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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[161]

No. 11.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Unsichere Fundamente.
Erzählung von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


„Wir haben, Herr Meier,“ begann der junge Kaufmann, nachdem er den Eingang des Zimmers hinter sich geschlossen und ein Blick durch den Raum ihm das völlige Alleinsein mit seinem augenblicklichen Gesellschafter verbürgt hatte, „die vollen Beweise in der Hand, daß Sie sich in Besitz des Hauptbuches der alten Firma August Hellmuth gesetzt haben. Welchen andern Namen das Gesetz einer solchen unrechtmäßigen Besitzergreifung beilegt, darf ich Ihnen ja wohl nicht erst sagen –“

„Hauptbuch – Hauptbuch?“ unterbrach ihn der Andere, nachdenklich sein glattrasirtes Kinn streichend, „Hauptbuch der alten Firma? Es kann möglich sein, daß sich noch aus meinen frühern nächtlichen Arbeiten in meiner Wohnung etwas dem Geschäfte Gehöriges befindet – indessen weiß ich nichts Bestimmtes darüber.“ Er schlug bei den letzten Worten die grauen Augen groß und fast herausfordernd zu dem jungen Manne auf.

„Ja, mit einer solchen Auskunft werden wir jetzt keinesfalls durchkommen,“ erwiderte dieser ernst, „und es könnte der Fall eintreten, daß, wenn Sie das derzeitige milde und rücksichtsvolle Verfahren gegen Sie nicht würdigen sollten, Sie unter polizeilicher Obhut wieder nach der Stadt zurückgebracht würden. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir über Alles, was die Entwendung des Contobuches sowie die Motive derselben betrifft, völlig im Klaren sind, und wenn ich jetzt Vollmacht habe, Sie gegen sofortige Auslieferung des alten Volumens freizulassen, im andern Falle aber Sie einfach der Polizei zu übergeben, so mögen Sie das Erstere lediglich Herrn Hellmuth’s Rücksicht auf Ihre langjährige Dienstzeit in seinem Geschäfte danken!“

„Ah, ah, Herrn Hellmuth’s Rücksicht!“ versetzte Meier; „ich muß Ihnen aber sagen, lieber Herr, daß ich ebensowenig eine Rücksicht beanspruche, als Herr Hellmuth sie von mir zu erwarten hat. Haben Sie die Macht, so lassen Sie mich in Gottes Namen zu einer beliebigen Untersuchung nach der Stadt zurückbringen; Herr Hellmuth mag sich dann aber darauf verlassen, daß die Welt schnell genug erfahren soll, was sein böses Gewissen zu meiner Verfolgung treibt – ich habe schon eine ungefähre Ahnung, was jenes vermißte Hauptbuch enthält.“

Ein leichtes Roth stieg in Gruber’s Gesicht; demungeachtet erwiderte er in völlig kaltem Tone: „Die Welt würde gar nichts erfahren, Herr Meier, als daß Sie wegen Diebstahls an Ihrem frühern Principale eingezogen sind, und Ihr eigener Verstand mag Ihnen sagen, daß eine polizeiliche Verfolgung, wie die jetzige, nicht ohne die bestimmtesten Belastungsgründe eintreten würde. Um Ihnen indeß noch mehr zu sagen, so kann ich Sie versichern, daß sich Herr Maçon ebensowenig auf die Benutzung eines durch Entwendung erlangten Beweisstückes einlassen, als überhaupt einen Finger in die ganze unsaubere Angelegenheit tauchen wird. Er war noch Gast an Herrn Hellmuth’s Tische, als ich das Haus verließ, um Ihnen nachzueilen.“

Wieder verfärbte sich Meier’s Gesicht; dann aber zuckte er mir einem fast krampfhaften Lächeln die Achseln. „Ich höre Ihre Worte, aber verstehe kaum etwas Anderes davon, als Beleidigungen, die ich eben nur durch Ihren unzeitigen Eifer entschuldige. Ich habe mit Herrn Hellmuth in keiner Weise etwas zu thun; will er mit mir zu thun haben, so mag er die Folgen sich und seinem jetzigen Bevollmächtigten zuschreiben – und damit, Herr Gruber, bin ich ein für allemal fertig!“

Der junge Mann schien einen Augenblick zu überlegen. „Wollen Sie,“ sagte er dann, „nur in Ihrem Interesse alles Aufsehen zu vermeiden, Ihren Koffer Stück für Stück hier vor meinen Augen auspacken – mir auch ferner erlauben, selbst eine Revision desselben zu übernehmen?“

Der Buchhalter zuckte von Neuem die Achseln. „In meinem Interesse?“ erwiderte er geringschätzig.

„Allerdings in Ihrem Interesse!“ versetzte Gruber mit einem Anfluge von Gereiztheit. „Es handelt sich um ein gestohlenes Object, und ich würde ohne Ihre sofortige Genehmigung meines Vorschlags von meiner Vollmacht, die hiesige Polizeibehörde zur Durchsuchung Ihres Gepäckes zu requiriren, Gebrauch machen müssen. Einmal in dieses Stadium getreten, würden Sie uns, auch wenn sich jetzt nichts auffinden ließe, doch nach der Stadt folgen müssen, um bei der weitern Nachsuchung in Ihrer Wohnung gegenwärtig zu sein.“

Meier nickte mit einem ausgeprägt höhnischen Zuge. „Sie sind ein vorzüglicher Kaufmann, Herr Gruber,“ sagte er, „ich habe das immer anerkannt; aber zu Diensten, wozu Sie sich jetzt brauchen lassen, sind Sie nicht gemacht. Meinen Sie denn wirklich, wenn ich ein so wichtiges Beweisstück, wie Sie andeuten, im Besitz hätte – verstehen Sie mich wohl: ich sage nicht, daß ich es habe – ich würde es in Form eines massiven Hauptbuches immer mit mir schleppen, oder es irgend einem Zufalle in meiner Wohnung preisgeben? Indessen will ich zur Erkenntniß Ihrer eigenen Thorheit Ihnen die vollständige Untersuchung meines Gepäckes überlassen. Handeln Sie nach Belieben; Sie haben ja meinen Koffer schon unter die nöthige Aufsicht gestellt!“

[162] Gruber hörte in diesem Augenblicke das Rasseln des wieder davonrollenden Postwagens und glaubte damit sicher zu sein, daß eine Verhehlung anderer Gepäckstücke Meier’s nicht erfolgt sein könne; er verließ deshalb das Zimmer, ohne von dem sarkastischen Gesichtsausdrucke des Buchhalters Notiz zu nehmen, und schaffte mit Hülfe des Polizei-Beamten den Reisekoffer herein. Schon das leichte Gewicht desselben aber gab ihm die niederschlagende Sicherheit, daß sich der schwere Band, welchem er nachspürte, kaum darin befinden könne, und nur um seiner Pflicht völlig zu genügen, ließ er durch Meier das Schloß öffnen. Die kurze, wenn auch genaue Untersuchung des Inhaltes ergab auch nichts, als das Vorhandensein von Kleidern und Wäsche, und doch trug der junge Mann die volle Gewißheit in sich, daß die Entwendung des Buches durch Niemand als durch diesen Menschen hatte geschehen können.

„Sie mögen Recht haben,“ sagte er nach Beendigung der Untersuchung sich wieder aufrichtend, „daß ich nicht der Mann dazu bin, um allen möglichen Schlichen nachzugehen, welche bei Verbergung des entwendeten Gutes angewandt worden sind; ich kann Ihnen aber nur noch einmal sagen, daß so starke Belastungsgründe gegen Sie vorliegen, Herr Meier, daß das Wiedererscheinen des Geschäftsbuches, behufs Erreichung bestimmter Zwecke, Ihre sofortige Verhaftung nach sich ziehen muß. Was Ihnen dann als möglicher Gewinn Ihres ganzen Verfahrens übrig bleiben wird, selbst wenn Herr Maçon der Mann nicht wäre, der er ist, mögen Sie sich selbst ausrechnen!“

„Ich darf mir wohl jetzt alle Beleidigungen verbitten, nicht wahr, Herr Gruber?“ antwortete der Buchhalter mit wieder völlig kaltem, steifem Gesichte. „Ich werde in den nächsten Tagen nicht nach der Stadt zurückkehren können; allein meine Wohnung steht jeder Untersuchung der Behörde offen, und so ersuche ich Sie, Ihre Privatmeinung gefälligst für sich zu behalten. Mit Ihrem Auftraggeber, dem Herrn Hellmuth, aber werde ich in meiner Weise selbst abrechnen, das mögen Sie ihm nur vorläufig sagen!“ Er wandte sich ab, verschloß seinen Koffer wieder und verließ das Zimmer.

„Ein geriebener Patron, ich kenne diese Sorte,“ bemerkte der Polizei-Commissar, „Sie werden ihm aber jetzt kaum etwas in den Weg legen können!“

Gruber nickte mit dem unverkennbaren Ausdrucke der ihm gewordenen Täuschung. „Wir wollen hier unser Abendbrod nehmen und dann baldigst zurückfahren,“ sagte er; „Herr Hellmuth wird jede Minute zählen, bis ich ihm Bericht erstatten kann.“




7.

„Wenn ich nur erst wüßte, was seit den letzten Tagen in unser Haus gefahren ist. Der Vater ist kaum recht zu sprechen; Gruber grüßt, wenn ich ihm begegne, wie mit einem Stück Holz im Nacken und macht ein Gesicht dazu, als habe er eine Spinne verschluckt, und selbst Willmann zieht mir eine Miene, wie die gezwungene Vergebung einer Todsünde. Und da soll man in guter Laune zum Balle!“ Es war im Toilettenzimmer der beiden Schwestern, wo Eugenie, erst halb angekleidet und unter den frisirenden Händen der alten Dienerin, ihrer Stimmung freien Ausdruck ließ, während sie dabei in dem großen Spiegel vor sich die Wirkung ihrer leicht schmollenden Miene zu beobachten schien. „Und wer allein davon unberührt zu bleiben scheint,“ fuhr sie, plötzlich den Kopf drehend, so daß die Dienerin einen bedauernden Ausruf hören ließ, nach der Schwester gewendet fort, die vor einem einfachen Toilettentische sich selbst ihr Haar ordnete, „das bist Du, Anna, und mir ist es, als seiest Du gerade in diesen letzten drei Tagen, trotz des wunderlichen Tones in unserm Hause, aufgeblüht wie eine Mairose im Sonnenschein; ich habe Dich wenigstens noch niemals vorher mit so frischer Farbe und einem so hellen Ausdrucke im Gesichte gesehen!“

„Von mir sprichst Du?“ fuhr die Angeredete aus ihrem Träumen auf, während ein flüchtiges erhöhtes Roth in ihr Gesicht schoß, „ich glaube, Du machst Dir aus bloßer Langeweile Phantasiebilder nach allen Seiten hin.“

„O Fräulein Anna,“ rief die Dienerin, welche ihre Beschäftigung unterbrochen, „Sie wollen zwar nichts von meiner Hülfe, noch meinem Geschmacke wissen; aber Sie sind heute wirklich glänzender als sonst; folgen Sie mir nur dies eine Mal und stecken Sie wenigstens die einfache Rose hier zur Seite der Haarpuffe – warten Sie, ich ordne es Ihnen selbst!“ Damit waren auch schon die Hände der Sprechenden trotz einer abwehrenden Bewegung des Mädchens mit Anna’s Kopfe beschäftigt, und bald schien die zwischen dem dunkeln Haar glühende Rose mit dem neu aufsteigenden lebendigen Rothe in den Wangen der Geschmückten zu wetteifern.

„Sie hat wahrhaftig bis jetzt nur so gethan, als könne sie gar nichts anders als Veilchen sein!“ rief Eugenie mit komischem Jammer; „Margarethe, wenn Sie mich jetzt nicht ganz schön machen – ich will auch recht still sitzen – so sticht sie mich wirklich heute Abend aus –“

„Eugenie –! Du wirst machen, daß ich ganz zu Hause bleibe!“ klang es von Anna’s Seite in einem Tone, der wohl plötzlichen Unmuth bezeichnen sollte, aber nicht zum rechten Ausdruck desselben gelangen zu können schien.

„Sei still jetzt und störe uns nicht!“ war die Erwiderung, unter welcher sich Eugenie in eine kritische Beobachtung der an ihrem Haare wieder aufgenommenen Arbeit Margarethe’s völlig zu vertiefen schien. Anna aber, als scheue sie sich, nach den gefallenen Worten ihre Erscheinung zu mustern, wandte langsam den Kopf wieder nach ihrem Toilettenspiegel; dann aber blieb ihr Blick an dem rosigen Bilde im Glase hängen, und ein sinnendes Lächeln voll Glück dämmerte in ihren Zügen auf. – –

Unten im Comptoir waren bereits die Lampen über den Arbeitspulten erloschen; Hellmuth aber ging noch in seinem Cabinete auf und ab, während Gruber, mit dem Arme sich leicht auf das elegante Pult stützend, die Aeußerungen des Principals zu erwarten schien.

„Und auch Willmann hat nichts Thatsächliches, das der Beachtung werth wäre, zu melden gehabt?“ fragte Hellmuth, ein augenscheinlich abgebrochenes Gespräch fortsetzend.

„Thatsächliches durchaus nicht, wenn nicht die mannigfachen Gespräche, die in der Handelswelt über die eigenthümliche Lage des Geschäfts laut geworden sind und, wie es scheint, durch immer neu verbreitete Mittheilungen über die gegen die Firma erhobenen Ansprüche lebendig erhalten werden, sich dahin rechnen lassen –“

„Ich weiß das, ich weiß das und bin durch einige aufrichtige Freunde selbst davon unterrichtet worden,“ unterbrach Hellmuth den Sprecher. „Ich wollte lieber den bestimmtesten rücksichtslosesten Angriff ertragen, als dieses Hinhalten, das uns durch die ausgesprengten Gerüchte und die Anwesenheit dieses Maçon den Credit und damit den Boden unter den Füßen wegziehen muß. Ich wage kaum mehr, ein neues Geschäft, das den geringsten Credit einer andern Firma beansprucht, in Angriff zu nehmen, und währt das jetzige Spiel, dem ich in seiner Verstecktheit vertheidigungslos preisgegeben bin, noch lange, so thäte man am besten, abzuwickeln und ganz zu schließen. Dann könnte ich wenigstens als Privatmann ruhig abwarten, was gegen mich geschehen mag!“ Er nahm auf eine Weile wieder seinen raschen Gang durch das Zimmer auf. „Aber ich habe mir vorgenommen,“ fuhr er dann von Neuem stehen bleibend fort, „diese Genugthuung soll Denen nicht werden, die jetzt glauben, an meinem geschäftlichen Ruine zu arbeiten. Wir können es schon noch eine ziemliche Zeit ohne besondere Unternehmungen aushalten; ich zwinge mich deshalb auch, die heutige Gesellschaft zu besuchen. Das Ausbleiben meiner Familie würde jedenfalls Stoff zu neuen Redereien geben; ich werde gehen, selbst auf die sichere Gefahr hin, diesem Maçon als besonders fêtirtem Gaste zu begegnen. – Sollte ich indessen vor der gewöhnlichen Aufbruchszeit verschwinden,“ schloß er in ruhigerem, vertraulichem Tone, „so thun Sie nur wohl die Liebe, Herr Gruber, die Mädchen unter Ihre Obhut zu nehmen; ich möchte ihnen nur ungern das Vergnügen verderben!“

„Wenn Sie befehlen, Herr Hellmuth, daß ich mich Ihnen anschließe,“ erwiderte der junge Mann zaudernd, „so werde ich mich allerdings dazu bereit halten; ich hatte bis jetzt nicht die geringste Absicht, von der mir gewordenen Einladung Gebrauch zu machen.“

Hellmuth sah rasch auf. „In Ihrem Alter nicht mit zum Balle?“ fragte er verwundert; „indessen habe ich Ihnen mit meiner Bemerkung nicht den geringsten Zwang anthun wollen. Folgen Sie durchaus Ihrer eigenen Neigung; ich werde jedenfalls auch aushalten können, bis man sich, ohne aufzufallen, entfernen darf.“

„Ich stehe, wie gesagt, zu Befehl, Herr Hellmuth, wenn Sie es besonders wünschen sollten –“

„Bitte, Herr Gruber, die Sache ist schon erledigt; es war [163] meinerseits eine völlig harmlos hingeworfene Bemerkung!“ erwiderte der Principal und sah nach der Uhr; „es wird übrigens Zeit, sich fertig zu machen.“

Trotz des leichten Tones aber lag etwas Trockenes in der letzten Entgegnung, das auffällig von seiner bisherigen Sprachweise abstach, und als er sich jetzt wandte, um die bereit stehende Wachskerze anzuzünden und sodann die Lampe zu löschen, sah Gruber einen Zug von steifer Kälte sich um Hellmuth’s Mund legen, welcher in den Mienen des jungen Mannes, als dieser dem wortlos vorausgehenden Principal folgte, einen Ausdruck von herber Bitterkeit, wie als Antwort, hervorrief. –

Eine Stunde darauf standen die beiden Schwestern, die elegante Balltracht unter einer leichten Hülle geborgen, innerhalb der geöffneten Hausthür, vor welcher bereits die Equipage hielt, des nachkommenden Vaters wartend.

„Aber wo ist Gruber?“ wandte sich plötzlich Eugenie nach dem zur Seite stehenden Willmann.

„Herr Gruber scheint zu Hause bleiben zu wollen, er hat sich den Thee nach seinem Zimmer bestellt!“ antwortete der Kleine ernst und schien nur mit Mühe einige Gesichtsverzerrungen unterdrücken zu können.

„Zu Hause?“ wiederholte Jene; „wollen Sie ihm wohl sagen, Willmann, ich würde ihn für diese Unart gar nicht mehr ansehen!“

„Ich glaube, Fräulein,“ sagte der Comptoirdiener, näher tretend, halblaut, „Sie haben diese Strafe schon abgenutzt, ehe er sie noch verdient gehabt, und nun weiß er es kaum anders!“

Das Mädchen schob hastig den Schleier, welcher die Frisur verhüllte, zurück, während sich das Gesicht höher färbte, und schien eine rasche Antwort auf der Zunge zu haben; aber die Tritte des herabeilenden Hausherrn ließen es zu keiner Aussprache gelangen, und zwei Minuten später führte die Equipage den Kaufherrn mit seinen Töchtern dem Ballorte zu.

