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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[513]

No. 33. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Sie will sich duelliren.
Von Arnold Schloenbach.
Schluß.

Die Gräfin sah den Doctor plötzlich mit fast wilder Freude an. Eine eigenthümliche Lust bebte durch ihr ganzes Wesen, ein seltsamer Uebermuth ergriff sie.

„Ich verzichte auf jede Ausnahmestellung, die mein Geschlecht mir geben soll.“ sprach sie schnell, „ich erkenne gar keine solche an. Ich nehme es für ein Zeichen der Verachtung, wenn Sie eine solche mir unterstellen wollen, und um Ihnen die Sache zu erleichtern, um Ihnen auch den Beweis zu geben, daß ich keine Verachtung verdiene, werde ich mich – und ich darf das mit vollem Rechte – werde ich mich als beleidigt betrachten und selbst die von Ihnen bezeichnete Forderung stellen. Wehe aber Ihnen, wenn Sie mir die Genugthuung verweigern! Ich würde Sie für den erbärmlichsten Feigling halten und Sie als solchen behandeln, überall, wo ich Sie fände.“

Da wallte auch in dem Doctor eine übermüthige Kampflust auf. „Nun, wahrhaftig!“ entgegnete er, „an mir soll’s nicht fehlen, Frau Gräfin, wenn Sie wirklich –“

„Ihr Wort darauf!“ Sie hielt ihm energisch die Hand entgegen.

„Mein Wort darauf,“ damit legte er seine Hand fast feierlich in die dargebotene, und sie schauten sich einander wie triumphirend an. Sie schienen gar keine Idee von dem schweren Ernst, gar keinen Blick für das Ueberspannte ihrer ganzen Situation zu haben. Sie waren wie große Kinder, ein Jedes glaubte, es handle sich hier um die Ehre seiner Partei, und ein Jedes brannte darnach, dem vor ihm sitzenden Gegenstand seiner Liebe und seines Hasses mit der Waffe gegenüberzutreten.

In diesem Augenblicke riß Wilhelm den Schlag auf und der Graf stürzte an den Wagen hin, die nach ihm ausgestreckten Hände seiner Schwester heftig erfassend und mit Staunen und Spannung zu ihr aufschauend. Wilhelm hatte den Grafen bemerkt, als derselbe aus dem Ministerium gekommen war und sich nach seinem Wagen umsah. Unwillkürlich war ihm ein Freudenruf entfahren, in einem Nu war er von seinem Sitze ab- und zum Grafen hingesprungen. Dieser hatte in demselben Augenblick höchlichst verwundert seine Equipage bemerkt, jetzt rief Wilhelm ihm zu, daß die Frau Gräfin Schwester in dem Wagen sitze. Tiefbewegt von widerstrebenden Gefühlen eilte der Graf seiner Schwester entgegen, da erblickte er auch den Doctor; das war ihm ein gutes, liebes Zeichen, er wußte nicht gleich, für was; aber es machte ihn wieder leicht und heiter, und noch halb auf dem Tritt, halb im Wagen stehend, umfaßte er die Schwester und dann den Freund in liebevollster und liebenswürdigster Heiterkeit. Beide hatten sich einen verständigenden Blick zugeworfen, als der Graf erschienen war; dieser Blick mahnte Verschwiegenheit. und die Mahnung half ihnen hinweg über die Spannung des Augenblicks. Indeß setzte das Gebahren des Grafen sie doch in eine gewisse Verlegenheit. Der Doctor hielt es für angemessen, die Geschwister allein zu lassen, allein nach so langer Trennung, nach so unerwartetem Wiedersehen. Der Graf bat zwar herzlich. daß er bleiben, mit in’s Hotel zurückfahren möge, allein Ludwig lehnte es ab. Die Gräfin sagte kein Wort dazu, und mit einem „Auf baldiges Wiedersehen„“ stieg der Doctor aus und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Weiterfahren. Der Graf sah seine Schwester fragend an, der Blick, den sie dem Aussteigenden nachwarf, hatte etwas so Eigenthümliches und der Ausdruck ihres Gesichtes selbst war mit einem Male so verändert, daß Bernting keine Lösung für das Räthsel hatte.




4.

Die Grafin war in Madrid plötzlich Wittwe geworden. Sie war eher nach Deutschland zurückgekehrt, als die Zeitungen von dem Todesfall ihres Gemahls berichten konnten. In der Hauptstadt ihrer ursprünglichen Heimath hatte sie zunächst nach ihrem Bruder gefragt und ohne sich halten zu lassen, war sie ihm nach D. nachgeeilt und dort angekommen, als Bernting eben zu seinem Freunde gereist war. Dies erzählte sie ihm noch im Wagen, dazu auch ihren gestrigen Gang zur Eisenbahn, ihre heutige Fahrt zum Gesandtschaftshotel. Aber kein Wort von dem Doctor und kein Wort auch von der Wandlung in ihrem Wesen. Warum sie gerade ihn so sehnsuchtsvoll gesucht, so liebevoll erwartete, gerade ihn, dem sie früher sich fast feindlich gezeigt, um den sie dann nie wieder sich gekümmert hatte, so fragte sich der Graf, während er die Schwester aus dem Wagen hob und diese ihn bat, sie auf kurze Zeit allein zu lassen. Die Einsamkeit, wenn auch nur auf eine Viertelstunde, war ihr jetzt Bedürfniß. Der Bruder ließ sie gewähren, und nun gingen alte und neue Vergangenheit, Gegenwart und nächste Zukunft mit tausendfachen Erinnerungen und Schmerzen an ihr vorüber, und all die heftigen Widersprüche in ihrem Wesen regten sich, die verschiedenartigen Geister und Dämonen, die sich von früh an in ihr gestritten.

Sie war Aristokratin durch und durch, aber sie hatte Sympathie für das Volk. Nur das vornehme, reiche Bürgerthum war ihr [514] zuwider, jenes staatliche Mittelding, wie überhaupt jedes Mittelding. Dabei sah sie aber auch täglich mehr und mehr die Zerklüftung und Zerfahrenheit, das Hohle, Lügenhafte und Verbrecherische in ihren eigenen Kreisen und in ihrer nächsten Umgebung. Sie wußte oft gar nicht, wohin sie schauen solle, was sie glauben, hoffen und denken dürfe. Sie war eben nach vielen Seiten hin ein Wesen zwiespältiger Art, das nur wenige erkannten und begriffen, sie wurde darum wenig geliebt, desto mehr aber mit scheuer Strenge oder leichtfertiger Gleichgültigkeit betrachtet und behandelt. Sie hatte die höchsten Ideen von der Ehe in sich getragen und sie wurde eine standesgemäß gekaufte und verkaufte Frau, ehe sie eigentlich recht wußte, was eine Frau bedeute, ehe sie Besinnung genug gewonnen, sich solcher Schmach zu entziehen. Und als sie derselben verfallen, oder vielmehr, als sie zum Bewußtsein derselben gekommen war und in fremdem Lande ohne irgend einen Freund und Helfer ganz einsam und verlassen an der Seite ihres kalten, frivolen, egoistischen Käufers und Despoten stand, da hielt sie dieser mit hundertfachen Netzen und Banden der Arglist und der Formen, der Gewalt und des Gesetzes so fest umstrickt, daß all ihr Stolz und ihr starker Wille, all ihr Schmerz und Zorn, all ihr Flehen und Drohen vergeblich waren.

Erst als sie der jähe Tod ihres Gatten freigemacht hatte, fühlte sie sich leben, sich selbst wiedergegeben. Das Leben sollte nun ihr gehören, ihrem Triebe gehorchen. Frei wollte sie sein, wie das Element, stolz sich erheben nach so langer Schmach, über die Welt hinwandeln mit all dem Hohn, unter dem sie selbst so lange gelitten hatte; bitter verachten, was nicht groß und stolz war wie die Seele, die sie einst der Welt entgegengetragen hatte. Aber sie wollte auch handeln, Schönes und Segensvolles oder Kühnes, Großes thun. Und lieben, so recht aus tiefstem, vollstem Herzen lieben, doch nur einen ganzen, vollen, freien Mann, der anders war, als alle die, welche sie bis jetzt gekannt hatte. Besser, edler, größer aber als sie Alle war ihr Bruder immer gewesen, wenn er auch für jenes Halbe und Falbe gewirkt hatte, was ihr als Lüge und Feigheit so verächtlich erschien. So drängte es sie mit unwiderstehlicher Macht hin zu diesem Bruder, als könne sie an seiner Seite irgend ein Schönes oder Kühnes vollführen, an seinem Herzen die Liebe finden, die sie so sehnsuchtsvoll suchte. Zugleich wollte sie mit unerbittlicher Strenge die Männer prüfen, die ihren Bruder umgaben, die ihn abwendig gemacht hatten von seinem angestammten absoluten Königthum und dem Wappenschild seiner Ahnen, jene lügnerischen Halbgeister, die, wie sie meinte, der Zeit und dem Volke nach beiden Seiten hin des Lebens Nerv durchschnitten, aus streng gehorsamen Unterthanen lügenhafte Phrasenmenschen geschaffen und ihnen die Kraft geraubt hatten, wahrhaft freie Bürger zu sein und sein zu wollen.

Der gefährlichste unter ihnen war, das wußte sie, der nächste Freund ihres Bruders, Doctor Ludwig, denn sie hatte auch in der Fremde sein Wirken so genau wie möglich verfolgt, sie hatte sich ihn in allen möglichen Erscheinungen gedacht, sie hatte versucht, sich ihn aus ihren allerersten Jugenderinnerungen als ihren Landsmann vorzustellen, sie hatte einen ganz eigenthümlichen Zorn auf ihn, ein ganz seltsames Mißtrauen gegen ihn; sie sah mit dem gespanntesten Interesse ihm entgegen, und sie wollte ihn erdrücken mit der Wucht ihres Stolzes und Hohnes.

Mit solchen Gedanken und Vorsätzen kam die Gräfin Mathilde von Timmelskirch nach D., fuhr sie ihrem Bruder entgegen, lernte sie den Doctor Ludwig kennen, um an ihn die merkwürdige Forderung zu richten. „Kann es, darf es denn nun wirklich sein, das Unerhörte, das fast Unnatürliche?“ fragte sie sich, als sie allein in ihrem Zimmer war. „Es soll, es muß, es wird sein!“ fuhr sie trotzig fort, die Hand ballend. „Und was ist denn unnatürlich daran? Nichts anderes, als die Furcht und die Feigheit, die kleinliche, erbärmliche Form, die es als unnatürlich erscheinen läßt. Ich verachte solchen Schein. Ich will ein Beispiel geben, daß ein Weib nicht beleidigen soll, wo es nicht auch Genugthuung zu geben bereit und befähigt ist. Ihm bin ich das schuldig und ich müßte mich sehr täuschen, oder er ist stark und bedeutend genug, sein Wort mir zu halten. Es soll der Prüfstein seiner Art sein, ob er es thut. Und wenn er – ha!“ Ihr Auge blitzte, wie eine Siegesgöttin stand sie da. „Doch mein Bruder,“ warf sie sich, plötzlich wieder nachdenklich, ein, „was wird er dazu sagen? Er wird es nicht dulden. Nein! nein! Das wäre Feigheit! Wie kann mein Bruder es wehren? Er muß es dulden und er wird es, oder er ist nicht der, den ich in ihm erwarte, der er sein kann, sein soll. Ja, soll!“

Wieder sann sie leise nach, den Kopf sanft gebeugt, und ihr Auge erglänzte mild und seelenvoll. Da klopfte es leise an; sie wußte, daß es ihr Bruder Leopold war, und öffnete ihm die Thür. Liebend, glücklich weinend und träumend lag sie an seiner Brust, und dann erzählte und erklärte sie ihm, anfangs scheu und gepreßt, dann immer freier, rascher und feuriger, Alles, was soeben an ihrer Seele vorübergezogen war, was ihr Sinne, Herz und Geist so mächtig bewegt hatte. Der Bruder horchte auf, jetzt war er wort- und rathlos; er konnte das seltsame Wesen nur fester und fester in seine Arme schließen und konnte nur mit Bangen des Freundes gedenken, der plötzlich so wundersam schrecklich in das Leben seiner Schwester getreten und von dieser in ihr eigenes Schicksal hineingerissen worden war.




5.

In so tiefem Ernste hatten die Freunde noch nie zusammen gesessen; so schwer umwölkt waren nie ihre Stirnen gewesen, als jetzt, am Abend des verhängnißvollen Tages, wo sie auf dem Zimmer des Doctors das unerhörte Duell besprachen, welches zwischen der Gräfin und dem Doctor stattfinden sollte. Die Gräfin bestand mit fast fanatischem Eifer darauf. Sie hatte mit leidenschaftlicher Hast es dem Grafen zur Pflicht des Bruders, des Freundes, des Cavaliers gemacht, ihr Secundant zu sein und ihre Forderung dem Doctor zu überbringen. Sie hatte diesen an sein fest und feierlich gegebenes Wort und an seinen Handschlag erinnern lassen. Sie hatte mit der siegenden Gewalt kühner Gedanken und begeisterungsvoller Beredsamkeit die mannigfachen Bitten und Gründe, Betheuerungen und Beschwörungen ihres Bruders wenigstens zum Schweigen gebracht und mit dem Schlimmsten gedroht, wenn man sie zurückweise. Das Alles hatte der Graf seinem Freunde mitgetheilt, natürlich auch nicht verfehlt, ihm dies Außergewöhnliche aus dem Geständnisse zu erklären, welches die Gräfin ihrem Brnder an dem denkwürdigen Morgen gemacht hatte. Ludwig hatte schweigend zugehört und dann einfach und bestimmt gesagt: „Ich habe ihr mein Wort gegeben und wenn sie’s verlangt, so halte ich’s.“ Damit trat das, was bisher gleichsam nur wie eine Idee vorgeschwebt hatte, schon mehr und mehr in das Gebiet der Thatsache ein. Wie nach einer unsicheren Hoffnung haschend, fragte jetzt der Graf: „Sollte sie uns aber nur auf die Probe stellen wollen? Nicht schon zufrieden sein, wenn dieselbe bestanden würde?“

„Das glaube ich nicht,“ antwortete Ludwig.

„Ja, ja, ich meine auch, daß Du Recht hast. Aber würde sie nicht vielleicht erschreckt zurückweichen, wenn der wirkliche, volle Ernst der Sache an sie heranträte?“

„Das glaube ich noch viel weniger.“

„Hm, hm! Und daß wir sie anführten, eine kleine Komödie mit dem Pistol arrangirten –“

„Das wäre unser Aller unwürdig.“

„Freilich, freilich! Es war auch nur so ein Gedanke, den mir die schmerzlichste Rathlosigkeit eingab.“

Der Graf sprang auf und ging sinnend mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab. Doctor Ludwig beobachtete jeden seiner Schritte, ohne es zu wissen, in tiefes Nachdenken verloren. Nach und nach wurde sein Auge freier, seine Stirn entwölkte sich.

„Ich glaube, mein Freund, Du nimmst die allerdings sehr ernste Sache doch zu ernst,“ sagte er, „oder vielmehr, wie soll ich mich nur ausdrücken? nun, zu unnatürlich und zu unglückselig. Nach Allem, was ich von dem merkwürdigen Charakter Deiner Schwester jetzt weiß und verstehe, glaube ich, daß hier ein bedeutsamer Krankheitsproceß nur seinen ganz natürlichen Verlauf nimmt und durch eine entscheidende Krise der schönsten Lösung entgegengehen kann.“

„Ich verstehe Dich und muß Dir im Allgemeinen Recht geben. Aber die Krise selbst?“

„Die Krise selbst muß das Duell sein. Es kann ein Klärungs- und Läuterungsproceß ihrer Seele, ein befreiendes Moment ihrer ganzen Vergangenheit werden. Es giebt Wesen, bei denen das Ungemeine oft das Natürlichste ist. Und Deine Schwester ist solch ein Wesen.“

„Leider, leider! Doch es kann ja wirklich zu einer glücklichen, heilbringenden Krise führen. Aber – ach, es kann ja auch schrecklich werden!“

[515] „Für sie kaum schlimmer, als es ist. Was wäre für sie ein Leben, wie sie jetzt es führt? Was wäre ihr der Tod, bei solchem Leben?“

„Aber Du!“

„Warum soll ich nicht mein Leben daransetzen, ein solches Geschöpf gerettet zu sehen?“

„Aber sie könnte doch niemals glücklich sein, wenn sie Dich tödtete!“

„Das wäre dann ihre Sache.“

„Und Du könntest es doch auch nicht sein, wenn Du sie –“

„Wer fragt dabei nach mir! Und muß es denn gleich gestorben sein? Ah, bah! Es trifft und stirbt sich nicht so leicht. Und dann: es hat nun einmal ‚der Götter Wille‘ ein Ungemeines uns aufgelegt, seltsame Geschicke für uns heraufbeschworen. Wir sind also auch keine gewöhnlichen Menschen, darum laß uns das Ungewöhnliche wie unseres Gleichen ansehen und behandeln. Wahrhaftig es ist ja am Ende auch nicht der Mühe werth, immer so im Train des Alltagslebens umherzukreisen und zuletzt im Dunst des Werkeltags zu zerstäuben. Und ist es Unsinn, so wollen wir den Unsinn mit Methode begehen.“

Eine merkwürdige Mischung von schmerzlicher Ironie und Begeisterung lag in der ganzen Art und Weise, wie der Doctor sprach. Sein Freund hatte den sonst so ruhigen, phrasenlosen Mann noch nie so gesehen, desto hinreißender, ja imponirend, erschien er ihm jetzt. Er gab sich ihm ganz hin und übermüthig rief er aus:

„So sei’s denn gewagt! Und auf die Kniee der Götter lege ich den Ausgang.“

Er eilte zu seiner Schwester und rief ihr entgegen: „Der Doctor nimmt Deine Forderung an! Im vollsten, wahrsten Ernst nimmt er sie an!“ setzte er mahnend und warnend in strengem Tone hinzu. Ihre Augen flammten auf, dann wurde sie plötzlich blaß und schaute vor sich hin, bis auf einmal ein heißes Roth ihr Antlitz färbte.

