Die Gartenlaube (1865)/Heft 32
[497]
No. 32. | 1865. |
Doctor Ludwig, ein berühmter Publicist und abgesetzter „außerordentlicher“ Professor des Staatsrechtes, war in dem Weichbild der kleinen Residenzstadt A. gleichsam internirt. Einige Stunden weiter, und er stand schon an den Grenzen eines Großstaates, dem er drohender Preßprocesse und schon erkannter Strafurtheile wegen entflohen war und der ihn nun steckbrieflich verfolgte.
Für einen Mann, welcher noch in der ganzen Kraft und Fülle seines Lebens und Strebens stand, wie Doctor Ludwig, für einen Mann von Welt und universeller Bildung, der sich seit vielen Jahren im Mittelpunkt der culturhistorischen Strömungen der Zeit bewegt hatte, für ihn mußte das Leben in der kleinen Residenz wohl die mannigfachsten Schattenseiten haben. Indessen hatte er auch schon so vieles und so Bedeutsames erfahren und genossen, gethan und gelitten, daß ihm dieses neue, kleine Stillleben für eine Zeit lang auch recht behaglich, vielleicht nothwendig erschien. Nur dann und wann ergriff ihn große Sehnsucht nach einem echten Kunstgenuß; denn derselbe Mann, der schon manchen Fürsten und Minister erbleichen gemacht hatte, den man von manchen Seiten her für den leibhaftigen Robespierre und Antichrist hielt, wenigstens ausschrie, er war gegenüber einem großen Kunstwerk so sanft und glücklich, wie nur irgend ein Mensch auf der Welt es sein kann, und dem feinen Organismus seiner Seele war ein großer Kunstgenuß zu Zeiten ebenso sehr Bedürfniß, wie seinem Körper die Nahrung, wie seinem Auge das Licht.
So war es auch jetzt wieder über ihn gekommen. Gerade zur selben Zeit, als für die nächste größere Residenz ein paar Concerte von drei der vorzüglichsten Virtuosen der Gegenwart angezeigt waren, von Joachim, Clara Schumann und Stockhausen, gerade zu derselben Zeit bekam Doctor Ludwig einen sehr anregenden Besuch. Graf Bernting war sein Landsmann, sein Jugend- und Universitätsfreund, bis zu einer gewissen Grenze auch sein Parteigenosse. Mit seinem lebhaften Verstande und mit seinem feurigen Herzen, war Graf Bernting der freie Sohn unserer Gegenwart, aber durch Muttermilch und Erziehung, Verwandtschaft und Gesellschaft und die dadurch gebotenen Rücksichten noch ein Sohn seines Standes, der Sohn eines alten, berühmten und reichen Geschlechtes. Und weil man ihn in der Verwandtschaft noch mit einer gewissen traurigen Zärtlichkeit und bangen Hoffnung wie einen kranken Sohn hätschelte und bevorzugte, den Demokraten in ihm noch mit einer scheuen, zurückhaltenden Delicatesse behandelte, so fühlte sich Graf Bernting gleichsam verpflichtet, dies dankbar zu erwidern und nicht rücksichtslos die Fäden zu zerreißen, die ihn noch an seinen Stand und an sein Haus knüpften, Indessen war er auch wieder so durchaus offen und rechtschaffen, hatte sich so wacker und tüchtig für seine politischen Freunde gezeigt, daß er bei diesen immer einen ehrenwerthen Vertrauensplatz einnahm. Wie er nun seinen ältesten Jugend- und Universitätsfreund Ludwig hoch vor allen Anderen hielt, so hatte dieser auch ihn sehr lieb und freute sich jetzt von ganzem Herzen, als der Graf ihn in seinem Stillleben zu A. laut jubelnd begrüßte.
Man kann sich daher denken, wie verlockend es für Ludwig sein mußte, als der Graf mit aller Lebhaftigkeit und Wärme seines raschen Wesens ihn aufforderte, jenem außerordentlichen Concerte in der Residenz D., wo der Graf sich jetzt für kurze Zeit aufhielt, beizuwohnen und ohne Weiteres mit ihm dahin abzureisen. Zwar konnte dies auf Umwegen zu Wagen geschehen, ohne das feindliche Gebiet berühren zu müssen, aber dann ging der Hauptzweck verloren: man kam erst um Mitternacht in D. an, und das Concert sollte Abends stattfinden. Es mußte also mittels Dampfes gereist und dabei eine jener verhängnißvollen Grenzen berührt werden. Die „strategischen Rücksichten und steckbrieflichen Bedenken“, wie der Doctor die Gründe seiner Internirung in A. nannte, wurden indessen von dem Grafen mit folgender Auseinandersetzung zu beseitigen gesucht:
„Wir fahren nicht mit dem Eilzug, sondern mit dem gemischten Zug, der auch bei der kleinen Zwischenstation W. anhält. Dahin begeben wir uns zu Wagen und fahren dann erst mit Dampf. Dort bist Du natürlich ganz unbekannt, hast also nicht zu fürchten, daß man Dir bei dem Einsteigen etwa ein freundliches Telegramm vorausschickt, und kein Mensch wird bei der nächsten Station unseres edlen Großstaates daran denken, daß mein Freund Ludwig incognito durchreist. Zu allem Ueberfluß nehmen wir für einen Thaler schnöden Trinkgeldes ein Coupé für uns allein, und wenn wir in die Nähe des feindlichen Gebietes kommen, schaust Du unablässig zu dem gegenüberliegenden Fenster hinaus, während ich vor dem Perronfenster stehen bleibe und bei irgend einer verdächtigen Erscheinung nöthigenfalls so lange Capriolen und Umstände aller Art mache, bis der Wagen wieder davon dampft. Dann sind wir bald wieder auf neutralem Gebiet, lachen den ehrenwerthen Großstaat aus und schwelgen noch am selben Abend in den herzlichsten Kunstgenüssen. Allons, mein Freund! Rasch entschlossen und frisch gewagt!“
„Nun denn, ihr schönen Geister von Joachim, Clara Schumann und Stockhausen, schützt mich vor den Gensd’armen meines angestammten Vaterlandes! Da hast Du mich, Roller, und ging’s zum Hochgericht!“ Mit diesen Worten reichte Ludwig seinem [498] Freunde die Hand. Bald fuhren sie dahin, ganz so, wie der Graf es angerathen hatte, und als sie die gefährliche Stelle des Großstaates erreichten, stand der Graf breit und sicher vor dem Perronfenster, während Ludwig in dem gegenüberliegenden Fenster lag und beginnende neue Bauten mit großer Aufmerksamkeit beobachtete. Des Grafen Blicke begegneten inzwischen mit heiterer Sicherheit den spähenden Augen der Polizeidiener, die an dem Wagenzug gemüthlich auf- und niedergingen. Schon hatte es zum zweiten Male geläutet, es schien keine Spur von Gefahr vorhanden und der Graf wippte vor Vergnügen mit dem Fuße. In diesem Augenblicke kam raschen Schrittes ein Herr heran, so, als wenn er eilig das Coupé besteigen wolle, welches der Graf gleichsam in Belagerungszustand hielt, und als er dicht vor demselben stand, fragte er mit artiger Verbeugung und leiser Stimme:
„Herr Doctor Ludwig?“
Der Graf stutzte, antwortete aber in demselben Augenblick:
„Zu dienen!“
„So haben Sie die Güte, mir zu folgen,“ und der höflich Bittende zeigte dem Grafen rasch und heimlich eine gewisse Münze, die derselbe denn auch sofort als das Abzeichen eines Polizeibeamten erkannte.
„Schön!“ antwortete er verbindlich, griff rasch nach den wenigen Reiseeffecten, die neben ihm lagen, und stieg behutsam aus – da ertönte das dritte Zeichen zur Abfahrt, ein Pfiff und der Wagen fuhr dahin. Bald war die Grenze überbraust und Doctor Ludwig drehte sich fröhlich um, ein fröhliches Wort auf den Lippen – er sah sich allein! Er war erstaunt, dann betrübt um den Freund, ärgerlich wegen der gestörten Freude. Doch war es auch ein gewisser Humor, mit dem er sagte: „Hat der Mensch sich schon wieder verspätet! Er ist darin unverbesserlich. Wenn er nur zum Concert wieder da ist, dann will ich schon zufrieden sein.“ Währenddem saß sein Freund neben dem Polizeibeamten in einem Wagen und fuhr dem alten Amthause zu; er lächelte geheimnißvoll, schmunzelte listig und bot seinem Begleiter die feinste Cigarre mit der feinsten Liebenswürdigkeit an.
Als Doctor Ludwig in D. ausstieg, sah er sich noch einmal genau um, es war ja doch nicht unmöglich, daß der Graf aus irgend einem anderen Coupé ausstieg. Plötzlich blieb Ludwigs Blick an einer Frauengestalt haften, die in seiner Nähe stand, gleich ihm einen Erwarteten lebhaft zu suchen schien und mit auf der Brust gekreuzten Armen immer stolzer und verächtlicher auf die Aussteigenden schaute, je länger sie den Erwarteten vermißte und endlich wohl ganz aufgab. Es war eine junge Frau von schlanker Mittelgestalt, kühner Haltung und entschlossener Bewegung. Ihr Anzug war auffallend einfach und schien weit mehr für eine Bergtour als für Stadt und Gesellschaft berechnet, aber er war gediegen und geschmackvoll, sogar vornehm; wenigstens war die ganze Erscheinung vornehm und paßte vollkommen zu der crinolinlosen Kleidung und der ganzen Art, wie sie dieselbe trug. Die Frau hatte große tiefblaue Augen, die fast bedeckt waren von langen Wimpern, ihre rabenschwarzen Brauen stießen über der Nasenwurzel zusammen. Es gab das ihrem Antlitz etwas Finsteres und verrieth eine mächtig zurückgedrängte Leidenschaftlichkeit, wenn sie aber die Augen plötzlich emporschlug und ihre Blicke hinaussandte, dann war es, als ob ein heller Strahl aus schwarzer Wolke hervorglänze. Um ihren Mund lag etwas Scharfes und Spöttisches, was man an solchem Munde sonst nicht leicht gewahrt. Ihre Züge waren fein und regelmäßig, doch streng und blaß. Um ihren Hals ringelten sich volle tiefschwarze Locken.
Doctor Ludwig betrachtete die Frau mit Interesse, fast mit Staunen, und als der Blick ihres Auges ihn traf und einen Moment lang mit eigenthümlicher Forschung auf ihm ruhen blieb, da war es ein nie gekanntes süßes Erschrecken, was ihn durchfuhr. Nun aber glitt jener Blick kühl von ihm ab, und er begegnete demselben Ausdruck stolzer Verachtung, womit die Frau auch die anderen Fremden gemustert hatte. Dann sah er sie mit trotzigem Unwillen sich abwenden und langsam gehen. Er schritt dem Ausgang des Bahnhofes zu. Draußen erblickte er die ihm wohlbekannte, elegante, aber wappenlose Equipage und die ihm ebenfalls bekannte Dienerschaft des Grafen, die ohne Livrée, in einfachem Civil erschien. Er wollte auf den vor dem Wagen stehenden Diener zuschreiten, um ihm das Ausbleiben seines Herrn mitzutheilen, auch wohl die Equipage zur Fahrt in das Hotel Driburg – welches der Graf ihm schon als ihr gemeinschaftliches Absteigequartier bezeichnet hatte – zu benützen, als er jene merkwürdige Frau dem sichtlich sie erwartenden Diener aus kleiner Entfernung ein abwehrendes Zeichen geben sah. Der Diener lüftete den Hut, winkte dem Kutscher zu, sprang hinten auf und fort rollte die Equipage, während die junge Frau auf einem Seitenweg der Stadt zuschritt. Der Doctor sah ihr sinnend nach. Hatte diese Frau über die Equipage und Dienerschaft des Grafen zu gebieten? Gewiß! Hatte sie den Grafen selbst erwartet? Es schien ihm das jetzt außer Zweifel. Aber so allein; so ohne Begleitung eines Dieners, der ihr doch wohl zur Verfügung stand? Seltsam! sollte diese Dame vielleicht die Schwester des Grafen sein? Die Schwester, die er nie gesehen, von der er aber früher viel und oft als von einer ganz besonderen Natur gehört hatte? Aber die war ja weit, weit fort, in Madrid an den –schen Gesandten, den Grafen Timmelskirch, verheirathet. Sie hatte auch mit ihrem Bruder niemals in liebevollem Verkehr gestanden, ja, Ludwig erinnerte sich, wie der Graf ihm einst anvertraut hatte, daß seine adelsstolze Schwester ihn wegen seiner demokratischen Gesinnungen und Handlungen hasse. Später war nie mehr die Rede von ihr gewesen. So war es kaum anzunehmen, daß diese Schwester jetzt plötzlich hier sei, noch weniger, daß sie ihren Bruder an der Eisenbahn erwarte und zwar so ungeduldig, wie der Doctor dies deutlich bemerkt hatte.
Das Alles ging an Ludwig’s Gedanken vorüber, als er dem Hotel Driburg zufuhr. Er war wie träumend in den Wagen des Hotels eingestiegen und wie träumend kam er vor diesem an. Eben war er ausgestiegen, eben wollte er in das Haus eintreten, als er, durch einen besonders tiefen Bückling des Herrn Driburg aufmerksam gemacht, sich umwandte und die rätselhafte Dame von der Eisenbahn vor sich sah. Er konnte eine lebhafte Bewegung freudigen Erstaunens nicht unterdrücken.
„Wer ist diese Dame?“ fragte der Doctor leise, als sie am Wirthe vorüber stolz die Treppe hinaufstieg.
„Gräfin Timmelskirch,“ erwiderte Herr Driburg mit einer gewissen Feierlichkeit.
„Die Schwester des Grafen Bernting?“
„Hochdieselbe.“ Und Herr Driburg eilte „Hochderselben“ nach.
„Also doch, doch! Merkwürdig!“ murmelte Ludwig vor sich hin, indem er langsam einem Kellner nachschritt, der ihn zu einem Zimmer im zweiten Stock führte.
Als Doctor Ludwig in sein Zimmer eingetreten war, lächelte der Kellner mit bescheidener Artigkeit ihm zu und nannte ihn bei seinem Namen.
„Ei, Joseph!“ rief Ludwig, sich erinnernd, ihm freundlich zu, war aber auch betreten, denn er glaubte sich hier nicht erkannt, wollte auch nicht erkannt sein, sondern nach Absprache mit dem Grafen als „Professor Monz“ erscheinen. Joseph gehörte indessen zu den geheimen Anhängern des Doctors und des Grafen, war auch Beider Landsmann, kannte ihre intime Freundschaft zu einander und versprach nun auf Wunsch des Doctors die strengste Discretion. Ludwig wußte, daß er sich darauf verlassen könne. Der Kellner ging und der Doctor sann darüber nach, ob es wohl angemessen sei, sich der Schwester seines Freundes vorzustellen und derselben über ihren Bruder die thunliche Auskunft zu geben. Er stellte sich mannigfache Gründe dafür auf, daß er dies thun müsse. Wieder aber sagte ihm sein demokratischer Stolz, daß sich diese Dame doch eigentlich recht hochmüthig benommen habe. Er wollte daher schließlich so wenig wie möglich mit ihr zu thun haben, war aber doch sehr begierig zu erfahren, warum sie hier sei und ihren gehaßten Bruder so lebhaft erwartet habe. Er sah also mit um so größerer Spannung der Ankunft seines Freundes entgegen, den er mit dem noch vor Beginn des Concerts eintreffenden Bahnzuge erwartete.
Inzwischen schrieb er in das Fremdenbuch: „Professor Monz aus Frankfurt.“
„Wünschen Sie auch ein Billet für das Concert, Herr Doctor?“ fragte Joseph.
„Gewiß, zwei! Das heißt, wenn der Graf kommt,“ und [499] Ludwig theilte dem Kellner rasch mit, wie er den Grafen plötzlich vermißt habe, als der Zug von jener Station abgefahren sei.
„Er wird gewiß bald nachkommen,“ meinte der Kellner und ging, den Doctor in sehr bewegter Träumerei zurück lassend.
Lange Zeit träumte dieser vor sich hin. Dann wollte er rasch hinaus zur Eisenbahn, dem sicher zu erwartenden Freunde entgegen. Aber da kam der Wagen des Hotels schon von dort zurück, Fremde mit ihm, Droschken ihm nach, doch der Graf blieb aus. Ludwig wurde immer unruhiger. Und was nun mit sich selbst und der Zeit anfangen? Der eigentliche Hauptzweck, das Concert, war ihm doch verleidet. Dann dachte er aber daran, ob die Gräfin hingehen werde. Und es wäre ihm sehr interessant, psychologisch interessant, zu beobachten, wie eine solche Frau solche Kunst aufnähme.
Kurz, Doctor Ludwig ging in das Concert, wenn auch nicht fröhlich. Er sah recht aufmerksam umher, und wir können nicht verschweigen, daß er nach der stolzen Gräfin ausschaute. Plötzlich sah er sie und bemerkte, daß auch sie aufmerksam umherschaute, und – er wußte selbst nicht recht, warum, – glaubte, daß dies ihm gelte. Jetzt hatte ihr Auge ihn gefunden, aber in demselben Moment wurde ihr Blick spöttisch kalt, ja feindselig, und stolz und hochmüthig schaute die junge Frau herab aus ihrer Loge auf ihn und das Publicum. Auf einmal war die Gräfin verschwunden und dem Doctor wurde es peinlich einsam und gedrückt zu Muthe. Spurlos zog die Musik an Ludwig’s sonst so empfänglichem Geiste vorüber. Fast schämte er sich dessen und er ging fort, ging nach Hause. Rasch einige Zeitungen durchflogen, ein Glas Wein hinuntergejagt, dann auf sein Zimmer, wo er noch lange ziemlich heftig auf- und niederschritt. Mit großer Spannung sah er dem nächsten Morgen, d. h. der Ankunft des Grafen entgegen, und seine Gedanken irrten von dem Freunde immer wieder hin zu der stolzen Gräfin. Diese aber wohnte gerade unter ihm, und während sie selber auf dem weichen Teppich ihres Salons heftig auf- und niederschritt, verwünschte sie jene Tritte, die über ihr so lange und so laut das Zimmer durchmaßen. Sie klingelte.