Es war eine jener Festlichkeiten, bei denen die Mitglieder der Handels-Aristokratie, wenn auch der Einzelne nur jährlich einmal, den vollen Glanz ihres Reichthums entfalteten, und Hellmuth schien beim Eintritt in den großen geschmückten Saal in einer kritischen Betrachtung der gesammten Anordnungen fast die eigenen Sorgen zu vergessen. Er hatte nach langsamem Durchschreiten der bereits versammelten zahlreichen geputzten Menge seine Töchter endlich der Dame vom Hause zugeführt, sie dann in einem Kreise ihrer Altersgenossinnen zurückgelassen und sich aufgemacht, den Festgeber selbst zu finden. Als er sich langsam, hier und dort grüßend, wo ein bekanntes Gesicht vor ihm auftauchte, ohne daß er sich doch verleugnen durfte, wie ihm oft nur unsicher und mit einer gewissen Verlegenheit gedankt wurde, nach einem freieren Theile des Saales durchgearbeitet hatte, vergebens sich nach dem Hausherrn umsehend, trat ihm plötzlich die elegante Gestalt Maçon’s, das Gesicht mit einem freundlichen Ernst fest auf das seine gerichtet, entgegen.

Hellmuth wußte es wohl kaum selbst recht, daß er vor dieser Erscheinung plötzlich seinen Schritt angehalten und den Kopf mit dem Ausdrucke kalter Undurchdringlichkeit in seinen Zügen gehoben hatte; der Herankommende schien indessen kaum von dem ihm bevorstehenden Empfange Notiz zu nehmen.

„Herr Hellmuth,“ sagte er, auf den vor ihm Stehenden zutretend, mit leichter Dämpfung seiner Stimme, „ich möchte Sie bitten, mir Ihre Hand zu reichen, und Sie dabei versichern, daß, bei allen meinen Ansprüchen, die ich vollkommen festhalte, die ich sogar noch weiter ausdehnen werde, als Sie jetzt eine Ahnung davon haben, Sie diese Hand doch keinem Feinde reichen. Denken Sie daran, Herr Hellmuth, daß wir in diesem Augenblicke wohl mehr beobachtet sind, als wir es Beide wissen, daß es nichts als einer Bewegung Ihrerseits bedarf, um den verschiedensten Redereien innerhalb der Kreise dieser Gesellschaft, von denen ich selbst erst vor Kurzem, als der letzte und Unschuldigste, Mittheilung erhielt, die Spitze abzubrechen, und scheint Ihnen meine jetzige Weise, Angesichts Ihrer letzten Zeilen, räthselhaft, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich Ihren Standpunkt darin zwar völlig würdigen kann, daß sie mich aber kaum anders berührt haben, als wenn Sie ein neugeborenes Kind eines Mordes beschuldigten.“ Er streckte mit einem wunderbar klaren, siegenden Ausdrucke seines Auges die Hand dem Kaufherrn entgegen, und dieser, wenn auch langsam und bedächtig und nur überwältigt von der vorgeführten Bedeutsamkeit dieser „einen Bewegung seinerseits“, legte gehalten seine Hand in die gebotene. Maçon aber hielt nicht allein die Finger seines Gegners fest, sondern schob auch mit den Worten: „Und nun, Herr Hellmuth, führen Sie mich zu Ihren Fräulein Töchtern!“ seinen Arm unter den des Alten und setzte dann hinzu: „Wenn es Ihnen jetzt auch einen Zwang verursachen sollte, mich freundlich zu behandeln, Herr Hellmuth, so bitte ich doch darum. Denken Sie nur daran, daß wir damit den Menschen hier ein Räthsel aufgeben, das morgen in allen Comptoirs die Wogen der Vermuthungen gegen einander treiben wird; außerdem aber verspreche ich Ihnen, daß Sie morgen schon, unbeschadet aller meiner Ansprüche, mich in einer andern Weise als bisher beurtheilen sollen – jetzt ist eben keine Zeit, sich über dergleichen Dinge abzusprechen.“

In Hellmuth’s Zügen stritten die verschiedensten Empfindungen wunderlich gegeneinander, als er jetzt mit dem jungen Manne an seinem Arme wieder das Gewühl der Gäste durchbrach; allein der Ausdruck von Befremdung in einzelnen bekannten Gesichtern, auf welche sein Blick traf, regte ihn sichtlich an, auf den von dem Insulaner angeschlagenen Ton einzugehen. „Ich habe eigentlich noch nie an Ihrer Ehrenhaftigkeit gezweifelt, Herr Maçon,“ sagte er, „ich habe es schon geäußert, daß Sie viel zu viel von Ihrem großherzigen Vater haben, als daß Sie in dem wirklichen Cardinalpunkt jedes Charakters von ihm abweichen sollten, und nur die auf mich einstürmenden Erfahrungen der letzten Tage, deren Urheberschaft ich Ihnen jetzt gar nicht einmal zuschreiben möchte, konnten mich bewegen –“

„Wir sind schon in Ordnung, Herr Hellmuth, und ich hoffe, Sie sollen Ihre jetzige Freundlichkeit nicht bereuen. Dort sind aber die Damen –!“ unterbrach ihn der junge Mann, und der Kaufherr führte mit einem vollkommen klaren Gesichte und mit den Worten: „Kinder, hier ist unser Freund Maçon!“ seinen Begleiter dem Kreise junger Mädchen zu, in dem sich seine Töchter befanden. Als sich Jener aber von seinem Arme löste, wandte er sich ruhig nach dem Gewühl der Gäste zurück, aus welchem ihm jetzt, ungesucht, die stattliche Gestalt des Festgebers mit freundlichster Miene und ausgestreckter Hand entgegentrat.

Von den beiden Schwestern schien indessen nur Eugenie die Bemerkung ihres Vaters gehört zu haben und wandte sich mit leichtem Lächeln nach dem Herantretenden. Anna stand seitwärts völlig vertieft in ein Gespräch mit ihrer nächsten Nachbarin und schien es selbst nicht einmal zu bemerken, daß sie dem großen Theile des Saals den Rücken zukehrte.

„Kommen Sie, um nachträglich Abschied zu nehmen, Herr Maçon, oder unsere Gespräche da weiter fortzusetzen, wo sie neulich durch Ihr spurloses Verschwinden abgerissen wurden?“ fragte neckend Eugenie, so daß der junge Mann ihr einen forschenden Blick zuwarf. Das plötzliche rauschende Beginnen des ersten Orchestersatzes verhinderte seine Antwort; zugleich sah er sich auch von verschiedenen jungen Elegants umgeben, welche nur auf das Ende seines Gesprächs mit dem schönen Mädchen zu warten schienen, und wie von einem Zwange erlöst, trat er mit einer Verbeugung einen Schritt zurück, den wartenden jungen Tanzlustigen Raum gebend. Seine nächste Bewegung aber galt der jüngern Schwester, welche von seiner Anwesenheit kaum eine Ahnung zu haben schien. „Fräulein Anna, darf ich zu Ihnen sprechen?“ fragte er über ihre Schulter hinweg; er hatte des Musikgeräusches halber sich ihr jedoch so nahe zu biegen, daß sein Athem fast ihre Wange berühren mußte.

Sie wandte den Kopf um, ohne eine Ueberraschung zu verrathen, während ihre Gesellschafterin davon schlüpfte; ein helles Roth aber stand auf ihren sonst so bleichen Wangen, und ihr dunkelblaues großes Auge bebte leicht unter seinem Blicke.

„Haben Sie denn schon jemals meine Erlaubniß abgewartet, ehe Sie gesprochen haben?“ fragte sie; es hätte sich aber kaum bestimmen lassen, ob in ihrem Tone, wie in dem Ausdrucke ihrer Züge ein tiefer Ernst oder nur das mächtige Zurückhalten einer innern Bewegung lag. – Er faßte leicht nach ihrer Hand.

„Sie möchten doch jetzt ebenso wenig tanzen, als ich selbst,“ sagte er mit einer Art ruhiger Bestimmtheit; „lassen Sie uns einen kurzen Gang mit einander machen, der jetzt am wenigsten beachtet werden wird – ich muß heute Abend noch zwei Worte von Ihnen hören. Morgen schon sollen Sie eine volle Erklärung für meine nothgedrungene, Ihnen wohl ungewohnte Weise haben!“ Als er aber ihren Arm leicht unter den seinigen ziehen wollte, ging ein Zittern durch ihren ganzen Körper; ihre Hand zuckte in der [164] seinen und er hielt in seiner Bewegung inne. „Anna, bin ich im Irrthume gewesen, oder fürchten Sie ein ungehöriges Wort von mir?“ fragte er halblaut, und die volle Seele klang in seinem Tone.

Sie sah sich rasch um und schien im Erblicken der verschiedenen Gruppen in ihrer Nähe schnell ihre gewöhnliche Haltung wieder zu gewinnen. Dann überließ sie dem jungen Mann ihren Arm, welcher sie mit den warmen Worten: „So, ich danke Ihnen!“ in leichtem Schlendern nach einem der weniger gefüllten Theile des Saales führte.

„Sie sind mir noch die Antwort auf eine Frage schuldig,“ begann er hier, „die ich in dem Drange einer Minute an Sie that, in welcher sich mein ganzer fernerer Lebensgang und außerdem nicht mein eigenes Schicksal allein entscheiden mußte. – Es mag Erklärungen auch ohne Worte geben,“ fuhr er fort, „aber in den Verhältnissen, wie sie liegen, bedarf ich einer klar und muthig ausgesprochenen Aeußerung, eines offenen, fest zustimmenden Auges. Entsinnen Sie sich noch meiner Frage?“

„Es ist heute erst das dritte Mal, daß Sie mich zufällig und nur auf kurze Begegnung sehen!“ erwiderte sie.

„Und diese drei Male genügen Ihnen nicht?“ rief er lebhaft und bog in dem gleichen Augenblicke rasch nach einem der offenstehenden, noch leeren Seitenzimmer ein. „Habe ich Sie nicht,“ fuhr er, hier stehend bleibend und fest ihre beiden Hände fassend, fort, „das erste Mal durch Nacht und Morast auf meinen Armen getragen, wie ich Ihren Fuß auf dem ganzen Lebenswege vor jedem unebenen Tritte bewahren möchte? waren Ihnen meine Arme nicht stark genug? Und das zweite Mal – wissen Sie denn nicht, daß Sie mir mit dem, was Sie deutsches Salz nannten, ganz deutlich sagten: Ich könnte Dich hassen für die Weise, in der Du mich nach dem mir geleisteten Dienste ignorirt hast, als solle dies eine Strafe für meine frühere Zurückhaltung sein – für die Weise in der Du jetzt unter uns trittst, als dürfe Dich kaum eine Unfreundlichkeit von irgend einer Seite berühren; ich könnte Dich hassen darum – wenn ich es nur vermöchte! Denn hätten Sie sich wohl, einem gehaßten oder auch nur gleichgültigen Fremden gegenüber, so gedrängt gefühlt, ihm zu zeigen, was deutsche Musik sei, und damit ihm Ihre ganze Seele zu öffnen? – Und das dritte Mal –? ich war wild, ungestüm; aber hätte ich es sein können, wenn nicht schon ein fester Glaube an Das, was ich als mein einziges ferneres Glück erkannt, in mir gelebt, wenn dieses Glück nicht von der einen Minute, die mir gegönnt war, abgehangen hatte – und diese drei Male, Anna, sollten nicht genügen für eine klare bestimmte Antwort?“

Sie stand vor ihm, als bebe ihr geheimes inneres Leben noch immer davor, den Schleier, der es bis dahin verhüllt, von sich zu werfen. „Wissen Sie wohl,“ sagte sie, während ein süßes Lächeln um ihren Mund aufstieg, „daß Eugenie Sie einen modernen Dämon nennt, der nur des rechten Willens bedürfe, um eine Seele zu bestricken –?“

„Aber Sie, Anna, Sie glauben an einen guten Dämon!“ unterbrach er sie in drängender Hast.

„Ich will es!“ sagte sie, ihm voll in das Gesicht blickend, während er den Druck ihrer beiden feinen Hände fühlte; dann aber riß sie sich mit einer kräftigen Bewegung los und eilte mit plötzlich überströmenden Augen nach dem Hintergrunde des Zimmers. Er warf einen raschen Blick um sich, hinaus in den von Musik, Glanz und Duft durchwehten Saal, wo sich die Gäste zu der sich entwickelnden Polonaise gruppirten, und war mit drei Schritten dem Mädchen nach. „So nicht, Anna, so nicht! morgen habe ich Worte zu sprechen, zu denen ich volle Ueberzeugung bedarf – und dies ist unsere Verlobung!“ rief er gedämpft, während sein Arm zugleich die feine Gestalt umschlang. Sie hob das Gesicht unter Thränen lächelnd zu ihm – zwei, drei Mal legte sich sein Mund wie im vollen bewußten Genusse der Berechtigung auf ihre weichen Lippen; dann aber entwand sie sich ihm von Neuem, schlug die Hände vor das Gesicht und flüchtete nach einem der Divans, die Gluth ihrer Wangen in den elastischen Kissen bergend. „Ich gehe, meine Anna,“ flüsterte er ihr zu, einen leisen Kuß auf ihr duftendes Haar drückend, „ich habe hier nichts mehr zu suchen – morgen sehen wir uns wieder. Dann sollst Du Deinen guten Dämon erkennen lernen.“ – – Hellmuth wurde an diesem Abend sowohl von dem Hausherrn als von verschiedenen andern Seiten nach dem verschwundenen Maçon gefragt, zog aber immer nur die Achseln in die Höhe und sagte: „Er kam zu mir, damit ich ihn meinen Töchtern zuführe – das ist Alles, was ich von ihm weiß!“

Und als er später die veränderte Stimmung gegen ihn, auf welche er an diesem Abende am wenigsten gerechnet, zur Genüge meinte genossen zu haben und die beiden Mädchen aufsuchte, fand er bei diesen eine eben so unerwartete Bereitwilligkeit, mit ihm den Ball zu verlassen. Eugenie behauptete, noch nie ein solches Assortiment der langweiligsten Tänzer bei einander getroffen zu haben, und Anna, die jedes Engagement zum Tanze ausgeschlagen, wollte von den peinlichsten Kopfschmerzen befallen worden sein.

Als der Wagen, der die Familie heimführte, die Nebenstraße passirte, welche theilweise durch das Seitengebäude des stattlichen Hellmuth’schen Hauses gebildet ward, blickte im obersten Stock des Ersteren noch ein hell erleuchtetes Fenster hernieder.

„Dort oben sitzt er nun noch bei irgend einer Arbeit oder einem dummen Buche,“ flüsterte Eugenie der Schwester zu, „und kümmert sich nicht darum, ob ich mich langweile oder nicht. Ich glaube beinahe, er verlangt, daß ich ihm eine Erklärung mache!“

„Es giebt Erklärungen auch ohne Worte,“ gab Anna, noch halb in ihren Gedanken verloren, zurück, „und mehr konntest Du ohne bestimmte Aufmunterung kaum von ihm erwarten!“

„Ohne Worte!“ wiederholte die Erstere schmollend, „darauf verstehe ich mich nicht. Ich wollte lieber, er könnte es zu einem einzigen deutlichen und herzhaften Satze gegen mich bringen, und wäre es selbst im Bösen!“

Anna schüttelte leise den Kopf. „Man soll das Böse nicht herbeirufen, es kommt schon gar zu oft von selbst!“ sagte sie.

Das Halten des Wagens schnitt das weitere Gespräch ab.

(Schluß folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von Brehm
3. Im Raubvogelgebauer.

Der Unterschied zwischen Thiergärten und Thierschaubuden springt hauptsächlich dann in die Augen, wenn man sich von den Raubsäugethieren zu der übrigen Bewohnerschaft eines Thiergartens wendet. Die Raubsäugethiere können leider auch im Garten kaum anders gehalten werden, als in der Menagerie: – starke, eiserne Gitter vor einem verhältnißmäßig kleinen Käfig sind die Bedingungen, welche der Beschauer wegen nicht wohl umgangen werden können. Man hat zwar in der Neuzeit auch für die Katzen würdigere Wohnräume zu bauen angefangen, und namentlich dem Thiergarten zu Dresden gebührt der Ruhm, zuerst ein entsprechendes Raubthierhaus errichtet zu haben; im Allgemeinen aber gehören gerade die Raubthiere noch zu den beklagenswerthesten Gefangenen eines Thiergartens.

Anders ist es mit ihren Vertretern in der zweiten Classe. Die Raubvogelgebauer fast aller Thiergärten sind mehr oder minder großartig und verfehlen deshalb auch den beabsichtigten Eindruck nicht. Freilich ist auch der größte Gebauer dem Adler ein erbärmlicher Käfig; freilich kann von uns kein Raum geschaffen werden, welcher ihm genüge; dem ungeachtet muß man anerkennen, daß wenige Gehege in den Thiergärten so zweckentsprechend eingerichtet sind, wie gerade die für die Raubvögel bestimmten Gebauer. Man darf behaupten, daß die Vögel eben soviel Freiheit erhalten, als sie erhalten dürfen. Sie finden, wenn der Raum im Uebrigen zweckentsprechend eingerichtet ist, Alles, was ihnen Noth thut, und beweisen durch ihr Benehmen bald genug, daß es ihnen in ihrem Gefängnisse wohl behagt.

Das Raubvogelgebauer des Hamburger Thiergartens gehört zu den besteingerichteten, welche bis jetzt erbaut worden sind. Der ganze Bau ist freilich, wie sich bereits herausstellt, für Hamburg viel zu klein, die einzelnen Räume aber genügen größtentheils dem

[165]

Das Raubvogelgebauer des Hamburger Thiergartens.
Nach der Natur aufgenommen von H. Leutemann.