„So bin ich noch nie verstanden, noch nie geehrt worden,“ antwortete sie mit strahlendem Blick. „Und wer das vermag, der ist bedeutender, als ich jemals einen Menschen kannte. Ich habe ihm Unrecht gethan – er ist doch ein großer Charakter.“

„Bei Gott, das ist er!“ rief der Graf freudig bewegt aus; er hoffte, daß die Schwester ihr Vorhaben aufgeben würde. „Und nun,“ fuhr er fort, „solltest Du ihm auch die Hand reichen zur Versöhnung und –“

„Wenn’s geschehen ist,“ entgegnete sie kalt und stolz, „und wir uns die Hände noch reichen können, gewiß! Aber nicht eher.“

„Verstehe mich und ihn nicht falsch,“ antwortete der Graf, „es war nur so ein Augenblick von Hoffnung, der mir entgegenflog, daß Du Dich eines Andern besonnen. Du sollst Deinen Willen haben, ganz und gar, und dann komme über Dich, was kommen mag.“

„Es komme!“ sprach sie gelassen und reichte ihm die Hand. „Aber nun sorge auch, daß es bald geschieht. So rasch wie möglich.“

„Gewiß! Es sind indessen doch noch mancherlei Bedenken – –“

„Was für Bedenken?“

„Formen, Vorsichtsmaßregeln, Secundanten, Unparteiischer, Wundarzt. Das Alles will sehr erwogen, will doppelt vorsichtig behandelt sein.“

„Ist das Alles nothwendig? Warum sind nicht wir Drei genug? Warum kannst Du nicht Secundant für uns Beide und zugleich Unparteiischer sein? Wir verlassen uns Beide auf Dich, daß Du treu und wie ein Ehrenmann die Sache führst. Das Uebrige ist unsere Sache. Hat man nicht Beispiele, daß es auch so erledigt wurde?“

„Möglich!“

„Nun also! Drum ohne Säumen. Auch ihm wird’s so wohl genehm sein. Eiligst denn, schon morgen! Morgen früh!“

„Aber der Arzt, und doch auch wohl weibliche Hülfe; für den Fall, daß Du selbst getroffen – –“

Sie erröthete einen Augenblick und schlug die Augen nieder; nicht aus Furcht, sondern in Züchtigkeit der Frau. Dann aber sah sie wieder auf und sagte:

„Wir wollen’s erst abwarten, ob solche Hülfe nöthig ist, und sollte wirklich gelitten sein, ei, dann will ich doch lieber mehr und länger leiden, als durch so peinigende Vorkehrungen mich auf ein Schlimmes vorbereiten.“

„Nun, es paßt das eben zu Deiner ganzen Art, zu Deiner – Deiner Extravaganz, und auch hierin muß ich Dir nachgeben.“

„Es wird das Beste sein, Bruder; desto eher werde ich wieder ruhig, laß mich allenfalls noch sagen: gescheidt und vernünftig werden. Doch vorausgesetzt, besteht Dein Freund auf einen Arzt, so füge ich mich.“

„Er würde es nur Deinetwegen.“

„Dann ist’s schon gut! Und nun – auf morgen!“

„Auf morgen! Wirst Du bis dahin noch Deine Angelegenheiten ordnen? Papiere – Briefe.“

„Nein! nein! Ich will nichts thun, als das erwarten, was kommt.“

„Du hättest eine Heldin werden können, während Du jetzt nur – – Gute Nacht, Schwester!“

„Eine Thörin bist! Nicht wahr? O ja, das ist’s! Und deshalb recht bald! Recht bald! Gute Nacht!“

Mit einem schweren Seufzer trennten sich die Geschwister.

Als der Graf seinem Freunde mittheilte, was die Gegnerin wünsche, sprach dieser halblaut: „Ich bin mit Allem zufrieden. Am liebsten sogleich, spätestens morgen in der Frühe.“




6.

Am anderen Morgen in der Frühe hielten zwei Wagen vor einem dichten Gehölz, die Equipage des Grafen und ein Wagen des Hotels Driburg. In jenem saßen der Graf und seine Schwester; in diesem saß Doctor Ludwig. Man hatte im Hotel vorgegeben, eine große Spazierfahrt auf unbestimmte Zeit und Länge machen und unterwegs noch einige Freunde aufnehmen zu wollen. Die Wagen folgten sich in mäßiger Entfernung. An dem Eingang zu dem Gehölz stieg zuerst der Graf aus, eine Pistolencassette vorsichtig unter dem langen Sommermantel verbergend. Bald war die Schwester an seiner Seite, und schweigend, wie sie im Wagen gesessen, gingen sie in den Wald. Gleich darauf folgte ihnen der Doctor. Den Kutschern war die Weisung gegeben, hier zu warten, bis die Herrschaften von ihrem beabsichtigten Waldgang zurückkehren würden. Der Graf kannte den Platz, wo schon manche Kämpfer sich gegenüber gestanden hatten. Er war weit und hell und lag doch dicht umbuscht und einsam da. Als der Platz erreicht war, stellte der Graf seine Cassette auf eine kleine bemooste Steinplatte und wandte sich dem herantretenden Doctor zu. Ebenso die Gräfin. Es gab eine stumme, ernste Begrüßung und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Wipfel auf bleiche Wangen. Ringsum war es still. Der Graf öffnete den Kasten und lud die Pistolen. Die beiden Gegner folgten unwillkürlich jeder seiner Bewegungen, standen aber fest und ruhig da. Der Graf maß zehn Schritt Barrière ab und deutete den Gegnern durch Zeichen ihre Plätze an. Dann faßte er mit der Rechten die Pistolen an, warf ein Taschentuch darüber und schritt zum Doctor hin, die Schafte der Pistolen zur Wahl ihm vorhaltend. Der Doctor ergriff ohne Wahl den ersten Schaft, den seine Finger berührten; den zweiten bot der Graf jetzt seiner Schwester dar. Sie faßte ihn an wie einen Stein, den man ohne Nachdenken aufhebt und fortwirft.

Nun standen alle Drei wieder regungslos, und noch immer war es grabesstill rings umher. Aber der Zeitpunkt war da, wo der Graf in seiner Eigenschaft als Unparteiischer noch den üblichen Vermittelungsversuch anstellen mußte. In diesem Augenblick war es ihm, als wenn er plötzlich aus einem somnambülen Zustande erwache. Er sah in der ganzen Situation, worin er sich mit Freund und Schwester befand, das schauerlich komische Spiel einer überreizten Phantasie, zugleich eine sündhaft thörichte Frivolität. Es wirbelte ihm vor den Sinnen; waren es denn wirklich Freund und Schwester, waren es wirklich vernünftige, selbstbewußte Wesen, die er vor sich sah? Und doch, sie waren es! Wie standen sie so sicher und ruhig, so klar und stolz da vor ihm! Es gab keinen andern Ausweg, das Entsetzliche mußte geschehen. In ruhiger Form vollzog er darum nach beiden Seiten hin seine Pflicht als Vermittler. Umsonst!

„Ich kenne nur den einen Weg der Ausgleichung: die vollständigste Bitte um Verzeihung und die unzweideutigste Bekennung begangenen Unrechts von Seiten meines Gegners,“ antwortete die Gräfin.

„Ich habe mein Wort gegeben, mich der Forderung meiner Gegnerin zu stellen, und ohne dies Wort zurückzubekommen, muß ich es halten,“ antwortete der Doctor.

„Und Du wirst dieses Wort nicht zurückgeben?“ wandte sich der Graf an seine Schwester.

„Wenn er es nicht verlangt: Nein!“

[516] „Und Du verlangst es nicht?“ fragte der Graf den Doctor.

„Wie könnte ich das, ohne uns Beide mit Verachtung zu strafen!“

„Du willst auch jene Bitte und Erklärung nicht stellen?“

„Für mich – o ja! Aber ich darf es nicht für sie. Es wäre eine zu große Demüthigung für die Dame selbst.“

„Gewiß! Und das ist groß gedacht!“ rief die Gräfin begeistert aus.

„An Eure Plätze!“ befahl der Graf. Die Gegner stellten sich auf.

„Richtung!“ Wie angewurzelt standen Beide und ihre emporgehobenen Pistolenläufe blitzten im Sonnenstrahl über die bleichen Gesichter. Auf einmal wies die Gräfin mit der Hand nach der Richtung, wo ihr Bruder stand, und rief ein tönendes „Halt!“ Dann schritt sie mit sicherer Ruhe dem Doctor entgegen und fragte den Erstaunten mit gelassener Festigkeit: „Würden Sie unbedingt auf mich schießen, wie auf jeden anderen Gegner? Ihr Ehrenwort!“

„Auf mein Ehrenwort – Ja!“ entgegnete der Doctor mit kalter Ruhe. Sie zuckte leise zusammen und trat unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück, doch blieb ihr Auge auf seinem Antlitz haften, während sie sprach: „Also doch! Aus Haß?“ frug sie rasch.

„O nein! Wahrlich nein!“ erwiderte der Doctor mit bewegtem Ton, und indem er der Gegnerin etwas näher trat und seine heißen Blicke aus sie richtete, sprach er mit erhobener Stimme: „Ich thät’s aus Achtung, aus Mitleid und in Hoffnung für Sie. Eine Donquixoterie mag es sein; ich will sie ihretwegen gern begehen: aber es darf keine possenhafte Komödie werden; das wäre unser Beider nicht werth. Entweder – oder!“

Die Gräfin sah den Sprecher mit wunderbarem Glanz in ihren Augen an. Dann wiederholte sie halblaut:

„Entweder – oder … Aber wenn Sie mich tödteten?“ fragte sie heftig.

„Dann haben Sie selbst es gewollt. Ich konnte, durfte nicht anders. Ich würde unglücklich sein für mein Leben, aber ich würde mir keine Schuld, wenigstens keine Blutschuld vorwerfen.“

„Aber wenn ich Sie tödtete?“

„Ich habe mein Leben leider schon an nichtigere Dinge gesetzt als daran, ein Wesen wie Sie sich selbst, der Welt und wer weiß noch welch’ Schönem und Großem zu retten oder wiederzugeben, und ich sollte meinen, das wäre schon des Preises werth.“

Wie von einem großen Entschluß verklärt, so stand die Gräfin jetzt vor dem Doctor.

„Sie müssen Ihr Leben an ein viel Höheres setzen,“ sprach sie, „an die volle und wahrhaftige, an die höchste Freiheit des Vaterlandes und der Menschheit. Und zu diesem erhabenen Berufe reiche ich Ihnen meine Hand als Parteigenossin dar!“ Sie streckte dem Doctor ihre Hand entgegen mit der Sicherheit einer Siegerin und Herrscherin. Der Doctor erbebte wie elektrisch berührt und schon zuckte seine Hand der dargebotenen entgegen, aber im nächsten Moment stand er wieder ruhig da und sprach, wenn auch mit tiefer Bewegung, so doch fest und klar:

„Die Regung, welche Ihre Hand uns darbietet, Frau Gräfin, deutet eine schöne Seele an. Aber eine Regung darf nicht bestimmend sein für so unendlich wichtigen Entschluß und eine edle Seele bildet noch keinen Charakter. Wenigstens keinen solchen, wie die Nation ihn verlangen muß. Diese schöne Regung steht auch noch im Widerspruch mit der ganzen Haltung, mit der Sie uns ihre Hand anbieten. Sie thun das mit dem triumphirenden Gefühl einer aufopfernden, herabsteigenden Güte, mit dem stolzen Bewußtsein, das Füllhorn unendlicher Gnade über uns auszuschütten, uns einen glorreichen Beweis Ihres freien Willens zu geben. Das Alles aber kann das Volk nicht brauchen. Erst wenn Sie durch die wahrhaftige Menschenliebe zur Liebe des Individuums, durch die wahrhaftige Demuth zum wahrhaftigen Stolze gelangt sind, erst wenn Sie darauf sich stolz fühlen, als Tochter der Nation und als Genossin der Partei anerkannt und gewürdigt zu werden – erst dann, wenn die eben empfundene schöne Regung ein Festes, Dauerndes und Ihre edle Seele zu einem Charakter geworden ist: erst dann kann die Partei Ihre Hand annehmen. Aber nicht eher.“

Unbeschreibbar war es, was in diesem Augenblick durch das Herz der Gräfin stürmte. Alle die verschiedenen Elemente und Leidenschaften, die so lange in ihr gekämpft, schienen mit einem Male in ihr aufgestanden zu sein zum heftigsten Kampfe.

Staunend hatte Bernting der ganzen Scene gelauscht und harrte nun bange der Krise, die aus dem seltsamen Begebniß hervorgehen mußte. Finsterer als je, zogen sich die Brauen der Gräfin zusammen; dichter als je deckten die Wimpern den Glanz ihrer Augen; stolzer, strenger als je warf sie den Kopf zurück und die Hand empor, und indem sie ausrief: „Zur Sache!“ schritt sie mit gehobener Pistole wieder zurück zu dem ihr angewiesenen Stand. Der Doctor schloß rasch und fest die Augen, drängte einen aufsteigenden schweren Seufzer zurück und trat auf seinen Platz. Und wieder ertönte durch die Grabesstille das schauerliche Wort: „Richtung!“ Und wieder blitzten die emporgewendeten Läufe im zitternden Strahl der Sonne den bleichen Gesichtern entgegen. Da aber ließ die Gräfin ihre Pistole fallen und trat zu dem Doctor heran.

„Es wäre grausam,“ sprach sie in heiterer Klarheit, „wenn ich Sie zwingen wollte, Ihr Wort zu halten, zwingen wollte, auf einen Menschen, auf ein Weib, auf mich zu schießen. Es wäre erbärmlich, wenn ich nicht lieber den Verdacht der Furcht und Feigheit auf mich laden, nicht lieber lächerlich erscheinen wollte, als auf meinen Willen zu bestehen. Ich will doch lieber ein Weib als eine Amazone sein und ich will Ihnen gern bekennen: Sie haben mich bezwungen, mich beschämt. Sie haben mich furchtbar erschüttert, mir unbeschreibbar wehe gethan, aber Sie haben mich auch gekräftigt, erhoben und beglückt und mir den Weg und das Ziel gezeigt, den zu wandeln und das zu erreichen nun die Aufgabe meines Gebens sein soll. Ich werde lernen so zu lieben, so demüthig zu sein, wie es werth ist Ihrer und der großen Sache, die Sie vertreten. Und bis dahin – Ihr Freunde – seid auch meine Freunde – meine Führer und Berather!“ Sie streckte nach links und rechts ihre Hände aus, anzuschauen wie eine holde Göttin, die ihre trauten Gaben liebevoll ausstreut. Rasch ergriffen Bruder und Freund die dargebotenen Hände und küßten sie, ehrerbietig und bewegt. Der Doctor war fast erschrocken vor der Seligkeit, die da plötzlich vor ihm aufging, es war ihm, als müsse er vor der so herrlichen Erscheinung leise sein Knie beugen, und inbrünstig um Verzeihung bitten für das, was er ihr angethan. Natürlich that er’s nicht, aber sein Auge sprach es aus und der Blick der Gräfin verstand diese Sprache, und sie erröthete und wandte sich ab zu ihrem Bruder, der sie in seine Arme schloß. Da glitt auch über des Doctors Antlitz ein schönes Roth, das schönste, welches wohl je ein Antlitz schmücken kann, und ein eigenthümliches Lächeln über sie Alle, als der Graf die Pistolen wieder in die Cassette legte und dieselbe verschloß. Es geschah schweigend, und schweigend gingen die Freunde durch das Gehölz ihren Wagen zu.


Der Doctor reiste noch an demselben Morgen zurück nach seiner kleinen Residenz. Vor der so verhängnißvoll gewordenen Zwischenstelle E. verließ er die Eisenbahn und fuhr durch neutrales Gebiet mit der Post. Diese rasche Abreise nach so schön geschlossenem Frieden und nach so herrlich gewonnenen Beziehungen möchte für Viele befremdend sein. Die drei Betheiligten aber fanden es, Jeder nach seiner Weise, so ganz natürlich, so ganz sich von selbst verstehend, daß gar nichts weiter darüber gesprochen wurde, daß Entschluß und Ausführung nur Eins waren und man zwar gut und herzlich, doch wie nach einer lang vorbereiteten Absprache sich trennte.

Der Doctor fühlte sich jedoch schon bald immer einsamer und schwermüthiger, und nur die zeitweiligen Besuche und Briefe des Grafen und der Gräfin konnten ihn auf kurze Zeit jener Stimmung entreißen. Man will indessen bemerkt haben, daß diese Briefe und Besuche sich mehren und mehren, immer rascher hintereinander folgen. Ebenso will man wissen, daß der Doctor immer glücklicher ist und daß die Gräfin immer einfacher wird, immer milder und liebevoller die Welt und die Menschen betrachtet und behandelt. Endlich will man bemerkt haben, daß die Gräfin ihre ganze Kraft und Thätigkeit den höchsten Interessen des Vaterlandes widmet und daß der Doctor bereits die Ueberzeugung hat, daß sie ein Charakter geworden und würdig sei, die große Aufgabe der Zeit mit lösen zu helfen.



[517]

.

Jubelfestlied der Burschenschaft.
Gesungen auf dem Markt zu Jena am 15. August 1865.