„Wer wohnt über mir?“ fragte die Gräfin ärgerlich den ihrem Ruf gehorchenden Kellner.
„Herr Professor Monz!“ war die Antwort.
„So? Der!“ sagte sie mit einem herben, kühlen Ton, indem sie eine artig entlassende Handbewegung machte. – Als der Doctor am andern Morgen die Klingel zog, erschien Joseph recht bedenklich, indem er eine Zeitung zwischen den Fingern drehte.
„Der Graf ist doch angekommen?“ rief ihm der Doctor schon in der Thür entgegen. Joseph zuckte die Achseln und reichte dem Fragenden die noch druckfeuchte Zeitung betreten hin. Der Doctor las rasch, gleich vorn die erste telegraphische Depesche: „Der bekannte demokratische Graf Leopold von Bernting ist gestern in E. verhaftet. Gründe noch unbekannt. Allgemeines Aufsehen.“
Ludwig wurde blaß, er war bestürzt und tief bewegt. Joseph sah ihn theilnahmsvoll und erwartend an. Der Doctor sammelte sich und sagte entschlossen:
„Ich gehe zu seinem Gesandten. Er wird, er muß mich hören.“
Bald war der Doctor angezogen und eilte unter beginnendem Regen dem Hotel des –schen Gesandten zu. Es lag dicht neben dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. Wer aber beschreibt sein freudiges Erstaunen, als er aus dem weiten Gitterthor des Vorhofes den Grafen hervortreten sah!
„Leu!“ diesen alten Burschennamen rief er mit dem alten, freudigen Humor jener Zeit dem Freunde zu und eilte ihm entgegen.
„Setz’ Dich derweil da in meinen Wagen und warte, ich hab’ hier noch zu thun!“ antwortete der Graf, lustig mit der Hand winkend, bog rasch ein in den Vorhof des daneben liegenden Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten und war verschwunden. Ludwig schaute still lachend und in freudigster Bewegung ihm nach, dann begab er sich eilig nach dem bezeichneten Wagen des Grafen, denn es regnete bereits stark. Er öffnete den Schlag und – sah die Gräfin von Timmelskirch vor sich. In demselben Augenblick trat Wilhelm, der Diener, an die andere Seite des Wagens und rapportirte:
„Excellenz sind noch nicht zu sprechen.“
Die Gräfin hörte das mit einem zornigen Blick auf den Diener, machte eine heftige Bewegung mit Hand und Fuß und sagte: „Nach Hause!“ dann blickte sie erstaunt den Doctor an, der noch mit einem Fuß auf dem Tritt des Wagens stand, in sichtlicher Befangenheit eine feine Verbeugung machte und ein sehr überraschtes: „Entschuldigen Sie, Frau Gräfin!“ mit einem glänzenden Blick begleitete.
Um zunächst das plötzliche Erscheinen des Grafen vor dem Gesandtschaftshotel und dann dieses eigenthümliche Zusammentreffen zu erklären, müssen wir in unserer Erzählung etwas zurückgehen.
In der kleinen Zwischenstation W., wo unsere Freunde den Dampfwagen bestiegen hatten, wo Doctor Ludwig, wenigstens steckbrieflich, gekannt war und wo von der benachbarten großstaatlichen Polizeibehörde die Erinnerung an ihn immer neu aufgefrischt wurde, in dieser sonst so harmlos aussehenden Zwischenstation war dem Polizeiamtmann in E. telegraphirt worden, daß Doctor Ludwig mit nächstem Zuge dort ankomme und im Coupé Nr. 807 sitze. Wir kennen die Folgen dieses Telegramms. Nachdem es sich herausgestellt, daß es nicht der Gesuchte war, den man verhaftet hatte, war der Graf natürlich sofort entlassen worden und mit dem ersten Frühzug nach D. abgereist. Um die lästige Sache mit einem Male abzumachen und dann wieder ganz frei zu sein, war er einer erhaltenen Weisung auch stricte gefolgt und gleich von der Eisenbahn aus in das Gesandtschaftshotel gefahren. Er war hier schon durch ein Telegramm aus seiner Hauptstadt angemeldet, wurde also auch ausnahmsweise zu so früher Zeit angenommen und erhielt den freundschaftlichen Rath, sich sogleich noch zum Minister des Auswärtigen zu begeben, damit von diesem aus alle noch irgend möglichen Unannehmlichkeiten abgewehrt würden.
Graf Leopold hatte mit dem Wagen, den der Freund benutzen sollte, den Wagen gemeint, der ihn von der Eisenbahn hergebracht und der neben anderem unscheinbaren Fuhrwerk in der Nähe stand. Seine eigene Equipage hatte er selbst gar nicht bemerkt. In dieser aber war die Gräfin zu dem Gesandtschaftshotel gefahren, nachdem auch sie jenes Telegramm in der Zeitung gelesen hatte, das die Verhaftung ihres Bruders anzeigte. Der Gesandte aber, der sich ihres Namens nicht mehr entsinnen mochte, hatte sie nicht angenommen. Der Graf, der durch einen besonderen Eingang in das vertraute Privatboudoir des Gesandten eingetreten und davon gegangen war, hatte eben so wenig seinen Diener Wilhelm wie dieser ihn bemerkt. Und Wilhelm, wie der Kutscher August, richteten sich ganz nach der Weisung, die sie durch den Kellner Joseph erhalten: sie kannten den Doctor nicht, als dieser zu dem Wagen herantrat, ja, Wilhelm bog absichtlich zu der anderen Seite des Wagens hin, um desto ungenirter den Freund seines Herrn ignoriren zu können.
Auf diese Weise gestaltete sich das eigenthümliche Zusammentreffen des Doctors mit der Gräfin. Als Ludwig die Gräfin im Wagen erblickte, glaubte er sofort, daß dieselbe schon mit ihrem Bruder hierhergefahren sei, und da derselbe ihn so ohne Weiteres in diesen Wagen gewiesen, nahm er an, daß die Gräfin auch bereits über den Freund ihres Bruders orientirt sei. Er war daher nicht wenig betreten, als die Gräfin auf seine artige Begrüßung und Entschuldigung ihn mit herrischem Tone fragte: „Wer sind Sie?“
Seine Verlegenheit dauerte indeß nur einen Moment: an dem Tone der Gräfin gewann er sofort wieder seine feste Haltung; „Das wissen Sie ja schon, Frau Gräfin!“ antwortete er mit kalter Ruhe.
Die Gräfin verstand seine Worte, als ob er wisse, daß sie nach ihm geforscht und dadurch erfahren habe, daß er der Professor Monz sei. Das brachte sie in Verlegenheit, die ihren Ton nur noch herber machte.
„Was wollen Sie denn in diesem Wagen?“ fragte sie herrisch.
„Meinen Freund erwarten, wenn Sie es gütigst gestatten wollen,“ antwortete Ludwig gelassen.
Die Gräfin sah ihn einen Augenblick verdutzt an; schon im nächsten Augenblick aber sagte sie scharf: „Ihren Freund? Warum thun Sie das nicht draußen?“
„Weil’s regnet,“ entgegnetc Ludwig mit einer Verbeugung, bei unerschütterlichem Gleichmuth. Die Gräfin war so verblüfft, daß sie unwillkürlich einen Blick ins Freie warf und den Doctor dann so ansah, als ob sie sagen wollte: „Ja, das ist wahr.“ In demselben Augenblick aber dachte sie auch daran, ob der Mann wohl bei Sinnen sei. Doch nein! Er stand so [500] stolz, so fest da vor ihr; er sah sie so klar, so geistvoll, ja so dominirend an. Es war derselbe Mann, der ihr schon bei dem ersten Anblick auf der Eisenbahn so aufgefallen war; derselbe Mann, der ihr dann vor dem Hotel, zuletzt im Concert einen immer tieferen Eindruck gemacht katte. Und was konnte diesen Mann zu ihrem Wagen führen? Da mußte doch ein besonderes Räthsel, ein eigenthümliches Mißverständniß obwalten. Dieses Räthsel wollte sie ergründen, und rasch entschlossen sagte sie mit einer leichten Handbewegung, den edlen Kopf ein wenig aufwerfend, in leicht befehlendem Ton: „So steigen Sie ein!“
„Ich danke Ihnen verbindlichst,“ sagte Ludwig mit kalter Artigkeit, stieg ruhig ein und setzte sich mit feiner, zurückgezogener Haltung der Gräfin gegenüber. In seinem Innern aber sah es wahrlich nicht so ruhig aus: Fuß an Fuß, Aug in Aug sah er die Frau vor sich, die ihn immer tiefer bewegt und erregt. Er fühlte die Lust in sich, dieser stolzen Frau mit der ganzen Männlichkeit seines Wesens entgegenzutreten, und war fest entschlossen, der Aristokratin nicht zu weichen. So saßen sich die Beiden seltsam gegenüber in seliger Feindschaft; ein Jedes kampfbegierig.
Die Gräfin lehnte sich in die seidnen Wagenkissen fest zurück, und vornehm und mit einem Anflug von Ironie fragte sie:
„Werden Sie es denn nun für der Mühe werth halten, mir zu sagen, weshalb Sie sich hier zudrängen? Auf wen Sie warten?“ Natürlich staunte der Doctor über diese Fragen; die Gräfin dann noch mehr über die Antwort, die er gab.
„Dann sind Sie also nicht Professor Monz, sondern jedenfalls der Doctor Ludwig ?“
„Das bin ich.“
„Also auch der Verführer meines Bruders!“ warf die Gräfin heftig zurück und fuhr dann fort in wachsender Leidenschaft: „Und Sie treiben sich umher unter falschen Namen und lassen sich von Andern vertreten, wenn die Gefahr herantritt. O pfui, wie feige! Aber so sind sie Alle, Alle, die sie die Welt reformiren, geknechtete Menschen befreien wollen und doch nicht den Muth haben, ein Großes, Entscheidendes zu thun! Phrasenhelden, Feiglinge sind sie Alle, und da, wo ich bewundern möchte, kann ich nur verachten!“
Ludwig war blaß geworden vor innerem Zorn, ja vor Empörung; nicht allein für sich, sondern auch für seine ganze Partei; für die Sache, die er vertrat, von der er so groß dachte. So Etwas hatte er einem Weibe gegenüber noch nie empfunden.
„Sie mißbrauchen die unantastbare Stellung, die Ihr Geschlecht Ihnen einräumt, Frau Gräfin,“ sprach er mit gepreßter Stimme, während in seinem Auge ein stiller Ingrimm leuchtete. „Wären Sie ein Mann – so –“
„Und was dann?“ fragte die Gräfin, indem sie sich fest emporrichtete und die Arme übereinander schlug.
„Dann würde ich das thun, was Männer unter sich zu thun pflegen, wenn sie sich nicht prügeln und auch nicht die Polizei zu Hülfe rufen wollen. Man hat da so gewisse kleine blanke Röhren, mit kleinen blauen Kugeln drin, die auf zehn Schritt Distance oft eine recht schöne Wirkung machen. Das ist aber freilich nichts für Frauen, namentlich nicht für so hochgeborene Frauen.“
Morgens war es, eines Morgens „im wunderschönen Monat Mai“ und ich nach langer unbehaglicher Nachtfahrt in einer vollen schweizerischen Postkutsche mit dem obligaten Geklingel ihrer vier schellenbehangenen Gäule. Abends bei fallendem Regen in Bern, damals noch im dunkeln Hofe des alten Posthauses auf der Gerechtigkeitsgasse, in das vielräumige Vehikel gestiegen, waren wir mit grauendem Tage auf den Kamm eines rauhen Gebirgs gekommen, bald durch Waldstellen, bald über Moosflächen und Torfgräbereien. Es war der mäßig ansteigende Höhenzug, welcher den Jura mit den Alpen verbindet, eine Landschaft, welche nicht viel verspricht, mit dünn verstreuten Gehöften, meist auf Freiburger Boden, die weder freundlich noch sauber aussehen. Bei einem See, einem kleinen meergrünen, klaren Gewässer, das sich in flacher Thalmulde links der Straße an einigen besseren Häusergruppen nicht unlieblich ausbreitet, rückten wir in scharfer Wendung, hart an die Kante des Gebirgs, welches sich in jähem Absturze gen Mittag abdacht. Da – noch halb im Schlafe, fuhr ich fast zusammen – griff mich meine Nachbarin, eine artige Bäuerin aus dem Rhonethale, plötzlich am Arme. „Monsieur, Monsieur, voilà le lac!“ rief sie. „Le lac,“ als gäbe es nur einen auf der Welt, als wären wir auf unserer Nachtreise nicht schon an zweien vorübergerollt!
Und da lag dieser See, dieser einzige, dieser wahrhaft einzige See, tief, tief unter uns und unserer wandernden Behausung. Zug um Zug wickelte er sich los aus den Nebelhüllen, die ihn bedeckt hatten, und überherrlich, glorios, strahlend und leuchtend in ungeahntem Glanze, entrollte sich Stück um Stück eines Landschaftsedens, das wirklich und gewiß ein Paradies ist, wenn die Natur allein dergleichen schaffen kann! Blau, azurblau, indigoblau der große, breite See mit tausenden und abertausenden von Lichtfunken gesprenkelt, himmelanstrebend die eisbehelmten Alpen jenseit, die Alpen von Savoyen, die in unzähligen ausgezahnten, ausgewitterten Spitzen den Aether durchschnitten, auf den höchsten noch angeglüht vom Rosenschimmer des Morgens, und daran die vom Wallis mit dem Koloß der Dent du Midi bis zum großen Bernhard hin, dort wo sich der Zuckerhut des Mont Catogne vorschiebt, der das Thal zu sperren scheint, und die ewig beschneite Pyramide des Velan ihm anlehnt. Diesseit aber ein Gelände, wer malt seine Pracht? in Ton und Färbung, in Pflanzenwuchs und Baumschlag schon ganz der Hauch des Südens, der erste Gruß jenes sonnigen Südens, nach welchem uns Alle, die wir geboren sind im bleichem Norden, instinctmäßige Sehnsucht zieht, uns Alle, wie der nämliche Drang einst Stämme sogar und Völker aufscheuchte aus ihren Sitzen auf die lange gefahrvolle Wanderschaft nach den fernen Reichen des Mittags! Mitten drin in der unsäglichen Herrlichkeit zwischen Reblaub und Nußbäumen hunderte weißleuchtender Häuser, hier zu einer umfänglichen Stadt geschaart, die ein viereckiger Kirchthurm überragt gleich einem normännischen Castelle; weiterhin zur Linken in kleinern Gruppen vertheilt, bald am Seespiegel, bald auf halber Höhe der Berge; hinten sogar, auf der Fluth schwimmend, ein alterthümlich, weitläuftig Gegiebel, von dem man schon so manches Conterfei gesehen! Und immer schöner, immer reizender werden die Dörfer, durch die wir kutschiren, immer voller das Laubwerk, das sie umspinnt, immer dichter die Büsche von blühenden Syringen und Rosen, welche die offenen Galerien der Häuser umranken, ein wahres Lustgefild! Steil im Zickzack läuft die Straße hinab, nach der Königin des Sees, dem herrlichen saubern, rührigen Vevey, jener Stadt mit dem eigenthümlichen viereckigen Kirchthurm; bei jeder Ecke wechselt die Anordnung des Panoramas, doch aller Orten bleibt dies gleich wonnevoll.
Warum ich ihm das Alles erzähle und zeige, fragt der Leser, warum ich ihn so weit mittagwärts entführe, jetzt, wo seine Gedanken und Blicke nach ganz anderer Richtung schweifen, wo sie an den Dünen und Marschen der Weser hängen und an den lieblichen Ufern der Elbe, bei den deutschen Schützen und bei den deutschen Sängern weilen, nicht am entlegenen Fuße der penninischen Alpen, wie herrlich es dort auch sein mag? Warum? Weil zugleich mit dem ersten Bundessängerfest in Dresden auch im Paradiese des Waadtlandes, in Vevey am Leman, ein Fest gefeiert wird so unvergleichlich in seiner Art, wie seine Bühne ist.
Dies Fest hat nichts gemein mit der Turnerei, nichts mit Sängern und Schützen, ist kein eigentliches Nationalfest mit politischem Untergrunde, die Festgeber selbst zählen nicht nach Tausenden, kommen nicht herbeigezogen aus allen Himmelsgegenden wie bei jenen Festen, nichts destoweniger aber ist’s besucht von Schaaren von Fremden, nicht blos aus sämmtlichen Theilen der Schweiz, sondern aus dem fernsten Auslande, von allen Nationen, welche ihr Contingent zur heutigen Reise- und Touristenwelt stellen.