[166] Erforderniß. Namentlich der mittelste, mit welchem die durchaus wahrheitsgetreue Zeichnung unseres Leutemann den Leser bekannt macht, ist ein prächtiger Bau von 25 Fuß Tiefe, 30 Fuß Breite und 36 Fuß Höhe, an welchen sich nach hinten ein bedeckter kammerartiger Raum anschließt, dazu bestimmt, den Vögeln bei sehr rauhem und unangenehmem Wetter zum Rückzug zu dienen. Zwei Eichbäume und ein künstlicher Felshaufen gewähren ihnen innerhalb des Gebauers die nöthigen Ruheplätze, ein großes seichtes Wasserbecken bietet ihnen Gelegenheit zu dem Allen unumgänglich nothwendigen Bade, und der geräumige, mit reinlichem Kies bedeckte Fußboden endlich ein von Allen ersehntes Lager zur behaglichen Ruhe. So können sie sich nach Belieben bewegen; sie können laufen, fliegen, sich reinigen, miteinander kämpfen und endlich sich gemüthlich hinstrecken, um sich im Strahle der Sonne zu wärmen. Ihr Leben fließt deshalb verhältnißmäßig sehr angenehm dahin, und es will fast scheinen, als hätten sie alle Sehnsucht nach der goldenen Freiheit verloren.

Die Geräumigkeit eines solchen Gebauers bietet aber noch andere Vortheile. Sie ermöglicht, verschiedene Raubvogelarten zusammenzuhalten. Es will mir scheinen, als wage man in den meisten Thiergärten nicht, dies zu thun; ich bin aber von allem Anfang an meinen eigenen Grundsätzen gefolgt, weil ich mich immer bemüht habe, das Freileben der Thiere als für das Gefangenleben maßgebend zu betrachten. So sind denn vom Anfang an sehr verschiedene Raubvogelarten in dem großen Käfig zusammengesperrt worden, selbstverständlich aber mit sorgfältigster Berücksichtigung der Eigenthümlichkeiten dieser Arten. Meine früheren Beobachtungen der freilebenden Thiere haben mich die Gesellschaft kennen gelehrt, welche zusammen paßt, d. h. einfach die, welche sich verträgt oder wenigstens erfolglos befehdet. Daß diese Gesellschaft eine sehr gewählte sein muß, wird Jeder glauben, der Raubvogel kennen lernte, und weiß, daß diese mit einem nicht zu ihnen gehörigen Thiere nicht viele Umstände zu machen, sondern es ohne Gewissensbisse zu überfallen und aufzufressen pflegen. Das Letztere haben auch unsere Raubvögel gethan, als ich, natürlich mit werthlosen Thieren, weitere Versuche machen wollte, für deren Gelingen mir die im Freien gesammelten Beobachtungen fehlten, während sich dagegen herausstellte, daß alle diejenigen, welche in der Wüste z. B. an einem Geiermahle theilnahmen, auch im Käfig zusammengehalten werden dürfen.

Gegenwärtig beherbergt der Mittelraum des Raubvogelgebauers einige zwanzig Vögel, welche sieben verschiedenen Arten angehören und sich als ebenbürtig betrachten. Daß damit keineswegs gesagt sein soll, diese Ebenbürtigen lebten fortwährend im tiefsten Frieden zusammen, beweist unsere Abbildung schlagender, als ich dies mit Worten ausführen könnte. Ohne Kampf und Streit geht es nun einmal im Räuberleben nicht ab, ja, Kampf und Streit ist gewissermaßen die Würze desselben.

Die beiden edeln Recken, welche sich soeben auf unserm Bilde zu einem Zweikampfe anschicken, gehören zwei verschiedenen Familien an: der schwebende ist ein Adler und zwar der Seeadler, der stehende ein Geier und zwar der größte altweltliche, der Ohrengeier. Zwischen ihnen streckt der schöne Sperbergeier, welchen ich wissenschaftlich zu Ehren Rüppel’s benamst habe, ein Afrikaner, seinen Hals vor, rechts davon beschäftigt sich ein gewöhnlicher Gänsegeier eifrig mit den glücklich eroberten Knochen, während ein Mönchsgeier, unbekümmert um den losbrechenden Kampf, die günstige Gelegenheit wahrnimmt, den Zankapfel der beiden Streitenden für sich auszunutzen. Die Stein- und Goldadler, welche denselben Raum bewohnen, sind auf diesem Bilde nicht sichtbar.

Mit Ausnahme des Sperber- und des Ohrengeiers sind die hier gezeichneten Raubvögel wahrscheinlich alle Bekannte meiner Leser. Der eine oder der andere wird von den reisenden Thierkundigen von Messe zu Messe, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt geschleppt und hier dem lernbegierigen Beschauer gebührend vorgestellt. Da ist zunächst der Mönchsgeier, ein Bewohner Südeuropa’s, von dunkelbrauner Farbe, mit ziemlich befiedertem Kopfe, ein gutmüthiges, fast harmloses Geschöpf, welches sich ausschließlich von Aas nährt: ihm liegt es ob, als „Vogel Greif“ sein Publicum zu fesseln. Der Gänsegeier, ein etwas bissigerer, aber im Ganzen auch sehr unschuldiger Geselle, an seinem nackten Hals und der bräunlichen Färbung kenntlich, ist der verrufene „Lämmergeier“ der Thierschausteller, derselbe, welchem auf den mehr oder minder gelungenen, immer aber romantischen Menageriebildern die schwere Aufgabe zufällt, Ziegen, Schafe, Rinder und andere gewichtige Beutestücke durch die Lüfte zu tragen, mit furchtbar bewaffneten Jägern ingrimmig zu kämpfen und andere Schandthaten auszuüben, von denen sein Herz sich Nichts träumen läßt. Der Seeadler endlich, ebenfalls ein gewöhnliches Schaustück der Herren wandernden Naturforscher, weil er, als der häufigste deutsche Adler, für wenig Geld erworben werden kann, ist der in Wahrheit zu fürchtende Adler, welcher unter Umständen an einem kleinen Kinde oder einer kleinen Ziege sich vergreifen kann. Ohren- und Sperbergeier bekommt man in den Schaubuden nicht zu sehen: sie sind zu selten und zu theuer. Hinsichtlich des Letzteren ist dies nicht zu bedauern, weil er nur den Kundigen besonders anzieht, der Ohrengeier dagegen verdient wohl von jenen phantasiereichen Thierbeschreibern verherrlicht zu werden. Er ist mindestens so groß, wie der Kondor, von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze fast 4 Fuß lang und von einer ausgebreiteten Schwinge zur andern 101/2 Fuß breit (wonach, beiläufig bemerkt, die Angaben über Länge und Breite eines Kondors zu berichtigen sind), besitzt einen gewaltigen Kopf und einen wahrhaft furchtbaren Schnabel, welcher im Stande ist, mit einem Bisse die stärkste Lederhaut eines Thieres zu zerreißen, hat eine ganz bedeutende Kraft und erhebt sich fliegend in ungeheure Höhen, bietet also Stoff genug zu ausführlicher Schilderung. Zählen wir den genannten nun noch Gold- und Steinadler, die edelsten Gestalten ihrer Familie, zu, so ersehen wir, daß wir es wirklich mit einer sehr theilnahmswerthen Gesellschaft zu thun haben.

Die meisten Besucher unseres Thiergartens werden von den Raubvogeln nicht in dem Grade gefesselt, als man erwarten sollte. Es ist dies einfach auf Mangel an Kenntniß des Lebens und Treibens dieser Thiere zurückzuführen. Auch in dem großen Raume bleibt der gefangene Geier oder Adler immer ein Gefangener, welcher nicht im Stande ist, sich in seiner vollen Schönheit zu zeigen. Den größten Theil des Tages über sitzt er still und ruhig mit lässig getragenem Gefieder auf dem einmal gewählten Platze so hoch als möglich, dem Wind und Wetter oft rücksichtslos, d. h. ganz ohne Noth, preisgegeben. Im Freileben widmet er seinem Flugspiele einen großen Theil des Tages. Er kreist oft zwecklos umher, beschreibt wundervolle Schraubenlinien, erhebt sich zu Höhen, daß er dem menschlichen Auge verschwindet, schwebt langsam wieder herab und zieht hin und her, so recht im Vollgefühl seiner gestählten Kraft. Ermüdet von diesen Spazierflügen sucht er sich eine Felszacke oder hohen Baum, läßt sich hier nieder und verfällt in einen träumerischen Halbschlummer, wobei er gelegentlich, gleichsam unbewußt, in seinem Federwamse nestelt. Unter günstigen Verhältnissen beansprucht seine Nahrung nur einen kleinen Theil des Tages. Dem scharfen Auge entgeht eine sich bietende Beute nicht, und wenn diese hinreichend groß ist, genügt sie nicht blos für einen, sondern oft für mehrere Tage. Da bleibt also viel Zeit zum Spielen und viel Zeit zur Ruhe übrig, und zwischen diesem Beiden wechselt der Tageslauf. Anders gestaltet sich das Leben des Raubvogels während der Brutzeit. Die Ernährung der wenigen Jungen verursacht viel bedeutendere Anstrengungen und gewährt wenig Zeit zu den Spielen, obwohl gerade diese während der Fortpflanzungszeit am lebhaftesten betrieben werden; denn vor der Paarung kreisen die beiden Gatten viel länger als sonst in der Nähe des gewählten Nistplatzes umher, und während das Weibchen brütet, unterhält es das Männchen, welches für Jenes Ernährung zu sorgen hat, in der ihm bleibenden freien Zeit durch prächtige Flugspiele. Dann beginnt die Lehre und der Unterricht der Jungen, und auch dies verlangt eine angestrengte Thätigkeit der Alten. Der gleichmäßige Tageslauf fängt also erst nach der Brutzeit an. In heißen Gegenden oder im Sommer wird sonst noch ein Theil des Tages der gründlichen Reinigung des Gefieders, d. h. dem Baden, gewidmet und hierauf ein halbes Stündchen in träger Ruhe verbracht.

Ein solches Freileben vermag der gefangene Raubvogel natürlich nicht zu führen, und eben deshalb erscheint er langweiliger, als er in Wahrheit ist. Der regelmäßige Beobachter aber überzeugt sich bald, daß das stolze Thier auch in der Gefangenschaft der Beachtung würdig ist. Die scheinbare Ruhe der ganzen Gesellschaft eines derartigen Gebauers, wie wir es vor uns sehen, wird augenblicklich unterbrochen, wenn sich Gelegenheit zum Handeln bietet. Namentlich in den Frühstunden um die Futterzeit geht es oft sehr lebhaft in unserem Gehege her, noch viel lebhafter, als man nach [167] unserer Zeichnung annehmen mag. Das für die gesammte Bewohnerschaft bestimmte Futter wird nicht jedem Einzelnen besonders zugetheilt, sondern einfach in den Raum geworfen, und jedem Hungrigen bleibt es überlassen, sich selbst seinen Theil zu erbeuten.

Sofort nach Ablegung des Fleisches stürzen sie sich, groß und klein, von der Höhe herab, und um die Nahrung bildet sich ein wirrer Haufen von Streitlustigen, in welchem jeder Einzelne der Gesammtheit feindlich gegenübersteht und diese ihm. Es wird mit allen Waffen gekämpft und zu jedem Mittel gegriffen, um sich des besten Bissens zu bemächtigen; nicht blos durch die rohe Gewalt, sondern auch durch abgefeimte List sucht der Einzelne seinen Zweck zu erreichen, doch geht es auch hier wie überall: der Mächtigste und Gewandteste hat das größte Recht. Man würde irren, wenn man glauben wollte, daß der Stärkste derjenige wäre, welcher die Andern beherrscht und übervortheilt. In unserm Raubvogelgebauer kommt regelmäßig der Sperbergeier am besten weg, Dank seinem Muthe oder richtiger seiner listigen Bosheit. Wenn Alles von oben sich herabstürzt, ist er bereits unten angelangt und erwartet die Kommenden. Das Gefieder gesträubt, den langen Hals eingezogen, sitzt er mit funkelndem Auge vor dem Fleische, ohne es anzurühren, aber augenscheinlich bedacht, es gegen jeden Andern zu vertheidigen. Der zusammengekröpfte Hals schnellt wie ein Blitz vor, nach allen Seiten hin, und jeder seiner Genossen fürchtet sich, einen der Bisse zu erhalten. In solchen Augenblicken hat das Verfahren des Sperbergeiers täuschende Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie eine Giftschlange sich zum Bisse anschickt, und diese Aehnlichkeit wird um so größer, weil der Vogel dabei fortwährend ein heiseres, ich möchte sagen, giftiges Zischen vernehmen läßt. Es ist eine alte Erfahrung von mir, daß die langhälsigen Geier viel boshafter sind, als die kurzhälsigen, welche durch eine gewisse Gutmüthigkeit sich auszeichnen; erst hier aber habe ich erfahren, daß von allen Langhälsen der Sperbergeier der kühnste, rauflustigste und deshalb der gefährlichste ist. Der unsrige hält nicht blos die Ohren- oder Mönchsgeier und die Seeadler im Zaum, sondern auch die ihm so nahe verwandten Gänsegeier, welche oft gemeinsam sich anschicken, ihm eine gefaßte Beute zu entreißen.

Die Unverschämtheit dieses Vogels, welcher es regelmäßig dahin bringt, seine Genossen so lange vom Fressen abzuhalten, bis er sich selbst gesättigt hat, entrüstet die Andern in hohem Grade; weil aber Keiner wagt, sich an ihm zu vergreifen, macht sich diese Entrüstung immer in einem Kampf zwischen den Uebrigen Luft. Der Seeadler, welcher eben einen wohlgezielten Biß von dem Sperbergeier empfangen hatte, wendet sich zornig gegen den vollkommen unschuldigen Ohrengeier, welcher seinerseits natürlich sofort den Kampf aufnimmt und sich nun mit Jenem herumzaust. Der Anstifter nimmt eine solche Gelegenheit schleunigst wahr und würgt die besten Bissen hinab, ohne jedoch seine drohende Miene auch nur einen Augenblick aufzugeben. Erst wenn er sich gesättigt hat, erlaubt er auch Andern, diesen oder jenen Brocken wegzunehmen, und außerdem gelingt es namentlich den Adlern oft durch kunstgerechtes Niederstoßen ein Stück Fleisch zu erbeuten und auf die Seite zu schaffen. Dann fallen freilich regelmäßig die Gänsegeier über den Glücklichen her und nehmen ihm das sauer Erworbene wieder ab.

Es ist überaus anziehend, das Gesammtspiel dieser Vögel zu beobachten. Jeder Einzelne bekundet die größte Aufmerksamkeit, Jeder ist eifrig bedacht, den günstigen Augenblick zu benutzen, und jeder Einzelne kämpft nur mit sichtlichem Widerstreben gegen den, welcher ihn durch rohe Gewalt in seinem Vorhaben zu stören sucht; aber jeder Einzelne muß kämpfen, denn so lange noch ein Bissen erobert werden kann, ist die ganze Gesellschaft fortwährend in Bewegung. Die Hauptmenge ist unten auf dem Boden im Kampfgewühl, die Listigsten aber stoßen nur bei gelegener Zeit von der Höhe zur Tiefe hernieder und steigen so schnell als möglich wieder nach oben empor. Dazwischen hört man lebhaftes Zischen, kicherndes und gackerndes Schreien, das Fuchteln der Flügel und das Schnappen der Schnäbel. Manchmal wird Einer ohne seinen Willen mitten in das Kampfgewühl gezogen, die ganze Rotte fliegt, flattert und wälzt sich über ihn her, und er hat große Noth, wieder davon zu kommen, falls ihn der Vorfall nicht so entrüstet, daß er ebenfalls zum thätigen Streiter wird. Allein eine gewisse Ruhe tritt schließlich dennoch ein. Gerade durch den heftigen Streit ist die Nahrung auseinander gezerrt und auf verschiedene Stellen des Käfigs vertheilt worden; der eine und der andere Adler hat sich ein schönes Stückchen erobert und verzehrt es oben auf dem Felsen oder sichern Baum; ein Geier hat einen hübschen Knochen erwischt, an dem noch etwas abzunagen, und schleppt diesen vergnügt einem Winkel zu, weil er dort meint, ihn am besten decken zu können; Einer und der Andre ist auch satt geworden und dann gewissermaßen froh, dem Gewühl zu entgehen; kurz, schließlich sieht man nur noch Diejenigen, welche in der Hitze des Gefechts am wenigsten glücklich waren, einzelne Knochen benagen. In einer guten halben Stunde ist das Mahl gewöhnlich beendet und außer einigen abgebissenen Federn und den sorgfältig entfleischten Knochen keine Spur des Streites mehr zu entdecken.

Bald nach dem Fraße gruppirt sich die edle Gesellschaft in den prächtigsten Stellungen auf den Felsen und Bäumen. Jeder Einzelne hat das Gefieder wieder in Ordnung zu bringen, zu putzen und zu glätten. Ein freundlicher Sonnenblick wird von Allen gewissermaßen mit Jubel begrüßt und sofort möglichst benutzt; zumal die Geier erfreuen sich der Wärme, breiten so recht behaglich ihre Flügel aus, um sie ganz zu genießen, und verweilen halbe Stunden in dieser Lage. Einige Zeit später geht es zum Baden. Das große, aber seichte Wasserbecken, welches tagtäglich mehrmals mit reinem Wasser gefüllt wird, ist jetzt der gesuchteste Ort im ganzen Gehege. Alle Raubvögel ohne Ausnahme sind sehr reinliche Thiere und dulden keinen Schmutz an ihrem Gefieder, so lange es in ihrer Macht steht, diesen zu beseitigen. Sie legen sich so tief in das Becken, daß das Wasser ihren ganzen Körper umspült, und wälzen und bewegen sich lebhaft umher, bis sie von Nässe triefen. Dann beginnt eine neue Ordnung des Gefieders und hierauf bei Sonnenschein ein Mittagsschläfchen, wobei sie sich sehr oft wie unsere Hühner platt auf den Bauch legen und die Beschauer verleiten, sie als todt oder wenigstens sehr krank und sterbend zu bedauern. Gegen Abend sucht sich dann Jeder seine gewohnte Schlafstelle in der Höhe auf.

So kluge Thiere, wie die Raubvögel es sind, lernen ihren Wärter und Pfleger sehr bald kennen. Alle Geier achten den Menschen, welcher sie füttert, und wagen es nicht, ihn anzugreifen, so muthig sie sonst den sich ihnen Nähernden auch entgegentreten; doch geben sie kein Zeichen von Vergnügen kund, wenn ihr Wärter sich naht. Dies thun nur die Adler und unter ihnen wieder vorzugsweise die Seeadler. Ihr prächtiges Auge unterscheidet den Wärter auf große Entfernungen, und sie verfehlen niemals, ihn mit lautem hellem Schreien zu begrüßen, wenn er von fern sich zeigt. Die gleiche Ehre wird mir zu Theil, sobald ich mich dem Gebauer nähere, und wenn erst Einer begonnen hat, fällt dann regelmäßig die ganze Gesellschaft jubelnd ein. Nach und nach hat sich zwischen den Wärtern und ihren Gefangenen ein wahres Freundschaftsverhältniß ausgebildet.