So soll dein Festlied nun erschallen, ein halb Jahrhundert feste Treu’!
Umrauscht von unsrer Farben Wallen ertön’ der alte Schwur auf’s Neu’
Ein halb Jahrhundert heut im Bunde – vom Altersschnee zum Jugendflor –
„Sind wir vereint zur guten Stunde, wir starker, deutscher Männerchor.“

Was hat den großen Bund gegründet? Des deutschen Reiches Weh’ und Ach!
Das Elend hat den Muth entzündet, die Ehre stammte aus der Schmach!
Der Mütter Kuß, der Bräute Thränen, sie weihten einst der Kämpfer Hand,
Aus jedem Herzen rief das Sehnen nach einem freien Vaterland.

Die Jugend schlug der Väter Schlachten, und Männern stand sie im Gefecht!
Der Kranz, den sie zur Heimath brachten, erwarb den Burschen Männerrecht.
Und männlich schwuren sie dem Streben, zu Freiheit, Ehr’ und Reich zu stehn,
Den Waffenschwur für’s ganze Leben auf ihrer Wartburg heil’gen Höhn.

Hat finstre Macht das Haus vernichtet, das einst so stattlich war gebaut,
Sieh, das gerechte Schicksal richtet, verkündend sein Gedächtniß laut:
Dir dankt das Volk die wahre Wehre, die ihm allein den Sieg verheißt:
Für Freiheit, Vaterland und Ehre zum Kampf die Fahne und den Geist!

Die schwarz-roth-goldnen Banner ragen stolz prangend jetzt bei Fest und Pracht,
Die sie gehetzt in vor’gen Tagen und straften mit der Kerker Nacht!
Ist deutsch das Banner, nun so werde dereinst auch durch des Geistes Kraft
Das ganze Volk der deutschen Erde nur eine große Burschenschaft!

Hier stehen wir – die Welt soll’s hören, als rief’s das ganze Deutschland hier –
Hier stehen wir im Bund und schwören, entblößten Hauptes, Gott, zu Dir:
„Das Wort, das unsern Bund geschürzet, das Heil, das uns kein Teufel raubt
Und kein Tyrannentrug uns kürzet, das sei gehalten und geglaubt!“

Friedrich Hofmann.

[518]
Das Jubelfest des schwarz-roth-goldenen Banners.
Rückerinnerungen von Robert Keil.
II.

Zu den freiheitsfeindlichen Schriftstellern jener Tage gehörte, wie wir sahen, auch von Kotzebue. Weit entfernt, sein dramatisches Talent zu unterschätzen, stimmen wir im Gegentheil der spätern Aeußerung seines genialen Gegners Goethe bei, daß man lange warten könne, ehe ein so fruchtbares und populäres Talent wieder komme. Aber die bei allem Witz und aller Gewandtheit nur gar zu üppig hervortretende Leichtfertigkeit und der Mangel an ernster, sittlicher Gebens- und Weltanschauung, die er in seinen dramatischen Werken, ganz besonders aber in seiner Geschichte des deutschen Reichs und seinem literarischen Wochenblatt zur Schau trug, ließ in ihm den Feind alles Idealen, den hämischen Spötter über jede höhere geistige Regung, den Gegner von Verfassung und Preßfreiheit, den Verächter und Schmäher des patriotischen Geistes der deutschen Jugend erkennen. Er war überdies, obgleich Deutscher von Geburt, der von Rußland besoldete Spion und Denunciant. Während er für alles Russische die schamlosesten Lobpreisungen verschwendete, ergoß er über alles Deutsche den giftigsten Tadel, riß die edelsten Namen frech herunter und suchte jedes freie Aufstreben als thöricht zu verspotten, als staatsgefährlich zu verdächtigen. Auf den deutschen, vom Auslande besoldeten Spürer und Verhetzer seiner Landsleute zog sich ein fast allgemeiner Haß zusammen. E. M. Arndt nennt ihn einen „Späher“, einen „Lauscher“, eine „Schmeißfliege“.

Fand sein Wesen, Thun und Treiben bei allen hervorragenden Geistern jener Zeit das lebhafteste Mißfallen, um wie viel mehr bei der feurigen, in Verehrung wie in Haß gleich maßlosen und überdies hier selbst angegriffnen und geschmähten akademischen Jugend! Schon ehe sein Denunciationsgeschäft an den Tag kam, hatte er bei Jung und Alt die Achtung eingebüßt, und als seine verrätherischen Bulletins entdeckt und veröffentlicht wurden, als er sich sogar zum Vertheidiger der nichtswürdigen Stourdza’schen Schandschrift aufwarf, faßte ein sonst braver, edler, harmloser, aber schwärmerischer und unter dem Einfluß des fanatischen Follen stehender Student, der Burscherschafter Carl Ludwig Sand aus Wunsiedel, den Entschluß, „dem Dichter, der die Sache seines Volkes hasse, dem Schandbuben und Erzknecht, der den Zustand der Schläfrigkeit und Feigheit zu befördern suche, dem Verführer der deutschen Jugend, dem Schänder der deutschen Volksgeschichte, dem russischen Spion des deutschen Vaterlandes das Schwert in’s Gekröse zu stoßen.“ Seinen Freunden fiel Sand’s geändertes Wesen und Benehmen auf. „Was hat Spukmeier? was ist mit ihm?“ frug man sich, aber Niemand wußte eine Antwort. Inzwischen ließ er sich den Dolch nach eigner Zeichnung anfertigen und besuchte chirurgische Collegien, um sich über die Lage und Verletzbarkeit des Herzens genau zu unterrichten. Am 23. März 1819 fiel v. Kotzebue zu Mannheim unter dem Dolche Sand’s.

Es war die Blutthat eines Einzelnen, die Burschenschaft hatte nichts mit ihr gemein. Aber wie einestheils in Mannheim und vielen andern Orten fast die ganze Bevölkerung für Sand gestimmt war und den begangenen Mord als die Heldenthat eines edeln vaterländischen Jünglings ansah, wie man ihm in Mannheim Erfrischungen sandte, vor dem Hospital ihm als dem Märtyrer der Sache des Vaterlandes Lebehoch und Beifall rief, wie sich eben diese Sympathieen auch bei seiner Hinrichtung zeigten, indem die Menge laut weinte und schluchzte, und der Stuhl, auf dem Sand gesessen, Haare von ihm, blutige Splitter des Gerüstes unter großem Andrang gekauft und durch ganz Deutschland hin als theure Andenken an einen lieben Todten verbreitet wurden: ebenso groß war anderntheils bei den hohen und höchsten Herren die durch Sand’s That hervorgerufene Furcht und Sorge. Es herrschte dumpfe Betroffenheit und angstvolle Spannung. Man hatte ein böses Gewissen, und dieses böse Gewissen fing plötzlich zu schlagen an. Die Großen, die Hofleute, die Diplomaten sahen sich aus ihrem weltlichen Behagen gräßlich aufgeschreckt, eine neue heilige Vehme schien erstanden, jeder Student konnte der Vollstrecker ihrer Urtheile sein, sie glaubten sich ihres Lebens nicht mehr sicher, die Einen jammerten und seufzten, Andere schalten und tobten, Alle begehrten Schutz und Abwehr gegen solche Gefahr.

So schildern Zeitgenossen die Furcht jener Herren, und es wurde diese Furcht zur Angst, als, von Sand’s That angereizt, der Apothekerlehrling Löhning in Wiesbaden zum Dolche griff und gegen den nassauischen Präsidenten Ibell seinen Mordversnch ausführte. Auch den Großherzog von Baden erfüllte jene Angst. Schon auf die erste Nachricht aus Mannheim hatte er durch seinen Eifer und seine Unruhe verrathen, wie sehr er erschüttert und verwirrt war, und später bekannte er gegen Varnhagen, daß er sich sehr unglücklich fühle. „Hätte der Kotzebue,“ sagte er im kläglichsten Tone, „doch wo anders gewohnt, als im Badischen! Der Mörder wird durch unsere Gerichte zum Tode verurtheilt, darüber ist gar kein Zweifel, und ich, ich soll dann das Urtheil bestätigen, oder den Thäter begnadigen, beides ist mir entsetzlich. Begnadigen, das geht nicht, und hinrichten lassen, – nicht wahr, lieber Varnhagen, wenn ich das thue, so muß ich mich darauf gefaßt machen, daß auch mir so ein Studentle nächstens Blut läßt?“

Der österreichische Gesandte in Karlsruhe, Graf Trautmannsdorf, faßte zwar das Ereigniß naiver auf, indem er auf die Frage, ob er seine Depesche nach Wien gesandt habe, zur Antwort gab: „Warum nit gar! I hab’s nit bericht’. Was soll i denn davon berichte? Es ist a Mord; bin i dazu Diplomat, daß i jede Mord berichte soll?“

In Wien selbst aber und vollends am Berliner Hofe nahm man die Sache weit ernster, man glaubte sich von einer weitverbreiteten geheimen furchtbaren Vehme umgarnt, man hielt die ganze Jugend für fanatisirt und zu den schrecklichsten Thaten entschlossen. Es sollten, es mußten Mitschuldige gefunden werden. Man schämte sich von ministerieller Seite in Karlsruhe nicht, Beweisstücke zu erfinden und sogar an Anwendung der Tortur gegen Sand zu denken, da ja die Sicherheit aller Fürsten und Staatsmänner solche Abweichung vom gewöhnlichen Rechtsgang wohl rechtfertige! Aber die Mannheimer Untersuchung ergab nichts. Man richtete die Untersuchung gegen die Burschenschaft, ließ überall Verhaftungen vornehmen, strenge Verhöre halten, die Papiere durchsuchen etc., aber es ergab sich doch keine Mitschuld der Burschenschaft, sondern im Gegentheil die Gewißheit, daß die Burschenschaft mit Kotzebue’s Ermordung nichts zu thun hatte. Gleichwohl und trotz der ehrenhaften, eifrigen Vertheidigung, welche Karl August durch seinen Bundestagsgesandten für Jena und die Jenaische Burschenschaft führen ließ, rief die preußische Regierung alle Preußen von Jena ab und der Karlsbader Congreß trat zusammen, um dem vaterländischen und Freiheitssinn der deutschen akademischen Jugend zu möglichster Sicherung fürstlicher Despotie den Todesstoß zu geben.

Die Karlsbader Beschlüsse waren an erster Stelle gegen Karl August, die Weimarische Verfassung und Jena gerichtet. Ihre heimliche Geburt konnte der Großherzog nicht hintertreiben, man hatte seinen uneingeladenen Minister von Fritsch aus Courtoisie zu einer nichtssagenden Extravorstellung der Conferenz zugelassen, im Uebrigen aber hinter die Thür gestellt.

Den Karlsbader Beschlüssen gemäß wurden durch Bundestagsbeschluß vom 20. September 1819 für die Universitäten Regierungsbevollmächtigte als Vormünder angestellt und die Burschenschaft verboten, da „diesem Vereine die schlechterdings unzulässige Voraussetzung einer fortdauernden Gemeinschaft und Correspondenz zwischen den verschiedenen Universitäten zu Grunde liege“. Es ist kaum zu glauben, aber so, wörtlich so lautete das lächerliche Motiv, das man für die Unterdrückung der Burschenschaft angab, das eine Schein-Repräsentation der deutschen Einheit einem patriotischen Verein gegenüber angab, welcher die deutsche Einheit zu seinem Grundprincip genommen hatte! Zugleich wurde die berüchtigte Central-Untersuchungs-Commission in Mainz niedergesetzt, um ihr sauberes Werk zu beginnen.

Da lösten sich überall die Burschenschaften auf, auch in Jena. Am 26. November 1819 erklang dort im Rosensaale gar kräftig und begeistert zum letzten Male das Bundeslied mit seinen Schlußworten:

„Das Wort, das unsern Bund geschüzet,
Das Heil, das uns sein Teufel raubt
Und kein Tyrannentrug uns kürzet,
Das sei gehalten und geglaubt!“

[519] und nachher in engerem Kreise das wehmüthig-schöne Binzel’sche Lied: „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus etc.“. Und wie das ganze schöne Lied, so war und wurde seine Schlußstrophe:

„Das Haus mag zerfallen –
Was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns Allen
Und unsre Burg ist Gott!“

ganze volle Wahrheit.

Der Geist, der patriotische, burschenschaftliche Geist lebte fort und er erwärmt heute noch die Greise, wie er in den Jünglingen geglüht hatte. Es war Stud. theol. Karl Horn aus Neustrelitz, der, aus dem Freiheitskampf zurückgekehrt, 1815 die Burschenschaft mit in das Leben gerufen, der die Stiftungsrede gehalten hatte, einer ihrer ersten Vorsteher geworden war und als Sprecher derselben am 19. Januar 1816 beim Pflanzen der Eiche auf dem Eichplatze gerufen hatte: „Wir setzen ihn ein, den Baum der Hoffnung, den Baum der Stärke, den Baum der Freiheit: wir schwören warme Liebe dem Vaterlande, Ergebenheit unsern Fürsten, die für des Vaterlandes Wohl Gut und Blut zu opfern bereit sind, wir schwören standhafte Treue allen deutschen Brüdern, die mit uns einen Sinn, ein heiliges Streben theilen, und rufen in froher Begeisterung ein Hoch der deutschen Freiheit!“ Derselbe Karl Horn, nun Pastor zu Badresch in Mecklenburg-Strelitz, war im August 1858 zum dreihundertjährigen Jubiläum der Universität wieder in Jena, und mit demselben warmen, vaterländischen Gefühl, wie damals in seinen Studentenjahren, 1812 bis 1816, sprach er, der große, kräftige, breitschulterige Mann mit dem offenen, biedern Gesicht und den hellen, freien, hübschen Augen, in der denkwürdigen Burschenschafts-Versammlung, welche damals im deutschen Hause zu Jena stattfand, die schlichten, kernigen Worte: „Der Ruf für das Vaterland hatte uns Alle ohne Unterschied gleich getroffen; Vandalen und Sachsen und wie sie sich nannten, sind zusammen ausgezogen und schlossen sich dem Lützow’schen Corps an. Dort gab uns der König von Preußen selbst die Uniform, in welcher sich zufällig die drei Farben schwarz, roth, gold befanden (schwarze Röcke mit rothen Aufschlägen und gelben Knöpfen), die fortan auch Bundeszeichen wurden, und zwar schwarz wie die Nacht der Knechtschaft, die wir abschütteln wollten, roth wie das Blut, das der Kampf kosten werde, golden wie die Freiheitssonne, die dem Vaterlande aus dem Kampfe gegen die Knechtschaft aufgehen sollte. Was man sonst in diese Farben hineingedeutelt, ist fremder Zusatz, oft kleinliche Spielerei. Nach dem Kampfe kehrten die Jenaer, die ihn überlebt, wieder zu ihren Studien, auch zu ihren Landsmannschaften zurück. Aber Alle brachten das Gefühl mit, daß diese Landsmannschaften ihrer unwürdig, daß in der landsmannschaftlichen Zerrissenheit Deutschlands die eigentliche Ursache gelegen, warum das große, mächtige deutsche Volk so tief habe sinken, so leicht habe in fremde Knechtschaft verfallen können. Dies Bewußtsein brachten wir aus dem Kampfe mit, und in ihm wurzelt die Burschenschaft, die bald nach der Rückkehr der Kämpfer nach Jena entstand. Sie hatte keine politischen Sonderzwecke, sie wollte einfach, klar, offen das Bewußtsein der volksthümlichen Einheit des deutschen Volkes feststellen und der Zerrissenheit unter den Studirenden und, soweit ihr Einfluß, ihr Beispiel gehe, im ganzen Volke ein Ende machen helfen. Das und nichts Anderes war der Zweck der Burschenschaft; so und nicht anders ist sie entstanden. Und wenn Herr Leo sagt, daß meine Vandalenmütze das Roth zum schwarz-roth-goldenen Bande geliefert, so lügt er schnöde, und wenn er sagt, daß ich wahrscheinlich jetzt Bürgermeister oder Landpfarrer sei und den ‚dicken Wanst’ vor Aachen schütteln werde, so oft ich an die Possen der Burschenschaft denke, so ist er im Irrthum. Was wir gewollt, war heilig und ist uns heute noch heilig!“

So dachten die Jünglinge, welche kaum ein Jahr nach der Auflösung der Burschenschaft zu deren Wiederbelebung schritten. Schon im Sommer 1820 trat auf der sogenannten Wölmse bei Ziegenhain der Rest der alten Burschenschaft als Germania wieder zusammen, ebenso bildeten sich in Berlin, Erlangen, Heidelberg, Leipzig etc. wieder Burschenschaften, und Burschentage zu Dresden, zu Streitberg und im Odenwalde brachten sie wieder näher. Aber es bildeten sich auch neue Landsmannschaften, oder vielmehr Corps, nur dem heitern Lebensgenuß und der Freundschaft hingegeben. Conflicte zwischen beiden Parteien konnten nicht ausbleiben, und überall fanden Untersuchungen gegen die Burschenschafter und Maßregelungen derselben mit Relegation und andern Strafen statt. Trotz aller Demagogenriecherei erhielten sich aber überall die geheimen Burschenschaften fort und zeichneten sich durch den guten, wackeren Geist, der sich am deutlichsten aus den freundschaftlichen Herzensergießungen ausspricht, welche damals der Freund dem Freunde in das Stammbuch zu schreiben pflegte.

In Jena traten sie auch offen an den Tag und zeichneten sich nicht selten durch ihren mitunter fast überkräftigen Humor aus. Bei den Aufführungen der Räuber, des Götz, des Tell etc. im Weimarischen Theater fehlten die Jenenser Burschen niemals, stets sangen sie in den Räubern nach altem Studentenrecht ihr Gaudeamus, übten ungenirt eine derbe Kritik des Beifalls oder Mißfalls, und als von Weimar aus dies einmal gerügt wurde, sangen sie auf ihrem Burschenhause mit vielem Jubel:

„Unser Herzog Karl Augustus
Hat allein den wahren Gustus;
Er ruft seinem Parterre zu:
Wenn ich klatsche, klasch auch Du!
     Auf die neue Mode!“

Als gegen Ende des Jahres 1822 ein Anschlag am schwarzen Bret plötzlich das Singen der Studenten auf den Straßen verbot, durchbrauste zur Antwort im massenhaften Aufstand der häusererschütternde Gesang: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, die alte Musenstadt, und als zur Dämpfung der Unruhen Militär von Weimar heranrückte, zogen die Burschen, Mann für Mann, mehr als vierhundert, die blitzenden Schläger frei in der Faust, mit Sang und Klang und wehender Fahne auf mehrere Tage nach dem Städtchen Kahla fort.