Und dennoch ist’s eigentlich nichts anderes als eine Art von
[501][502] Erntefest, freilich vor der Ernte, in dem ein glückliches Volk seinen Jubel laut werden läßt über den Segen seines Klimas und seines Bodens, welcher es zu der beneidenswerthen Stufe von Wohlstand und Civilisation emporgehoben hat, dessen es sich erfreut. Wo rundum weit und breit die Rebe und ihre Pflege im Vorgrunde alles Sinnens und Strebens steht; wo der Wein das Alpha und Omega des Lebens ausmacht; wo jede Naturerscheinung, jeder Wetterwechsel, jede politische Conjunctur zunächst immer auf die Rebe, ihr Gedeihen und ihre Verwerthung bezogen wird; wo auch für den Aermsten der Wein kein unerreichbarer Luxusartikel ist, sondern das tagtägliche Labsal bildet – da kann es eben nicht Wunder nehmen, wenn ein Winzerfest im Laufe der Jahrhunderte zu Verhältnissen anwuchs, die seine jedesmalige Feier zu einem Ereignisse, zu einem der glänzendsten Schauspiele Europas machen, für welches Jahre lang Vorbereitungen getroffen werden, das schon Monate lang vorher die gesammte Bevölkerung in Spannung und Aufregung versetzt. Wohl die meisten meiner Leser haben bereits von diesem großen Winzerfeste oder, wie es offieiell genannt und feierlich proclamirt wird, dem Feste der Bruderschaft der Winzer von Vevey gehört, jenem in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederkehrenden heidnischen Bacchus- und Ceresfeste mitten in einem der allerchristlichsten Winkel der Erde.
Die Bruderschaft oder „Abtei“ (abbaye) der Winzer von Vevey verdankt ihren Namen jedenfalls dem Kloster von Haut Crét im Freiburgischen, dessen Mönche im zwölften Jahrhundert die ersten Reben am Nordrande des Genfer Sees pflanzten, auf den Felsen von La Vaux, die jedem Weinkenner süße Erinnerungen oder Hoffnungen wecken. Ursprünglich hatte diese „Abtei“ der Winzer nur die Ueberwachung der Weincultur zum Zwecke. Wer sich besonders auszeichnete durch seine Rebpflege, der erhielt gewisse Preise und Belohnungen, welche alle drei oder vier Jahr in Vevey zur Vertheilung kamen. Dabei waren ländliche Feste mit Aufzügen und Gesängen veranstaltet, und aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich nach und nach das imposante Fest, welches 1851 zum letzten Male gefeiert wurde und eben, in den Tagen des 26. und 27. Juli, wieder eine Völkerwanderung über das elegante Vevey ergießt, die wohl zwei und drei Mal die Zahl seiner ständigen Bewohner übersteigen mag. Der Haupttheil dieses Festes ist eine große Procession, die Parade der Winzer, worin sich die heidnische Tradition mit dem christlichen Elemente vermischt, mythologische Allegorien mit mittelalterlichen Tableaux wechseln, der Gott Bacchus noch jetzt unmittelbar dem Schutzpatron des ehemaligen Klosters, dem heiligen Urban, vorauschreitet und hinter dem Gotte der Zunftmeister der Winzer, der sogenannte „Abt“, als der Oberpriester des Bacchus stolzirt. Außerdem kommt auch Ceres als Repräsentantin des Sommers in den Zug, erscheinen Gruppen, welche die nationalen Sitten und Beschäftigungen darstellen, Gruppen von Hirten und Jägern, andere, welche patriotische Erinnerungen verherrlichen, darunter die alte Schweizergarde, und jede der vielen Gruppen mit ihrer besonderen Musik und ihren besonderen Liedern. Zu alledem rüstet man sich seit einem Jahr ohne Unterbrechung. Ein Tanzmeister hat die Pas und Figuren der vor den errichteten Estraden ausgeführten Tänze zu entwerfen und für die Musik sind die besten Künstler des Cantons und der Schweiz in Anspruch genommen, während für die verschiedenen Costüme Summen verausgabt werden, wie sie kein Hoftheater für seine Opern und Ballets in das Budget setzen kann.
Eine interessante culturgeschichtliche Studie würde es abgeben, wollte man die allmähliche Entwickelung des Festes von der einfachen Winzerparade bis zu seinen heutigen complicirten Aufzügen und Aufführungen, die ein Personal von dreizehnhundert Menschen, Männern und Frauen, erfordern, vergleichend betrachten; sehen, wie sich der jedesmalige Charakter der Zeit in den Darstellungen und Costumen des Festes ausprägt, wie namentlich seit 1791 das künstlerische Element desselben in bis dahin unerhörter Weise zur Geltung kam und wie nun jedes der folgenden Feste das vorhergebende an Glanz und Ausdehnung übertraf. Ohne die Localität aber, ohne den Zauber der Landschaft, die sein Schauplatz ist, die, eine der herrlichsten der Erde, Jahr aus Jahr ein einen Ziel- und Sammelpunkt von Touristen aller Culturvölker bildet, wäre das Fest nimmermehr geworden, was es ist. Anderwärts hat der Festplatz meist einzig Bedeutung und Interesse durch das Fest selbst, das sich auf ihm abspielt, hier ist umgekehrt der Festplatz die Hauptsache, hat der Rahmen das Meiste gethan, das Gemälde zu schaffen, welches jetzt Tausende bewundern: ihm, dem Festplatze im weitern Sinne des Wortes, der Gegend, gilt auch unsere heutige Darstellung zunächst; suchen wir uns darum noch etwas mehr in den entzückenden Umgebungen zu orientiren, welche im Augenblick vom Jubel der seltenen Feier erklingen.
Wir stehen auf der letzten Terrasse der von Freiburg an den See hinabführenden Straße, auf dem Abhange des sogenannten Pilgerberges (Mont Pelerin), der, zur Joratkette zählend, sich unmittelbar im Norden über Vevey erhebt. Ungefähr von hier aus, nur etwas tiefer gegen das Thal hinab, ist die Ansicht aufgenommen, die unsere heutige Nummer schmückt. Ist auch der kalte Holzschnitt nicht im Stande, den Duft, den Schmelz, die Farbe, den Hauch des Südens wiederzugeben, welcher das Urbild umfließt, immerhin wird er ahnen lassen, daß wir hier ein wahres Sonntagskind der Schöpfung vor uns haben, ein Ensemble von Größe und Anmuth, wie es in ähnlicher Harmonie die Natur vielleicht kaum noch zwei oder drei Male hervorgebracht hat. Doch wir können uns das Prachtbild in aller Gemächlichkeit beschauen, wir dürfen nur eintreten in dem Hause, an dem wir eben vorüberkommen. Die Belle-Vue zu Chardonne über Vevey ist ein gar renommirter Ort, ein vielbesuchtes Gasthaus und Fremdenasyl, schreiten wir denn durch den freundlichen Garten, in dem es steht mit „Dependenzen und Châlets“, und lassen uns in seiner Veranda nieder bei einem Glase alten Yvorners aus 1854er Gewächs. Da liegt es vor uns, das Panorama, wie es der Zeichner vor sich gehabt hat – ein Ah! der Bewunderung entfährt uns unwillkürlich, und lange sitzen wir schweigend in andächtiger Begeisterung vor dem Landschaftsbilde, das sich vor uns ausspannt. Wer hätte auch Worte, diese Herrlichkeit zu schildern? Begnügen wir uns darum einfach zu verzeichnen, was wir sehen.
Zuerst die Berge am andern Ufer, die gewaltigen Recken, die kühnen, vielgezackten, himmelanstrebenden, wildzerklüfteten, mannigfachst umrissenen, – wir kennen sie schon, es ist dieselbe mächtige Alpengruppe, die wir weiter oben erblickten. Zur Rechten sind’s die Berge des Savoyer Seelands, an sie reihen sich links die Riesen des untern Wallis. Weiter nach links endlich fallen die Waadtländer Alpen jäh ab in den See, oben in unzählige Spitzen und Zinken gespalten, nackt und felsig, am Fuße prangend in einer Ueberfülle mittäglicher Vegetation, mit Kastanienhainen, mit Nußbaumwäldern, mit Rebhängen bekleidet und umgürtet.
Da ist es, wo das wahre Südland der Waadt beginnt, da nimmt der ununterbrochene Kranz von freundlichen Ortschaften seinen Anfang, die, theils an lauschigen Buchten des Sees, theils in schattigen Gründen, theils auf sanften Hügeln gelegen, vom Ausländer gewöhnlich als Montreux zusammengefaßt werden, obschon dies nur eine, wenn auch eine der ersten Perlen der unvergleichlichen Schnur ist. Die Gegend von Montreux bis Vevey ist nichts als ein großes Touristenkarawanserai, die Zuflucht der Brustkranken und Traubencuristen, Hotel fügt sich an Hotel, Pension an Pension, Landsitz an Landsitz. Wir können auf unserem Bilde nicht wahrnehmen, wie wechselreich – accidenté nennt es bezeichnend der Franzose – das Terrain dieser Landschaft ist, wie sich hier eine romantische Schlucht öffnet, in der sich malerische Häuser und Villen eingebettet haben, dort eine Höhe aufbaut, welche ein stattliches Schloß krönt, hier auf einmal inmitten der Weinberge, die ringsum dominiren, ein Wiesenplan sich einschiebt, auf dem eine Meierei oder Musterwirtschaft im echten Schweizerstyle sich ausbreitet, dort ein Kirchdorf das Plateau besetzt, hinüberschauend nach den Alpen des Greyerzer Ländchens wie nach dem Wasser und dem andern Strande, und wie die braunen Sennhütten von den Alpen heruntergrüßen, – der Leser muß es mir eben aufs Wort glauben, wenn ich ihm sage, auch der weitgereiste Wanderer, der vieler Menschen Länder geschaut, hat anderswo schwerlich ein Gleiches gesehen.
Ehe wir in diese Zauberregion gelangen, weiter im Hintergrunde, da wo der See eine tiefe dunkelblaue Bucht in’s Land schneidet, fällt uns, eben von der Abendsonne beschienen, ein schwerfälliges Mauerwerk in’s Auge, das auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Es ist Chillon, die alte Burg und Veste Chillon. Wem ist Chillon nicht bekannt, das ehemalige Savoyerschloß, welches, wie eine finstere Legende inmitten eines Kranzes süßer Minnelieder, unheimlich aus der lieblichen Gegend emporragt? Welche furchtbare Geschichte hat dies düstere Wassercastell! Tief unter dem Spiegel des Sees lagen seine Kerker, wo die Gefangenen [503] schmachteten, lange, lange, lange Jahre, die meisten, um nie mehr das Tageslicht zu sehen, um in den Wellen des Sees den Tod zu erleiden.
In einem dieser schauerlichen Kerker war der ehemalige Prior von St. Victor in Genf, der bekannte Bonnivard, acht Jahre lang eingeschlossen, an eine Säule geschmiedet und grub in die Steinplatten des Fußbodens die Spur seines immergleichen Schrittes, die noch heute allen Besuchern der Burg gezeigt wird. Zwar hat die moderne Geschichtsschreibung Bonnivard seines Heiligenscheines entkleidet, immer aber erregt das Schicksal des Denkers unser tiefstes Mitleid, wie ihn Byron’s ergreifende Dichtung, die sich unser Aller Gedächtniß unverlöschlich eingegraben hat, jeder Forschung zum Trotz den spätesten Generationen noch zu einem Märtyrer der politischen und Gewissensfreiheit stempeln wird. – Heute zieht die Eisenbahn von Vevey nach dem Rhonethale dicht an Chillon vorüber, eine ihrer Stationen hat ihre moderne Halle unmittelbar neben die mittelalterliche Veste gebaut, die jetzt das waadtländische Geschützdepot und Staatsgefängniß vorzustellen hat, und damit ist dieser ein gut Stück ihrer Romantik und Poesie genommen.
Unser Blick nähert sich dem Punkte des großen Halbkreises, wo auf der Spitze einer Landzunge die Stadt sich auszubreiten beginnt, theils den Bogen des Sees folgend, theils die kleine Ebene besetzend, die sich am Fuße der Weinhänge hinzieht, theils sich die untersten Staffeln dieser letzteren hinanbauend. Eigentlich sind es zwei Städte, die vor uns entfaltet liegen, so deutlich, daß wir fast jedes ihrer Häuser zu erkennen vermögen, von hier oben aber erscheinen sie als ein Ganzes, wie sie denn in Wirklichkeit auch dicht aneinander gerückt sind, obschon sie zwei völlig selbstständige Communen bilden, Links das Oertchen La Tour de Peilz, dem der nahstehende dicke Rundthurm des einstigen savoyischen Herzogsschlosses, dicht am Rande des Sees, seinen Namen verliehen hat und heute vor allem Andern die weitberühmte Erziehungsanstalt unsers vortrefflichen deutschen und speciell sächsischen Landsmannes, des Herrn Eduard Sillig, Ruhm und Glanz giebt; rechts die Stadt Vevey selbst, „die Königin des Sees“, wie sie der Umwohner stolz zu bezeichnen pflegt, dem Range nach die zweite, nach ihrem Verkehre und Wohlstand die erste Stadt des Waadtlandes, deren Handel und Industrie erhebliche Summen umschlägt und große Vermögen geschaffen hat. Natürlich ist der Wein der Hauptstapelartikel des Platzes, um mich gut kaufmännisch auszudrücken; von den etwa 75,000 Chars oder Karren (der Char zu vierhundert Maß gerechnet), welche die Waadt erzeugt, kommen fast die Hälfte auf die nähere und fernere Umgebung von Vevey, aber auch der Zwischenhandel mit dem berühmten Greyerzer Käse des Nachbarcantons Freiburg, für welchen Vevey den Hafen abgiebt, läuft sehr in’s Große und ebenso ist die Cigarrenfabrikation der Stadt von Bedeutung. Die „Veveysans“ und die „Vevey fins“ sind die beliebtesten Cigarren nicht nur der Schweiz, sondern genießen eines wohlverdienten Rufes auch weit jenseit deren Grenzen.
Von unserm Belvedere springen die Hauptgruppen, in die sich der freundliche, selbst stattliche Ort sondert, sofort in die Augen. Da haben wir zuerst – ganz rechts auf unserm Bilde – einen weiten Platz vor uns, der sich im Süden nach dem See zu öffnet und den westwärts ein gothisches Schlößchen, das Wohnhaus eines reichen Privatmannes, und ein daranstoßender dichter Baumgang abrundet. Das ist der Hafenplatz, der Markt, die Place du marché, mit der Fruchthalle und der Landungsstelle der Dampfboote. Für uns aber hat dieser Platz noch besonderes Interesse, denn auf ihm geht das große Winzerfest vor sich. Auf diesem mächtigen Platze sind die Estraden aufgezimmert, von denen am 26. Juli die Fremdenfluth dem Aufzuge zuschaut; hier beginnt sechs und ein halb Uhr Morgens die Procession mit dem Geleite des Frühlings, mit dem Ceres- oder Sommerzuge, dem Bacchus- oder Herbstfeste und der Hochzeit und der Jägergruppe, welche den Winter vorstellen; hier werden um sieben und ein halb Uhr die verschiedenen Preise vertheilt, hier von acht bis eilf Uhr die charakteristischen Tänze und Gesänge aufgeführt; von hier aus wird sich Abends die Kette der erleuchteten Gondeln auf dem See und der Reflex der illuminirten Stadt am prächtigsten ausnehmen, hier der große Costümball, der in der Nacht des zweiten Tages das Fest beschließt, während ringsum Alles in Licht und Flammen strahlt, von magischem Effecte sein. Auf diesem Platze war es auch, wo Napoleon Heerschau hielt über fünfzehntausend Mann seiner Truppen, ehe er über die Fels- und Schneewüste des großen St. Bernhard zum Siege von Marengo zog. An das gothische oder halbgothische Palais, das ihn ziert, reiht sich eine dichte Allee, gegen die Wogen durch hohes Mauerwerk geschützt, weit den See hinablaufend – eine köstlichere Promenade läßt sich nicht denken.
Wenden wir uns etwas mehr landeinwärts, so fesselt uns vor Allem der eigenthümlich viereckige Thurm einer Kirche mit den vier kleinen Eckthürmchen, die aus seinem Dache hervorspringen. Auch ein classischer Punkt, eine Stelle von Weltruf und jedem Touristen wohlbekannt: die Kirche von St. Martin mit ihrer von alten Linden und Kastanien beschatteten Terrasse und ihrem Friedhofe. Wer je nur einen Tag in Vevey weilte, der steigt gewiß hinauf zum Hügel von St. Martin und schwelgt in stillem Entzücken in der Herrlichkeit, die hier vor seinen Blicken ausgegossen ist, bis ihn das Rasseln des dicht unter der „Terrasse du Panorama“ vorüberbrausenden Bahnzugs aus seiner Selbstvergessenheit aufrüttelt und er nun wohl in die kühle Kirche tritt, um hier die Grabsteine zweier Flüchtlinge aufzusuchen, die fern ihrer Heimath im Exile starben, die Gruft Edmond Ludlow’s, eines der Richter Carl’s des Ersten von England, und seines Freundes Andrew Broughton, welcher dem unglücklichen Stuart das Todesurtheil verlas.
Fast in gleicher Linie mit dieser Kirche, doch hart am Ufer des Sees bleibt unser Auge schließlich an einem andern Bauwerk haften, welches etwa das Aussehen einer behäbigen fürstlichen Villa besitzt, in der That aber der in sämmtlichen Reisehandbüchern doppelt und dreifach besternte Gasthof Monnet, das Hôtel des trois Couronnes, ist, eines der sogenannten Schweizer Musterhôtels, jedenfalls desgleichen eine geweihte Stätte. Auch wir wollen unter seinem Dache heut unsere Häupter zur Ruhe legen.
Mittlerweile ist schon die Zweite des Yvorners geleert, es wird schwer sich loszureißen vom Panorama vor uns, doch es will Abend werden. Eine Gluthscheibe ruht die Sonne rechts gegen Genf hin auf den sanften Wellenlinien der Jurakette, der See schwimmt in Licht und Gold, über der Stadt flimmert wie eine Aureole ein Sonnennebel und links auf den Gipfeln und Eisschildern des Wallis schwebt schon der Rosenhauch des Abends, um, höher und höher klimmend, allmählich zur Zaubererscheinung des Alpenglühens zu werden, während der Fuß, die Falten und Schluchten der Berge in tief violettem Schatten liegen, von einer Wärme des Tons, wie wir ihn im Norden kaum für möglich halten. Eö ist Zeit zum endlichen Abstieg in’s Thal.