Aber noch mehr. Ich habe nicht ohne Grund gesagt, daß unsere Gefangene ihren Käfig wirklich liebgewonnen haben, sondern kann dies auch beweisen. Eines Morgens flog einer der Seeadler so heftig gegen die biegsamen Eisenstangen des Gebauers, daß diese aus den Nuten sprangen und dem Vogel Durchlaß gewährten. Er schien sehr beglückt zu sein über die erlangte Freiheit und machte denn auch von ihr sofort in wirksamster Weise Gebrauch. Mit fröhlichem Geschrei erhob er sich hoch in die Lust und strich nun über den Garten dahin, zu großer Freude der gerade dort sich befindenden Besucher. Am obern Teich ließ er sich auf Augenblicke nieder, und wir schmeichelten uns schon mit der Hoffnung, daß er vergessen haben könnte, wie leicht es ihm sei, uns zu entrinnen. Er ließ sich jedoch nicht fangen, sondern erhob sich von Neuem und entschwebte bald unsern Blicken. Wir gaben ihn natürlich verloren. Aber siehe da – nach Verlauf weniger Tage war er plötzlich zurückgekehrt, wurde jubelnd begrüßt von den aufmerksamen Cameraden unten im Käfig, antwortete nicht minder erfreut und ließ sich oben auf der Decke des Gebauers nieder. Selbstverständlich wurde sofort berathschlagt, in welcher Weise der Flüchtling wieder erlangt werden könne, und der Beschluß gefaßt, ihm oben auf dem Gebauer ein Tellereisen zu stellen. Am ersten Tage war dies vergeblich; denn der Vogel entfloh bei Annäherung des mit dem Fallenstellen beauftragten Mannes, ließ sich aber auf einem der nächsten Bäume nieder und blieb hier sitzen, bis er von Vorübergehenden entdeckt und durch Steinwürfe zum Auffliegen genöthigt wurde. Nunmehr wandte er sich einer der nächsten Straßen zu und ließ sich hier auf der First eines Daches nieder, bis er, auch von dort vertrieben, wiederum die Weite suchen mußte. Am [168] folgenden Tage war er schon bei guter Zeit wieder im Garten und nahm wie vorher oben auf dem Raubvogelgebauer Platz, aber auch an diesem Tage entging er allen Nachstellungen. Der dritte Tag erst brachte ihn in unsere Gewalt. Die rauhe Fremde draußen mochte ihn unwürdig empfangen und ihm das Wichtigste, die Nahrung, versagt haben. Durch seinen langen Aufenthalt im Käfig verwöhnt oder vielleicht nicht einmal von seinen Eltern gehörig unterrichtet, verstand es der Arme nicht, nach Art anderer Räuber das tägliche Brod sich zu erbeuten. Er dachte sicherlich mit Sehnsucht an die Fleischtöpfe Aegyptens, als er das erste Mal sich anschickte, zu seinem alten Wohnsitze zurückzukehren. Der Hunger war es auch, welcher den Verlust seiner Freiheit herbeiführte. Lange Zeit und sehnsüchtig hatte er durch die Gitter nach den Fleischstückchen und bereits abgenagten Knochen gespäht, da kam ihm die leckere Lockspeise zu Gesicht, unbedacht versuchte er sich derselben zu bemächtigen und war im nächsten Augenblick mit einer unbehaglichen Halskrause geziert. Der achtsame Wärter befreite ihn so rasch wie möglich aus der Falle und brachte ihn wieder nach dem Gesellschaftskäfig, in welchem er heute noch lebt, scheinbar sehr zufrieden mit sich und der Welt.

Auf die anderen Bewohner des Käfigs hatte der Vorfall offenbar einen großen Eindruck gemacht. Sie alle waren mit Theilnahme dem frei in den Lüften umherfliegenden Cameraden gefolgt; sie hatten ihn jubelnd begrüßt, als er sich wieder zeigte, und wahrscheinlich eingeladen, zu ihnen herabzukommen. Als er oben auf der Höhe des Käfigs saß, waren Aller Augen nach ihm gerichtet, und jede seiner Bewegungen wurde theilnehmend verfolgt. So wurde denn auch das Gelingen der tückischen Menschenlist von sämmtlichen Raubvögeln wahrgenommen. Sie hatten gesehen, daß das Aufnehmen des Fleisches unter Umständen gefährlich werden konnte, und dies war ihnen genug. Mißtrauisch schauten sie das ihnen bald darauf vorgeworfene Futter an, und Keiner wollte, nachdem, was er soeben erfahren, seinen Hals wagen. Sie sahen mit lüsternen Blicken hernieder, blieben aber hartnäckig in der Höhe des Gebauers. Endlich konnte einer der Geier seine Begierden nicht länger zähmen, er flog herab, nahte sich vorsichtig dem Fleischhaufen, betrachtete ihn aufmerksam prüfend von allen Seiten, versuchte schüchtern ein Bröckchen zu nehmen, erfuhr, daß dies mit durchaus keiner Gefahr verknüpft war, und begann dann auch sofort eifrig zu fressen. Solch Beispiel verfehlte seine Wirkung nicht: wenige Minuten später hatte sich um das Fleisch das gewöhnliche Gewühl und Gewimmel gebildet.




Eines Bühnenhelden Glück und Ende.

Von Franz Wallner.

Im Frühling 1833 war’s, als alle Knospen sprangen und die Sehnsucht alles Lebende in’s Freie trieb. Wilhelm Kunst, der beliebteste Schauspieler Wiens, hatte mit der Aufführung des gerne gesehenen Stückes: „Das Irrenhaus zu Dijon“ ein brillantes Benefiz gemacht, und Director Carl, in dankbarer Anerkennung der Summen, die ihm das Talent des Künstlers eingebracht, hatte außer dem klingenden Ertrage dieser Einnahme noch einem Lieblingswunsche Kunst’s in großmüthigster Weise Rechnung getragen und diesem ein prachtvolles Reitpferd zum Geschenk gemacht. Zum Danke für diese bei Carl sehr seltne Generosität benutzte Kunst das Thier zu einem Probe- und Spazierritt von Wien nach – Hamburg, und „Roß und Reiter sah Carl niemals wieder.“

Die ganze künstlerische Laufbahn Kunst’s bestand in einem fortwährenden Abschiednehmen „sans adieu“, mit mehr oder weniger Eclat, bis sich am Ende die verschiedenen Bühnenleiter um sein Kommen so wenig kümmerten, als um sein Gehen; und der Mann, welcher während seines bewegten Lebenslaufes Summen verdient hatte, ausreichend zur sorgenfreien Existenz von zehn Familien, starb in der Nacht zum 17. November 1859 in einem verfallenen, unscheinbaren Hause in der Josephstadt, in einer winzigen Kammer; er, dem keine Wohnung reich und kostbar genug möblirt gewesen, fand seine letzte Ruhestätte in einem einfachen Armensarg, zu welchem die vier Wachskerzen, die denselben umstanden, von der Milde der Collegen bezahlt werden mußten, welche auch die letzten Lebenstage des Heimgegangenen vor dem bittersten Mangel geschützt und das Grab des „alten Cameraden“ mit einem Denkstein schmückte! –

Welch’ ein gewaltiger Contrast taucht in meiner Erinnerung an einen Abend auf, den ich als junger Mann in den Prunkgemächern der Kunst’schen Wohnung verlebte! Alle seine Collegen hatte der Gefeierte zu einer Soiree zu sich gebeten; was der raffinirteste Luxus an Naturalverpflegung erfinden konnte, war aufgeboten, um die Gaumen der Geladenen zu kitzeln, die Räume der Wohnung im Spielmann’schen Hause am Graben glänzten in einem Meere von Lichtern. Natürlich erhitzten sich auch die Köpfe der größtentheils aus jungen Leuten bestehenden Versammlung; immer toller, wüster und lärmender wurde das Gelage; einer der Anwesenden setzte sich an das Clavier, welches an der Thüre der an Kunst’s Wohnung stoßenden Zimmer aufgestellt war, die an seinen Nachbar, einen Graf M. von der spanischen Gesandtschaft, vermiethet waren. Wie ein Rasender ließ der tolle Gast seine Finger über die lärmenden Tasten fliegen, und entlockte diesen ein Charivari, welches nichts weniger als angenehm zu hören war, besonders um 2 Uhr Morgens und für einen jungen heißblütigen Spanier, der bei diesem nervenaufregenden Spectakel vergebens zu schlafen versuchte. Gewaltige Schläge an die benachbarte Thüre deuteten, auf allerdings sehr derbe Art das Verlangen nach Ruhe an, Schläge welche das übermüthige Künstlervolk seinerseits mit Wucher an derselben Thüre zurückgab.

Dieses Hin- und Hergeklopfe, von einer Seite immer unwilliger, auf der anderen immer toller und muthwilliger, hatte bereits eine Weile gedauert, als der anwesende, bereits sehr exaltirte Schauspieler Würth erklärte, er wolle diese „Ungezogenheit“ nicht länger dulden und den „Friedenstörer“ zur Rede stellen. Niemand achtete auf diese Renommage, als nach kurzer Panse Würth wieder mit dem Ausruf: „Ich bin getödtet!“ in’s Zimmer stürzte; aus der rechten Backe sprudelten zwei Blutströme fontainenartig heraus. Mit einem scharfen zweischneidigen Instrument war derselbe derartig verwundet worden, daß die Spitze sichtlich auf einer Seite der Backe hinein- und auf der anderen herausgestoßen worden sein mußte.

Man denke sich das Entsetzen der erst so tollfröhlichen Gesellschaft! Mit Mühe brachte man aus dem Verwundeten heraus, daß er sich in der Absicht, den Lärmer zur Rede zu stellen, in die Nebenwohnung verfügt habe, wo ein junger Mann ohne Weiteres auf ihn losgegangen sei und ihn mit einem Dolch in’s Gesicht gestoßen habe. Man denke sich die Verwirrung in den Kunst’schen Räumen! Während ein Theil der Anwesenden sich mit dem furchtbar blutenden Würth beschäftigte, riß Kunst, in sehr theatralischer Stellung, ein Schwert von der Wand und schrie fortwährend wuthentbrannt: „Laßt mich, laßt mich, ich muß den Hund tödten!“ Dies „laßt mich, laßt mich“ war eigentlich sehr überflüssig, denn es dachte eben so wenig irgend einer von uns daran, Kunst zu halten, als dieser Lust zu haben schien, wirklich sich in des gereizten Löwen Nähe zu begeben. Vor seiner Wohnung aber, unter der Eingangsthür am Flur lehnte in Nachtkleidern, die mit Blut überströmt waren, ein bleicher junger Mann, das bildschöne Gesicht, in dem unheimlich ein paar glühende Auge funkelten, umrahmt von einem tief-schwarzen Vollbart, die herabhängende Faust mit einem blitzenden Dolch bewaffnet. So bildete der spanische Gesandtschaftsattaché Graf W., in seiner lautlosen, entschlossenen Haltung, den schärfsten Contrast zu der andrängenden lärmenden Menge. Ich muß zu meinem Bedauern eingestehen, daß ich mehr Bewunderung für die classisch-schöne Erscheinung des wilden Fremdlings fühlte, als Mitleid mit meinem verwundeten Collegen, der noch immer winselnd unter den Händen des rasch herbeigeholten Wundarztes lag, welcher die Verletzung zwar für schmerzlich, aber nicht gefährlich erklärte.

Später ließ sich Würth für die Summe von ein paar tausend Thalern beruhigen und unterließ es, durch Vermittlung der Gesandtschaft eine Klage gegen den Graf M. anzustrengen. Die Narbe aber, die ihn an jene verhängnißvolle Nacht erinnerte, nahm Würth mit in’s Grab. Mit den ihm so unverhofft zugefallenen [169] Schmerzensgeldern übernahm er eine Theaterdirection in Krakau, die aber, als die Summe zugesetzt war, ein vorschnelles ruhmloses Ende erreichte. Nestroy behauptete, der Stich wäre ein so unverhofftes Glück für Würth gewesen, daß er jetzt im Lande herumreisen werde, um sich stechen zu lassen!

Ich habe diese Episode geschildert als charakteristische Bezeichnung für die Lebensweise Kunst’s, so lange er im Zenith seines Ruhmes stand. Kein deutscher Schauspieler war je von Natur und Glück so mit vollen Händen überschüttet worden, als er, und keiner hat je weniger für seine Ausbildung gethan, an seine Zukunft gedacht, und an’s Ende, als er, der die großen Summen, die er erwarb, leichtsinnig und nutzlos für sich und Andere vergeudete, bis die reiche Quelle versiechte und der Verschmachtende vor ihr erlag.

Als der Sohn eines armen Schuhflickers wurde Wilhelm Kunst 1799 in Hamburg geboren, wo er, nachdem er sich oft auf Liebhaberbühnen ohne sonderlichen Erfolg versucht hatte, seiner schönen Gestalt wegen am Stadttheater als Statist verwendet wurde. Nebenbei suchte er durch Bedienung der ersten Künstler des in jener Zeit in hohem Ansehen stehenden Institutes sich kärglich durchzubringen. Später nahm sich der damals berühmte und berüchtigte Komiker Wurm seiner an und unterrichtete ihn in den Anfängen seiner Kunst und in – manchem Anderen.

Im Jahre 1823 finden wir ihn bereits als vielbeliebten und gefeierten Schauspieler in Köln; ein Jahr später war er dort schon wieder, nach seiner Manier, sans adieu abgefahren und ging zum Director Carl nach München, 1825 aber mit diesem in dessen neue Entreprise nach Wien.

Wilhelm Kunst als Karl Moor.

Dort machte er durch seine glänzenden Mittel und seine wilde Genialität fast beispielloses Aufsehen, hauptsächlich in Rollen, die kein tieferes Nachdenken forderten, wie z. B. als Otto von Wittelsbach, als Wahnsinniger im Irrenhaus zu Dijon, und ganz besonders als Karl Moor.[1] So mochte sich Schiller in seinen kühnsten Träumen den löwenkräftigen Räuber gedacht haben, der mit dem sonoren, mächtigen, glockenähnlichen Organ und der prachtvollen Gestalt seine wilde Bande im Zügel hielt und alle Gesetze unter die Füße trat. Noch denke ich mit Bewunderung dieser kolossalen Leistung, neben welcher eben nur eine so geniale, fein berechnende Künstlernatur wie Carl La Roche als Franz Moor ebenbürtig bestehen konnte. Es war dies eine Zusammenleistung, wie sie gewiß nie wieder auf einer deutschen Bühne vorkommen wird. Wie dankbar aber für Kunst alle Aufgaben erschienen, wo seine volle Naturkraft in hinreißender Wildheit wirken konnte, so wenig vermochte er tiefere Gestalten, wie z. B. Wallenstein, Goethe’s Faust etc. wiederzugeben. Sein „Hamlet“ in der Schröder’schen Verballhornung war eine seiner Meisterleistungen, während der Shakespeare-Schlegel-Tieck’sche ihm total mißlang.

Obwohl ein Hauptmagnet des Carl’schen Unternehmens, von seinem Director reich bezahlt und auf den Händen getragen, gelangte er mit seiner genialen Rastlosigkeit doch zu keinem festen Domicile. So oft wechselte er ohne irgend eine Berechtigung, contractbrüchig und schuldenbelastet, seine Engagements, so oft versetzte er Carl in peinliche Verlegenheit und großen pecuniären Nachtheil, daß dieser ihn endlich steckbrieflich verfolgen ließ und in einem Circular an alle Theaterdirectoren (1832) die Bühne für ehrlos erklärte, welche Kunst Asyl oder Gastfreundschaft gewähren würde.

Nun begann er ein Wanderleben der eigenthümlichsten Art. Bald nach Art eines kleinen Fürsten in eigener Prachtcarosse, bald in einem schäbigen Hauderer, bald von einem Secretair und von zahlreicher Dienerschaft und manchem anderen Anhange begleitet, bald von aller Welt verlassen, durchreiste er die Länder, so weit die deutsche Zunge reicht. Keine Residenz und kein Städtchen, kein großes Hoftheater und kein Winkelbühnchen gab es, wohin nicht Kunst seinen Stab gerichtet hätte. Anfangs überall mit offenen Armen aufgenommen und der strotzendsten Cassenresultate theilhaftig, sah sich gegen den Schluß seiner Laufbahn der zudringlich immer Wiederkehrende, den seine Mittel verlassen, dessen Stern erblichen war, die kleinsten Wanderbühnen verschlossen.

Ein Wiener Blatt brachte nach seinem Tode Auszüge aus einem Tagebuche, einem trockenen Verzeichniß von Städten und Einnahmen, von Kunst’s eigener Hand, seit dem Jahre 1845, als sein Ruhm bereits sehr im Abnehmen war, Tag für Tag nachgetragen. Dann und wann sind diese Zahlenreihen unterbrochen von einem Worte „stürmisch hervorbrechender Empfindung“, welche sich unter diesen Ziffern ergreifender ausnimmt, als bogenlange Erörterungen.

Noch im Jahre 1845 finden wir unter der Rubrik: „Petersburger Gastspiel: 25. Mai. Räuber. 1882 Rubel. NB. Die Kaiserin zugegen“, und hierauf eine lange Reihe von Einnahmen von 1070 bis 900 Rubel.

Dann verschwinden zwar die höchst respectablen kaiserlich russischen Rubel, aber die Tagesrechnungen halten sich auf einer achtungswerthen mittleren Höhe von 176, 150, 100 Thalern etc. Selbst das verhängnißvolle Jahr 1848, welches Kunst wie in unbestimmter Vorahnung mit einem „Mit Gott“ anfängt, zeigt kein besonderes Eingreifen der damaligen gewaltigen Ereignisse in die Bühnenwirksamkeit Kunst’s. Von da ab aber tritt die düstere Wendung seines Schicksals mit immer grelleren Ziffern hervor.