Ernster war die politische Richtung, welcher die hervorragendsten Kräfte der Burschenschaft sich zuwandten. Ueberall in Deutschland (mit einziger Ausnahme des liberalen Thüringens) erhob die Reaction kühn und immer kühner, immer übermüthiger das Haupt und mußte in den deutschen Jünglingen mit dem Gefühl der Enttäuschung die tiefste Erbitterung wecken. Das Studium der Geschichte hatte in ihnen die innigste und feurigste Liebe zu Volk und Vaterland wachgerufen. Sie sahen mit blutendem Herzen, wie in langwierigen Kriegen, aus dem Boden des eigenen gemeinsamen Vaterlandes Deutsche gegen Deutsche für fremdes Interesse, bethört durch fremde Arglist, sich selbst angefeindet und aufgerieben, sahen auch jetzt ein Geschlecht wiedererstanden, das der verwunderten Welt Ansprüche und Vorurtheile zeigte, welche man lange in den Familiengrüften verwest geglaubt hatte, sahen alte, verrostete Formen, so unpassend sie auch immer waren, wieder hervorgezogen, sahen den Werth der letztvergangenen Zeit so tief als möglich herabgesetzt, ja den heldenmüthigen Aufschwung des deutschen Volkes wie eine Sache hündischen Gehorsams behandelt, sie sahen das Ende solch mannigfachen Elends und eine auf festem Grunde ruhende Sicherheit mit in einer festen Einheit des ganzen Volks, und hielten sich als den Kern der Nation, die Hoffnung der künftigen Generationen ebenso berechtigt, als verpflichtet, für solche Einheit zu wirken.

Auf Anregung der nach der Schweiz geflüchteten Professoren Karl Follen, Snell und Völker stiftete daher der Jenenser Burschenschafter Adolph von Sprewitz aus Rostock im Frühjahre 1821 einen geheimen, durch ganz Deutschland sich verzweigenden „Jünglingsbund“, mit der Tendenz, für politische Freiheit und Einheit des gemeinsamen Vaterlandes zu wirken und namentlich die kommende Generation für entschlossenen Sinn heranzubilden. Dafür mit allen Kräften einzustehen wurden die Neuaufgenommenen verpflichtet und ein Erkennungszeichen verabredet. Eine Zeit lang galt als solches folgende Frage und Antwort:

„Führte Dich Deine Reise auch wohl einmal auf den Johannisberg?“

„Ja, in den ersten Tagen des Mais. Warst Du auch dort?“

„Ja, am 18. October.“

Einen Zustand herbeizuführen, in welchem das gesammte deutsche Volk durch selbstgewählte Vertreter sich eine Verfassung geben könne, war das Endziel ihrer Bestrebungen; über hundert begabte deutsche Jünglinge, darunter die tüchtigsten Köpfe der Burschenschaft, schlossen sich dieser Richtung, diesem Geheimbunde an. Das Resultat ihrer mehrfachen Zusammenkünfte und Berathungen war, daß der Bundeszweck auf dem Wege der Ueberzeugung erreicht werden solle, durch Rede und Schrift sollten die erkannten Wahrheiten [520] dem Volke mitgetheilt werden, damit es einsehen lerne, daß die Einheit Deutschlands nothwendig und gesetzmäßige Freiheit, durch Constitutionen begründet, durchaus wünschenswerth sei. Die praktische Wirksamkeit des Bundes beschränkte sich daher auf seine Verbreitung und auf Versammlungen zu Besprechung des Bundes. Es fehlte ihnen jedoch an Einsicht, Klarheit, Erfahrung, an Einheit und Kräften. Sie blieben ohne Hülfe von außen, der vermeintliche „Männerbund“ existirte nicht, die Umwälzungen in Italien, Spanien, Portugal fanden ihren Damm. So zerfiel allmählich der Jünglingsbund und würde sich auch formell aufgelöst haben, wenn die weite Entfernung der Theilhaber es ermöglicht hätte. Immerhin hat er in der Geschichte des deutschen Volkes seine Bedeutung. Was jetzt die ganze deutsche Nation als nationales Bedürfniß erkannt hat, was wir zum Theil bereits erlangt haben, zum Theil noch zu erlangen streben, was selbst von den deutschen Fürsten vor zwei Jahren im Römer zu Frankfurt als Nothwendigkeit anerkannt worden ist, die freiheitliche Einigung des ganzen großen Vaterlandes, dies und nichts anderes wollten schon damals jene Jünglinge, und ihre Bestrebungen sind ein Factor gewesen in der Fortentwickelung dieses nationalen Processes.

Der Burgkeller in Jena.
die alte Kneipe der Burschenschaft.

Aber wie wurde von den damaligen Regierungen dies Beginnen der deutschen Jugend angesehen, wie mußten die jungen „Demagogen“ für ihren „Hochverrat“ büßen! A. Ruge, ein Mitglied des Jünglingsbundes, erzählt z. B. in seinen Denkwürdigkeiten: Kurz vor Weihnachten 1823 kamen schlimme Nachrichten von den Verhaftungen mehrerer vertrauter Freunde aus dem Burschenkreise von Halle nach Heidelberg, und Ruge fühlte wohl, daß „der fünfte Act des Dramas gekommen“ und die Gefahr, seine Freiheit zu verlieren, nahe gerückt sei. Obwohl gewarnt, entschloß er sich doch, ruhig auszuharren und Simon’s aufopferndes Anerbieten, mit ihm zu flüchten, abzulehnen. An einem der ersten Tage des Jahres 1824 versammelten sich die Freunde zu einem großen Gelage. Als hätte er eine Ahnung gehabt, daß es sein letzter freier Abend sein solle, geizte Ruge förmlich mit den Minuten und wollte am liebsten gar nicht nach Hause gehen. Endlich gegen Mitternacht brachen sie auf. Ruge öffnete die Thür seines Hauses, suchte Stubenschlüssel und Licht, – da tauchten aus allen Ecken Gestalten auf und ein quiekender Regierungsrath aus Karlsruhe verhaftete den allzu Vertrauensseligen „wegen Hochverraths“. Der Kerker wartete seiner und erst sechs Jahre später sollten die Thüren, die jetzt hinter ihm zuschlugen, sich ihm wieder öffnen!

Der Jünglingsbund war durch Verletzung des Briefgeheimnisses entdeckt worden und die große Mehrzahl seiner Mitglieder, soweit sie sich nicht durch eiligste Flucht in die Schweiz oder über das Meer retteten, wurden als Demagogen verhaftet und auf das Allerhärteste gestraft. Wie sich die Mainzer Commission freute, in Demagogenriecherei wieder machen zu können! wie sich überall die Gerichte beeilten, die edelsten Söhne des Vaterlandes in den Kerker zu werfen! Ein einziges Erkenntniß des Breslauer Oberlandesgerichts allein verurtheilte

1) den Lieutenant (früher Student) Karl Friedrich von der Lanken „wegen Theilnahme an einer verbotenen, das Verbrechen des Hochverraths vorbereitenden geheimen Verbindung und deren Verbreitung“ zu zwölf Jahren Festung,

2) den Hülfslehrer am Bielefelder Gymnasium, H. Chr. Alb. Clemen, zu fünfzehn Jahren Festung,

3) Joh. Heinr. Karl Brandes zu sechs Jahren Festung,

4) Carl Joh. Otto Sigismund von Witter zu fünfzehn Jahren Festung, ebenso

5) den Auscultator von Bonge zu Breslau zu fünfzehn Jahren,

6) den Auscultator A. E. Lange zu Landsberg zu fünfzehn Jahren,

7) den Auscultator Kaspari zu Groß-Salza zu dreizehn Jahren,

8) August Friedr. Gottlieb Pötsch zu acht Jahren,

9) Ernst Ferdinand Hagemeister zu acht Jahren,

10) den Rector Schütte zu Herdecke zu fünfzehn Jahren,

11) Georg Arnold Rump zu fünfzehn Jahren, ebenso

12) Arnold Ruge zu fünfzehn Jahren Festung,

13) F. W. L. D. Landfehrmann zu dreizehn Jahren,

14) H. Th. R. E. Ledebur zu fünfzehn Jahren,

15) F. W. Lehmann zu zehn Jahren,

16) Wilh. Ernenputsch zu elf Jahren,

17) Hermann Ascan Demme zu neun Jahren Festung,

18) von Viebahn „wegen dringenden Verdachts, die Existenz dieser Verbindung wohl gekannt, ohne aber hiervon der Behörde Anzeige gemacht zu haben“ (!!), zu „außerordentlichem“ zweijährigen Festungsarrest,

19) A. L. Chr. Gabert zu fünfzehn Jahren Festung, ebenso

20) Moritz Großler zu fünfzehn Jahren,

21) C. Aug. Springer zu fünfzehn Jahren,

22) G. A. Wislicenus zu zwölf Jahren,

23) F. W. H. Pirschner zu vierzehn Jahren,

24) C. F. Bercht zu vierzehn Jahren,

25) E. P. Schliemann zu dreizehn Jahren,

26) R. W. Th. Quinke zu acht Jahren und

27) A. F. Huhold zu neun Jahren Festung,

überdies auch zu Dienstentsetzung, Unfähigkeit zu allen öffentlichen Aemtern, Verlust des Rechts zur Tragung der preußischen Nationalcocarde und der Denkmünze für Nichtcombattanten aus dem Jahre 1815. So brachen ehemalige Landsmannschafter als nunmehrige preußische Richter, gehorsam den Befehlen ihrer Regierung, den Stab über edle deutsche Jünglinge, ohne das patriotische Streben derselben zu verstehen, ohne zu begreifen, wie schwer sie selbst sich gegen das Recht und die Geschichte des deutschen Volkes vergingen. Natürlich richteten sich die hochnothpeinlichen Untersuchungen auch gegen die Mitgliedschaft bei der geheimen Burschenschaft, der bloße Verdacht burschenschaftlicher Gesinnung genügte, um zum Gefängniß, zur Festung geführt zu werden. Wahrlich, die Schamröthe steigt Einem in das Gesicht, wenn man die Blätter der Geschichte deutscher Demagogenriecherei liest!

Von Neuem beschloß im Jahre 1824 die deutsche Bundesversammlung Auflösung der Burschenschaft, von Neuem aber schuf der unverwüstliche burschenschaftliche Sinn der akademischen Jugend sowohl in Jena (wo von 1823 an der altehrwürdige Burgkeller zum Burschenhause diente), als auch in Leipzig, Halle, Erlangen, Würzburg, Heidelberg, Göttingen, Marburg, Gießen etc. geheime burschenschaftliche Verbindungen und vereinigte sie sogar im Jahre 1828 zu einer neuen allgemeinen deutschen Burschenschaft, welche als Endziel die Einheit Deutschlands bezeichnete und als ihre Tendenz aussprach, daß sie „die Vorbereitung zur Herbeiführung eines [521] frei und gerecht geordneten und in Volkseinheit bestehenden Staatslebens in dem Volk, mittels sittlicher, wissenschaftlicher und körperlicher Ausbildung auf der Hochschule“ bezwecke. Es war in diesen Kreisen, wie ein Glied derselben später (in der A. Z.) treffend bemerkte, ein heiteres, ein prächtiges Leben. „Wie platzten in den Fuchskränzchen, in den Verbindungskränzchen, in den allgemeinen Versammlungen, die Geister aufeinander, welche Gegensätze kamen zu Tage, wie offen und muthig sprach diese Jugend aus, was sie auf dem Herzen und auf der Zunge hatte! Es ist wahr, in unsern Staaten, die wir bildeten und die in innigstem Trutz- und Schutzbündniß standen, im Kaiserthum Zwätzen, in der Republik Ziegenhain, in den Herzogthümern Ammerbach und Wöllnitz, thaten wir nach altgermanischer Art den Lanzen, Aebten, Birkenmeiern und Stübchen die gebührende Ehre an, aber wir lagen auch den Studien ob und waren fleißig. Und so ist es gekommen, daß aus dieser Jenaischen Burschenschaft eine verhältnißmäßig große Anzahl von tüchtigen Männern hervorging, welche einflußreiche Aemter bekleiden, sich im deutschen Parlamente, in Landesvertretungen, in Cabineten, auf dem Richterstuhl, auf der Kanzel und als Gelehrte ausgezeichnet haben. Namentlich im Jahre 1830 war eine Fülle von bedeutenden Köpfen und charakteristischen Leuten auf dem Burgkeller, wie sie in solcher Weise sich wohl nicht leicht wieder zusammenfinden.“


(Den Schluß, Nr. III, dieses Artikels lassen wir nach dem Burschenschafts-Jubiläumsfeste folgen, um dem Ganzen einen abgerundeten Abschluß zu geben.)


Der heilige Herr.“

Ein geheimnißvoller Glaubensfürst.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, unter der Regierung des Fürsten Wolfgang Ernst des Zweiten von Isenburg-Birstein, begann sich die jetzt zum Großherzogthum Hessen gehörige Stadt Offenbach zu einer Fabrikstadt aufzuschwingen, deren gewerbliche Production, durch die Nähe von Frankfurt begünstigt, eine immer größere Bedeutung erlangte und deren Erzeugnisse nach allen Richtungen hin Absatzwege fanden. Durch den reichen Fabrikenbesitzer Nicolaus Conrad, einen eifrigen Beschützer der Wissenschaften und Künste, namentlich der Musik – er unterhielt z. E. eine Kapelle, die jährlich vierzigtausend Gulden kostete – kam Leben und Genuß in das unbedeutende Städtchen, die Hauptstadt des Fürstenthums, und viele bedeutende Fremde ließen sich dort nieder.

Unter ihnen war die Geliebte Goethe’s, die reiche Banquierstochter Lili Schönemann aus Frankfurt, die sich nachmals an den Banquier Baron Türkheim in Straßburg verheirathete. Ebenso hatten Frau Sophie la Roche und ihre Enkelin Bettina Brentano, nachherige Frau von Arnim, damals ihren Wohnsitz in Offenbach. Man sieht also, wie Kunst und Poesie damals in Offenbach zur Verschönerung des Lebens in geschwisterlichem Vereine gestanden haben und wie dem Fürsten Wolfgang Ernst dem Zweiten, der sich nachmals dem aufsteigenden Gestirne Napoleon’s des Ersten mit Begeisterung zuwendete, das Verdienst gebührt, Gewerbfleiß und Kunst in Offenbach beschützt zu haben.

Unter den Fremden jener Zeit ist wohl Niemand merkwürdiger geworden, als ein geheimnißvoller hebräischer Heiliger, das Haupt einer jüdisch-christlichen Secte, den sein Anhang für den verkörperten Gott und für unsterblich hielt und dem die Secte mit der größten Ehrfurcht ergeben war. Man nannte ihn gewöhnlich den Polakenfürst Frank, weil man aus seinem kolossalen Aufwand auf eine fürstliche Herkunft schloß. Allein weder der Name „Frank“, noch die Vorstellung von seiner fürstlichen Würde sind richtig. Es verhält sich damit ganz anders. Der Polakenfürst, ursprünglich ein polnischer Jude Namens Dobrusky, wurde im Jahre 1712 unter der Regierung August des Starken geboren. In seiner Jugend betrieb er die Branntweinbrennerei, welche in Polen ein Haupterwerbszweig ist und dort Arrenda genannt wird, daher diejenigen, welche von polnischen Starosten den Pacht von Branntweinbrennereien nebst dem Ausschankrecht dieses Getränks erstanden, den Namen Arrendatoren erhielten.

Früh regte sich in Dobrusky ein unwiderstehlicher Hang zur religiösen Speculation und Mystik, wozu ihm die Sagen und Legenden aus der grauen jüdischen Vorzeit, welche als Ueberlieferung sich erhalten haben, ein reichliches Material darboten. Er brütete über den Urkunden des Judenthums, den fünf Büchern Mose, welche die Thora (das Gesetz) genannt werden, und vertiefte sich in den Geist der Propheten. Auch beschäftigte er sich mit dem Talmud, welcher die Auslegung des Gesetzes durch die jüdischen Theologen enthält, und glaubte gefunden zu haben, daß diese Auslegung zu starr an dem Buchstaben klebe und den höheren Geist verloren habe. So kam er auf die Geheimlehre der Kabbala, welche neben der Thora als eine uralte Tradition fortbesteht und außer den überlieferten Sagen und Legenden auch uralte, von Gott seinen Auserwählten unmittelbar eingegebene Deutungen des Gesetzes enthalten soll. Das geschriebene Gesetz (die Thora), lehrt die Kabbala, sei nur die äußere Hülle, gleichsam der Schleier, unter welchem höhere Offenbarungen Gottes verborgen lägen. Nur der könne den Schlüssel dazu finden, welcher unmittelbar von Gott erleuchtet sei. Diese höheren Offenbarungen seien schon früher dagewesen, als die Gesetzgebung auf dem Berge Sinai. Sie seien schon dem ersten Menschen Adam, dann dem Patriarchen Abraham als Stammvater der Juden, auch Mose selbst und dem Wiederhersteller des Gesetzes, Esra, welcher um 480 vor Christi lebte, zu Theil geworden und wären auf den auserwählten Kreis der Erleuchteten vererbt worden.

