft loben und entschuldigen ihren Capitain in jeder Weise.

Als beschlossen war, die Boote herabzulassen, wollte kein Mensch sich denselben anvertrauen, da man sich mit Schrecken daran erinnerte, wie das erste Boot am Tage zuvor von den Wogen weggespült worden war. Das zweite ward gegen das Schiff geschleudert und brach mitten durch; jetzt wurde mit unsäglicher Anstrengung die eiserne Schaluppe flott gemacht, auf die man die meiste Hoffnung setzte, da sie fünfzig Menschen zu fassen vermochte; aber ach! trotz aller Aufopferung Einzelner, die schwere Verwundungen davon trugen, ward das eiserne Boot wie eine Nußschale von einer heranstürmenden Welle erfaßt und umgestülpt. Unermüdlich ward nun abermals ein Boot herabgelassen und mit äußerster Vorsicht sprangen einige von der Mannschaft hinein, doch Niemand von den Passagieren wollte folgen, da ihnen der Versuch völlig hoffnungslos schien. Endlich entschlossen sich Einige, da die Zeit drängte, und einer derselben, John Wilson aus Montrose, eilte in die Cajüte, um einen Freund aus Ballarat in Australien zu überreden, mitzukommen. Aber dieser schüttelte den Kopf und entgegnete: „Nein, ich bleibe hier bei Frau und Kindern und will mit ihnen zusammen sterben!“ Er bat den Freund nur noch, ihm zu helfen, seine vier Kinder, denen das Wasser schon bis an die Brust ging, an einen andern Platz zu schaffen, dann schüttelte er ihm die Hand, rief: „Leb wohl, Jack!“ und sah mit den Seinen zu, wie Wilson sich in das Boot hinabließ. Der scheidende Freund hatte noch den entsetzlichen Anblick zu sehen, wie das Wasser plötzlich zu den Fenstern der Cajüte eindrang und dieselben bis zur Decke überfluthete, worauf die Leichen der ertrunkenen Frauen und Kinder auf das Verdeck gespült wurden und dort umherschwammen.

Als die Leute alle im Boot waren, rief einer: „Es ist noch Platz, geht, holt eine Dame!“ Wilson sprang noch einmal auf das Deck, um eine Bekannte zu retten, fand sie aber nicht, und da jede Minute kostbar war, frug er ein junges Mädchen: „Wollen Sie mit?“ Da sie nichts erwiderte, faßte Wilson sie und trug sie bis zur Schutzwehr; als sie aber dort hinabsah, wie weit sie springen müsse, riß sie sich los und rief: „Nein, das kann ich nimmer!“ Nun sprang Wilson wieder allein hinunter, denn zu langem Ueberreden war keine Zeit, da man ihn unten im Boote drängte.

Der Capitän war durch nichts zu bewegen, das Schiff zu verlassen; er ging ruhig auf dem Verdeck hin und her, aber eben als das Boot abstoßen wollte, rief er den darin Sitzenden noch zu, welchen Curs sie zu nehmen hätten. Die Rettung des Bootes war ein förmliches Wunder, denn die Wellen begannen bereits um den Hintertheil des sinkenden Schiffes einen Strudel zu bilden, der das Boot nur zu leicht verschlingen konnte. Man arbeitete mit allen Kräften, sich aus dieser unheilbringenden Nähe zu entfernen, da rief im letzten Augenblick eine todtenblasse, junge Dame verzweiflungsvoll vom Verdeck herab: „Nehmt mich noch ein, ich verspreche euch tausend Guineen!“ Ach, in dieser Stunde wären Millionen Goldstücke werthlos erschienen; hätten wir umkehren wollen, so wäre dies unser Aller Tod gewesen. Einer der Seeleute erzählte dann, daß sie, nachdem das Boot abgestoßen war und der Capitän sein „Glückliche Reise“ herabgerufen, um keinen Preis noch Jemand aufgenommen hätten und einige von ihnen bereits die Messer herauszogen, um denen, die etwa noch vom Schiffe aus nachspringen und sich an’s Boot anklammern wollten, sofort die Hände abzuhauen.

Sie erzählten. auch, wie der Capitän mit melancholischem Humor gelacht habe, als einzelne Passagiere ihre Koffers auf’s Verdeck brachten, da sie hörten, das Schiff werde sinken; die guten Leute wollten nicht einsehen, daß man in solchen Zeiten nicht an sein Eigenthum denkt.