Da finden wir in dem Verzeichniß die Tageseinnahmen mit fünf, ja zwei, selbst einem Gulden verzeichnet; da kommen an die Stellen des Erträgnisses Nullen und Ausrufungszeichen, wir stoßen auf Gastspielorte, welche zu den dunkelsten Stellen der Bühnengeographie zählen, wir verfolgen unwillkürliche Ausbrüche überströmender Empfindungen, z. B. 1850: „Ende des unglücklichen Jahres. Schaffhausen ist die schändlichste Stadt, die es auf der Welt giebt! Sie sei verflucht!“ Die Jahreseinnahmen fallen vom Jahre 1845 bis zum August 1859 von 4805 Thalern auf 473 Gulden. Hier bricht das Verzeichniß ab, es gab eben nichts mehr zu verzeichnen!

Im Jahre 1857 wendete er sich in einem herzbrechenden Briefe an mich, worin er mich bat, ihm einige Gastrollen zu bewilligen. Es sei eine Lebensfrage für ihn, wieder einmal an einem guten Theater zum Auftreten zu gelangen, und ich würde mich überzeugen, daß er noch „der Alte“ sei. Ach, er war nicht mehr der Alte in dem Sinne, wie er es meinte, sondern es war in der [170] eigentlichsten Bezeichnung des Wortes der „alte Kunst“, der zu mir eintrat. Abends in seiner Rolle Percival in Grifeldis fiel er total durch, und das Publicum verhöhnte den kokett geschminkten und gleich einem Seiltänzer herausgeputzten verfallenen Komödianten, der nicht eine Spur der einstmaligen Herrlichkeit, ja nicht einmal den Wortlaut seiner oft gespielten Rolle behalten hatte. Das Herz wendete sich mir im Leibe um, als ich, im Zuschauerraume anwesend, das harte Urtheil der jüngeren und rücksichtslosen Theatergänger anhören und dasselbe gerecht finden mußte. Auf die Vorwürfe, warum ich Kunst überhaupt spielen ließe, hatte ich nur ausweichende Antworten. Ich konnte den Fragenden ja nicht auseinander setzen, daß ich den Mann gekannt habe in der Blüthe seines Ruhmes, in Glanz und Reichthum, mit Jubel empfangen und aufgenommen von den verwöhntesten Kennern der Residenz, ein hochwillkommener Gast für den stolzesten Intendanten der stolzesten Hofbühne.

Nach der Vorstellung begab ich mich zagend in die Garderobe meines Gastes und fand denselben am Tische sitzend; einzelne bittere Thränen rollten ihm über die geschminkten Wangen herab. „Warum hat mich mein Vater keinen Bauer werden lassen!“ rief er mir, die Hand reichend, schluchzend entgegen. Einer kleinen Gesellschaft, die ich ihm und der Vergangenheit zu Ehren einige Tage darauf zu mir gebeten hatte, war er die unerquicklichste Erscheinung, die man sich denken konnte: – er selbst im abgetragenen schwarzen, zu eng gewordenen Leibrock in die Sophaecke gedrückt; meine Gäste in Verlegenheit, welches Gesprächsthema sie mit der verfallenen Größe anschlagen sollten; ich wohl der Befangenste unter Allen.

Als der wohlwollende und gutmüthige Dr. M. Ring, der die Leistungen Kunst’s in schonendster Weise besprochen hatte, aber aus Schwarz eben nicht Weiß machen konnte, in’s Zimmer trat, wollte er diesen durchaus zur Rede stellen, ja ich mußte Alles aufbieten, um eine für alle Theile ärgerliche Scene zu vermeiden.

Noch zwei Mal unternahm ich das Wagniß, den Gast dem Berliner Publicum vorzuführen, und dann beschloß ich, mich für die noch zu gebenden Rollen mit Auszahlung des Honorars abzufinden. Es war überflüssige Angst von mir, daß er mir dies übel deuten könne; die Hast, mit welcher er das versiegelte Paquet entgegennahm, die Bereitwilligkeit, mit welcher er um diesen Preis auf jedes fernere Auftreten verzichtete, bewiesen mir nur zu deutlich, daß der Mann bereits gewohnt war, Almosen und Unterstützungen als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Er reiste „sans adieu“ ab; ich habe ihn nie wieder gesehen!

Eine Zeit lang zog Kunst mit einem bildschönen Knaben herum, den er Sohn nannte und welcher später in Braunschweig, dann in Amerika als mittelmäßiger Schauspieler auftauchte. Die Mutter dieses Knaben blieb auch für die näheren Freunde Kunst’s ein Geheimniß, da man – mit Ausnahme seiner nach wenig Tagen wieder getrennten Ehe mit der gefeierten Sophie Schröder – nie von irgend einem Liebesverhältniß desselben erfahren hatte. Eine glückliche zufriedene Ehe, die Sorge für eine geliebte Familie hätte den Ruhelosen vielleicht in ein dauerndes Verhältniß festgebannt und zum Heile geführt; so aber wanderte er von Ort zu Ort, stets dieselben Rollen spielend, ohne Studium, ohne geistigen Fortschritt, bis ihm allmählich die glänzenden Naturmittel, auf welchen seine Erfolge basirten, versagten, seine Fehler immer greller an’s Licht traten, seine Vorzüge schwanden, sein Gedächtniß ihn verließ und er selbst vielleicht eines Morgens schaudernd die Entdeckung machte, daß seine Laufbahn zu Ende sei, die Rosen verblüht und sein künftiger Lebensweg nur mühselig durch wirres Dornengestrüpp sich winden werde.

Vor dem Abschluß dieser Laufbahn, als er schon mit einem einspännigen kleinen Wägelchen die Städte der für das Theater so unergiebigen Schweiz bereiste, um überall, wo es thunlich, von den letzten Resten seines Ruhmes spärliche Nachlese zu halten, traf ihn in Bern das erschütternde Unglück, daß der Begleiter, den er bei sich hatte, unter den Hufen seines eigenen wildgewordenen Pferdes zertreten, ja in gräßlicher Weise zerstampft wurde, ehe ihm irgend Jemand zu Hülfe eilen konnte. Dieser schreckliche Todesfall machte einen entsetzlichen Eindruck auf den alternden Künstler und ihm einige Zeit die Ausübung seines Berufes unmöglich. Von hier ab verschwindet der dramatische Ahasver – ein dem bereits kränkelnden alten Mimen von Nestroy 1855 aus Mitleid bewilligtes erfolglos vorübergehendes Gastspiel in Wien ausgenommen – nach und nach gänzlich aus der Theaterwelt, bis er im Juni 1859 wieder in den elendesten Umständen, krank, geistig und körperlich gebrochen, ein Bild des Jammers, in Wien eintraf und seitdem von milden Gaben seiner Collegen lebte, die ihm reichlich genug zuflossen, um seine letzten Tage vor Mangel zu schützen.

Wir finden ihn am 17. November 1859 als „stillen Mann“ wieder in einem kleinen verfallenen Hause der Josephstadt, in einem kleinen schmucklosen Stübchen, zu welchem der Weg über einen verfallenen morschen Gang führt. An dem einfachen Sarge hielt der Superintendent Pauer eine ergreifende Rede. „Erschüttert und bewegt,“ begann er, „stehen wir am Sarge eines Mannes, der in seinem Leben selbst so viele Herzen erschüttert und bewegt hat.“ Im Verlauf der Gedächtnißfeier fuhr Pauer fort, das vielbewegte Leben des Verstorbenen zu schildern, „dessen Heimath überall gewesen, wo er gewirkt, der viel gefehlt und gesündigt hat, der aber auch immer der Erste war, der sich selbst anklagte; darum werfe Niemand einen Stein auf ihn!“

Nach der Rede sang das Chorpersonal des Josephstädter Theaters ein Trauerlied von Gläser, dann bewegte sich der Zug hinter dem einfachen Sarge dem Kirchhof zu. Es war eine trübe Leichenfeier. Ein kalter schneidender Wind durchkältete das kleine Häuflein getreuer Collegen, die dem Dahingeschiedenen die letzte Ehre erwiesen. Schnee und Nebel senkten sich auf das offene Grab, um welches der eisige Nordsturm die entlaubten Blätter gepeitscht hatte. Die düstern Accorde eines Trauergesanges von Suppé mischten sich als letzte Scheidegrüße mit dem unheimlichen Gepolter der Erdschollen auf das einsame Grab, welches die Nummer 39 trägt.

So endete der größte Naturalist, den die deutsche Schaubühne je aufzuweisen halte. Es ist ein charakteristisches Zeichen, daß es dem Verfasser dieser Zeilen erst nach den angestrengtesten Mühen und mit Hülfe aller seiner Verbindungen in der Theaterwelt gelungen ist, eines der zahlreichen Costümbilder aufzutreiben, welche Kunst’s Darstellungen illustrirt hatten. Fast alle Andenken an seine Leistungen sind verschollen und vergessen, wie das Original, das wir mit all’ seinen Fehlern und seinen großen Vorzügen zu zeichnen versucht haben, als warnendes Beispiel, daß die glänzendsten Gaben der Natur nicht dauernd zu wirken im Stande sind ohne Verein mit der bildenden und veredelnden Kunst! – Friede seiner Asche!




Ein österreichisches Soldatenbild.

Lassen wir uns das Mannesbild, das wir unseren Lesern vorführen, nicht durch den Hintergrund beschatten, aus dem es sich hervorhebt. Weder der Krieg, in welchem unser Held seine ausgezeichnete Rolle spielt, noch die Politik des Staates, dem er dienstbar ist, sollen mit unserem Bilde Etwas zu schaffen haben; weder die Politik eines Rechberg noch die eines Bismarck ist eine solche, mit der ein deutscher Ehrenmann sich einverstanden erklären kann; am wenigsten soll jedoch unsere Skizze einen Schatten auf die Kampfgenossen werfen, deren einköpfiger Adler diesmal dem zweiköpfigen die Bahnen vorzuzeichnen hat. Also: ein österreichisches Soldatenbild der Gegenwart ohne Seitenblicke und Nebenbedeutung, als ein solches steht vor uns der Freiherr Ludwig von Gablenz, k. k. Feldmarschalllieutenant und Armee-Commandant im Kriege der deutschen Großmächte gegen Dänemark.

Das österreichische Heer ist das eigenthümlichste der Welt. Nur die Kriegerschaaren des alten Römerreichs boten eine ähnliche Erscheinung, und zwar die der Zusammensetzung aus den verschiedenartigsten Völkerschaften und der festen Gliederung und des Zusammenhaltes derselben durch ein geistiges Band. Auch Napoleon I. hat vielerlei Völker unter seine Fahnen vereinigt, von denen einzelne sogar mit Begeisterung für ihn kämpften, ja, es schien sogar, als ob eine Erneuerung des Römerreichs durch ihn [171] sehr nahe gebracht sei; aber die Mehrzahl der nicht französischen Truppen folgte nur gezwungen seinen Fahnen, und es war noch lange kein durch ein geistiges Band zusammengehaltenes Ganzes, als der russische Winter das kühne Spiel beendete, indem er das größte europäische Völkerheer, das seit der Römerzeit einer Hand gehorcht, vernichtete. Napoleon’s Herrlichkeit war vergangen, wie ein ungeheurer Traum, während das Römerreich und Oesterreich das Throndach ihrer Herrschaft über Völker aller europäischen Zungen durch ihre Heere Jahrhunderte lang gestützt und geschützt sahen.

Das geistige Band, welchem die „kaiserliche Armee“ ihre feste Einheit bei der buntesten Mannigfaltigkeit verdankt, ist ein doppeltes, ist die strenge Disciplin in den Einzelkörpern, die von unten auf den einzelnen Mann erzieht und bindet, und die gemüthliche Kameradschaft, die das ganze Officiercorps umschließt und die wiederum hinabwirkt bis zum gemeinen Mann, bei dem das „Du“ Naturlaut, nicht ein mit dem Rang erworbenes Recht ist. Dieses „Du“ übt in der österreichischen Armee eine wunderbare Gewalt aus, es ist das Zauberwörtchen, welches jeden Standesunterschied, jeden Vorzug der Geburt im Officiercorps aufhebt, der Mann ist nur das, was sein Dienstrang ihm verleiht, einerlei, ob er einen bürgerlichen, einen adeligen, gräflichen, fürstlichen Namen trägt, und alle die Männer gleichen Ranges in der Armee, durch alle Waffengattungen und Nationalitäten, nennen sich „Du“. Der Leinwebergeselle aus Coburg, den als Handwerksburschen der Uebermuth unter die österreichischen Soldaten trieb und der es als braver Haudegen bis zum Officier brachte, erlebt dadurch die in der Heimath undenkbare Freude, mit dem hochgeborenen Schwager seines Herzogs auf Du und Du zu stehen; der arme Bauernjunge, der hinterm Düngerhaufen hervor zur Aushebung gezogen wird, kann, wenn er Glück und Muth hat, der ebenbürtige Camerad seines hochgräflichen Dienstherrn werden, der ihn mit dem „Du“ der Gleichheit begrüßt. Und dieses „Du“ ist kein widerwilliges, erzwungenes, sondern der österreichische Officier lebt sich so in dasselbe hinein, daß es gar bald auch ihm zum Naturlaut wird. Nur dem plötzlich in diesen Kreis emporgestiegenen Mann wird es meistens ergehen, wie neulich dem Unterofficier, einem Helden von Oeversee, der unversehens Lieutenant wurde und vor dem freudigen „Du“ seiner bisherigen Gebieter erst nach und nach zur Fassung kam. Man möchte sagen, es herrscht ein demokratischer Geist in diesem Corps, in welchem nur der Rang den Mann macht und nur die That oder das Recht den Rang giebt; ein gegen den Bürgerstand sich aufblähendes Junkerthum kann wenigstens in einer solchen Armee nicht aufkommen.

Welch herziges Verhältniß der von oben nach unten vordringende kameradschaftliche Ton in einer solchen Truppe schafft, dafür spricht die Geschichte von dem „Hauptmann mit dem neunmal durchlöcherten Mantel“, welchen Ehrentitel die österreichischen Soldaten in Schleswig dem tapferen Hauptmann Eder von dem fünften Jägerbataillon ertheilten, und einem Oberjäger dieses Bataillons, den die goldene Medaille schmückte. Beim feierlichen Empfang der durchpassirenden österreichischen Decorirten in Altona war bereits manche schlichte und brave Rede gehalten worden, als in straffer militärischer Haltung genannter Oberjäger den Hauptmann um die Erlaubniß bat, auch einen Toast ausbringen zu dürfen. Da sprach der Hauptmann: „Schau, Oberjäger, wir sind hier nicht unterm Gewehr! Red’, wie’s Dir um’s Herz ist!“ – „Wenn Du meinst, Hauptmann, so will ich’s thun,“ – entgegnete der junge Mann, und sein Sprüchlein lautete: „Schleswig-Holstein für alle Ewigkeit ein deutsches Land! Hoch!“ – „Wir meinten, die Fensterscheiben müßten springen vor dem Jubel, der nun ausbrach,“ erzählt der Berichterstatter.

Nicht weniger, als Disciplin und Cameradschaft, trägt zu dem kriegerischen Geist der Armee der ihr eigenthümliche Regimenterstolz bei. Jedes Regiment hat seine Geschichte, seine Trophäen; einzelne Regimenter erfreuen sich noch heute uralter, ganz besonderer Vorrechte und Ehren. Dieser von der Compagnieschule an gepflegte Corpsgeist dringt der jungen Mannschaft aller Nationalitäten rasch in’s Blut und erzeugt in jedem Einzelnen gleichsam die moralische Verpflichtung einer heldenhaften Gesinnung. Und diese kann sich wohl kaum schöner und rührender aussprechen, als in jener Einfachheit der volksthümlichen Form des steyerischen Schnaderhüpfels:,

Ades, lieber Vada,
Frau Muada, buß d’ Hand!
Enger Hansel der stirbt itzt,
Aber er macht Eng kan Schand!“

Dieser Regimentsgeist stieß an keiner Nationalität an, weil Oesterreich nur National-Regimenter hat; ebendarum war er es gerade, der dem Kaiserhaus selbst gegen einzelne nationale Selbstständigkeitsbestrebungen im eigenen Reiche – gegen welche die Todfeindschaft des österreichischen Kaiserhauses durch die natürlichste aller Fragen vom „Sein oder Nichtsein“ hervorgerufen ist! – bisher immer die wirksamste Hülfe sicherte. Vor Allem war dies der Fall, wenn die Armee Führer hatte, denen jeder einzelne Mann mit Begeisterung anhing. In Radetzky’s siegreicher „italienischer Armee“ konnte in Wahrheit wieder gesungen werden:

„Krowatisch, deutsch, wellisch,
Ungarisch durch anand,
Und do red’n ma an Sprach,
Gilts Oestreicherland.“

Seit dem Unglück der zweiten italienischen Armee Oesterreichs ist im Staate Vieles anders geworden; in der Armee, dem Augapfel der Dynastie, suchte man den alten Geist zu bewahren. Die Vorgänge in Schleswig zeugen wenigstens dafür, daß der kriegerische Geist in ihr noch ebenso munter ist, als die soldatische Vorliebe für volksthümliche Persönlichkeiten tüchtiger Heerführer.

Seit dem alten gefeierten Radetzky hat Oesterreich sich keines Heerführers von größerer Popularität im Heer und Volk, aber auch von größerer Feldherrentüchtigkeit erfreut, als des Freiherrn von Gablenz, den man gern „des Alten gelungensten Jungen“ nennen möchte. Eine der freisinnigsten unserer größeren deutschen Zeitungen berichtet über das österreichische Armeecorps und seinen Führer, in Folge der Kämpfe bei Selk und Oeversee (3. u. 6. Febr.) in voller Anerkennung, daß ein eigenthümlich rastloses, vorwärtsstrebendes und leichtes Element in den österreichischen Truppen walte. Ihr Geist, sagt sie, ist ein wahrhaft ausgezeichneter zu nennen. Das Corps, so verschieden die Volksstämme auch sein mögen, ist zu einem solchen Ganzen geeinigt und von solchem Geiste beseelt, daß man demselben wohl die schwierigsten Leistungen und die größte Aufopferungsfähigkeit zutrauen kann. Sehr viel zu diesem kriegerischen Geiste trägt die Persönlichkeit ihres Führers bei. Fest gewurzelt ist in Allen das unerschütterliche Vertrauen zu ihm, welches sein ideal-soldatisches Wesen, verbunden mit hohen militärischen Fähigkeiten, wie auch die Liebe und Achtung für ihn als Mensch hervorgerufen. Das der österreichischen Armee eigenthümliche kameradschaftliche Verhältniß im Officiercorps bildet eine enge Kette, um diesen Geist selbst auf die tiefer stehenden Nationalitäten zu übertragen, die dann gerade in ihrer Naturwüchsigkeit unverdrossen darauf losstürmen, fest auf ihren Plätzen ausharren und auch die größten Anstrengungen und Entbehrungen ertragen.