Alt ist die Kabbala allerdings, aber sie enthält keine unverfälschte und lautere Ueberlieferung und hat vielmehr in Folge des Aufenthalts der Juden in Aegypten und im babylonischen Exil vielerlei fremde Zuthaten aufgenommen. Daher finden sich in ihr viele Anklänge der ägyptischen Mysterien und Hieroglyphen, babylonische Sprachfiguren und griechische Philosopheme deutlich abgespiegelt, und gerade dies giebt ihr etwas Geheimnißvolles, welches phantasiereiche Menschen anzieht.

Unter den jüdischen Gelehrten und Schriftstellern, die als Kabbalisten bekannt geworden sind, nimmt Einer den ersten Rang ein. Dieser Mann ist der Rabbi R. Simon Ben Jochai, der im dreizehnten Jahrhundert gelebt hat. Er hat ein Buch unter dem Titel „Sohar“ (Glanz) geschrieben, in dem alle überlieferten kabbalistischen Lehren zusammengetragen sind. Dieser Sohar ist die eigentliche Bibel der Kabbalisten geworden und handelt von dem göttlichen Wesen, seinen verborgenen Eigenschaften, seinen verschiedenen Namen und seinen Einwirkungen auf die Welt. Namentlich wird im Sohar betont, daß Gott schon mehrmals auf Erden in Menschengestalt erschienen sei, gegessen, getrunken habe etc. Um aber dem Einwand zu begegnen, daß Gott bei seinem Eingeschlossensein in einem menschlichen Körper außerhalb desselben nicht existiren könne, stellt der Sohar die Lehre von den drei Parzusim (Gestaltungen) auf, nach welcher Gottes Wesen aus drei Persönlichkeiten bestehe, von denen zwei in der Welt verkörpert leben könnten, ohne die Einheit Gottes aufzuheben.

Die Kabbalisten erkannten in dem Buche Sohar ihre eigentliche Glaubensquelle und es bildete sich unter den Juden in Polen, Mähren, Böhmen, Ungarn bis in die Türkei hinein eine Secte, die sich den Namen Sohariten beilegte und von den übrigen Juden, da sie den Talmud als die buchstäbliche Erklärung verwarf und im Worte einen tieferen Sinn suchte, angefeindet wurde. Auch hatte diese Secte das Eigenthümliche, daß sie an zwei Messias glaubte, einen aus dem Stamme Joseph’s, der aber getödtet worden und unter dem sie vermuthlich Jesum Christum verstand, und einen aus dem Stamme David’s (?), der die durch Jerobeam getrennten Stämme von Juda und Israel wieder vereinigen würde.

Für diesen zweiten Messias galt bei der weitverbreiteten Secte ein Mann, der Sabbathai Zewy hieß und im Jahre 1625 in Smyrna, also im türkischen Reich, geboren wurde. Dieser phantasiereiche und unternehmende Kopf, der schon in seiner Jugend hervorragende Talente verrathen und sich in den Sobar eingelebt hatte, stand bei der Secte im ganzen türkischen Reiche im höchsten Ansehen und bezeichnete sich in seinen Ausschreiben förmlich als den Gesalbten des Gottes Jakob’s, als den erwarteten Messias, indem er zugleich verhieß, „daß sein Reich bald offenbar werden, die Krone vom Haupte des Sultans fallen und ihm aufgesetzt werden würde.“ Jedoch konnte er wegen heftiger Verfolgungen, die sich [522] wider ihn erhoben, seine Messiasrolle nicht ausspielen. Er mußte sogar den mohammedanischen Glauben annehmen, wurde aber dennoch auf Befehl des Sultans am 10. Septbr. 1676 umgebracht.

Allein die Secte bestand fort und an ihre Spitze trat jetzt der Mann, von dem wir erzählen wollen, welcher die letzte Zeit seines Lebens als sogenannter Polakenfürst in Offenbach zugebracht und dort sein Grab gefunden hat. Auch er hatte mit dem vollen Feuer seiner schwärmerischen Seele sich in den Tiefsinn des Buches Sohar versenkt und glaubte im Besitz aller Weisheit zu sein. Er hielt sich eine Zeitlang als Arrendator (Branntweinbrenner) in der Krim und in den angrenzenden türkischen Provinzen auf, und weil die Türken alle Fremden, besonders die aus dem Abendlande, Franken nennen, so ließ er, als Zeichen seiner Verwandlung, seinen Familiennamen Dobrusky fallen und nannte sich von jetzt an Frank, legte sich auch zugleich den Vornamen Jakob bei, um damit anzudeuten, daß der Patriarch Jakob, der weiland die Himmelsleiter im Traume gesehen, der Held Gottes genannt Israel, von dem alle seine Nachkommen den Hamen Israeliten führen, in ihm wiedererstanden sei. So wollen wir denn auch diesen Namen Jakob Frank beibehalten, weil er sich in seinen Ausschreiben selbst so unterzeichnet hat.

Aus diesen türkischen Provinzen kam er mit dem Rufe eines Kabbalisten zurück und ließ sich darauf in Podolien nieder, dem Lande sehr zahlreicher jüdischer Arrendatoren (Branntweinbrenner und Schenkwirthe), welches damals noch zu Polen gehörte, nach der unheilvollen Theilung dieses Reiches aber an Rußland kam. Hier trat er an die Spitze derjenigen Secte, welche der vorhin erwähnte falsche Messias Sabbathai Zewy durch seinen Uebergang zum Islam aufgegeben hatte, und erlangte durch das Ansehen, welches er sich beizulegen wußte, durch Kühnheit und Beredsamkeit und durch ein geheimnißvolles, imponirendes Wesen einen großen Anhang unter den polnischen Juden. Statt des falschen war jetzt der wahre Messias erstanden und als solcher anerkannt von den vorzüglichsten Rabbinen, sowie von sämmtlichen Mitgliedern der Gemeinden in Landskron, Busk, Ostrau, Opotschnia, Kribtschin u. A. Von diesen erhielt „der heilige Herr“, wie er genannt wurde, bedeutende Geldopfer, die sich späterhin durch Vermehrung der Secte kolossal steigerten, weil man glaubte, was man dem heiligen Herrn spende, vertrete die Stelle der Tempelopfer.

Nun that Frank den entscheidenden Schritt, daß er von Podolien aus in hebräischer Sprache ein Rundschreiben an alle Sohariten der verschiedenen Länder erließ, in dem er seine kabbalistischen Lehren vortrug, sich als Inhaber geheimer Weisheit bezeichnete, als Haupt der Sohariten und als Messias ankündigte. Von dieser Zeit an hat sich der Glaube in seinem Anhang verbreitet, daß er der verkörperte Gott sei, welcher aus der Urquelle geheimer Weisheit schöpfe.

Allein diese Richtung des „heiligen Herrn“ (Frank) erregte denn doch auch den Neid und die Eifersucht der Rabbinen, welche die Gültigkeit des Talmud und somit das formgerechte und buchstabengläubige Judenthum in Gefahr erblickten. Diese veranlaßten heftige Verfolgungen gegen Frank und seine Secte, die sie für abtrünnige Juden erklärten, und wußten es bei den polnischen Regierungsbehörden dahin zu bringen, daß Frank und verschiedene Leute aus seinem Anhang, als sie einst eine Wallfahrtsreise über die polnische Grenze hinaus in das türkische Gebiet nach Saloniki (das ehemalige Thessalonich in der Provinz Macedonien) machten, wo die Soharitensecte bedeutende Niederlassungen und Hülfsquellen hatte, an der Grenze als angebliche Emigranten aufgefangen und zur Haft gebracht wurden. In dieser Bedrängniß fand Frank, dem es weder an Klugheit und Beredsamkeit, noch an Muth fehlte, den Weg der Hülfe. Er stand nämlich bei dem katholischen Bischof von Podolien, welcher in der Hauptstadt Kamenetz-Podolsk residirte und der in der Richtung Frank’s eine Hinneigung zum Christenthum zu erblicken vermeinte, als philosophischer Jude, welcher die Fesseln des Buchstabens abgeschüttelt hatte, in besonderem Ansehen. Durch die Vermittlung des einflußreichen Bischofs wurde nicht allein die Haft aufgehoben, sondern es wurde auch die polnische Regierung vermocht, der Secte unter dem Namen „Sohariten“ einen königlichen Schutzbrief auszufertigen, wodurch sie eine staatliche Anerkennung erhielt.

Als indeß der Bischof von Kamenetz-Podolsk starb und die talmudischen Gegner das Uebergewicht erlangten, verschlimmerte sich die Lage der Sohariten. Die Folge war, daß sich die Secte in Podolien nicht mehr halten konnte und ein großer Theil derselben sich entschloß, mit Frank an der Spitze nach der Moldau auszuwandern, die damals unter der Oberlehnsherrlichkeit der türkischen Pforte von eigenen Hospodaren regiert wurde. Dort hoffte die Secte sich freier bewegen zu können und siedelte sich in und um Chozim (Chocz) an. Allein auch hier bewährten die rechtgläubigen Juden ihren Haß und zeigten den Behörden an, daß die Einwanderer zur ordentlichen Judenschaft nicht zählen können und auch von dem Chacham Baschi (dem Oberrabbiner von Constantinopel) nicht dafür angesehen, noch bei der hohen Pforte vertreten werden würden. Auch hetzten sie die Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten auf, bei denen die Sectirer meistentheils ausgeplündert wurden. In dieser kritischen Lage entschlossen sie sich, zur katholischen Kirche überzutreten, um Ruhe, Schutz und Sicherheit zu finden. Auch hier war Frank der oberste Führer, und der Uebertritt erfolgte auch wirklich. Er selbst und seine drei Kinder Rochus, Joseph und Eva, welche vorher als Jüdin Rachel hieß, nahmen nebst vielen Sectirern die Taufe nach katholischem Ritus an. Dieser Uebertritt war jedoch nur eine äußerliche Form, ein Act der Nothwendigkeit zu eigener Sicherstellung. Innerlich blieben die Sohariten, was sie gewesen waren.

Bald entdeckte man, daß sie geheime Zusammenkünfte hielten und eigenthümliche Gebräuche nach kabbalistischen Vorschriften beobachteten. Es zeigte sich ferner, daß sie nicht den katholischen Erzbischof von Jassy als das Haupt der Diöcese anerkannten, sondern vielmehr dem heiligen Herrn (Frank) mit der unbedingtesten Ehrfurcht ergeben waren. Die Secte bestand also nach wie vor fort und wurde einer beschimpfenden Strafe unterworfen. Man schor den Sohariten nämlich den Bart auf einer Seite bis zum Kinn, ließ aber die andere Hälfte stehen, zum Zeichen, daß sie weder Christen noch Juden seien. Diese Strafe war von sehr empfindlicher Art, weil die Juden in jenen Landstrichen einen langgewachsenen Bart für ein Heiligthum und für ein Zeichen ihrer Würde und Nationalität ansahen. Diejenigen, welche als die eifrigsten Sectirer erkannt wurden, schickte man zum Festungsbau. Dieses Loos traf vornehmlich den Gott und Hohenpriester Israels Frank mit besonderer Strenge, weil man ermittelt hatte, daß er als Agitator fortwährend thätig war, neue Proselyten für die Secte zu werben, und weil er dazu förmliche Agenten ausgesendet hatte. Er wurde daher auf die im polnischen Gebiet gelegene Festung Czenstochow gebracht, wo der heilige Herr mit Ketten an den Füßen innerhalb des Wallringes zur Erbauung von Redouten im Schanzkarren gehen mußte. Diese schwere Festungsarbeit währte einige Jahre. Trotzdem blieben sein Muth und seine Standhaftigkeit ungebrochen, und sein Glaube an sich selbst gewann eine noch höhere Spannkraft. Gerade der Umstand, daß er diese schwere Haft erleiden mußte, vermehrte seinen Anhang und ließ ihn als göttlichen Dulder für die heilige Geheimlehre erscheinen.

Die politischen Ereignisse in Polen führten endlich seine Befreiung herbei. Von den verfolgten Dissidenten, Lutheranern, Reformirten, Griechen und Armeniern gerufen, marschirten 1771 die Russen ein und besetzten auch die Festung Czenstochow. Da sie in der Maske von Vertheidigern der Glaubensfreiheit erschienen, so setzten sie Frank auf freien Fuß. Ohne durch die ausgestandenen Leiden gelähmt worden zu sein, fuhr er fort, als unermüdlicher Agitator Proselyten zu werben und seinen Anhang zu vermehren, zu welchem Zweck er Polen, Böhmen, Mähren und die angrenzenden Länder durchreiste, überall mit offenen Armen aufgenommen und mit sehr bedeutenden Geldsummen unterstützt wurde. Bei diesen Wanderungen hatte er Oesterreich kennen lernen und war zu der Ueberzeugung gekommen, daß er nirgends größere Sicherheit finden werde, als unter der Regierung der gutmüthigen und frommen Maria Theresia. Wirklich siedelte er im Jahre 1778 mit einem großen und prachtvollen Gefolge, welches aus getauften Juden beiderlei Geschlechts bestand, nach Wien über. Anfangs ließ ihn der Staatskanzler Fürst Kaunitz ruhig gewähren. Als man aber bemerkte, daß die Secte, obgleich äußerlich dem Katholicismus zugethan, doch in ihrem innersten Wesen eine andere Richtung hatte, kein anderes kirchliches Oberhaupt verehrte, als nur den heiligen Herrn (Frank), den zweiten Patriarchen Jakob, den in Menschengestalt eingekleideten Gott; als man wahrnahm, daß derselbe eine Hofhaltung unterhielt, wie sie kein orientalischer Fürst glänzender haben konnte, ohne sich erklären zu können, aus welcher Quelle die Summen dazu flössen: so fing man allmählich an [523] zu glauben, daß er ein religiöser Schwindler sei, der durch den Zauber seines Wortes die Seckel seiner Gläubigen zu öffnen verstehe, wie Petrus den Himmel. In der That hat Niemand den Reiz des Geheimnißvollen und den Glauben an das Miraculöse seiner Erscheinung, seiner Lehren und Gebräuche besser zu unterhalten und zu fördern gewußt, als Frank.

So viel man von ihm erfuhr, ging seine Tendenz dahin, das Judenthum mit dem Christenthum zu einer neuen Religionsform zusammenzuschmelzen, welche Frank die edomitische nannte. Daher wollen wir die Secte von nun an Edomiter nennen. Auch enthielten alle Ausschreiben Frank’s den Satz, daß Alle, die von Abraham, Isaak und Jakob abstammen, verpflichtet seien, durch die Taufe zur heiligen Religion Edom’s überzugehen, weil sie nur auf diesem Wege den Segen erben könnten, den der Prophet Jesaias verheißen habe. Wie aber die inneren Lehren und Gebräuche dieser edomitischen Secte beschaffen waren, das hat Niemand im Publicum erfahren können.

Fortwährend hatte Frank seine Agenten in Polen und den angrenzenden Ländern, wo die Juden sehr zahlreich sind, um seine Anhänger zu vermehren und Gottesopfer als freiwillige Gaben an den heiligen Edomiterhof einzuliefern. So wurden Fässer voll Geld unter der Escorte von Frank’s eigenen Leibgardisten, deren er eine beträchtliche Zahl unterhielt, an seinen Hof gebracht und zwar so reichlich, daß er eine ungemessene Wohlthätigkeit ausüben konnte. Allein da die katholische Kirche bei ihrem abgeschlossenen Glaubenssystem Secten nicht wohl aufkommen läßt, so konnten die Edomiter sich nicht länger halten, und Frank war daher genöthigt, sich nach einem anderen Wohnsitz umzusehen. Er entschied sich für Brünn, weil er sich dort mehr im Mittelpunkte der weitverbreiteten Secte befand und von hier aus alle Sectenmitglieder in den umliegenden Ländern leiten konnte.

Als er nach Brünn übergesiedelt war, strömten ihm die Gelder nicht blos in höherem Maße zu, sondern es fanden sich auch schöne junge Juden beiderlei Geschlechts bei ihm ein, deren Zahl sich oft auf mehrere Hunderte belief. Das waren förmliche Wallfahrten zur Quelle des Heils, und diese Alle zehrten von den ungeheuren Gottesopfern, die dem heiligen Herrn zur Verfügung gestellt wurden. Nirgends war seine Hofhaltung so prächtig, wie in Brünn. Er hatte eine Anzahl von berittenen Leibgardisten, aus getauften Juden bestehend und meist über siebenzig Mann stark. Das übrige Personal dieses hohepriesterlichen Hofes vom ersten Secretair an bis zu den Stallknechten war nicht minder beträchtlich. Es war der orientalische Hof des verkörperten Gottes Israel. Ebenso prachtvoll war die Carosse, in der er ausfuhr, bespannt mit vier stolzen Rossen, die von einem reichgalonnirten Leibkutscher in russischgrüner Uniform gelenkt wurden. Immer umgaben den Wagen zwölf seiner Leibhusaren mit langen Piken, deren Spitzen mit vergoldeten Adlern, Hirschen, Sonne und Mond verziert waren, die symbolische Zeichen für die Edomiter zu sein schienen.

In dieser Carosse, die mit einem Glasverdeck sorgfältig geschlossen war, weil der Herr von der profanen Welt nicht gesehen sein wollte, fuhr er jeden Nachmittag in das freie Feld an einen bestimmten Platz, um zu beten. Vor der Carosse erschienen zwei Leibhusaren, die übrigen Leibgardisten ritten zur rechten und linken Seite des Wagens, und hinter der Carosse folgte ein Reiter auf stolzem, mit vielen Schellen behangenem Rosse, der einen mit Wasser gefüllten und am Ende mit einer Art von Gießkanne versehenen Schlauch mit sich führte. Am bestimmten Orte wurde ein prächtiger Teppich auf die Erde gebreitet, worauf der heilige Herr nicht stehend oder knieend betete, sondern sich nach orientalischer Weise der Länge nach, das Angesicht der Erde zugekehrt, niederstreckte. Im tiefsten Schweigen standen die Leibgardisten in einiger Entfernung. Wenn Frank sich erhob und der Teppich weggenommen wurde, kam der Reiter mit dem Wasserschlauch und begoß die Stelle. Was aber diese Begießung, welche einige Aehnlichkeit mit dem Gesetz der jüdischen Abwaschungen hat, im Sinne der Edomiter bedeuten sollte, hat Niemand ermitteln können.