Rundum sieht das Auge nichts als Weinberge, die in kühnen Terrassen sich zum See hinunter abdachen und deren Mauern zugleich zum Fußpfade dienen. Ein lauer Westwind treibt das Wahrzeichen der Gegend, das Rebenblatt, über unsern Weg, und noch überall in den einzelnen Pflegen begegnen wir emsigen Winzern. An der schäumenden Veveyse, dem Kind der Freiburger Höhen, kommen die ersten Häuser der Stadt, meistens weiß mit grünen Jalousien und breit vorspringenden Dächern, halb italienisch, halb schweizerisch, aber durchaus schmuck und einladend und zum Theil von üppigster Vegetation umwuchert. Der Ort heimelt uns an vom ersten Schritte, den wir durch seine Straßen und Gassen thun, und selbst der süß-säuerliche Geruch, der uns aus den vielen Weinkellern von den darin eingelagerten Fudern und Stückfässern in die Nase dringt, dünkt uns ein neuer Gruß des schönen poetischen Südens.
Und wenn wir dann auf der Terrasse unserer Drei Kronen beim Nachtessen sitzen, umschwirrt von dem polyglottischen Sprachgewirr der um uns plaudernden Engländer, Franzosen, Russen, Deutschen und Schwyzer Dütschen, wenn nun links über den Zacken der Tour d’Ai der Mond aufsteigt und sein mattes Silber in tausend Lichtstreifen und Lichtbündeln über den See zieht und in die Schaumfurchen der Gondeln streut, die in der Nachtkühle sanft über den wellenlosen Spiegel gleiten, während jenseit am savoyischen Ufer die Kalköfen bei St. Gingolph wie feurige Scheiben durch das Dunkel herüberglühen – da überschleicht uns schmerzliches Bedauern, daß dies Alles nur vor dem geistigen Auge des Lesers lebendig wird, daß die Gartenlaube keine Zauberruthe besitzt, ihn mit einem Schlage in das Paradies von Vevey zu entrücken, sondern nur über Stift und Feder, über Druckerstock und Pressen gebietet und auch das große Winzerfest selbst ihm demnächst blos auf dem Papiere vorführen kann, dem Papiere, welches der ureigenste Träger des Geistes unserer Zeit ist.
[504]
Die Kampfgenossen des schleswig-holsteinischen Krieges aus den Jahren 1848, 1849 und 1850 werden sich noch mit freudiger Wehmuth des Wackern erinnern, dessen mit Bleistift geschriebenem, kaum mehr lesbarem Briefe wir die nachstehende interessante Mittheilung entnehmen. War er doch der Geliebteste und Beliebteste unter allen Cameraden, eine treuherzige, blonde Heldengestalt, „hochhäuptig über Alle,“ in Wesen und Aeußerem viel ähnlich jener herrlichen Erscheinung aus den deutschen Befreiungskriegen, von welcher uns Jahn und Arndt begeistert erzählten; und so hieß er denn auch mit Recht damals allgemein der „Friesen“ des schleswig-holsteinischen Heeres. Es war der Lieutenant P. C. Ohlsen aus Seegard in Angeln. Er hatte früher unter den Dragonern gedient und war nach Ablauf seiner Zeit ein tüchtiger Landmann geworden. Als die Herzogthümer sich „gegen den Brief“ erhoben, verließ er den Pflug und die Bücher, um als Freiwilliger in das Corps des Grafen von Rantzau zu treten; der Thatendrang trieb ihn aus diesem in das Aldosser’sche, später von der Tann’sche Freicorps, in welchem er es rasch zum Zugführer und Adjutanten brachte.
Der Einsender ist damals sein Camerad gewesen und hatte wenig liebere Freunde unter der ganzen wilden Schaar. Wir fochten zusammen bei Holtsee (Eckernförde), Missunde, Klein-Solt, Flensburg, Aroesund. Bei Hoptrup zeichnete sich Ohlsen besonders aus – wie er denn überall der Vordersten Einer war, der den riesigen Pallasch um das gewöhnlich entblößte Lockenhaupt schwang gleich einer zum gewissen Siege führenden Standarte. Ein vorzüglicher Reiter und Fechter, Ringer, Schwimmer und Läufer, besaß er eine ganz ungewöhnliche Körperkraft, die er oft im Scherz, aber auch herrlich im blutigen Ernst bewährte. Feinde hatte er nicht; ein Wink von ihm vermochte mehr, als des Hauptmanns eifrigstes Gepolter. Die Neu-Organisation der schleswig-holsteinischen Armee führte den Lieutenant Ohlsen in das vierte Jägercorps. Er war in den Schlachten und Treffen bei Kolding, Gudsoe und vor Friedericia immer der Bravste unter den Braven, und erhielt nach der letzteren Affaire das wohlverdiente Kreuz. Unter Willisen kämpfte er bei Idstedt, Missunde und Friedrichsstadt; den Sturmversuch auf die letztere Festung nannte er „eine tolle That“, aber er that seine Schuldigkeit, während die besten Freunde rings um ihn fielen, wie die Flocken, unverletzt, als sei er gefeit.
Als das schleswig-holsteinische Heer aufgelöst ward, sagte er dem verlorenen Vaterlande Valet und trat in der Bitterkeit seines Herzens in die deutsch-britische Legion, um den Tod auf entlegenen Schlachtfeldern zu suchen. Er ist ihm geworden, wenn auch nicht so, wie er ihn wünschte. Zwar ist es dem Einsender unbekannt, ob Ohlsen mit in der Krim gewesen ist; dagegen weiß er mit Bestimmtheit, daß er mit der Mehrzahl seiner Cameraden nach Südafrika wanderte und sich mit ihnen in British-Kaffraria ansiedelte. Hier fiel er, der Erste, durch einen heimtückischen Kaffernpfeil, auf das Tiefste betrauert von seinen Freunden und Allen, die ihn kannten.
Dieser hochherzigen deutschen Heldengestalt ein kleines Denkmal zu setzen, ist der Zweck der nachstehenden Mittheilung, nicht der, eine Wunde wieder aufzureißen, die heute, nach sechszehn schweren Jahren, noch nicht vernarbt ist. Möge, wenn das Vaterland wiederum sich erhebt für die heiligen Güter seines Heerdes, ihm nicht der „Friesen“ fehlen, der ihm ja bisher jedesmal erstanden ist! Und möge, wenn von den kühnen Jünglingen erzählt wird, welche freudig Gut und Leben hinwarfen, um ihr Volk von fremdem Joch zu befreien, auch der Name „Ohlsen“ ein bescheidenes Plätzchen finden! – – Lassen wir nun jenen Brief sprechen:
Zwei Tage sind vorüber nach der blutigsten Katastrophe dieses unheilvollen Feldzuges! Wir sind geschlagen, gejagt worden, wir haben Alles verloren, aber nicht die Ehre! Das ist auch unser einziger Trost. Der Blick in die Zukunft ist noch trüber, als der auf die Gegenwart – was soll aus uns, was aus unserem lieben Vaterlande werden? Seit zwanzig Tagen lagen wir vor Friedericia. Dies ist eine Festung nordöstlich von Kolding, dicht am kleinen Belt, welcher hier nicht breiter ist, als ein mächtiger Strom; man erreicht die gegenüberliegende Küste der Insel Fünen etwa in einer Viertelstunde. Die Festung gilt für sturmfrei, d. h. sie kann nur mittels regelmäßiger Blokade und durch Beschießung genommen, nicht erstürmt werden; unsere tapferen Jungen glaubten aber nicht daran, spotteten der hohen Cavaliere und Ravelins, der Palissaden und Redouten, der dräuenden Kanonenschlünde und der verheißenen Unterwassersetzung der Umgegend – „wir wollen schon hinein kommen!“ sagten sie, „führt uns nur. Vor Hannemann ist uns nicht bange.“
Meine Compagnie war erst seit drei Tagen von Veile, nördlich von Friedericia, in dem sehr leicht, um nicht zu sagen leichtsinnig, verschanzten Lager eingetroffen; ich bemerke dabei, daß unsere Avantgarde unter Prittwitz seit Ende Mai schon in Aarhuus lag und daß wir uns täglich fragten: „Wann werden wir auf dem Skager-Rak stehen?“
Wir hatten ziemlich bequeme Baracken bezogen; es mangelte nicht an Stroh, das in massenhaften Quantitäten aus den benachbarten Dörfern Jordrup, Bredstrup, Stonstrup und wie sie alle heißen, requirirt worden war; Holz hatten Thore, Knicke und das südwestlich gelegene Vogelsangwäldchen zur Genüge geliefert. Es ist kaum glaublich, welchen Einfluß auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit des Soldaten im Bivouak oder verschanzten Lager das Stroh hat: es ist wahrhaftig das nothwendigste Material nach Speise und Trank, wo es fehlt, da giebt es Kranke in Menge und lauter mürrische Gesichter. Die letzteren fehlten leider unter uns nicht, trotz des vorhandenen Strohreichthums. Wir hatten am 22. April die Dänen aus Kolding gejagt; seit dem 28. Mai war Friedericia von dem Gros der „Reichsarmee“ eng cernirt, aber dies war auch Alles. Wir dürsteten nach Thaten und lagen uns faul die Rücken wund. Keine andere Beschäftigung, als die langweiligen Feldwachen, der Vorpostendienst, hier und da die verhaßte Arbeit des Laufgräben-Oeffnens; zur Abwechselung einige Ausfälle des Feindes, welche stets wie Schein-Affairen aussahen, endlich die regelmäßig wiederkehrenden Requisitionen und Fouragirungen in der Umgegend. Wie zum Spaß und um sein Andenken aufzufrischen, warf der Däne täglich ein paar schläfrige Bomben zu uns herüber, welche man zuletzt gar nicht beachtete. Dem zweiten Jägerbataillon schlug eines schönen Tages ein solches Ungethüm gerade durch den mächtigen Menagekessel, wobei es freilich crepirte; aber mit der köstlichen Bouillon war es diesmal vorbei und ein paar Leute trugen üble Brandwunden davon. Verwundete hatten wir nur sehr wenige, Kranke gleichfalls; das Lazareth befand sich in Viuf.
Gern hätten unsere Artilleristen ihrerseits solche Grüße mit Procenten erwidert, aber höchst selten nur war dies ihnen gestattet, es hieß, „es fehle an Munition und diese müsse gespart werden“; so lagen sie denn mürrisch im Schatten der Faschinen, welche die Rückwand der Landschanzen bildeten, und betrachteten gähnend die über sie hinwegsausende Verschwendung der „Tapperen“. Die gezwungene Unthätigkeit der jungen, aus den heterogensten Elementen zusammengesetzten, aber muthigen und vom besten Geiste beseelten Armee gereichte derselben überhaupt keineswegs zum Nutzen. Es wären Versuche mit Exerciren gemacht worden; dies haßt aber bekanntlich der Soldat nirgends mehr, als im Felde, und so unterblieb es auch bald. Man fragte gegenseitig: „Warum sind wir unthätig? Was geht mit uns vor?“
Ueber die politischen Constellationen der Zeit ist man im Felde selten unterrichtet. Die Nachrichten kamen uns immer vierzehn Tage oder drei Wochen zu spät zu in höchst zerlesenen, kaum noch buchstabirbaren Exemplaren des Altonaer Mercur oder der Schleswigschen Zeitung: wenn wir überhaupt so glücklich waren, solcher unschätzbaren Verkündigungen habhaft zu werden. Daß es sich in Deutschland zum Schlimmen wende, daß in Preußen die Sache Schleswig-Holsteins – wenn überhaupt jemals ernstlich erfaßt! gern aufgegeben werde, wußten wir oder ahnten es viel mehr. Aber es war in uns zu viel guter Jugendmuth, zu vieles Vertrauen auf die Gerechtigkeit unseres Krieges, zu viel Selbstbewußtsein, als daß wir schon an das Aergste hätten denken mögen. Nichtsdestoweniger schüttelten viele Köpfe, zuckten viele Achseln, wenn die Namen der (preußischen) Feldherren genannt wurden, in deren Hand unser und des Landes Schicksal lag; auch [505] fehlte es nicht an den sonderbarsten Gerüchten über die Art und die Zwecke der Kriegführung; aber die Uebertreibungen derselben schienen schon die beste Bürgschaft für ihre Richtigkeit zu bieten. Mit einem Wort: es herrschte eine höchst gedrückte, kaum beschreibbare Stimmung in der ganzen Armee.
Vom 1. Juli ab war ein besonders lebhafter Verkehr zwischen der Festung und der Insel Fünen bemerkt worden. Derselbe war zwar niemals unterbrochen, da unsere Batterien den Fjord gar nicht bestrichen, und oft hatten wir von der Höhe des Plateaus bei Stonstrup unter den gehenden, kommenden und stationirten Schiffen alte Bekannte herausgefunden: die Corvette „Valkyren“ (Eckernförde 1848!), den Kutter „Neptun“ (Aroesund 1848), die Dampfer „Geyser“, „Skirner“ u. a. m., mit welchen Allen wir schon Kugeln gewechselt. Aber die Regsamkeit der letzten Tage zur See war so ungewöhnlich, daß sie auffallen mußte. Die ganze fünen’sche Küste von Middelfart bis Striib war mit Kähnen garnirt, die unter dem Schutze der dänischen Strandbatterieen ganz sicher lagen; allein es wurde trotz angestrengter Wachsamkeit doch nicht geradezu constatirt, daß die Belagerten eine Verstärkung an sich gezogen hätten und Etwas im Werke sei. Die anfängliche Aufregung im Lager stumpfte sich bald ab zur bloßen Neugier, auch diese wich dem bekannten Leichtsinn und dem Gleichmuth gegen die Stunde in den Soldatenherzen.
Der Morgen des fünften Juli brach recht neblig und rauh an; man wähnte sich in den November versetzt und fröstelte, trotz der Strohgruben, in dem scharfen, mit feinen Wassertheilchen imprägnirten Nordostwind, welcher die Lagerhütten unbarmherzig schüttelte. Die Kaffeefeuer boten blos von einer Seite Wärme, und somit war mir die Ordre nur erwünscht, mit der Compagnie eine Recognoscirung zu unternehmen und aus dem etwa anderthalb Stunden entfernten Dorf Bredstrup eine Anzahl Proviantwagen in’s Lager zu escortiren. Der Auftrag ward ohne jede Gefährde vollzogen und nach drei Uhr Nachmittags rückten wir wohlgemuth wieder ein, krochen in die Baracken und machten es uns so bequem wie möglich. Da wir allerlei schätzenswerthe Dinge von unserem Ausflug mitgebracht, als da sind: Rum, Rothwein, Eier, Speck etc., so fanden sich einige Freunde, vom untrüglichen Instinct des Lagerlungerers richtig geleitet, bald bei uns ein, und es begann das bekannte und beliebte Convivium, das allabendlich die Monotonie der Lagergassen vergessen machte. Wir hatten Erlaubniß zu singen – eben klang durch die Abendstille das Reiterlied: „Die bange Nacht ist schon herum“ – da fiel ein Kanonenschuß, gleich darauf eine lange Salve, in demselben Augenblick erklangen auch unsere Signalhörner und die Hauptleute riefen zu den Waffen. Wir ließen uns nicht Zeit, die schöne Bowle auszutrinken; im Nu standen wir auf den Sammelplätzen und mit „Marsch, Marsch!“ ging es gegen den Feind. Die Dänen hatten in zwei Colonnen mit ungefähr fünf oder sechs Bataillonen einen Ausfall gemacht; Geschütz führten sie nicht mit sich. Wir Jäger rückten im Laufschritt vor; außerhalb der Schanzen developpirten sich die beiden ersten Compagnieen sofort in eine Tirailleurkette und die guten Büchsen begrüßten lustig den Feind. Dieser feuerte nur zweimal im Peloton – vollkommen wirkungslos – und war schon wieder außer Bereich, ehe nur die Artillerie unserer Schanzen ein Wörtchen mitzusprechen hatte versuchen können. Zwar waren unsere flinken Jungen rasch hinter ihm drein – aber von den hohen Redouten der Festung herab krachten Granaten und Shrapnells unter sie, und da war es Zeit umzukehren. Wir hatten weder Todte noch Verwundete, fluchten aber dennoch weidlich über Hannemann, der uns auf diese Art schon häufig zum Besten gehabt und nunmehr schuld daran war, daß die gute Bowle kalt geworden, oder gar Andere sich ihrer mittlerweile angenommen hatten. Wenn auch dies glücklicher Weise nicht der Fall war, so krochen wir doch Alle, mit Ausnahme der Posten, recht verdrießlich in unser Stroh, darin sehnsüchtig erwartet von seinen zahllosen Bewohnern, von deren Fruchtbarkeit sich nur der einen Begriff zu machen im Stande ist, welcher, etwa mit weißen Beinkleidern, in eine verlassene Baracke tritt. Aber im Kriege lernt man Vieles ertragen, auch die kleinen Peiniger.
Aus tiefem Schlaf der Gerechten und Gesunden erweckte uns – es mochte gegen ein Uhr sein – abermaliger Alarm. Da wir die Kleider niemals ablegten, brauchten wir blos die Waffen zu ergreifen und die Käppis aufzustülpen, um fertig zu sein. Gleich an der ungewöhnlichen Verwirrung im Lager konnte man abnehmen, daß Ungewöhnliches vorgehe. Mit feurigen Schweifen pfiffen die Bomben zu Dutzenden auf einmal durch die Luft, unaufhörlich stiegen des Feindes Leuchtkugeln in den dunkeln Himmel; unsere Kanonen antworteten mannhaft den dänischen; Commandoworte, Trommelwirbel, Signalrufe, es war ein infernalischer Lärm. Dennoch löste sich wider Erwarten der Knäuel im Lager in ziemlicher Ordnung und in wenigen Minuten stand das vierte Jägercorps draußen an den Laufgräben dem Feinde gegenüber. Dieser hatte endlich das Necken aufgegeben und machte Ernst.