Mit den zweihundertundneunzehn Anderen versank auch Gustav Brooke, der berühmte englische Schauspieler, der nach Melbourne gehen wollte, um dort neue Triumphe zu feiern. Sein Andenken wird in dankbarer Erinnerung bleiben, da er Uebermenschliches geleistet, um das Schiff zu retten. Der holländische Theil der Mannschaft, einundzwanzig an der Zahl, weigerte sich nämlich, an den Pumpen zu arbeiten (?), so daß die englischen Matrosen mit Hülfe der Passagiere allein thätig sein mußten. Da war Brooke in seinem rothen, wollenen Hemd der Unermüdlichste von Allen; er lief barfuß bald nach hinten bald nach vorn und half, wo es am nöthigsten war. Als wir ihn zuletzt sahen, lehnte er mit ernster Gebehrde auf dem Verdeck, das schöne, ausdrucksvolle Gesicht auf die Arme gestützt, und schaute ruhig in das verworrene Treiben rings um ihn.

Einer der Geretteten berichtete, daß ein gewisser Eastroad, einer der Passagiere, zu ihm sagte: „Nun, Jack, ich denke, es geht zu Ende mit uns. Da ist nun freilich nicht zu helfen, nur Eins thut mir weh. Ich habe eine Anweisung auf die Bank in Ballarat auf fünfhundert Pfund Sterling, von denen ich blos zwanzig Pfund erhoben habe. Wenn doch mein alter Vater den Rest bekommen könnte!“ Dabei traten ihm die [96] Thränen in die Augen; hoffentlich wird sein Wunsch erfüllt, da der am Leben geblieben ist, welcher ihn vernahm.

Im Hauptsalon saßen die Frauen und Kinder, sowie einzelne Männer, mit ihren Bibeln um einen Geistlichen, Mr. Draper, der die Armen liebevoll tröstete und vermahnte; von Zeit zu Zeit stand eines der Anwesenden auf und rief: „Beten Sie mit mir!“ was dann geschah, und alle Uebrigen stimmten mit in das Gebet ein.

Als das Boot mit mit den drei Passagieren, vierzehn Matrosen und zwei Knaben – einer davon war der jüngste Midshipman, welcher seine erste Seereise machte – abstieß, standen viele der Zurückbleibenden auf dem Verdeck, schwenkten die Tücher und riefen Hurrah – ach, obwohl sie auf den Tod gefaßt waren, ahnten sie doch nicht, wie unmittelbar nahe er ihnen bevorstand! Wir waren kaum achtzig Ellen weit entfernt, da kam ein so wüthender Windstoß, daß wir nicht hören und sehen konnten; als wir uns dann umschauten, sank das herrliche Schiff mit reißender Schnelligkeit und das Herz brach uns fast vor Jammer, als zuletzt Alles verschwunden war und nur noch ein wilder Wogenstrudel die Unglücksstätte bezeichnete. Im letzten Moment wurden Alle auf dem Verdeck durch den Sturm nach vorwärts gedrängt, nur der dritte Officier, Namens Angel, stand bis zuletzt an seinem Posten bei der Maschine, welche die Pumpen bewegte, seine Hände lagen noch auf der Maschine, als das Schiff verschwand. In den letzten Stunden waren sämmtliche Passagiere in Folge der langen Todesangst ruhig und in ihr Schicksal ergeben; ich sehe noch eine Londoner Dame dastehen und uns ihr Lebewohl zunicken.

Noch eine traurige Geschichte will ich erwähnen: Unter den Passagieren waren auch zwei arme alte Leute mit ihren drei Kindern, die schon das dritte Mal vergeblich versuchten, nach Australien zu gelangen. Das erste Mal hatten sie die Reise auf einem Schiffe begonnen, welches unterwegs strandete; zum zweiten Mal hatten sie ihr Glück versucht mit dem Schiff „Duncan Dunbar“, das ebenfalls scheiterte. Sie ließen sich jedoch dadurch nicht warnen und abschrecken; wir sahen, wie das arme Weib von den Wellen über Bord gespült wurde – bald darauf folgte ihr der Mann nach, von ihrem Ringen und Sorgen nun auf einmal befreit.

Wir sahen viele der Reisenden mit Revolvern in der Hand auf dem Verdeck stehen; sie wollten sich im letzten Augenblick, wenn das Schiff unterginge, erschießen, da sie den Tod durch die Kugel dem Tode des Ertrinkens vorzogen; ein Freund bot dem andern an, ihn zu erschießen, wenn er es wünschte. Ich glaube aber schwerlich, daß sie Zeit gefunden, ihren Vorsatz auszuführen, da mit einem Male der Boden unter ihnen schwand und der Todesengel seine düsteren Fittige um Alle zugleich hüllte!