Nicht weniger warm sprechen unsere größten Tagesblätter über den General und sein Hauptquartier. Feldmarschalllieutenant Gablenz, darin stimmen Alle überein, ist jetzt der eigentliche Held des Tages, man kann die treffliche Weise nicht genug anerkennen, in der er mit Freund und Feind, Soldat und Bürger umzugehen weiß. Seine Anreden sind markige Inprovisationen voll Schwung, aus dem Herzen kommend und deshalb zum Herzen sprechend, aber frei von jenen abgedroschenen Gemeinplätzen, welche in der Regel die militärische Beredsamkeit charakterisiren; sie zeugen von einer in der That ungewöhnlichen Begabung und besonders von einem sehr feinen Takt, mit dem er den Bundesgenossen stets einen Antheil seiner Lobsprüche zuzuwenden weiß.

Wahrhaft ergötzliche Früchte verdankt man der Freiheit, die er dem Humor im Lager gestattet. So haben, wie jetzt ein Blatt dem andern erzählt, die ebenso liebenswürdigen als „schneidigen“ Kibitze des Hauptquartiers – mit diesem Spitznamen bezeichnet die kecke Feldsprache des Soldaten sämmtliche Ordonnanz-Officiere und Generale – unter welchen es tüchtige Zeichner giebt, sich als unverantwortliche Herausgeber eines illustrirten Lager-Kladderadatsch aufgethan, das dem Berliner Urbilde nicht nachsteht. Auf einem der Bilder desselben sind sämmtliche Kibitze dargestellt, alle portraitähnlich carrikirt, wie sie zu Pferde gegen eine furchtbare Verschanzung anstürmen, aus der es Bomben und Granaten von monströser Größe hagelt, mit der Aufschrift: „Nachdem der Sturm der Preußen abgeschlagen wurde, unternahmen die Kibitze des Hauptquartiers zur Verminderung ihres Effectivbestandes einen Angriff auf die Düppeler Schanzen; – solcher Tapferkeit wichen die Dänen.“ –

Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Person des Generals von den neckischen Griffeln durchaus nicht verschont wird. Nach der Uebergabe des Danewirkes und der energischen Verfolgung [172] der Dänen durch die Oesterreicher hielt F.-M.-L. v. Gablenz ungefähr folgende Ansprache an seine Soldaten: „Leute, Nichts ist mehr dem Wechsel ausgesetzt, als das Soldatenleben. Noch vor wenigen Tagen standen wir im schneeigen Bivouak vor dem für unüberwindlich angesehenen Danewirke, um dessen Besitz verschiedene Nationen seit Jahren im Kampfe liegen. Ihr hattet einen tapferen Gegner vor Euch, und die Lage war kritisch und gefährlich im höchsten Grade. Aber schon heute stehen wir hinter den furchtbaren Schanzen des Feindes. Außer der Ehre, Euch zu führen, giebt es für mich kein schöneres Vorrecht, als das von Sr. Majestät mir verliehene: die Stellen der gefallenen Tapfern durch die Ausgezeichnetsten unter Euch bis zum Hauptmann aufwärts zu besetzen und hervorragende Thaten zu belohnen.“ Auch diese Rede erschien im Lager-Kladderadatsch, die Illustration stellt neben dem hochaufgeschossenen, schlanken General ein winziges, buckliges Männlein dar, welches die Rede in ein riesiges Notizbuch einzeichnet.

Freiherr Ludwig von Gablenz.

Das Männlein darf recht achtsam sein, denn es ist in der That schade um jedes verlorene Wort, das v. Gablenz in seiner wichtigen Stellung zu Heer und Volk dort gesprochen hat. Begleiten wir ihn zu einigen Gelegenheiten, wo sein edles Herz das Wort allein führte. Eine Deputation deutscher Bürger von Flensburg erschien bei ihm, um an den Dank für die Heldenthaten der Befreier Schleswigs die Bitte um die Bewahrung der Selbstständigkeit desselben zu knüpfen. Er kann, als Soldat, den guten Bürgern keine Versprechungen machen, aber er fertigte sie auch nicht kurzgebunden ab, sondern sprach es als seine Ueberzeugung über das fernere Schicksal des Landes aus: „daß das Vergangene vorüber sei und nicht wiederkehren werde.“ Dann lud er die Deputation ein, der Decorirung derjenigen Regimenter beizuwohnen, welche bei Oeversee gekämpft hatten und die soeben vor dem Rathhaus in Parade aufgestellt waren. Hier wurden drei Unterofficiere zu Lieutenants erhoben und einige andere Beförderungen vorgenommen. Nachdem der General mit ergreifender Rede der tapferen gefallenen Brüder gedacht, schloß er seine Ansprache ungefähr mit den Worten: „Ich habe stets alle meine Soldaten als meine Kinder betrachtet, ganz besonders aber fühle ich mich verpflichtet, den Wittwen und Waisen, die jene Braven hinterlassen, ein Vater zu sein. Diese Armen leben zerstreut in der Monarchie, sie haben keine Worte in ihrem Schmerz, sie haben nur Thränen. Deshalb nehme ich sie an Kindesstatt an und will für sie sorgen. Ich habe nie Geld hoch geschätzt, es auch nie bedauert, nicht reich zu sein; heute empfinde ich dies zum ersten Male schmerzlich. Da ich aber für eine ähnliche Waffenthat, wie das Rencontre bei Oeversee, vor vierzehn Jahren von Sr. Majestät mit dem Maria-Theresien-Orden decorirt worden bin, mit welchem eine Jahrespension von 600 Gulden verbunden ist, so verzichte ich vom heutigen Tage an auf diese Pension zu Gunsten der Wittwen und Waisen der in Schleswig gefallenen österreichischen Krieger. Ich hoffe, mein Beispiel wird auch andere Herzen öffnen, und besonders mit Hülfe der Journale, die jedes gute Werk bereitwilligst unterstützen, wird auch für meine Adoptivkinder gesorgt werden.“

Das hochherzige Beispiel fand sofort Nachahmung, schon kurz nachher wurden dem General von den deutschen Frauen der Stadt Hadersleben 130 Thlr. anonym zugeschickt, ausdrücklich als Gabe für seine „Adoptivkinder“. Auch die Presse hat für die Anerkennung aus solchem Munde sich dankbar und würdig gezeigt. Sie wird nicht müde, Braves von dem Braven zu erzählen, und darum noch folgendes Geschichtchen: Zwei Soldaten aus der dänischen Armee, geborene Deutsche von der Insel Fehmarn, die bei Oeversee mit gefochten hatten und gefangen genommen worden waren, erzählten, in ihrem Bataillon seien 65 Schleswiger gewesen, die sich das Wort gegeben, nicht auf ihre deutschen Brüder zu schießen. So haben sie mehrere Male im Kugelregen gestanden und keinen Schuß gethan. In Flensburg auf dem Südermarkte sind sie aufgestellt, und siehe! alle 65 sind da, keiner fehlt! Da entläßt sie General Gablenz mit den Worten in die Heimath: „Euren Handschlag verlange ich nicht, denn ich kenne euren Herzschlag.

Wer möchte nicht in die Vergangenheit eines Mannes blicken, welcher in der so wenig Herzerfreuendes bietenden Gegenwart fast die einzige wohlthuende Erscheinung ist? Diese Vergangenheit ist aber eine so thatenreiche, daß ein Buch zu ihrer Beschreibung gehört. Wir haben nur über Blätter, und zwar so vielfach in Anspruch genommene Blätter zu verfügen. Darum begnüge sich der Leser mit ein paar Notizen; vielleicht ist es uns später möglich, mehr zu bieten.

Freiherr Ludwig von Gablenz ist ein Dresdener Kind, am 19. Juli 1814 geboren. Er begann seine militärische Elementarschule in Sachsen, ging dann nach Oesterreich, wo wir seine Infanterie-, Cavallerie- und Generalstabsdienste als seinen Gymnasialcursus ansehen können, bis er im österreichischen Italien die Hochschule der Kriegskunst bezog, an welcher Radetzky Rector magnificus war. Die Praxis begann er im Jahre 1848 als Rittmeister in [173] Italien, wo er von Santa Lucia an alle Schlachten und Gefechte des ganzen Kriegs mitmachte, und setzte sie 1849 als Major in Ungarn fort, wo er in 46 Schlachten und Gefechten des blutigen Winterfeldzugs mitfocht und noch dem Schluß des großen Dramas, der Uebergabe von Komorn, beiwohnte. Er war in beiden Kriegen mehrmals schwer verwundet worden. Nach diesen siegreichen Zeiten der österreichischen Fahnen wurde er häufig auch zu diplomatischen Missionen verwendet, und machte als Oberst 1851 das denkwürdige Lager von Olmütz mit und commandirte 1854 als Generalmajor und Brigadier in der Moldau. Auch in dem zweiten italienischen Krieg, in welchem die Glücksgöttin Oesterreich verlassen hatte, blieb sie ihm getreu. Bei Magenta und Solferino hatte er allein Vortheile über den Feind errungen, die freilich in dem allgemeinen Mißgeschick wieder mit verloren gingen.

Im Jahre 1863 wurde Freiherr von Gablenz zum Geheimenrath und Feldmarschalllieutenant erhoben und mit dem Commando in Schleswig betraut, in welchem wir zuerst den ausgezeichneten Soldaten und Mann in größerer Selbstständigkeit handeln und darum in all seiner menschlichen Tüchtigkeit auftreten sehen. Möchte die Sache, für welche der Held so brav gefochten, ein Ende gewinnen, daß wir nicht vergeudete Kraft und vergossenes Blut bedauern, sondern Beides segnen müßten als zum Heil des deutschen Vaterlandes gewagt und geopfert!
Fr. Hofmann. 




Ein stiller Wohlthäter.
Zur Unterhaltung am warmen Ofen.
Von Berthold Sigismund.

„Wärme ist das halbe Leben.“ Das ist nicht etwa ein Vorurtheil von Greisen und Stubenhockern, denn auch frische Jäger und Schlittschuhläufer, die im Freien jeder Kälte trotzen, loben sich unter Dach und Fach ein warmes Stübchen. Die Kunst, sich ein solches zu schaffen, ist eine der vorzüglichsten Errungenschaften des Menschen. Das Thier weiß sich zwar einen Winter-Schlupfwinkel auszusuchen oder zu bauen, in dem es durch Beihülfe der Erdwärme und eines Lagers aus schlechten Wärmeleitern vor dem Erfrieren geschützt ist; das ist aber nur ein trauriges Quartier, in welchem der Insaß zu fauler Bärenhäuterei gezwungen ist oder in todähnlichen Schlaf versinkt. Der Mensch allein vermag sich eine Winterburg zu gründen, in der es möglich ist, thätig zu sein und die Freuden der Geselligkeit zu genießen. Und unter allen Menschen haben es in dieser Kunst die Germanen, oder rund heraus zu reden, die Deutschen am weitesten gebracht. Welcher Landsmann, der längere Zeit im Auslande leben mußte, hätte sich nicht besonders im Winter nach dem Comfort der Heimath gesehnt? Zu dieser Winterbehaglichkeit trägt aber wesentlich ein stiller Wohlthäter bei, der, wie so viele bescheidene Wesen ähnlicher Art, selten in seinem vollen Werthe erkannt wird.

Um ihn recht zu würdigen, thun wir am besten, uns zuerst da umzusehen, wo er fehlt. Der freundliche Leser ist zu diesem Zweck eingeladen, eine Winterreise mitzumachen, auf der wir, eine Feuerschau anstellend, beobachten wollen, wie sich die Menschen wärmen.

Die schlichteste Heizung treffen wir bei einigen nordischen Völkern, welche einem sehr strengen Winter ausgesetzt sind. Die isländische Bauernwohnung besteht aus mehreren aneinander gereihten Hütten, die von sechs Fuß dicken Wänden aus rohen Steinen und Rasenschollen und von einem Holz- und Rasendach umschlossen werden. Treten wir in eine solche Casematte, so gelangen wir zuerst in ein Vorhäuschen, dann in die Küche, auf deren Heerde der Kessel über einem Torffeuer brodelt, und endlich in das enge und niedrige Wohnzimmer. Ein trübes Dämmerlicht gestattet kaum, die einfachen Geräthe: Bänke, Tische und Betten, zu erkennen; das winzige Fensterchen, meist nicht mit Glas, sondern mit Fischhaut bezogen, läßt vom Tageslichte nur schwache Spuren ein. Woher rührt aber die Wärme des düstern Gemaches, eine Wärme, die an die überhitzte, schwüle Luft deutscher Gebirgsstuben erinnert, in denen die Bewohner eine Gluth ausstehen, über die sie im Juli im Freien seufzen? Man sieht ja nirgends eine Vorrichtung zum Heizen. Die Isländer verwenden den wohlfeilsten und doch künstlichsten Ofen von der Welt, über dessen zarten Bau nur das Mikroskop Aufschluß giebt, nämlich die menschliche Lunge. Der Athem der Menschen, welche in diesem engen, möglichst dicht verwahrten Raume den ganzen Winter durch hantiren und schlafen, ist das einzige Heizmittel. Der Hausherr, welcher nach schöner Landessitte seinen spinnenden und strickenden Kindern eben aus einem alten Sagenbuche von Normannenhelden vorlas, gießt jetzt aus einem pulverhornähnlichen Gefäß eine derbe Prise auf die Hand; nachdem wir einige Minuten in seinem Zimmer verweilt haben, wundern wir uns nicht mehr über diese hier allgemeine Sitte. Die Luft wird uns mit jedem Augenblicke unangenehmer, wir fühlen uns von Kopfweh und Athembeklemmung befallen und, eilen in’s Freie.

Ein Expreßzug der Phantasie führt uns zur eisigen Küste am warmen Ofen Grönlands. Da fallen uns, an Hünengräber erinnernd, einige Winterhäuser der Eskimos in die Augen. Sie sind halb in die Erde eingegraben, ihre dicken Wände bestehen aus Steinen und Rasen, das kleine Lichtloch ist mit Robbendarm überspannt. Der Eingang ist unbequem; es gilt durch einen etwa zwölf Fuß langen Tunnel auf Händen und Füßen zu kriechen. Endlich sind wir an der aus Fellen bestehenden Thür angelangt. Sie führt in eine mannshohe Wohnstätte, deren Grundfläche in Länge und Breite höchstens doppelt so viel mißt, als eine Manneslänge. Darin leben zwei bis drei Familien. Den Mangel des Tageslichtes ersetzt eine in der Mitte des Zimmers befindliche Lampe, deren Moosdocht von Thran gespeist wird; auch besorgt sie die Erwärmung des darüberhängenden Kessels. Als Heizmittel dient auch hier hauptsächlich die Menschenlunge, und zwar wirkt dieselbe so ergiebig, daß die Temperatur eines solchen Wohnraumes die der äußeren Luft wohl um 30 bis 40 Grad übertrifft, daher die Eskimos, so lange sie zu Hause sind, sich fast so luftig anziehen, wie die tropischen Neger. Doch ehe wir zu näherer Umschau schreiten können, zwingt uns ein Ohnmachtgefühl zu schleunigem Rückzüge.

Wohl ist Wärme das halbe Leben, rufen wir, die reine freie Luft mit tiefsten Zügen einathmend; aber solches Leben in einer dunklen Erdhöhle, in dumpfer, schwüler Stickluft ist weniger als halbes Leben, kaum besser als die Winterstarre des Siebenschläfers. Da kann nie eine höhere geistige Regsamkeit, nie ein schöner Genuß des Daseins erblühen. Laßt uns hinwegeilen aus diesen traurigen Gegenden in die milden Fluren, welche an der Südgrenze des Frostgebietes liegen, laßt uns Menschen besuchen, die wahren Comfort genießen!

Auf den südlichen Halbinseln Europa’s ist der Winter kurz und mild, aber Schnee und Eis giebt es noch bis Rom und schaurig kühle Tage, wie die unsers November und März, nicht wenige. Die hohen italienischen Zimmer mit Steinwänden, Estrichfußböden und klaffenden Thüren und Fenstern machen bei solchem Wetter eine Heizung nothwendig. Die sorglosen Südländer verstehen aber gar wenig, sich im Winter „ein hübsches Leben zu zimmern“. Viele behelfen sich mit einem rohen Heizapparate, den bei uns nur die Budeninhaber auf den Weihnachtsmärkten noch in Gebrauch ziehen. Die Kaminos der Griechen und die Braseros der Italiener sind trotz ihrer wohlklingenden Namen nichts als Näpfe und Becken voll glühender Kohlen, über welche die Wärmebedürftigen ihre Hände oder Füße halten. Alle Nordländer, die einen Winter in einem venetianischen oder römischen Palaste bei solcher Heizung verleben mußten, sind einstimmig in der Verurtheilung der giftigen Dunst aushauchenden Wärmpfanne, welche eher die darüber gehaltenen Glieder röstet, als sie den Rumpf erwärmt, so daß sich der an den Kohlen Sitzende mit dem Mantel umhüllen muß, um nicht zu klappern. Etwas besser haben sich die Türken und Armenier versorgt; sie stellen ihre Kohlenpfanne (Mangal) unter einen mit Teppichen umhängten Tisch, sodaß ein leidlich erwärmtes Räumchen wenigstens für die Unterthanen beschafft wird, die gegen den Frost empfindlicher sind, als gegen schlechte Luft. Gewiß erklärt sich aus solcher Heizungsart die Häufigkeit der Feuersbrünste in Constantinopel. Daß die Chinesen und Japanesen, welche sich ebenfalls mit der Kohlenpfanne begnügen, sich innerhalb ihrer leichten aus Bambusrohr und Papier bestehenden Wände nicht hinlänglich warm [174] halten können, beweisen ihre mit Pelz verbrämte Tracht und ihr stetes Theetrinken. Die Chinesen, die in allen Stücken eigene Leute sind, haben auch beim Gebrauch der Kohlenpfanne ihr Ländlich-Sittlich. Sie suchen die Stickgase der Kohlen in ausgestellten Wasserbecken aufzufangen und stellen ihre Wärmpfanne unter eine Steinplatte, auf welche sie sich setzen oder legen. Sie haben also die Mängel dieser Heizung wenigstens erkannt, wenn auch nicht geheilt. Wahren Wintercomfort finden wir also auch im Süden nicht.