Was wir nur vermuthet, war That; die Dänen hatten seit einer Woche bedeutende Verstärkung an sich gezogen und standen uns bei dem durch ihre Werke gedeckten Ausfall mit etwa zwanzig Bataillonen gegenüber, während das gesammte Belagerungscorps deren kaum die Hälfte zählte. Natürlich wußten wir dies nicht sofort und gingen lustig darauf los mit „Hurrah! Hurrah!“ Eine lange feindliche Tirailleurlinie dehnte sich uns gegenüber aus, gleich einer Palissadenreihe; sie feuerte schon, als wir noch gar nicht in Schußweite waren. Wir sandten gleichfalls Tirailleurs voran, die sich trefflich deckten – das Bataillon in zwei Colonnen nach – wir achteten nicht der verrätherischen Doppelkugeln, die uns Hannemann bald zu kosten gab (es ist Thatsache, daß die Dänen mit je zwei Kugeln und einer Platte luden) – die Büchsen knallten – „Fällt’s Gewehr! Sturmschritt!“ – da öffnet sich die Colonne der Rothröcke, ein Feuerstrom sprüht uns entgegen, es kracht, wie Schloßenwetter im dürren Walde, zwei verdeckte feindliche Batterien werfen uns mit einem furchtbaren Kartätschenhagel nieder und zurück. Der entsetzliche Augenblick wird mir unvergeßlich sein, so wenig ich mich heute schon auf seine näheren Einzelheiten besinnen kann. Rechts und links sah ich Cameraden fallen, mechanisch beugte ich mich nieder, um die Büchse des einen zu ergreifen – denn es ist ein wahrhaft qualvoller und unverzeihlicher Zustand, bei solchen Gelegenheiten völlig unbewaffnet zu sein, der Säbel ist dabei zu gar nichts nütze – es war mein Feldwebel Beerend, er rief mir einen Gruß zu, an wen, weiß ich nicht mehr. Der Pulverdampf wogte in schweren, dichten Ballen an der Erde, man sah keinen Schritt vor sich, stolperte über Waffen und Leichen; dazu der furchtbare Kanonendonner, welcher gar keine Pause gewahren ließ, das Knattern der Pelotonfeuer, es war noch ein Glück, daß die Leuchtkugeln mit mattem Scheine durch den Pulverqualm leuchteten, sonst wären wir wahrscheinlich dem Feinde geradezu in den Rachen gelaufen. Einmal waren wir kaum fünfzig Schritt von einem dänischen Regiment entfernt, als ein Windstoß den Dampf verjagte. Das Bataillon hielt instinctmäßig noch zusammen, es erfolgte von Seiten der Dänen sofort ein Bajonnetangriff gegen uns, wir wurden geworfen, und zwar, wie ich leider bekennen muß, in schleunige Flucht. Es war kein Wunder, daß ein panischer Schrecken die Herzen selbst der Tapferen ergriff, denn die Erde schien Vulcane zu gebären. Sogar von Fünen herüber warfen die Strandbatterieen bei Striib Bomben und Sechsunddreißigpfünder; mit eigenen Augen sah ich rings auf den Höhen mächtige Fanale brennen; es mußte demnach, wie gewöhnlich, Verrath im Spiele sein, denn nur die jütischen Bauern konnten sie errichtet und angezündet haben. Den Dänen kam ihre genaue Kenntniß der Gegend sehr zu statten; sie blieben uns dicht auf den Fersen, wie ich zugestehe, in guter Ordnung. Wir waren ein Durcheinander des Bataillons, die Zahl gar nicht zu übersehen; ein paar Mal bestrebte ich mich, die Leute aufzuhalten und Kehrt machen zu lassen; vergebens. So warfen wir uns endlich in die Süderschanze des Lagers, welches schon an mehreren Stellen lichterloh brannte, so daß es taghell ringsum war. Aber was man erblickte, ließ den Muthigsten beben! Es war nur ein winziger Rest von vier Compagnieen, die ich um mich sah, darunter blos zwei Officiere, beide verwundet, der eine offenbar im Verscheiden.
Von den Bedienungsmannschaften der Geschütze, deren mehrere demontirt lagen, war gleichfalls über die Hälfte gefallen; aber die Ueberlebenden thaten ihre Pflicht mit beispielloser Bravour. Ihr Vorbild und mein Zureden entflammten auch wiederum den Muth des mir gebliebenen Häufleins; festen Fußes erwarteten wir den Feind. Er ließ nicht auf sich warten. Nach einem Kugelregen, der glücklicherweise über uns hinwegflog, erfolgte der Sturm mit einer Bajonnetattake. Nunmehr entspann sich ein Kampf, Mann an Mann, der an Grausigkeit seines Gleichen sucht. Die schleswig-holsteinischen Jäger fochten wie Verzweifelte, die Dänen in furchtbarer Ueberzahl wie Mörder.
[506] „Haltet sie nur, bis die Geschütze vernagelt sind!“ hatte uns der Lieutenant Christiansen zugerufen, indem er den ersten Stahlnagel mit dem Hammer in das noch rauchende Zündloch trieb: er und der Artillerist Kloß verrichteten das Geschäft mit der größten Kaltblütigkeit. Aber es war auch Zeit, wir vermochten nicht mehr dem Anprall des Feindes zu widerstehen, der zudem an anderen Stellen die Schanzen schon erstiegen hatte und mitten im Lager war, so daß wir abgeschnitten zu werden fürchten mußten. Wir wandten uns abermals zur Flucht, zähneknirschend, aber mit dem Bewußtsein, das Menschenmögliche gethan zu haben. Niemals vorher hatte der Däne unsere Rücken gesehen, wir schworen uns grimmig, ihm die Schmach blutig zu vergelten. Da der Feind uns nicht belästigte, so marschirten wir in ziemlicher Haltung, bei jedem Schritt durch andere Flüchtlinge verstärkt, durch die nordwestlichen, noch nicht vom Feuer ergriffenen Lagergassen. Hier trafen wir auf die Reste des ersten und zweiten Jägerbataillons, die unter der Führung des Obersten von Roques sich gesetzt hatten, um den Feind zu erwarten; wir schlossen uns denselben an. In unabsehbaren Colonnen rückten die Dänen heran, doch schien unsere feste Haltung ihnen zu imponiren; sie zögerten mit dem Angriff. Unter dem Wechsel mehrerer Salven, bei welchen unsere guten Büchsen jedenfalls im Vortheil waren, zogen wir uns langsam zurück auf das Plateau. Mittlerweile hatten die dänischen Regimenter eine Seitwärtsschwenkung gemacht, ihre Artillerie spie schon wiederum in unsere Reihen, gleich darauf erfolgte ein Bajonnetangriff. Wir hielten dem furchtbaren Choc herzhaft Stand, drei Mal wiederholte ihn der Feind, drei Mal warfen wir ihn zurück – freilich mit furchtbaren Verlusten, auch unser Führer war, tödtlich verwundet, gefallen.
Der heute sonnige, heiße Morgen beleuchtete schreckliche Scenen, selbst demjenigen Schauder einflößend, der schon zahlreiche Schlachtfelder gesehen. Er beleuchtete leider aber auch den Rückzug einer geschlagenen Armee, welche fast zwei Drittheile ihrer Braven verloren hatte. Der Feind verfolgte uns nur lässig, mit Infanterie gar nicht. Einige Schwadronen seiner Dragoner hielten sich in durchaus respectvoller Entfernung; sie schienen uns mehr beobachten als schädigen zu wollen. Nichtsdestoweniger hieben sie die müden oder verwundeten Nachzügler nieder; zur Vergeltung flog ihnen aber auch manche gut gezielte Kugel hinter den unnahbaren Knicken hervor; es war von jeher die höchste Lust unserer Jäger, einen „Grützereiter“ aus dem Sattel zu blasen. Im Dorfe Jordrup, wenn ich nicht im Namen irre, nordwestlich in der Richtung von Viuf und Veile, sammelten wir uns zum ersten Male. Auch das vierte Jägerbataillon fand sich zusammen – es waren wenig über hundert Mann, von meiner Compagnie achtzehn, und ich der einzige Officier, der ich demnach sofort das Bataillonscommando zu übernehmen hatte. Hier gewahrte ich auch, von Cameraden aufmerksam gemacht, daß ich verwundet war, von einem Streifschuß leicht getroffen. Unser Aussehen war fürchterlich; die Gesichter schwarz von Pulver, die Monturen zerrissen und zerfetzt, blutbespritzt, ein Jeder verwundet oder zum Tode matt, die Meisten ohne Kopfbedeckung, aber Keiner ohne die treue Waffe – so flößten wir selbst den stieren Jüten Mitleid oder Furcht ein; sie brachten Wasser, Branntwein, selbst Brod. Die interimistische Organisation der Bataillone ging rasch vor sich, unterstützt durch den Succurs eines Theils der Avantgarde unter Major v. Zastrow. letztere verstärkte sich durch die am mindesten decimirten Jägercompagnien und marschirte nach kurzer Rast racheschnaubend dem Feind entgegen; aber dieser saß schon wieder wohlgeborgen in seiner Feste, so blieb den Unseren nur das Sammeln der Verwundeten und das Begraben der Todten. Der letzteren waren es weit mehr, als der ersteren; doch ist die genaue Zahl noch nicht bekannt. Jedenfalls war die Nacht vor Fridericia die unglücklichste und blutigste Affaire des ganzen merkwürdigen Krieges.
Das Gros unserer Armee rückte Nachmittags in Veile ein. Mein Bataillon hatte über zwei Drittheile seiner Mannschaften verloren, drei Viertheile seiner Officiere. Und es herrschte eine unaussprechlich finstere Stimmung unter uns, denn wir fürchteten abgeschnitten zu sein und in Jütland ohne Rache aufgerieben zu werden, während lauter als jemals der Argwohn sich äußerte: „Es wird ein falsches Spiel mit uns getrieben!“ Haben dies doch beim Einmarsch Einzelne aus den Reihen dem bleichen Bonin an den Kopf geworfen, als er mit entblößtem Haupt uns vorüberziehen sah – er hatte keine Antwort für den Vorwurf, aber auch keine Strafe für das Vergehen gegen die Subordination. Wie viele liebe Cameraden, wie viele tapfere deutsche Männer hat sie gekostet, die unselige Nacht vor Friedericia! – –
Wir können uns nicht versagen, schließlich zur Vervollständigung des Bildes einen kurzen Bericht zu citiren, welcher uns in öffentlichen Blättern über den Ueberfall bei Friedericia begegnet ist und unseres Freundes speciell gedenkt. Er ist erstattet von dem damaligen Etappen-Commandanten in Veile (v. W.?) und lautet: Es war gegen Mittag (6. Juli) als die schleswig-holsteinsche Armee von der Höhe des Windmühlenberges her in Veile einrückte – ein Anblick, der allen denen unvergeßlich sein wird, welche damals diese braven Truppen an sich vorbeipassiren sahen. Zerschossen und zerfetzt an Monturen, Helmen und Lederwerk, in den Gliedern viele Verwundete mit blutigen Tüchern um den Kopf oder den Arm in der Binde, pulvergeschwärzt und durch Schweiß und Staub bis zur Unkenntlichkeit entstellt, defilirten die Bataillone nach ihren Bivouacplätzen vor dem Nordernthor, so fest und martialisch, wie man es kaum bei älteren Armeen sehen dürfte, wenn sie eine Nacht hindurch dem numerisch doppelt überlegenen Feind in blutigem Kampf die Stirn geboten und dann einen sechsstündigen Marsch in heißer Julizeit zurückzulegen gehabt hätten. Man sah es diesen Truppen an, daß sie männlich gerungen, denn festen, stolzen Blicks durchschritten sie die Reihen der Soldatengruppen, die, von Theilnahme und Neugierde veranlaßt, sich zu beiden Seiten der Straße aufgestellt hatten. Ich sah damals Compagnien vorübermarschiren, die auf ein kleines Häuflein zusammengeschmolzen waren, und noch erinnere ich mich, wie heute, daß ein bei der Commandantur eingehender Requisitionsschein eines schleswig-holsteinschen Bataillons unterzeichnet war von einem Lieutenant, irre ich nicht, Ohlsen, mit dem Beisatz „derzeit mit dem Bataillonscommando betraut“. So blutig waren diese braven Bataillone in jener Nacht decimirt worden. Ich erinnere mich nur einmal einen ähnlichen Anblick gehabt zu haben, nämlich im Feldzug 1850 gegen die Dänen, wo ich das sechste schleswig-holsteinsche Bataillon nach dem Sturm auf Friedrichsstadt zurückmarschiren sah, vom feindlichen Feuer zusammengebrannt bis auf die Schlacken, denn das Bataillon hatte von siebzehn oder achtzehn Officieren fünfzehn auf dem Platze gelassen, hatte mehr als den dritten Theil verloren und von dem Rest war kaum ein Mann, der nicht eine oder mehrere Kugeln in seiner Montur u. s. w. aufzuweisen hatte.
Der dänische Stoß am 6. Juli 1849 riß die dünne Linie, welche die „Reichstruppen“ von Kiel bis Aarhuus gebildet hatten, zwischen Kolding und Veile entzwei, jede Verbindung war unterbrochen; die Folge war eine allgemeine Truppenbewegung vom Norden und Süden her, um jenen Riß zu repariren. Die Dänen verschwanden damals nach gethaner Arbeit hinter den Wällen von Friedericia.
Sie rüsten sich zum Feste, die Alten wie die Jungen, die je dem schwarz-roth-goldenen Bande und dem Geist gehuldigt, der unter diesem Zeichen siegen soll. Die Aufrufe zur Theilnahme an den Tagen vom 14. bis 16. August finden bereitwillige Aufnahme in der gesammten Presse, die engen Grenzen eines Studenten-Verbindungsfestes sind damit längst überschritten, die nationale Bedeutung desselben wird mit jedem Tag freudiger anerkannt: hat dadurch ein großer Theil des deutschen Volkes doch jetzt erst erfahren, daß Deutschland das einzige sichtbare Zeichen seiner ersehnten Einheit weder seiner Geschichte noch seinen Fürsten zu verdanken hat, sondern einzig und [507] allein der vielverfolgten Burschenschaft. Daß aber in und mit derselben nichts mehr und nichts weniger verfolgt worden ist, als eben das alte nationale Streben nach des Vaterlandes Einheit, das ist es ja, was in jedem einzelnen Lande und Ländchen Deutschlands für die nationale Sehnsucht die zahlreichen Märtyrer und für das Fest der Burschenschaft die treuesten Genossen schuf.
In den schweren Tagen der napoleonischen Vergewaltigung des deutschen Vaterlandes, unter dem erschütternden Gange der Begebenheiten überwand die deutsche studirende Jugend den Standpunkt mittelalterlicher beengender Form. „Sie lernte den rohen Cynismus, den lächerlichen Pomp ihrer ‚Orden und Landsmannschaften’ verachten, und nimmermehr konnte sie an dem jedem vaterländischen Streben abgewandten Studentenleben, das sich, den Bruch mit Zucht und Sitte als ein seinem Stande besonderes Privilegium zurechtlegte, Gefallen finden. Die jungen Männer waren als ganz andere zurückgekehrt. Jahn, welcher in der Kriegszeit großen Einfluß auf sie gewonnen, hatte in seinem „Deutschen Volksthum“ auch für die Hochschulen reformistische Gedanken niedergelegt. Sie zu verwirklichen, war ein Theil der akademischen Jugend ernstlich gewillt. Dies zeigte sich namentlich in Jena. Die Dichtungen der großen Sänger verdrängten gar bald die cynischen Zoten aus dem Munde der Jugend, ein besserer Geist machte sich geltend, und dies zwar schon seit dem Ausbruche der französischen Revolution durch den Antrieb von bedeutenden Männern, welche damals ihre Lehrer waren.
Schiller, der von der Jugend verehrte Dichter der „Räuber“, des „Don Carlos“, hatte seinen Beruf ernst und würdig erfaßt, er wußte als Lehrer begeisternd auf die Jugend zu wirken. Reinhold versuchte nicht fruchtlos die Einführung und Verbreitung Kant’scher Grundsätze und Lehren, und der Segen einer uneingeschränkten Lehrfreiheit bewirkte, daß die bedeutendsten und anziehendsten akademischen Kräfte sich nach Jena wandten und daselbst läuternd und bessernd auftraten. Mit- und nacheinander arbeiteten und lehrten hier jene Männer, deren Namen für die Entwickelung des deutschen Geisteslebens so bedeutsam geworden sind: in der Rechtswissenschaft Feuerbach, Walch, Hufeland, Thibaut; in den Naturwissenschaften Oken, Döbereiner, Suckow; in der Philosophie Reinhold, Fichte, Niethammer, Schelling, Hegel, Krause, Fries, Ersch und Andere; in der Geschichte Eichhorn, später Schiller und Luden; in der ästhetischen Kritik die beiden Schlegel, Tieck und Wilhelm v. Humboldt.
Am nachhaltigsten und durchgreifendsten vermochte Fichte auf sittliche und wissenschaftliche Durchbildung hinzuwirken, Charaktere heranzubilden, mit seiner ethischen Strenge die Herzen derer zu begeistern für die höchsten und heiligsten ideellen Güter, denen sonst Kartenspiel, Dorfnymphen, Unfug und Trinkgelage das Höchste waren.