Der Christabend bei Victor Hugo. Am vergangenen Weihnachtsabend war große Freude und Bewegung in Hauteville-House auf der Insel Guernesey, dem Wohnsitz des verbannten Dichters Victor Hugo, dessen neueste Schöpfung „Les travailleurs de la mer“ eben die französische Welt in Aufregung setzt. Er hatte nach seiner Gewohnheit wieder alle armen Kinder von Guernesey eingeladen, den Weihnachtsabend bei ihm zu feiern. Draußen herrschte eine scharfe Kälte, aber in dem großen Saale brannte ein lustiges Feuer in zwei mächtigen Kaminen und um die reichlich gedeckte Tafel drängten sich etwa dreißig muntere Kinder von allen Altersstufen, die kaum zu essen vermochten vor freudiger Erwartung.

Nach der Mahlzeit wurden die kleinen Gäste aus dem Speisesaale in einen Nebensalon geführt, wo das Dessert aufgetragen war, und was für ein Dessert! Es bestand aus den köstlichsten englischen und französischen Leckereien, vom substantiellen Pudding bis zu den feinsten Bonbons, und daneben waren Trauben, Aepfel, Apfelsinen, Feigen, Datteln, Mandeln aufgehäuft – kurz Alles, was ein Kinderherz entzücken kann. Währenddem waren die Erwachsenen eifrig im Billardsaale beschäftigt, auf dem Billard die Geschenke für die Kinder auszubreiten, welche in Kleidungsstücken, Büchern und Spielsachen aller Art bestanden.

Nun rief man die Kleinen herein, an deren Glückseligkeit sich nicht blos der edle Geber mit seiner Familie, sondern auch die Eltern der Beschenkten, falls diese nicht etwa Waisen waren, sowie einige der Bewohner von Guernesey erfreuten. An diese richtete der Dichter zum Schluß folgende Worte:

„Mehrere englische und ausländische Journale erweisen mir die Ehre, dieses alljährlichen Festes bei mir zu erwähnen, welches sie als eine edle That meinerseits schildern. Dies ist jedoch nicht der rechte Name dafür – es ist nicht einmal eine gute Handlung, sondern ganz einfach die Erfüllung einer Pflicht, der Pflicht jedes leidlich wohlhabenden Mannes gegen die, welche nichts haben. Nicht einmal die Idee dazu ist von mir ausgegangen, ich habe sie nur aus dem erhabenen Beispiele Jesu geschöpft, der da sprach: ‚Lasset die Kindlein zu mir kommen!‘ Er wollte damit zugleich sagen: ‚Lasset die Kinder der Armen in die Wohnungen der Reichen eintreten!‘ Uebrigens giebt es nach meiner Ansicht überhaupt keine Reichen: Gott giebt den Menschen nichts, er leiht ihnen nur. Seine Wohlthaten sind es, die mir heute gestatten, den Aermeren meine Thür zu öffnen.

Es giebt zwei Arten von Reichthum – den äußeren und den inneren. Der äußere Reichthum ist das Geld; der innere ist die Gesundheit für den Körper und die Sittlichkeit für die Seele. Der äußere Reichthum vergeht und schwindet, der innere bleibt. Wir können den Armen nicht unseren ganzen äußeren Reichthum geben, aber es ist unsere Pflicht, ihnen Gesundheit und Sittlichkeit zu geben. Wenn wir ihre physischen Verhältnisse bessern, wird ihre moralische Erziehung auch dadurch gehoben, denn die Seele wächst mit der Kraft des Körpers.

Für alle Religionen giebt es einen gemeinsamen Glauben – den an Gott. Für alle Menschen giebt es eine gemeinsame Liebe – die zu den Kindern. In diesem Glauben und mit dieser Liebe haben wir uns heute hier versammelt. Nur der Zufall der Geburt hat diese Kinder arm gemacht – und das Weihnachtsfest existirt blos für reiche Kinder. Das darf aber nicht sein. Wenn es im Leben eines Kindes keine Freuden giebt, so bleibt eine Leere in seinem Dasein, unsere Aufgabe sei es, dieselbe auszufüllen!“

Nach diesen schönen, tiefgefühlten Worten war der Dichter wieder heiter wie ein Kind mit den anderen Kindern. Möchte sein Beispiel viele Nachahmer finden!