Sehen wir uns nun in den mittleren Bezirken des Winterreiches um. Da finden wir in vielen Quartieren noch die urthümliche Heizung durch freies Feuer. In der Filzjurte der Kirgisen glimmt ein Häuflein Schilf und gedörrter Dünger, in den Fellzelten der nordamerikanischen Rothhäute und der Lappen flackern Reisigstöße, in der elenden Erdhütte mancher sibirischen Stämme brennen mit Thran benetzte Knochen, in der armseligen Baracke der irländischen Pächter schmaucht ein Torffeuer. In allen diesen Wohnstätten ist das Feuer mitten im Zimmer auf nackter Erde geschürt; höher Gebildete errichten eine über dem Boden erhabene Feuerstätte, einen Heerd. Einen solchen, der in vielen Sprachen zum Sinnbilde des Hauslebens geworden, finden wir im Blockhause der Finnländer, in den Lehmhütten der Kaukasusvölker, in den rauhen Wohnstätten der auf Hochebenen und Gebirgen hausenden spanischen und griechischen Landleute, in vielen sauberen Backsteinwohnungen der Engländer und Holländer, in allen niedersächsischen und westphälischen Bauernhäusern, deren altväterliche Einrichtung Justus Möser so anschaulich beschreibt. Ein offenes Feuer, dessen röthliche Flammen in stets neuen Formen spielen und durch das Knistern und Knacken des Holzes und das Murmeln des Kessels eine so hübsche Hausmusik machen, daß auch das Heimchen mit seinem schrillen Zirpen lustig einstimmt – das ist doch eine wirksamere und ansprechendere Form der Heizung, als die widrige Luftheizung der Polarkreisbewohner und die traurigen Braseros mit ihrer trägen Gluth und ihrer unheimlichen Stille.

Leider ist aber das schöne Heerdfeuer nicht frei von schweren Mißständen. Viele durch freies Feuer geheizte Wohnstätten entbehren der so nahe liegenden Einrichtung einer Esse; selbst in den deutschen Häusern, wo der Heerd der Mittelpunkt des Zimmers ist, bleibt es dem Rauch überlassen, sich durch die Ritzen des Strohdaches einen Weg in’s Freie zu suchen. Ein solcher Wohnraum bietet natürlich, wenn er auch sonst sauber gehalten ist, nur den Comfort einer rauchigen Küche; die Wände bräunen sich, die schwarzen Dachsparren, welche die Decke des Zimmers bilden, sind von einem steten dichten Höhenrauch umzogen, der Alles mit brenzlichem Geruche durchdringt. Gewöhnt sich auch der Mensch an das Rembrandt’sche Helldunkel und den Creosot-Duft einer solchen Wohnung (reden doch die alten Römer mit einer Art Stolz von ihren angerauchten Hausgöttern): so setzt er sich doch selten ungestraft der beizenden Rauchluft aus, Lungen und Augen müssen oft genug bitter leiden für das Malerische des häuslichen Heerdes. Aber auch Wohnzimmer, in denen für Abzug des Rauches so gut gesorgt ist, wie in England und Holland, bieten im strengen Winter nicht die rechte Behaglichkeit. So reichlich auch der Brennstoff auf den Heerd gehäuft wird, er erzeugt doch keine gleichmäßige, wohlthuende Wärme im ganzen Zimmer. Wer nicht frieren will, muß sich dicht an den Heerd setzen und sein Gesicht der sengenden Gluth der Flammen preisgeben. Die Kirgisen müssen an kalten Tagen ihre Kinder, um sie vor dem Froste zu sichern, in warme Asche stecken, und wenn auch in dichtwandigen Häusern dieser Uebelstand nicht so grell hervortritt, wie im Filzzelte der russischen Steppe, so fehlt doch immer die ruhige, stete Wärme, welche den Winter vergessen läßt und zu feineren Arbeiten fähig erhält. Außerdem bleibt eine durch Heerdfeuer geheizte Wohnung doch immer ein küchenähnlicher Raum, dessen Ausstattung, dessen Geräusche und Gerüche das Gefühl ruhiger Abgeschiedenheit nicht aufkommen lassen, das unsere Stuben im Winter gewähren, ein Raum, der höchstens für das schlichte ländliche Alltagsleben, aber nicht für feine Hand- und Kopfarbeit und nicht für das Weihnachtsfest geeignet ist.

Bei einigen Völkern, namentlich den Romanen, unter den Germanen bei den Engländern und Norwegern, finden wir – und zwar bei den ersteren nur in den Häusern der Wohlhabenden, in Norwegen dagegen blos in den Bauerstuben – eine veredelte Form des häuslichen Heerdes, den Kamin, der nicht zugleich zum Kochen, sondern lediglich zum Heizen der Zimmer bestimmt ist. Welchen Werth die Hausbesitzer ihrem Kamine beilegen, erhellt schon aus dem Platze, der ihm eingeräumt ist, noch mehr aus dem Ehrenschmucke von Seemuscheln und Schnecken, schönen Wedgewoods und Bronzen, die auf seinem Simse prangen, am deutlichsten aber aus den Lobpreisungen, die ihm gespendet werden. Er giebt die gesundeste Heizung, sagen die Briten, denn sein Zug führt die verbrauchte Luft rasch durch die Esse und saugt durch die Lücken der Thüren und Fenster stets neue, reine Zufuhr in’s Zimmer. Es ist viel lustiger am Kamin, wo man die Flamme sieht, rühmen Engländer und Franzosen; zum Comfort einer zum traulichen Gespräche gruppirten Familie gehört die Fireside und zu den Erfordernissen des Salons der noble Kamin, behaupten sie.

Es ist wahr, der Kamin hat alle Reize des Heerdes und ist frei von manchen Mängeln desselben. Aber wie ungerecht wär’ es, wenn wir unsern stillen Wohlthäter hintansetzten, der doch, bei rechtem Lichte betrachtet, das vollkommenste Wesen seiner Gattung ist!

Der Kamin ist ein arger Verschwender, der die vom Brennstoff erwärmte Luft größtentheils durch die Esse jagt, ohne daß sie dem Zimmer nützt; der Ofen ist ein guter Haushalter, der seinen heißen Athem eifrig an seine Wandungen haucht, um mittels derselben die Zimmerluft zu erwärmen. Vom Kamin kommt dem Zimmer fast nur die strahlende Wärme zu gute, die keineswegs behaglich ist. Denn sie schlägt mit so jähem Anprall an, daß die Frauen ihr Gesicht hinter Fächer und Schirme verbergen, und erzeugt mehr das Gefühl der Gluth als der Wärme. Während aber die dem Feuer zugewendete Seite unter dem Uebermaße der Wärme leidet, schauert die andere, und man muß an recht kalten Tagen das berühmte militärische Kunststück lernen, nach zwei Seiten Front zu machen, um nicht zu frösteln. Wie gleichmäßig und wohlthuend wärmt dagegen unser schlichter Ofen die Zimmerluft! Ein in der Stube heizbarer Ofen wirkt als Luftreiniger sogut wie der Kamin; der außerhalb des Wohnraums geschürte ist auch kein Luftverderber, sondern der Mensch ist es, der nicht für öfteren Luftwechsel im Zimmer sorgt. Somit erfüllt der Ofen alle billigen Ansprüche auf das Beste; läßt er sich doch sogar, wenn es – wie in Schweden der Fall ist – gewünscht wird, auch dazu herbei, das reizende Schauspiel der Flammen sichtbar zu machen, was als Hauptvorzug des Kamins gilt.

Datum ist auch dem Ofen eine immer größere Verbreitung sicher, während der Kamin sein Gebiet eher verengt als erweitert sehen wird. Die Südeuropäer und die Engländer werden dem Kamine wohl treu bleiben, weil dort der milde Winter, hier der Kohlenreichthum einen altgewohnten Luxus gestattet. Die Norweger Bauern dagegen werden, gleich den Städtern ihres Landes, bald einsehen, daß ein Tag und Nacht erhaltenes Kaminfeuer doch eine arge Verschwendung ist, da ihre Wälder sich hier und da bedenklich lichten; dann wird der schwedische Ofen auch bei ihnen Platz greifen.

Schon hat der Ofen eine ungemein große Verbreitung. Fast alle Völker des ungeheuren Landstriches, der sich von den Alpen nordwärts bis zur Nordsee und ostwärts über den Ural weg bis an den großen Ocean und jenseit des letzteren quer über die Nordhälfte Amerikas streckt, also die Schweizer, Deutschen, Schweden, Polen, Russen, die seßhaften Bewohner der Mongolei und Sibiriens und die meisten Nordamerikaner werden von unserem stillen Wohlthäter mit Wintercomfort beschenkt. Wer könnte sie alle aufzählen, die hunderterlei Formen und Formate, in denen er in den Stuben und Stübchen so vieler Völker auftritt, vom riesigen Kasten der russischen und mongolischen Stube an, der Nachts der ganzen Familie zur Schlafstätte dient, bis zu dem nähtischgroßen Zwerge, der die blanken Zimmer der Yankees und unserer überseeischen Landsleute erwärmt? Hat doch nicht blos jedes Land, sondern fast jede Provinz ihren „angestammten“ Ofen, dem sie treu bleibt, mag er auch ein noch so arger Holzfresser sein, bis die neuerungslustigen Städter durch gar zu dringliches Anpreisen ihrer verbesserten modischen Heizung zum Neubau anlocken.

Im Bereiche der Heizung ist nun einmal der Mensch sehr conservativ gestimmt. Sträuben sich doch selbst die Eskimos gegen eine Wohlthat, die ihnen von ihrer humanen Colonial-Regierung geboten wird. Sie können Bauholz zu besseren Hütten, sowie Kachelöfen zur Verwendung der einheimischen, leicht zu gewinnenden Steinkohlen mit der Vergünstigung erwerben, den billigst gestellten Kaufpreis im Laufe mehrerer Jahre zurückzuzahlen; sie sehen den Comfort dieser Einrichtungen in den Wohnungen der dänischen Beamten und der Herrnhuter Missionare und lesen darüber – sie [175] sind alle leidenschaftliche Leser – in dem unentgeltlich vertheilten Schriftchen, welches den naiven Titel führt: „Okauzerpengoät igluk sänning“, d. i. „ein kleines Wort über die verbesserten Häuser, welches die lieben Grönländer nicht übel nehmen mögen“ – und doch hat, wie Rink in seiner trefflichen Schrift über Grönland erzählt, bis vor einigen Jahren sich mir ein Viertheil der Eskimos dies Hülfsmittel erworben, das in kalten Ländern allein zu einer reinlichen, gesunden und freundlichen Wohnung und damit zur Möglichkeit des Fortschrittes in der Gesittung führt. So schwer hält es, die Menschen zur gebührenden Anerkennung des stillen Wohlthäters zu bewegen, der in der schlimmsten Zeit „das halbe Leben“ spendet.

Beurtheilen wir die kindischen Eskimos nicht zu streng, denn auch wir unterschätzen unsern Tröstwinter gar oft. Wohl streicheln ihm jetzt tausend Hände und Händchen die Backen, wohl schmiegen sich im Dämmerstündchen Alte und Junge an seine Seite, wo es sich so lauschig träumen und gemüthlich plaudern läßt; aber ein Zeichen, ein Wort des Dankes für seine freundlichen Dienste erhält er gar wunderselten. Fenster und Thüren, selbst der eitle Spiegel werden öfter bekränzt, der neue Heerd wird mit köstlichem Naß „begossen“; aber der gute Ofen wird nicht einmal von den Lyrikern eines Wortes gewürdigt, die doch alles Mögliche angesungen haben ; ja viele Dichter begehen an dem treuen Hausfreunde das doppelte Unrecht, daß sie, wenn sie seine Wohlthaten rühmen müssen, diese mit „dichterischer Freiheit“ Andern zuschreiben, dem „häuslichen Heerd“ oder dem „warmen Kamin“.

Die alten Römer verehrten, wie Ovid meldet, die Fornax, die Göttin des Backofens; unser ebenso verdienter Hausfreund wird todtgeschwiegen oder höchstens im Pfänderspiele spöttischerweise begrüßt. Er grämt sich wohl nicht über die Zurücksetzung, denn das ist ja eben der schöne Charakter der stillen Wohlthäter, daß sie keinen Dank begehren.




Blätter und Blüthen.

Herzog Friedrich. Von Herrn Robert Grunwald, derzeitigem Obersten in kaiserlich türkischen Diensten, geht uns soeben direct aus Constantinopel eine interessante Mittheilung über den Herzog Friedrich von Schleswig-Holstein zu, die wir mit besonderem Vergnügen in nachstehendem wörtlichem Abdruck zur Veröffentlichung bringen.

Zu dem Charakterbilde des Herzogs Friedrich, wie es in Nr. 50, 1863 der Gartenlaube mit wenig Worten gar nicht richtiger gezeichnet werden konnte, noch einige ergänzende Züge hinzuzufügen, ist der Zweck dieser Zeilen.

Der Einsender dieses, früher preußischer Artillerieofficier, kam im Februar 1850 in die Herzogthümer und war von da ab bis zu seinem Austritte, im April 1851, im Generalstabe der schleswig-holstein’schen Armee als Hauptmann angestellt. Während dieser ganzen Zeit war ich nicht nur in täglicher geschäftlicher Berührung mit dem damaligen Erbprinzen Friedrich von Augustenburg, sondern hatte noch das besondere Glück, in nähere Beziehung zu ihm, wie zu den anderen Gliedern der herzoglich Augustenburg’schen Familie, zu treten. Die Erinnerung daran wird stets zu den freundlichsten gehören, denn in meinem vielbewegten Leben habe ich selten so viele gute Elemente des menschlichen Wesens in so liebenswürdiger Gestalt gefunden, wie in dieser herzoglichen Familie. Herzog Friedrich vereinigt, wie dies ja häufig zu sein pflegte, in sich die hervorstechenden Eigenschaften seiner beiden Eitern. Ihm ward ebenso der scharfe Verstand, der feste männliche Sinn des Vaters, wie das sanfte und bescheidene, dabei aber tiefe Gemüth seiner Mutter zu Theil. Er war human, in hohem Grade anspruchslos und in einer Weise arbeitsam und in Ausführung seiner Dienstpflichten gewissenhaft, wie dies bei Prinzen nicht eben allzuhäufig gefunden werden dürfte. Der Beginn der Dienststunde fand ihn, und bereits meist vor den übrigen Officieren, hinter seinem Stehpulte eifrig arbeitend, um gegen 11 Uhr Vormittags, wie es vorgeschrieben, dem commandirenden General zusammen mit den übrigen Kollegen des Generalstabes Vortrag zu halten. Sehr oft habe ich mich damals über die für die Jugend des Prinzen (er war 21 Jahr) seltene geschäftmäßige Ruhe und Klarheit gewundert, mit welcher er seine Ansichten zur Aussprache brachte, und wo es sich um persönliche Angelegenheiten handelte, sprach aus seinem Urtheile, ohne Rücksicht auf Stand und Geburt, stets seine strenge Sittlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Schon zu der Zeit wurden hin und wieder Stimmen laut, die dem damaligen Prinzen Friedrich schroffes Wesen und Anmaßlichkeit bei Wahrnehmung seines Berufes vorwerfen wollten, doch waren solche Stimmen nur sehr vereinzelt und gingen meist von Anstellungssuchenden aus, die wegen ihrer Antecedentien oder aus anderen Gründen – der Prinz hatte schließlich auch nur wie jeder Andere die Befehle seiner Vorgesetzten auszuführen – keine Aufnahme in das Officiercorps der damaligen schleswig-holstein’schen Armee finden konnten. Ich für meine Person, selbst bürgerlicher Herkunft und gerade ausnehmend empfindlich gegen junkerliche Anmaßungen, habe den Herzog stets nur so gefunden, wie ich ihn oben geschildert, und derselbe wurde, gerade weil ihm jedes junkerliche Wesen vollständig abging, auch von allen seinen Cameraden geliebt und geachtet.

Manchmal in den dienstfreien Stunden besuchte ich den Prinzen in seiner dicht am Kieler Hafen in einem Privathause gemietheten sehr einfachen und eigentlich gar nicht hübschen Wohnung. Ich traf ihn dann meist sinnend am Fenster, den Blick auf den Hafen gerichtet. Als ich mir einmal die Bemerkung erlaubte, warum er sich denn keine freundlichere Wohnung aufsuche, erwiderte er, daß er ohne den Anblick des blauen Meeres kaum leben könne, da er von der frühesten Kindheit an so sehr daran gewöhnt wäre. Der arme Prinz! er liebte sein meerumschlungenes Schleswig-Holstein über Alles, und wie oft in seiner Verbannung mag er beim Anblick der niederschlesischen und märkischen Kieferwälder sich nach den, von Buchen umkränzten Meeresbuchten seiner Heimathinsel Alsen zurückgesehnt haben! –

Als der Ausbruch des Krieges im Jahre 1850 nahe bevorstand, wurde das Generalcommando der Armee von Kiel nach Rendsburg verlegt. Einen Tag vor unserem Aufbruch wurde ich ersucht, mich zur Herzogin von Augustenburg nach Brandt’s Hotel zu begeben, da mich dieselbe zu sprechen wünsche. Ich verfügte mich dahin und sah damals zum ersten Mal die noch so schöne und liebenswürdige und gütige Fürstin. Das Mutterherz war es, welches in Voraussicht der ihrem Sohne bevorstehenden Gefahren zu mir sprach: „Ich will nicht, daß mein Sohn geschont werde. Er soll wie Jeder seine Schuldigkeit thun, aber es wäre mir doch eine Beruhigung, wenn das Auge eines älteren und gereifteren Cameraden über ihn wachte und, wenn ihm Etwas zustoßen sollte, liebend für ihn gesorgt würde.“

Diese so einfachen, wahrgefühlten Worte der liebenswürdigen Frau sind mir unvergeßlich, und eine Feldflasche, welche sie mich als Angedenken anzunehmen bat, ist treu gehegt in meinem Besitz geblieben. Wie wenig war ich indeß, selbst beim besten Willen, im Stande, den Wünschen der hohen Frau zu entsprechen, und wie wenig überhaupt bedurfte gerade dieser Prinz irgend eines Mentors! An Jahren war ich ihm allerdings weit voraus, nicht aber an Kriegserfahrung. Es war mein erster Feldzug, den zu eröffnen ich im Begriff stand, während der junge Prinz schon 1848 und 1849 dem Feinde gegenübergestanden hatte, und, wie Jedermann weiß, zählen Kriegsjahre bei Berechnung der militärischen Dienstzeit zwar nur doppelt, was aber kriegerische Ausbildung angeht, wohl zehnfach.