Da kam die unselige Schlacht von Jena und die Universität hatte nicht wenig unter den Schrecken jener Tage zu leiden. Napoleon schenkte ihr seine Aufmerksamkeit und nannte sie freundlich den ,Hauptheerd aller Revolutionäre und Demokraten‘. Als Luden unter großem Beifalle sein Collegium über vaterländische Geschichte 1807 schloß, umstanden das Auditorium französische Wachen. Die Erhebung Deutschlands führte die akademische Jugend auf den Kampfplatz, die Universität sah sie, wie oben bemerkt, als ganz andere Männer wieder. Die Thuringia, Vandalia, Franconia lösten sich freiwillig auf, eine neue Verbindung wurde hergestellt und an die Spitze ihrer Verfassung der Grundsatz gesetzt: Freiheit und Ehre sind die Grundtriebe des Burschenlebens.“
Während der Franzosenkaiser mit seiner zahllosen Armee siegreich in Rußland eindrang, wagte es ein kleines deutsches Studentenhäuflein, das erste deutsch-patriotische Studentenfest dieses Jahrhunderts zu begehen. Es ist dasselbe als Zeichen der Zeit, als die Vorfeier der Burschenschaft bedeutsam. Es war in der Nacht vom 5. zum 6. September 1812, als die Landsmannschaft Vandalia auf der Kunitzburg bei Jena versammelt war. Ein Wachtfeuer loderte innerhalb der wenigen Trümmer mittelalterlicher Ritterlichkeit auf und sprühte seine Flammen und sein Licht weit hinaus in das herrliche Saalthal. Kriegsgesänge und begeisterungsvolle Ansprachen, ein Pereat der Tyrannenmacht, ein Hoch der zu erringenden Freiheit des geknechteten Vaterlandes donnerten in die Nacht hinaus, und es kreisten dazu die gefüllten Humpen. Gleich den ersten Eidgenossen auf dem Rütli erhob sich um die neugeschürte Gluth die in Kampfbegier bis zum Ueberkochen aufbrausende Schaar, schloß kraftbewußt die Hände ineinander und schwur mit einem Weheruf über die trübe Gegenwart unverbrüchliche Treue und Ergebenheit dem Vaterlande. Da, in diesem Augenblicke, blitzten die ersten Strahlen der in prächtigem Glanze am reinen Horizont hervorglühenden Morgensonne, und triumphirend begrüßten die braven Jünglinge diesen ersten Sonnenstrahl als das Sinnbild naher Erfüllung der tief in der Brust gehegten patriotischen Sehnsucht nach Erlösung. Das war das Fest der patriotischen Jünglingsschaar auf der Kunitzburg, es war – um mich des Ausdrucks Robert Blum’s zu bedienen – ein Hahnenruf, welcher den kommenden Tag einer neuen Geschichte unseres Volkes verkündete.
Und es kam der Tag einer neuen Geschichte unsers Volks. „Das Volk stand auf, der Sturm brach los“, in Begeisterung für Vaterland und Freiheit eilten die deutschen Männer und Jünglinge zu den Waffen und allen voran die akademische Jugend. Einzelne Universitäten, wie Jena, Breslau etc., sandten ganze Compagnieen und Schwadronen; Lützow’s „wilde, verwegene Jagd“ bestand großentheils aus deutschen Studenten; wo es das kühnste Wagniß, die verwegenste That galt, da waren sie zur Hand und in erster Reihe. Auf den Schlachtfeldern von Leipzig, von Waterloo etc. schläft mancher blond- und braunlockige Musensohn den langen Schlaf des Heldentodes für deutsche Freiheit. Und als der blutige Sieg entschieden war und das deutsche Volk zwar das Joch französischer Tyrannei gebrochen hatte, aber durch die Federn der Diplomaten um all seine Hoffnungen und gerechten Forderungen einer wahren freiheitlichen Einigung des Gesammt-Vaterlandes schnöde betrogen; als sich nach dem Frieden mit der allgemeinen Enttäuschung auch allgemeine Erschlaffung der Gemüther bemächtigte – da waren es die nach ihren Hochschulen zurückgekehrten Jünglinge, welche das in Deutschland erwachte National-Bewußtsein, die Begeisterung für deutsche Einheit und deutsche Freiheit in sich wach und lebendig erhielten und dem deutschen Volke für spätere Zeiten bewahrten. Angeekelt von dem wüsten Treiben des bisherigen Universitätslebens und von der sinnlosen Absonderung der Studirenden nach Heimath und Landsmannschaft, erstrebten die zurückgekehrten Freiheitskämpfer eine durchgreifende, patriotische Reform des Universitätslebens, eine Vereinigung aller Studirenden, gegründet auf den Geist der Freiheit und Selbstständigkeit des Vaterlandes, eine Vereinigung zu allseitiger Ausbildung der Jugendkraft zum Heil des Volks. Den ganzen, vollen Erfolg hatten diese Bestrebungen zuerst in Jena. Aus den von den zurückgekehrten Freiheitskämpfern fortbetriebenen körperlichen Uebungen ging eine „Wehrschaft“, aus der Wehrschaft endlich die Burschenschaft hervor. Aus unserem Buche, das als Festgabe zum Jubiläum der Burschenschaft nächstens die Presse verlassen wird, „den Alten und den Jungen zur Erinnerung an die großen Tage deutschen Burschenlebens gewidmet“,[1] mag die nach den Mittheilungen damaliger Burschen gegebene Schilderung des Stiftungs-Actes selbst hier Platz finden:
Am 10. Juni 1815 erging der öffentliche Aufruf, daß alle ehrenwerthen Studenten am 12. Juni um neun Uhr Vormittags auf Jenas Markte sich versammeln möchten. Rasch wurden noch die letzten Vorbereitungen getroffen. Johannes Cotta aus Ruhla, stud. theol. zu Jena, von vaterländischer Begeisterung, von burschenschaftlichem Sinn und musikalischem Talent erfüllt, hatte zu Arndt’s hervorragendstem Vaterlandsliede: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ eine schwungvolle, kräftige Melodie componirt, die erste Melodie des Liedes, die dann als eigentliche Volksmelodie in Volkesmund übergegangen ist und Tausende von Herzen in Nord und Süd seitdem erwärmt und begeistert hat. Georg Friedrich Hanitsch aus dem Eisenachischen, stud. theol., ging beim Instrumentiren und Einüben des Liedes ihm zur Hand und componirte selbst zu einem andern Arndt’schen Liede, zu den herrlichen Worten: „Sind wir vereint zur guten Stunde“ etc. die schöne Melodie. Am 12. Juni 1815 versammelte sich eine namhafte Zahl von Studenten – Landsmannschafter, Renoncen und Finken, die aufgelösten Landsmannschaften mit ihren Fahnen, auf Jenas freundlichem Marktplatze, von Alters her dem forum der Studenten. Bei den Klängen der Stadtmusik zogen die Versammelten – die Landsmannschaften [508] zum letzten Male mit hochgehaltenen Fahnen – über das Kreuz, durch die Saalgasse, das Saalthor, über die Brücke zum Gasthofe zur Tanne.
Feierlich erklang hier zuerst und zum ersten Male das Lied, das die Burschenschaft zu ihrem Bundesliede wählte, das Lied: „Sind wir vereint zur guten Stunde!" Eine kräftige Ansprache Horn's an die Versammlung folgte, beseelt von patriotischer Begeisterung und sittlichem Ernste. Es war ein feierlicher, ergreifender Moment; das Gefühl einer großen folgenreichen That, gepaart mit stolzen Plänen und Hoffnungen für die Zukunft, ging durch die Versammlung. Die Burschenschaft wurde proclamirt, die entworfene Constitution vorgelesen und angenommen. Einhundertunddreizehn Studenten traten zu dem neuen Bunde zusammen, wählten den stud. theol. Carl Horn aus Neustrelitz, stud. jur. Wilhelm Kassenberger aus Frankfurt a. M., den stud. med. Ludwig Kunstmann aus Ebersdorf, den stud. theol. Edmund Neithart eben daher, den stud. jur. Georg Teichert aus Mitau, den stud. jur. Julius Walter aus Liefland, den stud. med. Ernst Weller aus Gotha, den stud. jur. Gustav Wilpert aus Kurland und den stud. theol. Friedrich Witter aus Hildburghausen zu Vorstehern, wählten ferner drei Candidaten des Vorsteher-Collegiums, einundzwanzig Ausschußmänner und sieben Candidaten des Ausschusses. Die landsmannschaftlichen Fahnen senkten sich zum Zeichen der Auflösung der Landsmannschaften, es folgten brüderliche Umarmung Aller und begeisterter Gesang des Liedes: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Zum ersten Mal in Deutschland erklang das Lied der deutschen Einheit, das deutsche Nationallied, es erklang hier bei der Einigung deutscher Jünglinge in nationalem Geiste, wie zwei Jahre später die Jenenser mit eben diesem Liede zum Wartburgsfest in Eisenach einzogen. Der erste burschenschaftliche Commers mit dem Landesvater und andern erhebenden Liedern beschloß, bis in die späte Nacht hinein während, den festlichen Tag. Die Burschenschaft war gegründet.
Begeistert für Wahrheit und Recht, reinigte und veredelte der neuentstandene Jünglingsbund das gesellschaftliche und wissenschaftliche Leben der Universität, man strebte,
Sich vom Halben zu entwöhnen
Und im Ganzen, Guten, Schönen
Resolut zu leben;
aber nach dem andern Kernspruch:
Laßt mir die jungen Leute nur
Und ergötzt euch an ihren Gaben!
Es will doch Großmama Natur
Manchmal einen närrischen Einfall haben,
genoß man auch, im engern Freundeskreise wie im Burschenhause und in den humoristischen Bierstaaten, mit ganzen vollen Zügen die frische brausende Jugendlust. So in Jena, so in Berlin, Heidelberg, Kiel, Erlangen und andern Universitäten, auf welchen die Idee der Burschenschaft von Jena aus rasch Eingang gefunden. Aus Erlangen z. B. berichtet man aus jener Zeit: „Eine günstige Umgestaltung und erhöhte Bedeutung erhielt die Studentenschaft in Erlangen durch die sich dort aufthuende Burschenschaft nach dem Vorbilde in Jena. Abschaffung landsmannschaftlicher Mißbräuche und Renommistereien, z. B. der leichtsinnigen Duelle, die durch ein entscheidendes Ehrengericht verhütet wurden, des Biercomments, der Fuchsenunterordnungen etc. und Einführung strenger Vorschriften in Bezug auf moralische Reinheit, der Turnschulen zur Kräftigung des Körpers, Verbesserung der Burschenlieder, Erweckung der Liebe zum gemeinsamen deutschen Vaterlande und seiner Freiheit, Drang nach der Ausbildung eines wissenschaftlichen und männlich starken Charakters, Achtung vor der Frauenwelt, überhaupt ein Streben nach allen jenen Tugenden, die den deutschen Jüngling zieren und sein Herz stählen und stärken durch eine edle Gluth – das Alles lag in dem Willen der Burschenschaft, die sich deshalb den Landmannschaften schroff gegenüberstellte. Es war ein eigner Anblick, als sich die ersten Burschen mit dem langen gescheitelten Haar, dem sammetnen Baret, goldenes Eichenlaub als Agrafe daran, mit schwarzem deutschem Rock und aufgeschlagenem Hemdekragen zeigten; als die ersten Turnübungen hinter dem Universitätsspitale von den kräftigen leibesgewandten Jünglingen vorgenommen wurden und als das schwarz-roth-goldene Banner auf dem Rütli aufgepflanzt ward. Der Ernst, der in sämmtlichen Regungen und Bewegungen der Burschenschaft herrschte, verschaffte ihr denn auch die Achtung von ganz Erlangen.“
In Jena selbst lenkte eine Erinnerungsfeier an den zweiten Pariser Frieden am 18., 19. und 20. Januar 1816 die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf die neue Verbindung. Die Landwehr, die Bürger ohne Zahl, hatten sich nämlich offen an der Feier betheiligt, deren Hauptmomente ein Gottesdienst, Festzug auf den Markt und Freiheitsgesänge, von Reden begleitet, bildeten. Unter allgemeiner Theilnahme wurde damals die Eiche auf dem nach ihr so genannten Eichplatz gepflanzt. Und als am 31. März desselben Jahrs zum Andenken an die Einnahme von Paris ein ähnliches Fest gefeiert wurde, überreichten die Frauen und Jungfrauen der Bürgerschaft die schöne schwarz-roth-goldene Fahne, die erste Deutschlands, die wir im Bilde beifügen und deren echt deutsche Schicksale im zweiten Theile dieses Artikels erzählt werden.
Einen noch mächtigern Aufschwung nahm das burschenschaftliche Leben im Jahre 1817. Im Kopfe Jahn's entsprang im Frühjahr 1817 der Gedanke einer allgemeinen deutschen Burschenschaft, welche sämmtliche ehrenwerthe Burschen auf allen Universitäten deutscher Sprache umfassen sollte. Es wurde dieser Plan von den Studirenden mit jubelnder Begeisterung aufgenommen. Mit biedern, echt deutschen Worten lud Robert Wesselhöft (derselbe, der wegen seiner patriotischen Bestrebungen nachmals elf lange Jahre zu Köpenik und Magdeburg im Kerker schmachten sollte) im Namen der Jenaischen Burschenschaft zur Doppel-Feier des dreihundertjährigen Jubelfestes der Reformation und des wiederkehrenden Jahrestags der Leipziger Schlacht nach der Wartburg ein.
Dort wurde jenes Fest abgehalten, welches als ein verhängnißvolles und folgenschweres nachher in der Geschichte der neuesten Zeit eine so traurige Berühmtheit erlangt hat. Trotz der Vorstellungen über die staatsgefährlichen Tendenzen der Versammlung gab Karl August die Erlaubniß; ja er forderte die Bürger Eisenachs auf, ihre Gäste zu beherbergen, beauftragte die Behörden, der akademischen Jugend die Wartburg zu übergeben, ließ seine Fischteiche für das Festmahl öffnen, schenkte Holz aus seinen Forsten und eine Summe zur Bestreitung der Kosten. Im großen Wartburgsaale, wo einst der Sängerstreit gehalten wurde, versammelten sich die Jünglinge. Nachdem im Chore „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ gesungen war, begann stud. theol. Riemann, Ritter des eisernen Kreuzes, das er bei Waterloo erworben hatte, die Festrede, die er mit einem Gebete um Gottes Beistand und Segen schloß. Oken berichtet (Isis 1817), daß alle Männer zu Thränen gerührt waren. Der Choral „Nun danket Alle Gott“ und eine Rede des Hofraths Professor Fries machte [509] den Beschluß. Oken warnte die Studenten, eine Partei zu bilden, denn der Staat sei ihnen jetzt fremd, es gezieme nur zu überlegen, wie sie dereinst im Staate handeln sollten. Ein Banket auf der Wartburg und ein Festgottesdienst in der Kirche zu Eisenach folgten. Bei Fackelschein zogen die Studenten sodann nach dem Wartenberge, wo weithin die Ebene beleuchtende Siegesfeuer brannten. Die Professoren, ein Theil der Studenten waren nach der Universitätsstadt zurückgekehrt, die Gedenkfeier war vorüber. – Da kam Maßmann auf den unseligen Gedanken, politische Schriften reactionären Inhalts zu verbrennen, mit Hinweis auf Luther’s That vor dem Thore zu Wittenberg. Man warf die Schriften eines Schmalz, Kamptz, eines Kotzebue u. A., zuletzt einen Schnürleib, einen „Pracht-, Prahl- und Patentzopf“ und einen „großmächtigen Corporalstock“ in das Feuer.
Das Autodafé lag außerhalb des Festprogramms, geschah ohne Vorwissen des Ausschusses und hatte vor Allem den Nachtheil, die Leidenschaften wachzurufen. Die Phraseologie war entfesselt, und zwar in einer die weisen Staatsmänner jener Tage gewaltig erschreckenden Weise. Indem die Lohe dieses Feuers weithin den ganzen deutschen Himmel röthete – indem die Rödiger’sche Feuerrede und der Gesang:
Zuletzt nun rufet Pereat
Den schuft’gen Schmalzgesellen
Und drei Mal Pere – Pereat!
So fahren sie zur Höllen!
Auf! auf! mein deutsches Vaterland,
Ihr Brüder, reichet Euch die Hand
Und schwört: so woll’n wir’s halten!
weithin durch die deutschen Gauen donnerten und die Maßmann’sche Festbeschreibung und die Schilderungen und Bildchen in Oken’s Isis all das weiter und weiter trugen, wurde die Burschenschaft und ihr Fest der Gegenstand der Angriffe der aus allen Köchern wieder vorgekrochenen mächtigen freiheitsfeindlichen Partei. Das ganze Gelichter eines von Kamptz, Schmalz, von Cölln, Kotzebue etc. fiel über „den Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten auf der Wartburg, welche diese klassische Burg durch einen solchen recht eigentlichen Vandalismus demagogischer Intoleranz öffentlich entwürdigt“ habe, über die „jungen unreifen Solonen“, über „die neuen Jacobiner in Jena“ und „den demagogischen Frevel“ her und denuncirten nach Herzenslust. Noch gelang es dem deutschgesinnten edeln Karl August von Weimar, den Sturm zu beschwören. Nur Eins ging verloren: auf das Erscheinen der auf der Wartburg beschlossenen Burschenzeitung („der deutschen Burschen fliegende Blätter“) hatte man vergebens zu warten. Schon waren Beiträge von Nord und Süd zugesagt; aber die Vorsicht, welche man in Weimar üben zu müssen glaubte, verbot das Erscheinen der Zeitung; war man ja doch von Seiten aller der großen und kleinen Regierungen gegen das kleine liberal regierte Weimar und gegen den Weimarischen Großherzog aufgebracht, der zuerst unter allen deutschen Fürsten sein gegebenes Wort eingelöst, seinem Volke eine freisinnige Verfassung gegeben und sich dadurch neuen Dank, neue Verehrung gewonnen hatte. Die Angriffe auf das Wartburgfest galten zugleich dem Weimarischen Liberalismus.