Seine eigene Kleidung ähnelte der polnischen Nationaltracht der Juden. Er trug eine runde Mütze von hochrother Seide ohne Schild, die er nie, auch im Gebete nicht, abnahm. Vermuthlich folgte er der Sitte seines Volkes, sich das Haar auf dem Scheitel abscheeren und es auf den Seiten in Büscheln herabhängen zu lassen. Diese Locken an den Schläfen des Gottes Edom waren später weiß geworden, ebenso auch sein langgewachsener Bart, der vom Kinn bis auf die Brust herabfiel. Der Rock, welchen er gewöhnlich trug, war ebenfalls von rother Seide, reichte bis auf die Knöchel herunter, war hinten am Schooße nicht aufgeschlitzt und vorn vom Gürtel bis zum Halse nicht mit Knöpfen versehen, sondern zugeheftet. Dieser rothe Seidenrock war auch oft mit Pelz verbrämt und gefüttert. Was seine Persönlichkeit betrifft, so war die Form seines Gesichtes länglich-oval, seine Farbe fahl, aber seine Blicke hatten fast einen drohenden und gebietenden Ausdruck, wie die des Donnergottes Zeus. In seiner Haltung hatte er etwas, das Ehrfurcht einflößte. Dazu mochte auch viel beitragen, daß er in olympischer Abgeschiedenheit lebte und der profanen Welt ganz unzugänglich blieb, sich niemals auf offener Straße oder auf Promenaden sehen ließ und im Inneren seiner Gemächer sich mit der Leitung der gläubigen Edomiterheerde in den verschiedenen Ländern beschäftigte.

(Schluß folgt.)




Die Heimath der feinen Handstickerei.

Vor hundert Jahren noch kreiste der Lämmergeier über den Kämmen des Säntisstockes[1] und pfiffen die Murmelthiere zahlreich in den steilen Halden, welche die Meglisalp umsäumen; sie sind den Verfolgungen erlegen und mehr nach dem Innern der Centralalpen zurückgedrängt. Dafür hausen häufige Gemsenrudel in allen Theilen des Gebirgsstockes. Vor wenigen Jahren noch zählten wir am Hühnerberg einundzwanzig Stück in einem Weidgang, und dieser Tage jagte man selbst in den Vorbergen der Solalp einen Prachtbock auf. Die flüchtigen Thiere werden nicht häufig und nicht mit besonderem Geschick und Glück verfolgt. [524] Kaum, daß im Jahre ein Dutzend Stücke in Abschuß kommt, während der Zuwachs das Drei- und Vierfache betragen mag. Die Gehänge sind theilweise zu schwer zugänglich und bieten zugleich nach zu vielen Seiten hin bequeme Ausflucht, um die Jagd ausgiebig zu machen. Die zur Winterzeit silberweißen Schneehasen finden sich im obern Gebirge nicht häufig, zahlreicher im angelehnten Mittelgebirge bis gegen die Thäler hin, werden aber auch nicht häufig erbeutet. Bis zu den höchsten Gipfeln lebt das Schneehuhn in kleinen Ketten, während die prächtigen rothfüßigen Steinhühner (Pernisen), obwohl weit schöner als jene, auch in den Felsen und auf den Grasbändern der untern Berge zu finden sind. In allen Bergwäldern balzt im Frühjahr der Birkhahn und läßt sein sonores Kollern von Alp zu Alp ertönen; der herrliche Auerhahn ist überall seltener geworden; das schöne Haselhuhn, die Krone alles Wildgeflügels, erscheint fast überall in den gemischten Waldungen, wird aber nicht zahlreich erlegt. Der schimmernd gefärbte Alpenmauerläufer klettert unablässig an den Felswänden; die Schneefinken finden wir selten und zufällig, zur Winterszeit in ansehnlichen Flügen, während der zutrauliche Alpenflühvogel auf keiner Weide fehlt. Nur ein Alpenwald beherbergt den seltenen, gelbgescheitelten Dreizeherspecht in spärlichen Exemplaren; die nimmermüden Ringdrosseln aber erfüllen im Frühling schon vor Sonnenaufgang alle obern und mittlern Fichtenschläge mit ihrem weithinschallenden Geschmetter. Der König aller Alpenvögel, der kühne Steinadler („Berggyr“) hat wohl kein Dutzend Horste im ganzen Gebirgsstock und wird am seltensten erbeutet. Ein Horst ob dem Säntissee wird fast alljährlich der Jungen beraubt, ohne von den Alten aufgegeben zu werden. Unter den weißen und braunen Hasen und allen Hühnerarten richten diese Capitalräuber große Verwüstungen an und stoßen selbst auf ziemlich große Ziegen und Schafe. Die großen Raubthiere haben schon seit Beginn dieses Jahrhunderts unser Gebirge verlassen; in ältern Zeiten fehlte es weder an Luchsen noch Wölfen und Bären, und in der vorhistorischen Periode waren die kolossalen Höhlenbären hier zu Hause, die in der großen Höhle neben der Felseneinsiedelei des Wildkirchli’s ihre Knochen zahlreich zurückgelassen haben.

Gewiß, – ein interessantes Stück Alpenwelt, auf Vorposten gestellt; aber noch weit anziehender, als in seiner großartig malerischen Gebirgsbildung und seiner reichen Thier- und Pflanzenwelt, durch die so ganz verschiedenartig gestalteten, in sich abgeschlossenen Bevölkerungsfamilien, die sich rings am Fuße des Säntisstockes angesiedelt haben. Es ist als ob die Manigfaltigkeit der Naturbildungen sich in der Verschiedenartigkeit der menschlichen Cultur mit all ihren Contrasten abspiegle.

Im eigentlichen Schooße dieses Gebirges treffen wir gar keine ständigen menschlichen Bewohner. Kein Dörfchen, nicht einmal ein nennenswerther Weiler findet in der obern Bergregion hier die Bedingungen eines behaglichen Daseins, während doch das südliche Centralgebirge, namentlich im rhätischen Lande, noch Dörfer und Weiler in einer Meereshöhe zählt, die bis an tausend Fuß zum Säntisgipfel hinanreicht. Ringsum stehen hier die Dörfer am Fuße der Vorberge und Ausläufer, und nur die Sennen dehnen ihre sömmerlichen Streifzüge über alle Flanken hin bis in den Schooß des Gebirgsstockes aus.

Unter diesen Anwohnern des Säntis unterscheiden wir deutlich vier verschiedene Volksfamilien mit ausgesprochenem Culturcharakter.

Längs der ganzen Ostkette wohnen die Rheinthaler tief am Fuße derselben, echte Tiefthalleute. Ihr Gelände, ein reicher, theilweise noch nicht entwässerter Alluvialboden, wird vom Vater Rhein bespült und gelegentlich auch überfluthet, und die Eisenbahn vom Bodenseegestade her durchzieht es seiner ganzen Länge nach bis zur Pforte der rhätischen Alpen, immer noch harrend der Fortsetzung über und durch diese nach dem sonnigern Wälschland. Wir haben also hier ein vorgeschrittenes Culturvölklein, aber doch noch wesentlich agricoler Art. Auf reichem Ackerboden baut es seinen Mais, sein Getreide und seine Kartoffeln, und an den sonnigen Halden, in denen der Bergzug im Tiefthale aufsteht, zieht es seinen würzigen und feinen Rothwein in Fülle. Die Gemeinden und Corporationen sind reich an Grundbesitz, die Einzelnen durchschnittlich ziemlich wohlhabend; die Industrie tritt sporadisch auf, Handel und Wandel bezieht sich wesentlich auf Naturproducte und Bedürfnisse des täglichen Lebens; in den Rheinufergemeinden lockt der verführerische Schmuggel Viele auf gefährliche Pfade. Die confessionell gemischte Bevölkerung ist intelligent, im Besitze ziemlich guter Schulen, aber, wie das häufig bei gutem Klima und Boden der Fall ist, ohne allzugroße Rührigkeit.

Die zweite Gruppe, am Südfuße des Gebirgsstockes, bewohnt das ganze Hochthal der Thur, den obersten Theil des „Toggenburgs,“ zwischen dem Säntisstock und der Churfirstenkette. Es ist ein vorwiegend protestantisches Hirtenvölklein, alten Sitten und Gebräuchen zugethan, in rauhen Höhen dem kargen Boden mühsam des Lebens Nothdurft abgewinnend. Das oberste, freundliche Dörflein Wildhaus liegt dreitausend vierhundert Fuß über dem Meere; es ist der Geburtsort des großen Schweizerreformators Ulrich Zwingli, in dessen Charakter sich die echte Toggenburgerart, der verständige praktische Blick, die rührige Energie, die einfache Sitte, das ernste, fromme Gemüth seiner Landsleute so treu widerspiegelt. Das Völklein ist nicht wohlhabend, aber ohne allzugroße


[525] Bedürfnissne, hält große Stücke auf gute Schulen und pflegt mit warmer Vorliebe das Volks- und Kirchenlied, das, von der Hausorgel begleitet, so häufig am Sonntagnachmittag aus den braunen Holzhäuschen ertönt. Viehzucht und Alpwirthschaft bilden seine vorzüglichste Beschäftigung, und etwas Handweberei vermehrt die spärlichen Einnahmsquellen.

An der westlichen Seite des Gebirgsstockes und über dessen hügeliges Vorland zerstreut, finden wir die dritte Gruppe, die Appenzell-Außerrhoder, von verwandter Art, aber doch wieder specifisch von den Obertoggenburgern verschieden. Ebenso intelligent und energisch wie diese, überbieten sie dieselben weit in Rührigkeit und Lebhaftigkeit. Sie sind von der Natur wie jene auf Viehzucht und Alpwirthschaft angewiesen; aber diese würden nur einen kleinen Theil der starken Bevölkerung, die zu den dichtesten auf dem Continent gehört, ausreichend ernähren. Daher haben sie sich, angeregt von der nahen Handelsstadt St. Gallen, mit erstaunlicher Energie und musterhaftem Geschicke auf die Industrie verlegt und leisten Großes in diesem Gebiete. In den frühern Jahrhunderten war es die Leinenindustrie in allen ihren Phasen, welche Tausende von Händen beschäftigte und mit ihren Fabrikaten die Messen von ganz Süddeutschland, Leipzig, Botzen, ja von Beaucaire versah. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an, wo der Linnenhandel in Verfall gerieth, warf sich das Völklein mit gleicher Energie auf die Baumwollenindustrie und die Weiber verstanden es bald, den neuen Stoff so außerordentlich fein zu spinnen, daß eine Spinnerin im Dörflein Stein aus vierzig Loth einen Faden von 833,300 Fuß oder fast sechzig Stunden Länge zog, während das feinste englische Garn es nur auf 630,000 Fuß brachte. Die neue Industrie wurde mit glänzendem Erfolge gepflegt; es entstanden neben der Handweberei, die in jedem Hause betrieben wurde, bald Färbereien, Druckereien, Appreturen und Bleichereien für die Baumwollstoffe und seit 1760 wurde auch die Handstickerei von St. Gallen aus eingeführt. Mit welcher Kunstfertigkeit damals die Weberei betrieben wurde, davon zeugen noch zwei Hemden, ohne Naht gewoben, von denen das eine in Herisau, das andere in England aufbewahrt wird und bei deren kunstvoll ineinander gewirkten Fäden weder Anfang noch Ende zu erkennen ist.


Appenzeller Handstickerinnen.
Nach einer Originalzeichnung von Rittmeyer.


Seither machte Außerrhoden alle Stadien in der Entwickelung der Baumwollenindustrie durch. Vom Cambrik, der Perkale und Indienne wurde zur Mousselinegaze, zum Calico, Tüll und der Jacquardweberei fortgeschritten, und die Handelswege über alle Meere benutzt. Das Völklein verdankt dieser industriellen Thatkraft einen sehr großen durchschnittlichen Wohlstand, in dessen Scala freilich die Bauern, die Spuler und Weber heutzutage auf den untern, die Fabrikanten und Kaufleute auf den obern Stufen stehen. Blühende Dörfer und Flecken von zweitausend bis achttausend Einwohnern und von einer Nettigkeit und Sauberkeit, die jeden Fremden höchlich überrascht, bedecken das wellige Hügelland.

Diese Volksgruppe des Säntisgebiets steht ohne Frage unter allen vieren auf der höchsten Stufe der Cultur; sie schreitet im Guten wie im Schlimmen lebhaft mit der Zeit fort. Sie besitzt ausgebildete und mit Liebe gepflegte politische und ökonomische Gemeinwesen und bringt große Opfer für gute Volksschulen, für Straßen etc. Die Volkstracht haben die Außerrhoder, wie die früher genannten Familien, schon längst abgelegt; ihre Kleidung und ihre hellen, vielfenstrigen Häuser verrathen eine ganz besondere Reinlichkeitsliebe. In ihrem Charakter sind sie gewissermaßen die Nordamerikaner der Schweiz, unternehmend, durch und durch praktisch, auf Gewinn und Verdienst erpicht, ohne Sinn für Kunst (mit Ausnahme des wohl gepflegten Gesanges) und Literatur, dabei [526] aber ziemlich engherzig, oft von beengtem Gesichtskreis, aufgeweckten, fröhlichen Humors, politisch in eidgenössischen Fragen sehr liberal, in innern Cantonal- und Gemeindedingen dagegen stark bezopft, gern mit der Ahnen Großthaten prunkend, aber auch von grosser Heimathsliebe, vielredend, phrasenliebend, dem äußern Scheine zugethan, dabei gemeinnützig, höchst haushälterisch, streng Ordnung haltend, für religiöse und politische Interessen leicht entzündlich und reizbar, sonst verständig, vorsichtig, berechnend. Neben einer bestimmten, strengprotestantischen Kirchlichkeit läuft zwar allerlei Sectenwesen, neben einer gewissen Aufklärung allerlei Aberglauben (Schatzgräberei etc.), neben einer gewissen Bildung mancherlei Rohheit, Trotz und Gewaltthätigkeit her; was aber die Secten betrifft, so müssen sich diese eine so intolerante Behandlung gefallen lassen, wie sonst nirgends in der protestantischen Schweiz.

Auf der Nordseite des Säntisstockes, tiefer in diesen hineingedrängt als die andern Völklein, am Ursprung und im ersten Plateau der Sitter, wohnt die vierte Familie, die katholischen Appenzell-Innenrhoder, gleichen Ursprungs mit den Außerrhodern und doch himmelweit von ihnen verschieden. Sie haben fast nichts mit einander gemein, als die naive, mutterwitzige Art sich auszudrücken, den heitern Humor und die Vorliebe für den Gesang. Allein während die Außerrhoder mit besonderem Eifer und Glück auch den Kunstgesang pflegen, begnügen sich die Innerrhoder mit ihrem Jodel und dem Volkslied.

Im Gegensatze zu jenen sind diese ein einfaches, armes, schlichtes Hirtenvölklein geblieben wie selten anderswo. Nur Wenige sind im Besitze einer höhern Bildung; aber überall findet sich heller Verstand und oft überraschende Fassungskraft. Autodidakten von bedeutendem Talente sind nicht selten, zeigen aber kaum ein Bedürfniß, sich mit der großen Welt in Verkehr zu setzen. Wie die meisten Bergvölker sind sie neugierig, aufs Erzählenhören erpicht, aufgeräumt, genügsam, aber auch wieder genußsüchtig und trotz der gewöhnlichen Sparsamkeit in gewissen liederlichen Zeiten verschwenderisch. Sie sind sehr friedfertig und zutraulich; aber einmal mißtrauisch gemacht, bleiben sie es nachhaltig. Gewohnter, nicht allzu harter Arbeit zugethan, sind sie daneben bequem und behaglich. Nicht gerade gemeinnützig, erweisen sie sich doch in der Nähe herum wohlthätig und gutherzig. Im Haus und Kleid (mit Ausnahme der Sennen) reinlich, nehmen sie es im Stall und am eigenen Körper weniger genau. Nach fremden Schilderungen lüstern, halten sie nur um so zäher an den eigenen alten Gewohnheiten. In kirchlich-religiösen Dingen höchst tolerant, wahren sie doch die Observanz der katholischen Kirche nach allen Seiten und sind zu volksthümlichem Aberglauben jeder Art geneigt. Respectvoll gegen die selbstgewählte „hohe Obrigkeit“, beweisen sie doch stets ein volles Bewußtsein republikanischer Unabhängigkeit, zumal an Landsgemeinden und Markttagen. Dabei treiben sie wenig Politik; zufrieden an ihrem Heerde, beschränken sie sich auf das eigene Glück und Leid, von der übrigen Schweiz, ja von der ganzen Welt nichts verlangend, als daß man sie in Ruhe lasse, ihre Stickereien kaufe und im Sommer ihre Ziegenmolke trinke.