Die Stunden der Gefahr nahten schnell. Schon am 24. Juli Abends, nachdem am Nachmittage bereits heftige Gefechte auf der Front und in unserer linken Flanke bei Sollbro an der Treene stattgefunden hatten, war es gewiß, daß am nächstfolgenden Tage die Entscheidungsschlacht geschlagen werden würde. Der commandirende General und mehrere Officiere des Stabes ritten nach ausgegebener Disposition vom Idstedter Krug nach dem eine halbe Meile hinter der Stellung der Armee gelegenen Schloß Falkenberg, um noch wenige Stunden der Ruhe zu pflegen. Der Prinz und ich zogen es indeß vor, in Mitte der lagernden Truppen zu bleiben, und so fanden wir auf einem Bündel Stroh im Schenkzimmer des Idstedter Kruges ein Plätzchen, zwar nicht zum Schlafe, doch wenigstens zum Ausruhen der durch vieles Reiten klamm gewordenen Glieder. Früh um halb vier Uhr des 25. Juli rollte die erste dänische Kanonenkugel die Chaussee entlang. Schnell hatten wir den Fuß im Bügel und empfingen von dem kurz darauf im Galopp herbeieilenden commandirenden General Jeder unsere speciellen Weisungen: ich flog nach dem linken Flügel gegen Gammellund und nach dem Büchmoor, der Prinz nach Wedelspang zu der dort kämpfenden zweiten Brigade, und so waren wir denn eine gute deutsche Meile auseinander. Ich sah den Prinzen erst wieder, als die Katastrophe des Rückzuges unserer Armee bereits eingebrochen und die in ziemlicher Auflösung befindlichen Bataillone des Centrums auf der Chaussee nach Schleswig zurückgingen.

Hinter dem Westergehege fand ich den Prinzen vom Pferde abgesessen, bemüht, mit vorgehaltenem Säbel einen Haufen debandirter Soldaten zum Stehen und wieder in Reih und Glied zu bringen. Vergebliche Mühe! Kaum war eine Linie nothdürftig formirt, so machten die Leute von selbst linksum, um ihre Flucht fortzusetzen. Dergleichen ist auch schon anderwärts und bei älteren Armeen, als die damalige schleswig-holsteinische war, vorgekommen; wir aber machten hier zum ersten Male die Erfahrung, daß, wenn die Dinge bis zu einem gewissen äußersten Punkt gelangt sind, es häufig gut ist, sich alles Zuthuens zu enthalten und sie sich selbst entwickeln, d. h. die ganz aus der Fassung gekommenen Soldaten ruhig laufen zu lassen. Erst nachdem die häufig nur in Folge von Uebermüdung und Hunger appelllos gewordenen Soldaten tüchtig ausgeschlafen und den leeren Magen gefüllt haben, mag man das Geschäft des Ralliirens wiederaufnehmen und wird finden, daß die noch vor Kurzem so muthlosen Menschen wieder Appell zeigen und ein fügsames Werkzeug in den Händen der Leiter geworden sind! – Daß wir in der Schlacht von Idstedt keine Reserven hatten, um der stellenweise eingerissenen Verwirrung (Wie sie aber in allen Schlachten vorkommt) durch das Vorführen frischer Truppen zu begegnen, war unser Hauptunglück.

Nach der Schlacht trat eine lange Ruhepause ein, und es begannen die Geschäfte der Reorganisation und Augmentation der Armee, wobei der Prinz wie früher seine ihn charakterisirende stille und gewissenhafte Thätigkeit entfaltete. Es kam der 12. September 1850, an welchem Tage ein Theil der schleswig-holsteinischen Armee im raschen Vordringen über die von den Dänen nur unvollkommen angestauten Flüßchen, die Osterbeck und Kosel-Au, die dänische Brigade Schepeler aus ihren Stellungen bei Kochendorf und Eckernförde auf Missunde zurückwarf, den Uebergang aber nicht bewerkstelligte, weil dies wohl von vornherein nicht in der Absicht des commandirenden Generals lag. Bei der sich entspinnenden Kanonade mit der auf dem nördlichen Ufer der Schley postirten feindlichen Artillerie sah ich den Prinzen längere Zeit mit voller Ruhe im heftigsten Feuer verweilen, [176] und erst als der Abend dunkelte und genug demonstrirt war, gingen wir zurück, uns durch den erstickenden Rauch des angezündeten und noch brennenden dänischen Lagers bei Kochendorf den Weg bahnend, um in einem Kuhstalle bei Damendorf, todtmüde, unser Haupt- und Nachtquartier aufzuschlagen.

Das ist nun eben nichts Besonderes, aber doch für den damals noch so jungen Prinzen insofern bezeichnend, als er nicht im nahen Rendsburg oder in dem comfortabeln Hause eines schleswigschen Gutsbesitzers ein weiches Federbett aufsuchte, sondern theilte, was seinen Cameraden geboten wurde. Uns Officieren des damaligen schleswig-holsteinschen Generalstabes war es während des ganzen Feldzuges überhaupt nicht geglückt, uns besonders hervorzuthun; treue Pflichterfüllung, nach Maßgabe unserer Fähigkeiten und Stellung, war allein unser zubeschiedenes Theil. Mögen aber die Schleswig-Holsteiner, deren noch Tausende im Lande leben, welche diese Kämpfe mit durchgefochten haben, erfahren, daß ihr jetziger Herzog nicht blos zum Schein mit dabei war, sondern gleich allen Uebrigen die Gefahren und Fatiguen des Krieges getragen hat.

So vielen Strapazen war indeß der zarte und damals noch in der Entwickelung begriffene Körper des jungen Prinzen nicht auf die Dauer gewachsen, und der Kummer über die Hoffnungslosigkeit der Landessache that das Uebrige. Der Prinz erkrankte bedenklich an einem Brustleiden, und eine Zeit lang war wirkliche Gefahr vorhanden. Als ich einer mir gewordenen Einladung und auch meinem eigenen Wunsche entsprechend, ehe ich Schleswig-Holstein verließ, die nur so liebe herzogliche Familie noch einmal in ihrem damaligen Aufenthaltsorte Nienstädten besuchte, fand ich den Prinzen Friedrich zwar schon in der Genesung, aber körperlich wie geistig noch so niedergedrückt, daß ich nicht ohne Besorgniß Abschied nahm.

Gott sei Dank, das Portrait, welches die Gartenlaube gebracht hat, stellt ja den Herzog körperlich in kräftiger Männlichkeit dar.

Der Himmel segne ihn und sein schönes Land!




Zur Verständigung. Die geehrte Redaction der Gartenlaube gestattet mir gewiß einige aufklärende Bemerkungen über meinen Aufsatz in Nr. 8 und die kritischen Notizen darüber am Schlusse jenes Blattes. Man kann nicht aus dem bloßen Beruf eines Mannes auf seinen Charakter schließen. Ein Jurist kann recht wohl ein Mann von Phantasie sein, trotz „corpus juris und Pandekten“. Bei einem Militär, wenn er etwas Tüchtiges leisten soll, muß das Wissen wo anders „stecken, als in seiner Säbelscheide“. Bei dem Kopfe 6 sagte ich: „mehr Mann des Wissens, als praktischer Geschäftsmann“. Unter dem letzteren Ausdruck verstand ich in diesem Gegensatz, wie aus Allem klar hervorgeht, den Mann des bloßen Erwerbes. Nun haben wir aber hier einen Mann des Wissens vor uns.

Vollends legt mir mein Herr Kritiker ganz unrichtig den Ausdruck „kein praktischer Geschäftsmann“ in den Mund. Bei 18 sagte ich: „kein Mann des Erwerbes“ und meinte damit nach allem Vorausgegangenen einen Mann, bei dem die Denkkraft stärker ist, als der Erwerbssinn. Dagegen beruft sich mein Herr Kritiker auf die großartigen Etablissements des Hrn. F. Nein, Thätigkeitssinn und Denkkraft, welche in dem Kopfe 19 vorherrschen, erklären viel besser als Erwerbssinn jene großartigen Häuserbauten. Abgesehen von diesen und ähnlichen Mißverständnissen war ich auf’s Höchste überrascht, zu erfahren, daß die Umrisse aus einer Hutmanufactur herrühren. Bei Uebersendung der Contouren war mir gesagt worden, daß sie „durch ganz authentisches Maßnehmen“ (worunter ich ein Maßnehmen von Männern der Wissenschaft verstand) genommen wurden, daß sie von auswärts der Gartenlaube zugegangen und daß ich mich ohne Scheu über den Charakter der Persönlichkeiten äußern könne. Dies zusammen, auch daß es gerade 20 Umrisse waren, machte es mir in Verbindung mit dem, was ich in meinen „Phrenologischen Reisebildern“ von Göttingen erzählte, nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Sache von Rudolf Wagner und einigen zu diesem Zwecke vereinigten Göttinger Gelehrten ausgegangen. Da nun aber mein Herr Kritiker den Ursprung der Maße kannte, da er bedenken mußte, daß ich nicht die Köpfe untersuchte, über die ich urtheilte, sondern mir eine wissenschaftlich so unsichere Linie vor mir hatte, so durfte er nicht, wie er gethan hat, feste Urtheile gegen mich aussprechen oder gar Ausdrücke gebrauchen, wie der: „Ziemlich fehlgeschossen, Herr Scheve.“ Weit mehr wäre, da trotz Allem wohl die meisten meiner Urtheile richtig waren, ein allgemeines Wort der Anerkennung von seiner Seite am Platze gewesen. – Schließlich und hauptsächlich bemerke ich, daß mein Aufsatz durch die Redaction des beschränkten Raumes wegen vielfältige und wesentliche Kürzungen erfahren hat, die in meinen Augen dem Aufsatze so viel von seinem Werthe nahmen, daß ich denselben in dieser Gestalt nicht als den meinigen betrachten kann, wie auch die Ueberschrift nicht von mir ist. Wissenschaftlich Besseres und Gründliches findet der Leser, der sich für die Phrenologie interessiren sollte, in meinen „Phrenologischen Reisebildern“ (Cöthen 1863), eine Schrift, die sich auch zur ersten Einführung in die Phrenologie wohl eignet. –

Zusatz. Soeben habe ich mich überzeugt, um es gerade noch hier anfügen zu können, daß einer der Kopfumrisse, Nr. 15 (Adolf Böttger), wesentlich unrichtig ist.
Dr. Scheve. 




Ein braves Frauenwort. Dieses finden unsere Leser in dem Brief ausgesprochen, welcher die Gabe Nr. 9 der neuen auf den Altar des Vaterlandes niedergelegten Frauenschmucksachen begleitete, die wir in der letzten Nummer der Gartenlaube verzeichnet haben. „Ein Frauenschmuck,“ heißt es in jenem Briefe, „giebt mir den Muth, ebenfalls vor den Altar des Vaterlandes zu treten, und meine geringe Gabe darauf niederzulegen.“ Die Schreiberin bemerkt, daß sie den Kragen, dessen Auflage echter Batist, in den Mußestunden eines halben Jahres gefertigt und vom Beginn der Arbeit an für diesen Zweck bestimmt gehabt habe, und fährt dann fort: „Irre ich nicht, so wird die Broche das erste Glied einer Kette von ähnlichen Eingaben sein, denn die deutsche Frau fühlt wie der deutsche Mann … Nun erlauben Sie noch eine Bitte. Kennen Sie Niemand hier in Braunschweig, durch dessen Vermittelung wir zu gleichem Segen kommen könnten, wie die Leipziger durch Ludwig Würkert? … Für die Frauen, die nicht Zeit haben, sich selbst über die Zustande des Vaterlandes aufzuklären und ihren Patriotismus durch die Ereignisse der Gegenwart anzufeuern, sind solche Abende, wo sie zugleich Erholung und Belehrung finden, durchaus nothwendig. Ueberhaupt wird die deutsche Frau in dieser Hinsicht noch zu sehr vernachlässigt. Die Männer geben sich nicht die Aufgabe, ihren Kindern patriotische Mütter zu bilden, und leider bringen die Frauen diese Mitgift ihren Männern selten zu. Ihr Interesse wird von früh aus fast ausschließlich häuslichen Arbeiten zugewendet, und so vergessen sie nur zu oft ihre heiligste Pflicht, dem Vaterlande tüchtige und patriotische Söhne und Töchter zu erziehen. Die Männer müssen es dahin bringen, daß die Mütter keine schöneren Sprüche für ihre Kinder kennen, als: „An’s Vaterland, an’s theure, schließ Dich an, das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!“ … „Alles für Gott und Vaterland!“ …“

Die Unterschrift dieses Briefes lautet: „Eine Ameise, die auch ihr Sandkorn bringt.“




Originelle Obstlese. Ich hatte in meinem Garten einen sogenannten Stegelbirnbaum, dessen Früchte sich bekanntlich durch ihre Süßigkeit auszeichnen. Trotzdem nun, daß der Baum viele Früchte trug, und dieselben auch oft fielen, konnte ich doch fast niemals eine finden. Dies brachte mich auf den Gedanken, daß mich Diebe darum prellten, und ich beschloß, einmal aufzupassen.

Ich legte mich an den Zaun und beobachtete das häufige Fallen der Birnen. So hatte ich ungefähr eine Stunde gelauscht, als ich einen Igel sehr behutsam aus einem nahen Busche herauskommen sah. Ich hielt mich still. Der Igel, der mich nicht bemerkte, lief unter den Baum und trug alsbald eine am Boden liegende Frucht an den Stamm. Diesen Gang wiederholte er noch fünfzehnmal und trug die Früchte allesammt auf einen Haufen, sodaß er also sechzehn Birnen zusammen hatte. Dann spreizte er seine Stacheln aus, wälzte sich auf den Früchten herum und ging sichtlich befriedigt mit der auf seinem Rücken haftenden Beute von dannen, die er dann, wie ich beobachtete, seinen nicht sehr entferten Jungen zutrug. Selbstverständlich störte ich den wackern Birnendieb nicht, der durch diesen Streich, der schon oft genug für eine Fabel erklärt worden, nur in meiner Achtung gestiegen war.

Es ist ihm der süße Lohn auch wohl zu gönnen, denn er bringt wahrlich durch die massenhafte Vertilgung der Mäuse und andern Ungeziefers mehr Nutzen, als er Schaden (?) macht. Deshalb füge ich die Bitte an alle Landwirthe und Grundbesitzer bei, das nützliche Thier doch ja zu schonen und seiner Vermehrung auf alle mögliche Weise förderlich zu sein.
B. L. 




Zur Nachricht. Nach allen Berichten ist die Noth der erst von den Dänen bis auf das Blut ausgesogenen und jetzt durch die Verwüstungen des Kriegs zum Theil ihrer letzten Habe beraubten treuen Schleswiger eine so herzbrechende, daß es Pflicht eines Jeden wird, nach Kräften den armen Brudern zu Hülfe zu kommen. Ich glaube deshalb nur im Sinne der edlen Geber und Geberinnen gehandelt zu haben, wenn ich von den bei mir eingegangenen zahlreichen Spenden des deutschen Patriotismus die Summe von Ein Tausend Thalern dem aus einer Anzahl der wackersten Bürger Hamburgs gebildeten „Hülfs-Comité für die Kriegsbeschädigten in Schleswig“ zu zweckmäßiger Vertheilung an die Bedrängten übersandte, – umsomehr, da die von mir gesammelten Gelder zur Organisation einer schleswig-holstein’schen Armee vorläufig doch nicht verwendet werden können.

Möge damit wenigstens da und dort eine bittere Thräne der Angst und Verzweiflung getrocknet werden!

Leipzig, 1. März 1864.
Ernst Keil. 

Die Innung der Zukunft,
Blätter für das Genossenschaftswesen (Associationen).
Volkswirthschaftlich und statistisch.
Als Organ der Anwaltschaft deutscher Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften
herausgegeben von Schulze-Delitzsch.
Jahrgang 1864. Preis 1 Thaler jährlich.

Die Zahl und Bedeutung der Associationen hat in den letzten Jahren in außerordentlicher Weise zugenommen, und es ist bei dem genossenschaftlichen Streben im gewerblichen Mittelstande anzunehmen, daß dieser die einzige seine Zwecke fördernde Zeitung zur immer solideren Begründung seiner Associations-Institute auch in dem neuen Jahrgange willkommen heißen wird.

Da das Blatt vom Jahre 1864 an völlig in den Verlag des Unterzeichneten übergegangen ist, so sind alle Bestellungen darauf nicht bei der Redaction, sondern nur durch den Buchhandel oder die Post zu machen, und eben dahin auch alle Zahlungen zu leisten. Das Blatt erscheint 1864 in der bisherigen Stärke von 16 Bogen, jedoch in 12 regelmäßigen Monatslieferungen und zu dem Preise von 1 Thlr. jährlich, ohne Rücksicht auf die Zahl der Exemplare.

 Leipzig
Ernst Keil. 

  1. Unter seiner winzigen Verlassenschaft fand man ein Exemplar von Schiller’s Räubern aus der Bibliothek des Dichters, welches ihm der Sohn Schiller’s, als er ihn in der Rolle des Carl Moor (1835) bewundert hatte, mit einem höchst schmeichelhaften Schreiben verehrte. In welche Hände mag dies merkwürdige Buch gekommen sein? – Ob Schiller aber sich seinen Karl Moor in dem überschwänglichen Costüme gedacht hat, wie ihn Kunst zu geben pflegte, steht freilich zu bezweifeln.