Karl August aber hatte sich schon vor dem Wartburgfeste durch die hannöverschen Winke: „es gingen große Umtriebe in der deutschen Jugend- und Burschenwelt um, man wolle bei Eisenach eine Zusammenrottung halten und aus den entferntesten Gegenden sich dort zusammenfinden,“ nicht beirren lassen, sondern einfach geantwortet, „er danke herzlich für die Nachricht, wisse das Alles aber schon längst. Er erkannte jetzt, wie sein Staatsminister von Fritsch, allen den Verdächtigungen und Schmähungen der Reaction gegenüber, offen an, daß „das auf die Studirenden gesetzte Vertrauen nicht getäuscht und das Fest des 18. October im Ganzen mit religiösem Ernst, würdiger Haltung und Rührung gefeiert worden sei,“ und überzeugte davon im December 1817 auch den Grafen von Zichy und den Fürsten von Hardenberg, welche von Oesterreich und Preußen ganz expreß nach Weimar und Jena geschickt worden waren, um die unerhörten Dinge in der Nähe zu schauen, und Alles anders fanden, als man es außerhalb Thüringens dargestellt hatte. Namentlich berichtete Zichy hinsichtlich der Ungarn und Siebenbürger (welche noch bis neuere Zeit stets ein starkes Contingent zur Burschenschaft geliefert), daß er bei ihnen Ordnung, Disciplin und treffliche Gesinnungen gefunden habe. Karl August ließ es daher ruhig geschehen, daß in Folge des Wartburgfestes zu besserem Zusammenhalt der verschiedenen deutschen Burschenschaften vom 29. März bis 3. April und wieder vom 10. bis 19. October 1818 Burschentage in Jena abgehalten und von den Abgeordneten von Breslau, Erlangen, Gießen, Halle, Heidelberg, Jena, Königsberg, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen und Würzburg die allgemeine deutsche Burschenschaft constituirt und am 18. Oktober 1818 durch öffentliche Gesänge und Reden, Gottesdienst und Freudenfeuer festlich gefeiert wurde.
Zum Dank hatte die Jenenser Burschenschaft schon kurze Zeit nach dem Eisenacher Feste ihm ein Fackelständchen bringen wollen, Karl August hatte es abgelehnt, war aber selbst nach Jena gekommen, hatte am 7. März 1818 den Dank der Burschenschaft im Schlosse zu Jena entgegengenommen und die kräftigen Vaterlands- und Kriegslieder des Männergesangvereins mit aufrichtigem Wohlwollen angehört. Am 24. Juni 1818 wurde ihm ein Enkel (der jetzt regierende Großherzog) geboren. Gern ertheilte Karl August der Burschenschaft die erbetene Erlaubniß, ihm und der landesfürstlichen Familie nach der Taufe des Erbprinzen eine feierliche Abendmusik darzubringen, und lud sogar dazu ein, zur Taufe selbst einige Abgeordnete als Vertreter der Burschenschaft abzusenden. v. Binzer, Siewerssen, Graf Keller, Gabler, Bogk und Gruner wohnten in vollem burschenschaftlichen Festkleide dem Taufact am 5. Juli 1818 bei, und an demselben Tage zog die gesammte Jenenser Burschenschaft, fast fünfhundert Mann stark, hinüber nach Weimar. Janitscharenmusik und die von Graf [510] Bocholtz getragene Burschenfahne voran, zogen sie paarweise in den Schloßhof und stellten sich dem Balcon gegenüber in großem Halbkreise auf, von Gagern als Generalanführer brachte „dem durchlauchtigsten Großherzog von Weimar, dem verehrten Erhalter der Jenaischen Hochschule, dem geliebten Beschützer deutschen Rechts und deutscher Freiheit, und dem ganzen großherzoglichen Hause ein freies, freudiges Hoch!“ Jubelnd stimmten all die Burschen ein, kräftig erschollen die Lieder von „Lützow’s wilder Jagd“ und „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Mit ungeheuchelter Freude sah vom Balcon herab der Großherzog und sein Hof dem frischen, fröhlichen Treiben zu, der Erbgroßherzog Karl Friedrich sprach den Studirenden warmen Dank aus und der Großherzog ließ sie auf dem Schloßhof an zwölf Tafeln fürstlich bewirthen. Erst gegen zwölf Uhr Nachts schloß das Fest, nicht ohne in den Herzen der Theilnehmer und der Weimarischen Bürgerschaft bis auf den heutigen Tag frohe Erinnerung zurückzulassen.
So bildete sich bei sittlichem Ernst und munterer Jugendlust auf den deutschen Universitäten das Wesen und Leben der Burschenschaft mehr und mehr aus, als plötzlich ein entsetzliches Ereigniß dazwischentrat und für die Burschenschaft die furchtbarsten Folgen hatte.
„Holdrio–i!“ schallt ein Juchzer vom Altenberg herab in’s Thal, die Berge der Bodenlaube werfen ihn verhallend nochmals herab, „Holdrio–i!“ und noch ein „Holdrio–i!“ trägt das Echo thalwärts zu den Ohren der grämlich an den Ufern der Saale wandelnden Collegen, die noch nicht vom Rakoczy gesättigt und „fertig“ sind, und der Juchzer ist mein! Ich bin, wie meine luftige Weste bezeugen kann, „gesättigt“, ich habe mich zu dem vorschriftmäßigen, normalen elendigen Mann herangebildet, wie er im Buche steht, und deshalb dieses „Holdrio–i!“ und „Juppeidi-Juppeida!“ Noch einen dankbaren Blick auf deine Quelle, du theures Thal, noch ein Hoch dem edlen Rakoczy und dann zurück auf die alte staubige Landstraße des Lebens, neubelebt, aber schachmatt, um zehn Jahre jünger oder älter geworden – darüber sind eben bedauerlicher Weise die Meinungen der geehrten Cur- und Coeurdamen verschieden – vor Allem aber ohne rothe Nase und überhaupt „klar von Farbe“, wie der Maculatur-Inspector, der älteste Freund und wahre Wohlthäter der Curgäste, eidlich zu erhärten sich erbietet.
So körperlich regenerirt und gemüthlich frisch besaitet, sieht der als genesen zu Entlassende dem Tage der Abreise in Piano-Stimmung entgegen, und die Stunde, die dem Genuß der letzten Becher gewidmet ist, wird nahezu eine feierliche. Noch einmal läßt er das in den Curwochen Erlebte an sich vorübergleiten und für alle bitteren Erfahrungen, die ihm z. B. jenseits der Saale der Mocca, und diesseits derselben das Roastbeef machen ließen, spendet er Vergebung – vergessen aber wird er weder dieses noch jenes und nächstes Jahr gewiß nicht wieder so leichtsinnig ’reinfallen. Mit unverkennbarer Wehmuth sucht er noch einmal die lieben trauten Höhenpunkte auf, deren Erklimmen ihm alle zwölf Stunden ärztlich verordnet war, und sein Antlitz legt sich in kummervolle Falten bei der an die diversen Kaffeemamsells gerichteten sehr ernsten Erklärung: „Ich bin fertig, ich reise ab!“ Aber die Mädchen sind merkwürdiger Weise durch diese traurige Nachricht durchaus nicht erschüttert, sie eilen nicht in ihr Kämmerlein, um sich auszuweinen, au contraire, mit den deutlichsten Spuren von Fassung fragen sie nur: „Wolle Se scho fort?“ und wünschen ganz heiter eine „Glückliche Reis’!“ Da wendet sich der Gast mit Grausen, denn an diesem oder jenem Mocca war vielleicht eben nur der Moccakäfer das Beste! Einige Tage voraus beginnt der Rakoczygesättigte von all den schlotternden Gestalten seiner Lands- und Nachbarsleute Abschied zu nehmen, immer sans prendre congé, und mit ihnen Wünsche für den besten Erfolg auszutauschen, der in einem Entsetzen erregenden Appetite zu gipfeln pflegt.
Es kann in unserem biertrinkenden Jahrhundert nicht Wunder nehmen, daß in Kissingen auch ein Contingent von Frauen und Jungfrauen gestellt war, die entweder zu hochherzig gediehen oder sich eine Rosennase angenippt hatten. (Rosennase ist neu, und ich freue mich, daß sie durch Ihre „Gartenlaube“ der ganzen Welt übermittelt wird. Es wird fortan ausgeschlossen sein, unpoetischer Weise von einer rothen Nase weiblichen Geschlechts zu schriftstellern, und welche Fülle zarter Reime bietet unsere Sprache auf „die Rose deiner Nase“!) An der Quelle des Rakoczy und unter meinen vier Augen habe ich nun allerdings einige Rosennasen verblassen und bleichen sehen, aber gegen Corpulenzen erster Classe kämpfte das edle Wasser nur mit bescheidenstem Erfolge. So sah ich auf dem Altenberg, als ich mein „Holdrio–i!“ nach dem Curgarten hinabjuchzte, eine junge, aber in ihrer Hochherzigkeit überaus respectable Mädchengestalt, die gleich mir von dem zu unseren Füßen im Abendsonnengolde ruhenden Städtchen Abschied nahm, aber freilich mit demselben Embonpoint, das sie hierher geführt hatte. Aus dem Thale herauf klang melancholisches Abendläuten, die Sonne vergoldete in ihren letzten Strahlen die Mädchencorpulenz und Ihren elendig abgemagerten Berichterstatter, ein lauer, linder, leiser Wind strich über die Höhe, von der wir in stummer Bewegung unsern letzten Gruß hinüber zu den Bergen und hinab zur Quelle sandten, es war ein weihevoller Augenblick, geeignet, wie kein anderer, zwei gleichgestimmte Seelen sich näher zu führen, – da wandte sich plötzlich die junge Dame, die ich ebenso piano gestimmt glaubte, vergnügt nach mir, fragte, was die Uhr sei, und versicherte dabei, daß sie einen gräulichen Hunger habe. Ich kehrte mich ab und weinte beinahe dazu.
Tags darauf schwelgte ich noch einmal Aussicht auf der Maxruhe und schaute, auf meinen Stab gebogen ganz Goethe’s Schäfer, hinab in das Thal, mein trunkenes Auge folgte dem Silberfaden der Saale und hing endlich mit süßer Sehnsucht an den blauen Fernen; da bringt mich plötzlich ein Schlag auf die Schulter aus der Balance meiner gebogenen Stellung und der Nachbar aus „Behrlin“, der Blondin de Berlin, der seit der Stunde seiner Ankunft unser ganzes friedliches Hauswesen „verjiftet“, schreit: „Juta Leipziga, so alleene? Immer ’rin in’s Verjnüjen! Des hier können Sie in Behrlin alle Tage sehen!“ Da half kein Abwehren mit allen zehn Fingern gegen den Patchouli-Jüngling, von den Hausgenossen auch „das Mard“ genannt, er behrlinte weiter: „Sie haben allerdings reene jar nischt von Natur in Leipzig, juta Leipziga, un ooch noch nich mal den Schneckenberg mit seiner schönen Umjejend; es is scheußlich! Es müssen närrsche Kehrle jewesen sein, Ihre Vorfahren, daß sie Leipzig auf’n Sandplatz jebaut haben! Ihr jutes Leipzig spielt überhaupt jar keene Rolle mehr, juta Leipziga! Ihre Messe is janz sehre ’runter, janz böse auf Abwege jerathen, Leipzig hat janz und jar keene Zukunft mehr! Ich soll mit meinem Patchouli verduften? Na, denn nich, juta Mann!“ Hier nahm das „Mard“ seinen freundlichen Abgang, um wenige Stunden später im Curgarten wieder meiner habhaft zu werden und meine linke Seite wieder einzuparfumiren.
Fahrt wohl, ihr tausend Dickbäuche und Burgundernasen und nehmt euch ein Exempel daran, welchen Lebenswandel der Erdenwurm einschlagen muß, wenn er seinen Mitwürmern ein anständiges Aeußere entgegentragen will; fahrt wohl, ihr tausend dahinschwebenden und dahinwatschelnden holden Dolden, – aber ich will ja noch nicht gleich Abschied nehmen, will Ihnen vielmehr von dieser und jener Höhe noch weitere Kissinger Nachrichten herunterkanzeln. –
Die Kissingerinnen schwärmen für ihren jungen Herrscher, jedenfalls nicht wegen seiner wahrhaft väterlichen Fürsorge für Tristan und seine Isolde, sondern wahrscheinlich weil Max der Zweite ein schöner junger Mann ist und vor Kurzem auch Kissingen mit seinem Besuche bedachte. „Es is a gar zu lieber, junger, a gar zu wunderhübscher Mann!“ sagte mir eine junge [511] Kissingerin und wies dabei auf das blumenbekränzte Bildniß des Königs, an dem sie sich nicht satt sehen konnte. „Schaun’s her!“ rief eines Tages meines Wirthes Töchterlein, ein schwarzbraunes Dirndl, und hielt mit vor Freude blitzenden Augen einen sogenannten Cigarrenstumpel, um den sie ein rothseidenes Bändchen gewunden, in die Höhe. „Schaun’s her! Wisse Se, wer die Cigarr’ g’raucht hat? Se wisse’s net, gebe Se Acht!“ Und nun begann die feurige Royalistin eine ganz charmante Erzählung, während der mich eine Anzahl gar nicht unbedeutender Rippenstöße zum „Achtgebe“ aufforderte, wie sie in den Besitz dieses raren Cigarrenstumpels gekommen war. Es war ein königlicher Cigarrenstumpel, an dem der junge König bei einer Promenade durch Kissingen geraucht, den er schließlich unter einem ihm zu Ehren errichteten Triumphbogen weggelegt und somit einem ungeahnt freundlichen Schicksale zugeführt hatte. „I hab a noch a paar Züg’ gethan!“ rief die Glückliche, versetzte mir dabei noch einen Rippenstoß und sprang, das rothseidene Bändel mit dem edlen Stumpel hoch haltend, vergnügt davon. So liebt ein baierisches Dirndl seinen Maxel[WS 1]und „da laßt ihm doch das kindliche Vergnügen!“
Kurz vor meiner Abreise circulirte unter der Kissinger Bürgerschaft eine Petition um Weiterführung der Eisenbahn nach Kissingen, die ich hiermit zu der meinigen mache und bei Sr. Majestät auf das Dringendste befürworte. Räthselhaft ist, daß die Bahn bis dorthin nicht schon längst besteht, da die Schwierigkeiten der von Schweinfurt nach Kissingen bergauf bergab führenden kurzen Strecke nicht unbesieglich sein dürften und der Staat doch unzweifelhaft die glänzendsten Geschäfte mit diesem Curorte macht. Jetzt bewegt sich, wie in den Zeiten der gelben Kutsche, langsam und gravitätisch von Schweinfurt nach Kissingen ein sogenannter Eilwagen, und der Anblick des darin wie in einem Menageriekasten sitzenden Dulders würde für jeden fühlenden Leser herzbrechend sein. Eines Sommerabends ist eine jener Fallstaffgestalten beim Besteigen der Post in der Thüröffnung mit seinen Weichen hüben und drüben hängen geblieben, hat sich weder vorwärts noch zurück schieben können und hat Zeter und Mord geschrieen, bis die vereinten Kräfte seiner Freunde den Unglücklichen von innen und außen und mit gänzlicher Hintansetzung seiner Gliedmaßen aus der fürchterlichen Klemme herausgewürgt haben, eine Arbeit, während der die bedauernswerthe Corpulenz einen annähernden Begriff von Rädern und Viertheilen bekommen haben soll.
Bei meinem Scheiden jubelten die Kissinger der Kaiserin von Oesterreich entgegen, die drei hoch angesehene Gaben mit hierher zu bringen pflegt, Geld unter die Leute, Leben in die Curgesellschaft und Toilettemuster für das unbeschreibliche ewig weibliche Staatliche. Notabilitäten waren überhaupt hier spärlich; u. A. waren hier der Herzog Leopold von Coburg mit seiner ihm linksseitig angetrauten Gattin, einer baronisirten Wiener Tänzerin, sammt siebenjährigem Sprößling, den Seine Hoheit zu meiner Freude eigenhändig bei den Ohren nahm, als der Schlingel seine Wärterin mit den Fäusten bearbeitete; ferner der Prinz Friedrich von Altenburg, ein alter einfacher Herr und langjähriger Stammgast Kissingens, dem alle Jungen auf der Straße ihr „Guten Morgen, Hoheit!“ zuriefen, so zum Privatvergnügen, um der grünen Mütze des Prinzen Bewegung zu machen; und der Fürst von Monaco, der, wie ich hörte, erblindet Kissingen aufgesucht hat. Der Coburger und der Altenburger Prinz verkehrten nicht mit einander, wie das doch bei fürstlichem Geblüte, namentlich in einem Bade, zu geschehen pflegt; der Coburger, ein hochgewachsener schöner Mann, suchte in der ausschließlichen Begleitung seiner Gattin, einer kleinen beleibten, aber dabei lebhaften Erscheinung in überaus pomphafter Toilette, die einsamsten Partieen des Curgartens und Parks auf, während sein Altenburger Vetter heute mit Hinz und Kunz und morgen mit Müller und Schulze promenirte und täglich mit Dienern und Mädchen auf das leutseligste eingehende Gespräche pflog. Warum? Die Antwort sang mein bairisches Dirndl:
„Stigelitza, Stigelatza,
A Fink is ka Spatza!