Bücher-Preisermäßigung. Es ist im Interesse der Volksbildung schon anzuerkennen, wenn gute Bücher im Preise ermäßigt werden; eine solche Ermäßigung hat aber ganz besondern Werth, wenn sie Werke betrifft, deren Anschaffung, ihres hohen Preises wegen, den weniger Bemittelten geradezu unmöglich ist. So verhält es sich mit: „R. Schomburgk, Reisen in Britisch-Guiana, im Jahre 1840–1844 im Auftrage Sr. Majestät des Königs von Preußen ausgeführt. Mit vielen Abbildungen und zwei Karten von British Guiana. Drei Bände. gr.-Quart. Elegant gebunden.“ Dieses vorzügliche Werk kostete früher zwanzig Thaler und ist jetzt von Herrn Louis Zander in Leipzig durch alle Buchhandlungen für 62/3 Thaler zu beziehen. Eine eingehende Besprechung desselben gestattet hier der Raum nicht; wir können nur soviel darüber sagen, daß es die interessantesten Aufschlüsse über Land und Leute giebt und neben der angenehmsten Unterhaltung die reichste Belehrung in der anziehendsten Form gewährt. Kurz, es ist ein wahrer Hausschatz im besten Sinne des Worts, und wir wollen es deshalb dem großen gebildeten Publicum hiermit empfohlen haben.




Handeln die Thiere nur aus Instinct oder mit Ueberlegung? Unter dieser Ueberschrift begegneten die Leser der „Gartenlaube“ schon einige Male allerlei anregenden Fragen, und um dieselben auch von noch einer interessanten Seite zu beleuchten, bitte ich, mir gleichfalls ein kurzes Gehör zu schenken.

Ein Bauer brachte einmal ein junges Fuchspaar, fast von der Mutterbrust weg, zu Markte; ich brachte es käuflich an mich. Das Weibchen überlebte die Trennung von seiner Mutter um kaum drei Tage, das Männchen dagegen gedieh bei guter Kost (angesichts der beabsichtigten Zähmung nur mit gekochtem Fleisch gefüttert) und sonstiger Pflege, auch angemessener freier Bewegung, vortrefflich. Nach einem halben Jahre hatte Chouchon (dessen Name) schon manches Exercitium überstanden, folgte gehorsam auf Ruf und Pfiff und belästigte selbst meines Hauswirthes Hühner nicht. Ehe es aber dazu kam, hatten der Unterricht und des Zöglings sonstige Unarten viel Mühe gekostet und ihm tüchtige Hiebe eingebracht. Obwohl ich selbst der Lehrmeister war, ließ ich Chouchon dennoch, nach dem alten Jägergrundsatze, daß man einen Hund für dessen Vergehen nie eigenhändig züchtigen müsse, nur durch meinen Diener die verdiente Tracht Schläge aufzählen. Die nächste Folge davon war, daß Chouchon gegen den Diener eine entschiedene Abneigung faßte und so manche Gelegenheit benützte, ihn die Schärfe seines Gebisses fühlen zu lassen.

Mein Diener besaß gleicherzeit die Gewohnheit, den wilden Burschen gelegentlich der Bestrafung zu höhnen und ihn durch Gesichterschneiden und Nachahmung der Stimme zu necken. Hier war es, wo dann Chouchon die höchste Wuth erfaßte und er sich deshalb bemühte, dem Diener nach seinem Gesichte zu springen. Die Entfernung vom Boden nach dem Gesichte des Grenadiermaß haltenden Dieners vereitelte aber Chouchon’s Racheabsichten. Dennoch gab ihm seine List ein Mittel ein, sich ausreichend für Prügel und Hohn zu rächen. Die Gelegenheit bot sich in der Bedientenstube dar. Chouchon sprang wuthentbrannt vom Boden auf des Dieners Bett, von dort auf den nächststehenden Tisch, vom Tisch auf den Kleiderkasten und von da auf des Dieners Schulter herab, der gerade auf dieser Stelle stand – und fuhr ihm mitten in’s Gesicht, ihm eine blutige Vergeltung zurücklassend. Niemals vorher hatte der Diener gerade so gestanden, um dem Thiere irgend welche Zeit zur Ueberlegung oder Berechnung behufs eines gelegentlichen Vollzugs seiner Rache zu bieten, der Fuchs hatte vielmehr im Augenblicke selbst aus der Sache Nutzen gezogen.
Fritz Pfadsucher.




Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Zweites statistisches Jahrbuch der Turnvereine Deutschlands.
Im Auftrage des Ausschusses der deutschen Turnvereine
herausgegeben von
Georg Hirth.
24 Bogen. groß Octav. – Preis 1 Thlr.

Der reiche Inhalt des Buches hat nicht nur für Turner die höchste Wichtigkeit, sondern auch für Statistiker von Fach, Verwaltungsbeamte, Nationalökonomen etc., denen er ein Muster statistischer Organisation an die Hand giebt.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Nicht ganz richtig. Die Gartenlaube wird in allen Winkeln der entdeckten Erde, in Amerika, Afrika, Australien, selbst im innern Asien und in Nordsibirien gelesen, soweit eben auch dort die deutsche Zunge klingt.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Volshelden