Ein Völkchen, das in Beschäftigung und Besitz so gleichartig ist, in dem es in Vermögen und Bildung keine allzugroßen Abstufungen und Unterschiede giebt, konnte sich in dieser allgemeinen Gleichartigkeit des Charakters lange Zeit behaupten. Selbst die wenigen Reichen und Gebildeten wirkten bisher um so weniger modificirend ein, als sie weder ihren Besitz anders als in der bequemsten Weise benutzen, noch mit ihren Kenntnissen etwa auf Besserung der staatlichen und geselligen Zustände besonders einwirken. Sie benutzen großentheils das Privilegium des Nichtarbeitenmüssens in des Wortes verwegenster Bedeutung und das des Zechendürfens oft mit einer Ausdauer, die einer bessern Sache würdig wäre, denken weder an industrielle Unternehmungen noch an gemeinnützige Schöpfungen, sind zufrieden mit dem urväterlichen Hause, dem angestammten Rathsherrenstuhl und dem Ehrenplatze am Wirthstisch, bleiben im Lande und nähren sich redlich. Auch die Geistlichkeit theilt fast durchweg das allgemeine anmuthige Behagen.

So branden die Strömungen der Zeit kraftlos an des Hochländchens Grenzen. Das Gerathen der Futterernte in „Grund und Grath“, der Gang der Viehpreise berührt sie lebhafter, als alle Krisen des politischen und geselligen Lebens. Luxus ist nicht vorhanden. Die braunen, über alle Hügel gesäten Holzhäuschen mit ihren nach Mittag gekehrten Fensterreihen und niedrigen Stuben, deren beträchtlichsten Theil oft der wohlgegründete, nur in wenigen Sommerwochen erkaltende Ofen einnimmt, sind noch eingerichtet wie vor Jahrhunderten, und Käse, Schotte, Kaffee, Butter sind die Hauptnahrungsmittel geblieben wie ehedem. Auf die Volkstracht dagegen, die mehr bunt, als geschmackvoll ist, und bei der weiblichen Bevölkerung in einem kurzen, reichgefältelten braunen Rocke, farbiger Schürze, buntem Mieder, Silberketten und kleinem Käppchen mit rothem Boden und Band besteht, hat die französische Mode, die selbst noch mächtiger ist, als die französischen Ideen, einigermaßen eingewirkt. Nur die Frauen und Sennen halten die Landestracht noch aufrecht. Die Spiele und Feste des Volkes, seine Lieder, Sprache und Sitten haben sich im Laufe der Jahrhunderte kaum merklich geändert. Leider gilt dies aber auch noch theilweise vom Schul- und Armenwesen und dem ganzen Gange des Staatslebens, in das freilich die jüngste Entwickelung des Schweizerbundes manche Keime gelegt hat, die allmählich zur Umgestaltung der patriarchalischen Zustände führen müssen.

So dünn und genügsam auch die kaum zwölftausend Köpfe starke Bevölkerung Innerrhodens ist, so vermöchte sie doch aus Viehzucht und Alpwirthschaft nicht ihre Existenz zu fristen. Sie griff daher schon vor Jahrhunderten zur Industrie, aber in einer von Außerrhoden ganz abweichenden Weise. Hier sind die Männer ihre Träger, in Innerrhoden sind die Weiber die Industriellen. An beiden Orten wird die Industrie hauptsächlich nicht in besondern Etablissements, sondern im eigenen Hause betrieben, in Außerrhoden im Keller mit dem Webstuhl, in Innerrhoden in der Stube mit dem Stickrahmen. Innerrhoden ist so recht eigentlich die Heimath der kunstvollen Handstickerei, und aus seinen armen Holzhütten gehen die kostbarsten und reizendsten Producte hervor, welche fern draußen die Fürstinnen und die Paläste schmücken, und welche in Paris und im Glashaus des Hydeparks die Bewunderung der Welt gewannen.

Betrachten wir die Organisation dieser Industrie, die gewissermaßen einzig in ihrer Art ist, etwas näher. Es ist gewiß bezeichnend für die Gemächlichkeit der Wohlhabendern und Gebildetern des Landes, daß sie die heimische Betriebsamkeit nicht zu leiten und zu benutzen wissen, sondern dies den Fremden überlassen. Die Handelshäuser St. Gallens und Außerrhodens sind die eigentlichen Träger der Stickereiindustrie. Sie veranlassen und verwerthen dieselbe. Mit der feinsten Aufmerksamkeit verfolgen sie den Gang der Mode und die Entwickelung des Geschmackes, um ihren Dessinateurs die nöthigen Winke zu geben. Diese sind in den betreffenden Häusern angestellt und hoch bezahlt; doch werden auch einzelne Dessins von Paris bezogen.

Die Zeichnungen gelten für Modewaaren, Frauen- und Kindertoilette und Bettlinge, als: Kragen, Taschentücher, Kleider, Hauben und Garnituren aller Art. Die hierzu verwendeten Stoffe sind sehr verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs: feine Mousseline, in Außerrhoden fabricirt, Jacconats und Nanzone aus dem Toggenburg und Batiste aus den Fabriken Frankreichs und Belgiens. Dabei ist es merkwürdig, daß die oft versuchte Batistweberei in Außerrhoden nie gelingen wollte. Das gleiche Material, feines Leinengarn, auf den gleichen Stühlen (Métiers) in diesen Gegenden gewoben, ergab einen ganz andern Stoff und konnte die Weichheit und den eigenthümlichen Seidenglanz des französischen und belgischen Productes nie erreichen, als ob rauhere Luft und Wasser bei uns diesen zarten Geweben feindlich wären.

Die Dessins werden mittels einer einfachen Maschine auf ein eigens präparirtes Papier eingestochen („gestüpfelt“) und dann mit Zuhülfenahme einer Pulverfarbe auf den Stoff durchgerieben, auf dem dann die so übertragene Zeichnung durch Dampf oder glühendes Eisen fixirt wird.

Die rohe, aufgezeichnete Waare geht nun aus der Hand des Kaufhauses in die der angestellten Factoren („Ferker“) über. Dies sind innerrhodische Männer oder Frauen, welche die regelmäßigen Vermittler zwischen dem Handelshause und den Stickerinnen bilden. Sie empfangen allwöchentlich die genaueren Anweisungen über die Ausführung der Stickarbeit, vereinbaren sich mit dem Auftraggeber über den zu leistenden Preis, wählen sich dann in ihrem Kreise die passenden Arbeiterinnen aus und bestimmen diesen den Lohn, oft nicht ohne Willkür und Eigennutz, und geben ihnen das benöthigte Stickgarn ab.

Dort sitzen sie in ihren hundertjährigen Stuben auf der Bank, die sich längs der kaum unterbrochenen Fensterreihe hinzieht, zu [527] Berg und Thal, oft selbst in verlorenen Alphütten, die fleißigen Kinder, Mädchen und Weiber, vom siebenjährigen Kinde bis zur siebenzigjährigen Matrone hinter dem runden, beweglichen Stickrahmen („Maschine“), mit scharfem Blicke die Spinnfäden des Gewebes ermessend, um die zarten Arabesken, Blattgewinde und Bouquets auf den Stoff zu zaubern. Merkwürdig, daß auch Männer, die sonst die Axt und Sense zu führen gewohnt sind, nicht selten zur Winterszeit mitsticken und häufig die Nadel gar geschult zu führen wissen. Die kleinen und die alten Arbeiterinnen besorgen die gröbere, ordinäre Stickerei. Die feine und feinste wird von den gewandtesten Mädchen und Frauen besorgt, und an großen Prachtstücken arbeiten oft drei bis sechs derselben Monate lang mit unausgesetztem Fleiße. Ein Theil der Sticharten ist durch das Dessin vorgeschrieben; die à jour-Arbeit aber ist meist dem Geschmacke der Arbeiterin überlassen und es ist in der That bewunderungswürdig, mit welcher Phantasie und welchem Kunstgeschick diese in unaufhörlicher Abwechselung und den reizendsten Formen angebracht wird.

Junge Mädchen lieben es, mit dem Stickrahmen zur „Spini“ (d. h. zum Spinnbesuche zu einer Freundin zu gehen, und in großen, hellen Stuben finden sich oft ganze Stickgesellschaften zusammen. Da wird reichlich geplaudert, von der letzten oder nächsten „Kilbi“ (Kirchweih) oder dem Markte und Tanze, von einer Leiche oder Hochzeit, und die „Toneli, Sepheli, Mareili“ wissen immer etwas Neues. Oft wird auch hübsch gesungen oder eine alte Geschichte oder Sage, je grauslicher, desto lieber, erzählt, und wenn Abends die „Buben“ am Ofen oder auf demselben sitzen und liegen, so fehlt es nicht leicht an Neckerei und Kurzweil. Der Abend ist übrigens eine schlimme Zeit für diese haarfeine Arbeit, und ohne Beihülfe der zwar augenmörderischen, aber bei dem schlechten Talglichte unentbehrlichen wassergefüllten Glaskugel müsste sie gänzlich eingestellt werden.

Die Stickerinnen genossen – früher mit mehr Recht – den Ruf, daß sie nicht nur schön arbeiten, sondern selbst schön seien; doch ist reine Schönheit nur selten zu finden, wohl aber häufig ein sehr fein geschnittenes Profil, reiche, blonde Haare, helle, lebhafte Augen, von starken Brauen überschattet, schöne Zähne, zarter Teint und eine sehr feine, weiße Hand. Die angestrengte Arbeit veranlaßt oft eine leicht vorgebeugte Haltung, welche zu der gewöhnlichen Mittelgröße und der kurzen Taille der Landestracht nicht gerade gut steht.

Der Tagesverdienst der fleißigen Arbeiterinnen steht mit dem aufgewendeten Eifer und Geschick und dem Ueberreiz und der Schwächung der Sehkraft nicht in günstigem Verhältniß. Für gröbere Arbeit beträgt er blos etwa drei Silbergroschen, für feinere bis sieben und für ganz ausgezeichnete bis zehn oder elf Silbergroschen, während der Verkaufspreis der Waare für reiche Braut- oder Hoftoilette auf fünfhundert bis tausend Franken zu stehen kommt.

Immerhin ist auch der karge Verdienst für dieses geldarme Ländchen von hohem Werthe, und die Stickerinnen klagen eher über Unterbrechung der Beschäftigung, als über die Kleinheit des Erwerbs. Die Anzahl der Arbeiterinnen dürfte auf zweitausend fünfhundert bis zweitausend sechshundert anzuschlagen sein und der jährliche Arbeitsverdienst auf die bedeutende Summe von 350,000 bis 400,000 Franken.

Jede Woche bringen die Factoren die fertige Arbeit, welche sie von der Stickerin in Empfang genommen und unter oft unbilligen Abzügen für kleine Fehler oder Schäden verrechnet haben, dem Handelshause. Die Waare ist noch in einem sehr unansehnlichen Zustande, grau in grau, und erfordert eine äußerst sorgfältige Behandlung, ehe sie in ihrem wahren Werthe und Glanze erscheint. Sie wird nun gewaschen, gebleicht, appretirt und ausgerüstet. Namentlich erfordert der Appret, der nirgends in dieser Vollkommenheit bewirkt wird, wie in den sanct-gallischen und appenzellischen Etablissements, eine äußerst kundige Behandlung, während die Ausrüstung und Verpackung in elegante Schachteln Sache des guten Geschmackes ist. Die feinen und kostbaren Stoffe erleiden bei jenen Manipulationen leicht kleine Beschädigungen durch Rißchen, für deren unbemerkbare Reparatur eigene, äußerst geschickte Arbeiterinnen („Verwiflerinnen“) angestellt sind. Ein Theil der feinen und feinsten Waare aber bleibt in dem rohen Zustande, wie er von der Stickerin kommt, und wird auf gewissen Wegen, die wir hier nicht näher bezeichnen, nach Frankreich geschmuggelt, wo er gebleicht und fertig gemacht und dann als französisches Fabrikat verkauft wird. Für die ausgerüstete Waare sind Deutschland, Italien, Spanien und auch Rußland und Amerika die Hauptabsatzplätze.

Appenzell ist freilich nicht der einzige Bezirk, wo die genannten Handelshäuser ihre Stickerinnen haben, auch im Rheinthal wird eine kleine Quantität feine, mehr aber mittelfeine und billige Arbeit, sowie Grobstickerei in Gardinen und Stückwaare geliefert. Ebenso lassen jene Häuser im Vorarlberg und Bregenzerwald viel Grobstickerei fertigen.

Unsere appenzellische feine Handstickerei hat in neuerer Zeit doppelte, wenn auch nicht gerade gefährliche Concurrenz erhalten. In Sachsen, in Frankreich und in Schottland wird ebenfalls Handstickerei gepflegt, aber diese Industriedistricte bringen es ausschließlich nur zu geringer bis mittelfeiner Waare. Mit bedenklichern Augen sah man das geheimnißvolle und rasche Aufblühen der Maschinenstickerei im eigenen Lande an, die im Stande ist, auf mechanischem Wege außerordentlich billige Arbeit zu liefern, und sich namentlich der südeuropäischen Handelsplätze bemächtigte. Allein so ingeniös auch diese Stickstühle construirt sind und so kunstvolle Prachtstücke sie an die Weltausstellungen geliefert haben, so vermögen sie doch nur in Baudes und Entredeux massenhaft und billig zu arbeiten; für Dessins à disposition und Schnittwaare ist Maschinenstickerei nicht ausführbar. Und so wird denn Appenzell-Innerrhoden nach wie vor, wie die ursprüngliche, so auch die einzige Heimath der hochfeinen Handstickerei bleiben,[2] welche die Bewunderung der eleganten Damenwelt verdient und die edelsten und kunstvollsten Bestandtheile ihrer Toilette liefert. Dabei bleibt es immer interessant und bedeutungsvoll, wie in verschiedenen Theilen des Schweizergebirges so verschiedene specielle Industriezweige gepflegt werden: hier die Stickerei, in Ausserrhoden die Weberei, im Jura die Uhrmacherei und Spitzenklöppelei, im Berner Oberlande die Holzschnitzerei.

Diese Industriezweige haben den unschätzbaren Vorzug, daß sie im eigenen Hause betrieben werden können. Die Arbeiter werden nicht in große Etablissements zusammengepfercht, wo sie so oft körperlich und sittlich versiechen oder als lebendige Ergänzungen todter Maschinen in ewiggleicher Sclavenarbeit verdumpfen. Die Hausindustrie bewahrt dem Arbeiter die Freiheit und Individualität und entreißt ihn nicht dem Familienverbande. Die stickende Mutter pflegt den Säugling in der Wiege, bleibt die Gehülfin ihres Mannes und besorgt unbehindert das einfache Hauswesen. Doch ist auch die Stickindustrie nicht ohne Schattenseite. Das ewige vorgebeugte Sitzen am Rahmen von zarter Jugend auf ist für die kräftige Körperentwickelung nachtheilig. Daher so viele zarte, blasse, früh alternde Gestalten unter den Stickerinnen. Auch überreizt die angestrengte, besonders die nächtliche Feinarbeit die Augen und es bleibt unerklärlich, daß ausgesprochene Kurzsichtigkeit nicht stärker verbreitet ist. Dabei zeigt sich hie und da die unerfreuliche Erscheinung, daß die Töchter des Hauses, welche freilich die einzige Vermittelung bilden, durch die regelmäßig das sonst so seltene baare Gelt in’s Haus fließt, diese ihre Stellung über- und ihre Verpflichtungen unterschätzen, daß sie, sobald sie eines ordentlichen Verdienstes sicher sind, die Familie verlassen und sich anderswo verkostgelden, oder aber gegen Kostgeld im elterlichen Hause bleiben, ihren Verdienst in der Tasche behalten und sich sogar für die Betheiligung an den Hausgeschäften bezahlen lassen. Nur eine bessere sittliche Erziehung wäre im Stande, diesem häßlichen Mißbrauche wirksam entgegenzuarbeiten.

So hätten wir denn flüchtig Umschau gehalten in dem Säntisstock und den kleinen Volksgruppen seiner Anwohner. Wer etwa vom Weißbade, dem reizendsten und heimeligsten Standquartier am Ursprung des Sitterflusses, aus sommerliche Streifzüge in den Schooß dieses wundervollen Gebirges und in die Hütten seiner aufgeweckten und einfachen Leutchen macht, wird sich diese Skizze mit interessanten und genußvollen Anschauungen bereichern.



[528]
Blätter und Blüthen.

Die zwei naturwissenschaftlichen Vexir-Fragen, welche wir in einigen frühern Nummern der Gartenlaube brachten, haben ebenfalls eine vielfache theils richtige, theils falsche Beantwortung gefunden. Die richtigen sind allerdings vorwiegend und dies gereiche dem naturforschenden Theile unseres Leserkreises zur Genugthuung; aber es sind auch Beantwortungen eingegangen, welche wir uns vorher nicht haben träumen lassen. Wenden wir uns zuerst zur Glas-Wasser-Frage. Die richtige, auch leicht durch den Versuch zu bestätigende Antwort lautet: „Die Wagschale mit dem Glase Wasser senkt sich, selbst wenn man noch so behutsam den Finger in das Wasser taucht.“ Sie bleibt weder im Gleichgewicht, noch hebt sie sich – das letztere wird in dreien der eingegangenen Zuschriften behauptet. Auf diese Beantwortung waren wir, offen gestanden, nicht gefaßt, und wir können es uns deswegen nicht versagen, die Gründe dieser etwas zu tief denkenden Naturforscher anzuführen. Der eine sagt: „Wenn man in das auf der einen Wagschale stehende Glas Wasser den Finger steckt, so wird es leichter werden, sich also heben, weil ein Theil des Wassers vermöge seines Adhäsionsbestrebens sich an den Finger hängt und so von demselben getragen wird; das Wasser im Glase wird also um so viel leichter, als der Finger trägt.“ Die andern beiden Einsender führen für dieselbe Behauptung genau denselben Grund an.