Wissens, der Ane hat den Beutel, der Annere hat das Geld!“ – Ein Lakai in goldbedeckter Livrée ließ allmorgentlich zwei prächtige Becher auf silberner Platte am Brunnen füllen und überbrachte sie dem abseits harrenden Herzog Leopold und seiner Baronin, der Prinz Friedrich stand dagegen im dicksten Gedränge und trank bescheiden aus denselben Bechern, wie sie hier vom hundertsten zum tausendsten Mund gehen.
Die Damen der hohen Aristokratie, besonders die zahlreich vorhandenen Russinnen, tranken ihr verordnetes Quantum Rakoczy vermittelst einer Glasröhre, weil bei ihnen das edle Wasser in dem unbegründeten Verdachte steht, der Weiße der Zähne nachtheilig zu sein. Die russischen Damen erschienen sämmtlich in tiefer Trauer, entweder in durchaus Schwarz oder in zebraartig schwarz-weiß gestreifter Toilette. Einen etwas komischen Gegensatz zu der tiefen Trauer seiner Gattin lieferte der Fürst Lwoff in seiner überaus heitern Sommertoilette, einem Jaquet, dessen Beinkleid bis zum Knie reichte, um von hier an krapprothe oder meergrüne Strümpfe leuchten zu lassen. Ein Verwandter des bekannten Biedermeier fragte deshalb beim Mittagstisch sein viel und weit gereistes vis-à-vis zum allgemeinen Halloh ganz ernstlich, „ob beregte rothe und grüne Strümpfe nicht vielleicht einen Theil der in Rußland für das männliche Geschlecht vorgeschriebenen Landestrauer bilden dürften?“
Curgemäß leben ist hier neben Ruhe die erste Bürgerpflicht, und ein friedlicher, Ruhe und Ordnung liebender Staatsbürger verhält sich deshalb auch bei einem mangelhaften Mittagstische ruhig und findet die Qualität seines Rindfleisches stets curgemäß und somit heilsam und überhaupt Alles in der schönsten Ordnung. „Nur die Leipziger sind die Schmerzensschreihälse,“ sagte jener Verwandte Biedermeier’s. Des Abends beschließt man sein beschauliches Tagewerk trübselig und hinfällig mit dem Genuß einer sanften Gerstensuppe mit der unschuldigsten Semmel von der Welt, und so wird man als Mann von Grundsätzen mager und magerer, bis man sich nicht ohne Grauen ansehen kann, und weiter hat es ja auch keinen Zweck. Alle Aufregung ist hier bei Leibesstrafe verboten und in wahrhaft eheweiblicher Fürsorge hat man aus den ehrwürdigsten Matronen des Landes die dreizehn Blumenmädchen auserlesen, die uns himmlische Rosen in unser wässeriges Dasein flochten. Wir ehrten natürlich diese Greisinnen durch die Bank, und die ältesten Leute in dem Thale wissen sich nicht zu entsinnen, daß jemals ein Curgast eines dieser Blumenmädchen am Kinn gefaßt oder sich durch eine längere Unterhaltung mit ihnen aufgeregt hätte. Früher sollen es nur zwölf Blumenmatronen gewesen und diese „die zwölf Apostel“ genannt worden sein; nachdem aber eines Morgens ein junger leichtsinniger Curgast nach der Schönsten von dem Dutzend gefragt hatte, ist sofort aus den Großmüttern des Königreichs ein dreizehntes Rosenmädchen gewählt und dem Dutzend aufgebunden worden. Diese Rosen haben in der That doppelte Dornen, und der Kissinger Dulder lenkt, wenn er nicht als Süßholzraspler dieser oder jener Curdame ein Bouquetchen von Rosen und Vergißmeinnicht an’s Herz legen muß, sein mattblickendes Auge mit Vergnügen über die Rosen hinweg nach jenen wohlriechenden Brezeln, Hörnern, Panduren und Zwiebäcken, die in Haufen aufgethürmt den Hintergrund des Curgartens wohlthuend abschließen. Das war auch „ganz mein Fall“, geehrter Freund, ich mag keine Rosenknospe von welker zitternder Hand gepflückt und gereicht, das Röschen muß mir ein herziges Kind, ein Liebchen – brechen wir ab, ich rege mich auf!
Die Herren Hypochonder, denen das in der sechsten Morgenstunde sich mehr und mehr entwickelnde bunte Gewühl im Curgarten ein Gräuel ist, pflegen ihre sechs Becher – ein echter Hypochonder trinkt immer sechs – von fünf bis sechs Uhr zu trinken und sich dann in die Wälder zurückzuziehen; ich mußte mich von meinen Herren Collegen trennen, um das Curvolksleben zu studiren und von den Einrichtungen der Kissinger Brunnenverwaltung Kenntniß zu nehmen, die unbezweifelt unter allen derartigen Anstalten die erste Stelle einnimmt. (Es wird in Kissingen mehr als in allen anderen Bädern für das Curpublicum gesorgt, und namentlich gebührt dem früheren Badecommissar Grafen von Luxburg, an dessen Stelle seit Kurzem der Justizamtmann von Parseval gekommen, das Verdienst, in der Vervollkommnung des Bestehenden und in Abstellung von Uebelständen große Thätigkeit entwickelt zu haben. Der Brunnen und die Bäder, im Curhause sowohl, als in den Salinen, sind vortrefflich bedient, Curgarten und Park sehr gut unterhalten und die Curcapelle unter der Direction des Herrn Heinefetter des besten Lobes werth.)
Ich mußte mich von den Herren Hypochondern Morgens trennen, sagte ich, aber für den übrigen Theil des Tages schloß ich mich ihnen um so inniger an, denn es giebt für einen nüchternen [512] Hypochonder nichts Erquickenderes, als – einen nüchternen Hypochonder, der die Welt und die Menschen nicht durch ein vom Rebensaft goldgefärbtes Glas beschauen darf, obwohl er sich nach diesem Glase wie der Hirsch nach Wasser sehnt. Zwei prächtige Hypochonder erster Classe saßen mir am Mittagstisch gegenüber. Sie waren langjährige Freunde und Nachbarn, dann lange Jahre hindurch durch weite Ferne getrennt und dann wieder mehrere Jahre vereint gewesen; sie waren Freunde wie die Brüder, aber nicht auf Du, wohnten in Kissingen zusammen, hießen die Unzertrennlichen, waren in allen und jeden Fragen und Beziehungen entgegengesetzter Ansicht, zankten sich täglich und geriethen stets am Mittagstisch so heftig aneinander, daß der Eine roth und blau wie ein Truthahn und der Andere blaß wie der steinerne Gast wurde, wechselten bedenkliche Anzüglichkeiten und gingen dann stumm, aber selbander nach Hause, weil es Beiden unmöglich war, ohne den Andern wegzugehen. Dieselbe Scene spielte den folgenden und alle folgenden Tage ohne erhebliche Abwechselung. Jahre lang hatten sie zwischen Amerika und Australien die gröbsten Briefe gewechselt und hatten sich in Kissingen am liebsten täglich geprügelt, aber der Eine konnte nicht ohne den Andern wohnen, essen, spazieren gehen, – leben! „Ja,“ sagte mir ein alter Rakoczykenner, „Se kenne den Raloczy noch net aus; wann Se ane Kratzberst sein, da sein’s hier ane doppelte!“
Ich kann dem Leser hierüber nichts Positives berichten, ich weiß nur, daß ein Freund und Hypochonder sich täglich über mein Wohlbefinden schwer ärgerte und beim Anblick meiner „klaren“ Gesichtsfarbe den edeln Rakoczy zu neunundneunzig Teufeln wünschte, daß er ein anderes Mal mich früh am Brunnen anschrie: „Sie befinden sich doch nicht etwa schon wieder wohl?“ worauf sofort wieder neunundneunzig Teufel den Rakoczy verschmeißen sollten, und daß ferner eine Entsetzen erregende Kugelgestalt mit einer bereits berlinerblauen Nase wie ein verwundeter Eber auffuhr und einem Lehrjungen, der, auf den Curgarten zeigend, einem andern die Worte zugerufen hatte: „Ei du lieber Gott, was die Menschen um ihre Gesundheit besorgt sind!“ in grimmiger Wuth zuschrie: „Krieg’ Du die Kränk’, Du Lausbub, da machst Du’s halt a so!“ Und wenn Einer mit sichtlichem Entsetzen in dem Blicke aus dem Gedränge einer gewissen grünen Pforte zustrebt, weil ihn ein mehr und mehr unheimlich werdendes Gefühl zum äußersten Fortschritt zwingt, und ihn plötzlich auf Pferdelänge von jener grünen Pforte ein Anderer an den Rockknöpfen festhält und gemüthlich lächelnd eine Erzählung mit den Worten beginnt: „Als ich eines Tages im Hochsommer vorigen Jahres ...“ da kann allerdings ein Rakoczytrinker, wenn der Andere nickt losläßt, „ane doppelte Kratzberst“ sein. – Und nun Ade! und noch ein Holdrio–i!
Das heiße Klima in den Tropenländern. Daß es in jenen Ländern, welche innerhalb der heißen Zone liegen und die wir kurzweg „die Tropen“ nennen, auch sehr heiß sein muß, gilt als eine völlig feststehende Thatsache, und man hört gar nicht etwa so selten, daß Leute an einem recht warmen Sommertag bei uns die armen Menschen bemitleiden, die „bei der Hitze“ auch noch unter dem Aequator sitzen müssen. Zehn gegen eins läßt sich aber wetten, daß in sehr vielen heißen Ländern jene armen bemitleideten Menschen in der nämlichen Zeit sich viel kühler und behaglicher befinden, als wir selber.
Es giebt allerdings Landstriche, wo die Hitze außerordentlich drückend sein und durch verschiedene Umstände noch vermehrt werden kann. So z. B. in den afrikanischen, asiatischen und auch australischen Wüsten, wo der trockene Sand den ganzen Tag über von der Sonne gebrannt wird und noch lange nach Sonnenuntergang die eingesogene Brutwärme wieder aushaucht. Weit anders dagegen ist es in allen übrigen Tropenländern der Erde. Vor allen Dingen dürfen wir annehmen, daß es dort – so sonderbar das auch klingen mag – doch in der That nie heißer wird, als es bei uns an recht heißen Sommertagen ebenfalls werden kann, jedenfalls nicht heißer, als es augenblicklich bei uns ist. Ich weiß mich nicht zu erinnern, daß ich in irgend einem Lande der Welt – und selbst das nur an einzelnen sehr heißen Tagen – mehr als neunundzwanzig und einen halben oder dreißig Grad Réaumur im Schatten gehabt habe, und das blos in Afrika; in Indien dagegen, in Australien, in der Südsee und in allen Tropenländern Amerikas habe ich nie mehr als achtundzwanzig und einen halben bis neunundzwanzig Grad im Schatten erlebt und glaube auch nicht, daß es je dort heißer wird.
Was diesen Ländern den Namen der heißen giebt, ist also nicht die größere Hitze, sondern die das ganze Jahr ununterbrochen währende, aber dafür hat man dort wieder andere Vortheile, welche die Hitze lange nicht so empfinden lassen, wie sie bei uns empfunden wird. Wir in Europa sind nämlich nur auf ein kaltes Klima eingerichtet, und erwischt uns einmal hier eine so heiße Zeit, wie im gegenwärtigen Augenblick, so haben wir keinen Schlupfwinkel, wohin wir flüchten können, und meinen gleich, daß wir schmelzen müßten. In den heißen Ländern dagegen ist man vollständig darauf vorbereitet. Die Häuser sind danach gebaut mit hohen, luftigen Zimmern, durch welche die Luft überall frei aus und ein kann, ohne durch enge Fensterhöhlen einen schädlichen Zug zu erregen; Badehäuser stehen überall, die Kleidung ist ebenfalls dem Klima angemessen und alle Beschäftigungen und Arbeiten sind so eingetheilt, daß sich besonders die Europäer den Sonnenstrahlen nie in den heißesten Tagesstunden aussetzen.
Ein anderer Vortheil, den man dort hat, liegt in den kurzen Tagen. In den Tropen geht die Sonne, mit geringem Unterschied, durch das ganze Jahr jeden Tag um sechs Uhr auf und um sechs Uhr unter. Bei uns, wo sie sich in den längsten Tagen schon gleich nach drei Uhr Morgens zeigt, erhitzt sie um sieben Uhr schon den Boden mehr, als dort um neun Uhr; auch hat sie dort um vier Uhr Abends schon wieder ihre Kraft verloren. Noch angenehmer aber ist das Klima, ,z. B. in Indien, in der.Regenzeit, wo fast jeden Nachmittag um drei Uhr ein kleiner Wolkenbruch, den die Leute dort scherzhaft Regen nennen, vom Himmel herunterfällt und die Erde kühlt und erfrischt. Die Abende in dieser Jahreszeit sind dann wahrhaft wundervoll und von drückender Hitze von der Zeit an keine Rede mehr. Aber trotzdem, daß die Hitze dort eigentlich nie lästig wird, erschlafft sie doch mit den Jahren den Körper, denn nicht allein die kalten Nächte fehlen, sondern überhaupt der Winter, in dem sich Menschen wie Pflanzen wieder ausruhen und frische Kräfte sammeln können. Es ist mit einem Wort nicht heißer dort, als bei uns im Sommer, ja die Hitze wird dort in einzelnen Fällen vielleicht nicht einmal als so drückend verspürt, aber es ist ewig Sommer und das reibt zuletzt die stärkste und kräftigste Constitution auf.
Aber nicht alle Tropenländer sind etwa so heiß; an der Westküste von Amerika z. B. kennt man, selbst unter den niedrigsten Breiten, eine andauernde Hitze nur an wenigen Stellen. Die Ursache davon erklärt ein Blick auf die Karte – das niedere Land ist dort zu schmal und im Osten von den schneebedeckten Cordilleren begrenzt, im Westen vom Meer bespühlt und den Seewinden offen, darum kann es da nie sehr heiß werden, wenigstens hat man immer kühle Nächte.
Es ist eine sonderbare Thatsache, daß ein ganz bedeutender Handel, gerade von Deutschland aus, nach Peru mit den allerschwersten und dicksten Tuchen getrieben wird, und nicht etwa für das innere, hochgelegene Land werden diese allein verwandt, sondern selbst in dem an der Küste und im flachen Lande liegenden Lima (12 Grad südl. Breite) getragen. Sowie aber die Sonne im Meere versinkt und die Luft von den Schneeriesen der Cordilleren herüberweht, wird es auch ordentlich frisch an der Küste, und man kann einen warmen Rock recht gut vertragen. Selbst unter dem Aequator sind die Nächte frisch und angenehm, und da über den ungeheueren Waldungen von Ecuador und Neu-Granada der Himmel fast stets bedeckt ist, die Sonne also auch nie ordentliche Kraft gewinnt, so steigt die Hitze dort über Tag selten höher als 26° – nie aber über 28 – und selbst das nur auf wenige Stunden.
Die Linie des ewigen Schnees wird in den Tropen auf 16,000 Fuß gerechnet und fällt, jemehr sie sich der kalten Zone nähert, bis sie etwa unter 80° nördlicher wie südlicher Breite die Meeresfläche erreicht. Ganz genau trifft das aber auf die Grade nicht zu. Besonders in den Cordilleren Südamerikas liegt die Schneelinie unter 15–17° südl. Breite fast höher oder wenigstens eben so hoch, wie unter der Linie selber. Die Ursache davon sind eine Masse kalter Hochebenen in der Nachbarschaft und eine große Menge schneebedeckter Berge, welche näher zum Aequator liegen und dadurch die Luft unnatürlich kälter machen, als es unter gewöhnlichen Umständen der Fall sein dürfte.
Als ein Beispiel, in wie großer Höhe unter den Tropen noch Menschen wohnen können, während in Europa, z. B. in der Schweiz, die Gletscher an manchen Stellen bis zu 5000 Fuß und tiefer herabreichen, mag die Stadt Cerro de Pasco in Peru dienen. Cerro de Pasco, eine Stadt, die in den Cordilleren unmittelbar an den reichen Silberminen jener Berge entstand, liegt etwa unter 11° südl. Breite, aber 14,500 Fuß hoch über der Meeresfläche – also noch etwas unter der Linie des ewigen Schnees – aber es fällt dort schon ewiger Schnee, wenn er auch nicht immer liegen bleibt, denn fast kein Tag vergeht im ganzen Jahr, an dem es nicht ein wenig schneit. Nur ein dürftiges Gras wächst dort an den Bergen, das immer gelb aussieht, weil die Spitzen stets erfroren sind. Das Futter für die Lastthiere müssen diese selber aus den tiefer gelegenen Thälern heraufholen – Bohnen und Hülsenfrüchte sind dort tropische Gewächse und werden eingeführt, mit ihnen aber auch Ananas und Bananen, denn die Thiere brauchen nur ein Paar Meilen weiter hinabgeschickt zu werden, um die Region des Zuckerrohrs zu erreichen.
Der Aufenthalt in solcher Höhe ist aber trotzdem nicht unerträglich, wenn auch der Neuankömmling im Anfang viel an Kopfschmerzen zu leiden hat und besonders lange einen leisen Druck auf den Schläfen fühlt. Man gewöhnt sich zuletzt daran, und der Beweis liegt schon darin, daß die Stadt Cerro de Pasco nahe an 14,000 Einwohner zählt. Nur sehr viel kleine Kinder sollen dort sterben, und wie ich hörte, vergeht kein Tag, an dem nicht wenigstens eine Kinderleiche beerdigt wird. Cerro de Pasco ist, soviel ich weiß, die höchstgelegene Stadt der ganzen Erde.
- ↑ „Die Gründung der deutschen Bruschenschaft in Jena“ von Robert und Richard Keil. Jena, Verlag von Mauke, 1865.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Siehe die Berichtigung in Heft 34