Hingegen läßt sich zuvörderst sagen, daß der Finger der menschlichen Hand, selbst wenn er eben erst recht tüchtig mit Seife gewaschen worden ist, immer noch so viel Fettigkeit auf seiner Oberfläche besitzt, daß von einer Adhäsionswirkung überhaupt nicht die Rede sein kann, sondern vom Gegentheil. Mag aber die Oberfläche des Fingers auf die ihn umgebenden Wassertheilchen entweder eine anziehende, oder eine abstoßende Wirkung ausüben, jedenfalls ist der Einfluß dieser Art so überaus gering, daß wir geglaubt haben, ihn von vornherein bei der Besprechung unserer Glas-Wasser-Frage unberücksichtigt lassen zu können. Es handelt sich in unserm Falle vornehmlich um Druckkräfte und Gewichte, durch welche man sich ja die Druckkräfte darstellt. Der triftige, nicht anzufechtende Grund dafür, daß die Wagschale mit dem Glase Wasser sich senkt, ist, daß der eingetauchte Finger einen wirklichen Druck auf das Wasser und somit auf die Wagschale ausübt, wie jeder Körper, welcher in eine Flüssigkeit getaucht wird. Diesen Druck, den der eingetauchte Körper ausübt, in Gewichten ausgedrückt, verliert dieser Körper wirklich an seinem Eigengewicht. Beides, daß wir beim Eintauchen des Fingers einen Druck ausüben und daß wir dabei an Körpergewicht verlieren, merken wir freilich nicht; beides läßt sich aber recht gut merklich machen. Tauchen wir nämlich statt unseres Fingers ein etwas großes Stück Holz ziemlich tief in das Wassergefäß, so fühlen wir recht gut, daß wir einen Druck ausüben und eine Kraftanstrengung machen müssen. Stellen wir uns aber selbst auf die eine Schale einer Wage, welche durch Gewichte auf der Gegenschale in Gleichgewicht gebracht worden ist, und tauchen nun die Hand in ein neben der Wage stehendes Wassergefäß, so werden wir sicherlich, wenn auch nur wenig, mit unserer Wagschale steigen, und wir haben also an Gewicht verloren. Hiermit ist wohl unsere erste Scherz-Frage erledigt.

Wir wenden uns nun zur Mond-Frage. Unsere Antwort lautet hier: „Der Mond hat sich, wenn er sich einmal um die Erde herumbewegt hat, auch einmal um sich selbst gedreht.“ Und die Gründe für diese Antwort sollen sogleich folgen. Denken wir uns einmal die Erde ganz fort, so haben wir nur die Bewegung eines einzigen Körpers im Raume zu betrachten. Wenn sich aber ein fester Körper im Raume bewegt, so kann man seine Bewegung in jedem bestimmten Zeitraum als aus einer rein fortschreitenden und aus einer rein drehenden Bewegung zusammengesetzt denken. Denken wir uns den Mond in einer anfänglichen Stellung und er beschreibe dann ein kleines Stück seiner Bahn um die Erde und zwar ein so kleines Stück, daß es als eine gerade Linie angesehen werden kann. Diese kleine gerade Bahnstrecke beschreibe der Mond, indem wir annehmen, daß sämmtliche Punkte des Mondes eine genau ebenso lange und dieser Strecke parallele Strecke durchlaufen. Ist der Mond nun an seinem nahen Ziel auf diese Weise angelangt, so werden wir bemerken, daß er nicht mehr genau dieselbe Seite nach dem Punkte hinwendet, wo die Erde ihren Platz hat. Gleichwohl hat der Mond nur eine rein fortschreitende Bewegung gemacht, denn unter einer fortschreitenden Bewegung eines festen Körpers verstehen wir eben eine solche, bei welcher alle Punkte des Körpers gleich lange und untereinander parallele Bahnen beschreiben. Der Mond kann nur in seine wirkliche Lage gelangen, wenn er nach der fortschreitenden Bewegung auch noch eine Drehung ausführt und zwar um eine durch seinen Mittelpunkt gehende Axe. Denken wir uns nun weiter die ganze Mondbahn in lauter solche kurze Strecken zerlegt und halten wir immerfort die fortschreitende und Drehbewegung auseinander, so finden wir, daß nach Vollendung der Mondbahn alle die kleinen Drehbewegungen zusammenaddirt gerade eine volle Drehung des Mondes um eine Axe ergeben, welche durch seinen eigenen Mittelpunkt geht.

Nun ist allerdings nicht zu leugnen, daß man bei jeder Bewegung eines festen Körpers, also auch bei der Mondbewegung, die Zerlegung der fortschreitenden und Drehbewegung in unendlich vielen verschiedenen Arten vornehmen kann; immer aber wird sich finden, daß der Mond sich nach Vollendung seiner Bahn auch einmal um eine fest mit ihm verbunden gedachte Axe gedreht hat; wo man diese Axe annehmen will, bleibt ganz dem Belieben überlassen. Bei der obigen einfachsten Art der Zerlegung beider Bewegungen hatten wir die Axe durch den Mittelpunkt des Mondes selbst angenommen. Es ist festzuhalten, daß die Drehungsaxe, wo sie auch liegen mag, immer nur eine mit dem sich drehenden Körper fest verbunden gedachte Linie ist, keineswegs aber selbst ein fester Körper. Daher kann auch jede Drehungsaxe, mag sie nun in dem Körper selbst liegen oder außerhalb seiner, als des Körpers „eigene Drehungsaxe“ angesehen werden. Das rechtfertigt auch der Sprachgebrauch vollkommen, denn wir sprechen von einem Wagenrade, welches sich um seine eigene Axe dreht, obgleich diese Axe in einer Oeffnung des Rades beweglich steckt, jedenfalls also mit dem Rade nicht einmal fest verbunden ist. Uebrigens ist es bei unserer Frage nur nebensächlich, ob man sagen müsse, der Mond drehe sich um seine eigene Axe oder er drehe sich um sich selbst; die Hauptsache ist der Begriff der in beiden Ausdrucksweisen liegenden Drehung.

R. H.


Eines amerikanischen Soldaten Brief und eines Mädchens Antwort.
Uebersetzt von Friedrich Gerstäcker.

 Hospital, April –
Mit großen Schmerzen schreib’ ich Dir –
Nicht früher war’s mir möglich, Schatz.
Seit letzter Schlacht nun lieg ich fest
Im Hospital, am alten Platz.

Ich bin verwundet – sorg’ Dich nicht –
Es ist nicht schlimm – könnt’ schlimmer sein,
Das Leben blieb mir ja, und das –
Nur freut mich deshalb, denk’ ich Dein.

Mein linker Arm ist ab – nun weißt
Du Alles – eine Kugel traf,
Ich fiel und – doch wozu der Rest?
Wir hielten wacker uns und brav.

Ich habe gute Pflege auch,
Es fehlt mir Nichts, bei Nacht und Tag.
Der Arzt sagt mir sogar, daß ich
Recht bald nach Hause kehren mag.

Doch noch ein ander – schwerer Ding
Nagt mir am Herzen – quält und drückt;
Es muß heraus – so höre, Lieb:
Ich geb’ Dir Deinen Schwur zurück.

Im ersten Augenblicke wirst
Du denken, ich muß thöricht sein,
Doch überleg’ es Dir, Marie –
Du darfst ja keinen Krüppel frei’n.

So – ’s ist geschehen – das Wort gesagt,
’S war schwer und lag mir lange an,
Doch hab’ ich – was auch mag geschehn,
Jetzt meine Schuldigkeit gethan.

Ich kehre heim – und einmal noch
Muß ich Dich sehn – wie weh ’s auch thut –
Dann laß uns scheiden – freundlich doch –
Wir bleiben ja einander gut!


     Marie’s Antwort.
 Sweet home, April.
Mein Robert! böser, – lieber Mann
So gut und brav – zu brav für mich;
Doch daß Du gar nicht mir vertraust,
Hab ich das wohl verdient um Dich?

Du giebst mir meinen Schwur zurück?
Beim Himmel! nie hielt solchen Preis
Dein Liebesschwur in meiner Brust,
Als jetzt, da ich Dich leidend weiß.

In jener Schreckensliste fand
Ich Deinen Namen und es wollt’
Das Blut zum Herz zurück – mir war’s
Genau, als ob ich sterben sollt’.

Nur der allein’ge Trost noch blieb
Mir da, in meiner größten Noth:
Mein Lieb – mein tapferer Soldat,
Ist ja verwundet nur – nicht todt.

Und doch – wie hat die Sorge mich
So oft und bitter dann gequält,
Daß Dir, auf Deinem Leidensbett
Es wohl an dem und jenem fehlt –

Und nun auch noch den Kummer, daß
Du meinetwegen Dich betrübt;
O, war das recht? – Als Du es schriebst,
Hast Du mich da wohl noch geliebt?

Doch Gott sei Dank, Du kehrst ja heim
In meine Arme – an mein Herz –
Daß Du ein Krüppel, macht Dir Pein
Und hat vermehrt noch Deinen Schmerz?

O, wüßtest Du, wie stolz ich auf
Den Krüppel bin, und wie beglückt,
Wenn erst der eine Helden-Arm
Mich als die Seine an sich drückt!



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Als vorgeschobener nordöstlicher Eckpfeiler des schweizerischen Alpensystems gewinnt der Säntisstock vermöge seiner Lage, seines Ausbaues und seiner Gestaltung ein ganz besonderes Interesse. Mag man vom Allgäu her oder aus dem schwäbischen Oberland oder aus dem untern Hügellande der Thur in den von ihm beherrschten Gesichtskreis treten, überall imponirt er durch seine breiten, gegliederten Massen und die schönen, bald sanften, bald kühnen Linien, in denen er sich von den Quellen der Thur bis gegen die Rheinmündung am Bodenseeufer hinlagert. Durch das Hochthal der Thur von den steilgegiebelten Churfirsten und dem übrigen schweizerischen Alpennetze getrennt, erscheint er als selbstständiges Hochgebirgsmassiv und überragt in stolzer Majestät sowohl den gewaltigen Seespiegel, als das nordöstliche Ende der großen schweizerischen Hochebene, die sich in breitem Wurf vom Leman zum Bodan hinzieht.
    Und wirklich ist der Säntisstock eine Gebirgswelt für sich. In stolzer Isolirtheit tritt er als selbstständiges Ganzes auf. Dabei ist er aber ein vollendetes Modell der schweizerischen Hochgebirgsnatur und birgt in verkleinertem Maßstabe fast alle hochalpinen Naturformen und Naturerscheinungen in überraschender Mannigfaltigkeit. Sein Gerippe besteht aus einer Anzahl parallel von Südwest nach Nordost streichender Arme, von denen der östlichste und der westlichste, sowohl in Bezug auf absolute Höhe, als auch in Bezug auf Länge die bedeutendsten sind. Der westlichste bcginnt im Thurthal am Schindelnberg, culminirt im „hohen Säntis“ und bricht im Ebenalpstock jäh gegen das Sitterthal ab; der östlichste streicht vom Schafberg und Altmann in steilem Abfall gegen das Rheinthal über den „hohen Kasten“ und Fähnernberg und verliert sich in einer langen, sanftgebogenen Hügelkette gegen den Bodensee hin. Zwischen diesen beiden Hauptketten zieht sich ein hoher Querkamm von der Säntiskuppe bis zum Altmann, von dem wiederum mehrere Binnenketten parallel mit den Hauptzügen auslaufen.
    Diese Configuration des ganzen Kalkgebirgsstockes bedingt eine merkwürdig große Mannigfaltigkeit der Naturbilder. Mit jeder Stunde findet sich der Wanderer in einer neuen Welt. Unter seinem Fuße verwandelt sich unvermerkt der Felsenpfad zum lachenden Alpthal, zur wilden Felsschlucht, während an seinen Seiten die Bergflanken in ewiger Veränderung ihn begleiten, bald in kahlen, gigantischen Felswänden herunterstarrend, bald in grünen Weiden oder dunkeln Fichtenwäldern zu milden Kämmen oder zu kühnen, nackten Kuppen aufstrebend. Nirgends Einförmigkeit und langgedehnte Bilder, überall kecke Ursprünglichkeit und Originalität; aber auch überall schöne Linien, malerische Formen, reizende Farben. Ein paar Vergleiche mögen uns diese Contraste bestätigen.
    Die Säntisspitze (7710 Pariser Fuß über dem Meere) steigt ziemlich sanft und allmählich aus ihrer Kette empor, an der Nord- und Ostseite von breiten Schneefeldern flankirt, deren eines im Uebergang zum Gletscher begriffen ist, denselben aber, weil von ausgiebigen Firnquartieren nicht genährt, auch nicht ganz zu vollziehen vermag. Dicht unter der höchsten Spitze birgt sich in der Felswüste eine aus rohen Steinmauern gefügte enge Herberge, um die zahlreichen Besucher aufzunehmen, welche das ungeheure Panorama der Spitze zu bewundern kommen. Der Zugang zu dieser ist so sicher und leicht, daß ihn sehr häufig auch das schöne Geschlecht wagt.
    Gegenüber aber starrt mit seinen finstern, gigantischen Felsenwänden der zweithöchste Gipfel des Gebirgsstockes, der unwirthliche Altmann (7444 Fuß über dem Meere) empor. Seine höchste Kuppe ist eine schmale, langgedehnte Wand, fast ohne alle Vegetationsansätze, aus grobzerrissenem, und millionenfältig feingespaltenem, gelbem Kalk bestehend, früher für unersteiglich gehalten – in der That nur durch mühseliges, nicht ganz gefahrloses Klettern erreichbar.
    Vom Säntisgipfel streicht nordöstlich ein steiler Binnenzug bis zum Seealpthal hinaus. Auf jeder Seite desselben liegt eine Alp; aber auch diese Alpen contrastiren in den schärfsten Formen. Während die Meglisalp eine weite grüne Wanne bildet mit einem Alphüttendörfchen und sanften, ihrer köstlichen Futterkräuter wegen berühmten Weiden, hängt die parallele Mesmeralp rauh und zerrissen, hütten- und weidearm, von Schrattengräthen und Schrunden durchfurcht, steil an wilden Bergflanken.
    Die vier Seelein des Gebirges bilden wiederum vier verschiedene Typen von Alpenteichen. Keines gleicht dem andern, aber von jedem finden wir im Bereiche der Centralalpen zahllose Copieen. Das Wildseelein (7000 Fuß über der Meeresfläche) ist eine todte Schneemulde, die oft Jahre lang nicht aufthaut. Der fischlose Fählensee birgt seine dunkeln, grünblauen Fluthen in einer langen, tiefen, auf dem Grunde stark zerklüfteten Felsenschale, mit spärlicher Vegetation an seinem Saume. Der Säntissee dagegen ist ein seichter Teich in flachem kahlem Rietboden. Er lehnt sich an die östliche Hauptkette und steht durch ein enges Wasserthor mit einem tief im Innern des Berges liegenden, wahrscheinlich weit größern Wasserbecken in Verbindung und ergießt seinen Ueberfluß jenseits in’s Rheinthal. Zu diesem innern Bergsee vermag kein Menschenauge vorzudringen; aber die auffallend blassen, fast weißlich gefärbten Forellen, die zeitweise aus dem innern See hervorkommen und im äußern gefangen werden, zeugen von jenen lichtlosen, orkischen Fluthen. Den vierten Typus endlich stellt uns der Seealpsee vor Augen, ein tiefblauer Spiegel, in dem sich die herrlichen Felsterrassen und Gipfel seiner Umgebung widerspiegeln, der einzige Appenzellersee, dessen Ufer, wenigstens zum Theil, malerische Buchwaldgruppen schmücken. Er ist tief und beherbergt große Forellen. Früh im Winter pflegt er zuzufrieren, und die zahlreichen Gemsen, die sich dann gerne aus den Flühen in das von Menschen nicht besuchte Seealpthal zurückziehen, kreuzen auf dem überschnellen Eisspiegel unbedenklich, meiden aber sorgfältig die Nähe der lebendigen warmen Grund- und Uferquellen.
    Wir könnten die reichen Contraste, in denen sich die herrliche Gebirgswelt des Säntisstockes unaufhörlich individualisirt, viel weiter verfolgen; doch genüge hier das kurz Angedeutete und wir fügen nur noch bei, daß auch ihre Pflanzen- und Thierwelt eben so mannigfaltig ist, und in den höhern Regionen einen echt hochalpinen Charakter verräth. Oberhalb der Waldgrenze, die auch hier, wie fast überall im schweizerischen Alpengebiete, leider von Jahrzehnd zu Jahrzehnd immer tiefer thalwärts zurückweicht, krönt die Krummholzkiefer häufig lothrechte Felswände und öde Flühen; in den Weiden wuchern auf den hochfetten Hüttenplätzen die Alpenampfern, Bühnen, Germerstauden und Eisenhüte; die hohe punktirte und die gelbe Gentiane sind durch die Wurzelgräber selten geworden; die Alpenrosen kleiden mit ihrem schmucken Blattgrün und ihren zierlichen Glockensträußen überall die Felsköpfe und Halden aus und steigen an verborgenen Stellen bis tief gegen das Thal hinunter. Sobald der Schnee weicht, sprießen aus dem fahlen Alpenboden die feingezahnten Glöcklein der Soldanellen und bald darauf auch die tiefblaue, großblumige Gentiane, die herrliche außen grauwollige, röthliche Frühlingsanemone, während die duftigen gelben Aurikeln, dann die zahlreichen Steinbrecharten, die leuchtende Hauswurz sich an die Felsen heften. Höher im Gebirge schmückt das Edelweiß, für das der Wanderer eine wunderliche Vorliebe hegt, die vanilleduftende Mannstreu, Schnee- und Eisgentiane, die rosenartige Silene, der niedliche Mannsschild, die niedrigen Schafgarben, die kleinen Arelien etc. noch zahllose Humusplätzchen, wo alle reichere Vegetation längst zurückgeblieben ist.
  2. Es mag vielleicht manche unserer Leser interessiren, zu erfahren, daß gegenwärtig in St. Gallen das Haus „Adolph Näf“ das reichhaltigste Lager für Handstickerei in allen Genres hält und den Bedarf der fremden Höfe für hochfeine Waare vermittelt.