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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[673]
Meine Tante Therese.
Keine erfundene Geschichte.
1. Ein deutscher Edelmann.

Wie werde ich jemals meine Tante Therese vergessen? Sie war so bleich und so schön, und so freundlich und weich und doch so stark. Und so war sie, da ich sie zum ersten Male sah vor beinahe fünfzig Jahren, und sie hatte sich nicht verändert, sie war noch eben so schön, als ich sie zum letzten Male besuchte, im Jahre 1850.

Zum ersten Male sah ich sie im Sommer des Jahres 1814.

„Ich muß meine arme Schwester Therese besuchen,“ hatte meine Mutter schon seit dem Winter gesagt. „Ich muß sehen, ob ich ihr keinen Trost bringen kann.“

Meine Mutter war damals selbst so traurig, schon länger als seit dem Winter, schon seit dem Sommer 1812. Sie hatte seitdem nur Trauerkleider getragen. Meine Mutter fuhr zu der Tante Therese, oder eigentlich zu ihrer Mutter, bei der die Tante lebte, mich nahm sie mit. Ich war ein Knabe von 12 Jahren.

Meine Großmutter wohnte in einem alten adligen Schlosse; Schloß Hawichhorst hieß es. Es gehörte mit dem Gute einer alten, reichen, ehemals reichsfreiherrlichen Familie Westphalens, die sich schon seit undenklichen Zeiten außerhalb Westphalens aufhielt. Schon eben so lange waren meine Vorfahren mütterlicher Seits Rentmeister auf Gut und Schloß Hawichhorst gewesen, zuletzt mein Großvater. Er war früh gestorben, und seine Stelle sollte auf seinen Sohn forterben; der jüngste Sohn, Franz, war dazu ausersehen. Der war aber bei dem Tode des Großvaters noch ein Kind; so wurde ein Verwalter genommen, bis er großjährig sein werde, und meine Großmutter blieb mit ihren Kindern im Schlosse wohnen, und der Verwalter hatte von ihr die Befehle zu empfangen; in der späteren Zeit von meiner Tante Therese, da meine Großmutter in Folge eines Schlaganfalles nicht mehr nach Allem sehen konnte. Solche patriarchalische Zustände gab es damals häufig in Deutschland. Ich glaube, der alte westphälische Adel hat sie noch aufrecht erhalten.

Das Schloß Hawichhorst lag am Ende einer großen unübersehbaren Haide. Als ich mit meiner Mutter zu der Großmutter und zu der Tante Therese fuhr, mußten wir schon eine Stunde vor dem Schlosse von der Landstraße abbiegen, um von da an immer in der großen Haide zu fahren, an der Hawichhorst lag. Lange Zeit sahen wir gar kein Ende von ihr, und ich meinte beinahe, sie werde kein Ende nehmen. Dann tauchte hinten ein großer, dunkler Wald herauf, der immer größer und breiter wurde, und ich meinte nun, der Wald könne kein Ende nehmen. Zuletzt fuhren wir um eine Ecke des Waldes herum, und da lag das Schloß Hawichhorst vor uns auf einer kleinen Erhöhung. Es war nicht groß, dafür desto älter und stammte aus dem Mittelalter. Die Mauern waren hoch, grau, mit wenigen schmalen, aber hohen Fenstern. Das Dach war spitz, mit kleinen Ziegeln gedeckt, die vom Alter dunkelbraun gefärbt waren. An der einen Seite ragte ein spitzer grauer Thurm über das Dach hinüber.

Es war am späteren Nachmittag, als wir ankamen. Man hatte uns nicht erwartet, die Leute des Gutes waren im Felde an der Arbeit. Draußen am Schlosse war Niemand; auch an den Fenstern sahen wir keinen Menschen. Ein großes Einfahrtsthor führte in den Schloßhof, der mit hohen Mauern umschlossen war. Früher war vor den Mauern noch ein Graben gewesen, der aber nun ausgefüllt war. Nur die Brücke hatte man gelassen, über die man zu dem Einfahrtsthore gelangte. Wir fuhren über diese Brücke hindurch in den Hof. Auch dort war Niemand. Wir stiegen aus, und meine Mutter führte mich in das Haus. Wir kamen zuerst in eine kleine Halle, an der mehrere Thüren lagen. Zu einer, die uns gerade gegenüber am Ende der Halle lag, gingen wir. Vor der Thür blieben wir stehen, meine Mutter horchte hindurch. Um uns her war die tiefste Stille, man hörte in dem ganzen Hause keinen Laut. Das alterthümliche Schloß machte einen eigenthümlichen feierlichen Eindruck auf mich. Ich war noch nie in dem Schlosse gewesen. Meine Mutter war blaß geworden. Sie war seit mehreren Jahren nicht dagewesen und hatte die Mutter nicht gesehen, seitdem sie gelähmt, die Schwester Therese nicht, seitdem sie so traurig war, Beide nicht seit jenen entsetzlichen Begebenheiten, die die Eine für immer auf das Krankenlager geworfen, der Anderen für immer das Herz gebrochen hatten.

Sie machte langsam die Thüre auf und wir traten in ein hohes, altertümliches Gemach. Es war wohl schon das Wohngemach der Ritterfamilie gewesen, die einst hier gehaust hatte; jetzt war es das Wohnzimmer der Familie meiner Großmutter. Mitten in dem Zimmer stand ein Rollstuhl; darin saß oder lag meine Großmutter. Sie lag so, daß sie nach zwei Seiten die Fenster des Zimmers wahren konnte. Auf der einen Seite fiel ihr Blick auf die Bäume des Waldes, auf der anderen in die unabsehbare Haide hinein.

Die Großmutter war eine starke, kräftige Frau. Trotz ihrer Trauerkleidung lag in ihrem ganzen Wesen eine herzliche, milde Freundlichkeit. Meine Mutter mußte weinen, als sie sie sah.

Die alte traute Frau tröstete sie.

„Weine nicht, Elisabeth. Es ist eine schwere Zeit über uns dahingegangen, seitdem wir uns zuletzt sahen. Aber sie ist vorüber, und Gott hatte sie uns geschickt. Weine nicht, um der armen Therese willen.“

[674] Da that die Thür sich auf, und die Tante Therese trat in das Zimmer. O, wie werde ich jemals den Anblick vergessen können! Sie war in tiefer Trauer; ihr Gesicht war weiß, wie der frischeste Schnee; die feine, durchsichtige Haut ließ keinen Blutstropfen wahrnehmen. Und doch war es so wunderbar schön. Es war eine verklärte, heilige Schönheit, die nicht mehr der Erde anzugehören schien. Und so klar und still und freundlich war sie dabei, auch das war so wunderbar; man meinte darin ein stilles, sanftes Weinen ihres Herzens zu sehen.

Sie ging langsam auf meine Mutter zu. Die beiden Schwestern hielten sich lange umarmt und sprachen beide kein Wort. Meine Mutter war die ältere, wohl über ein Dutzend Jahre älter, als die Tante. Sie hatte diese erzogen, und sie hatten sich immer so innig und so herzlich geliebt. Meine Mutter mußte zuletzt bitterlich weinen, trotz jener Ermahnung der Großmutter. Da ließ die Tante Therese sie los.

„Was weinst Du, Elisabeth?“

„Arme, arme Therese!“ rief meine Mutter.

„Ja!“ sagte die arme Schwester leise.

Sie sagte nur das eine Wort. Dann wandte sie sich zu mir. Ihre Augen sah ich feucht glänzen, aber sie war milde und freundlich.

„Du bist groß geworden,“ sagte sie zu mir, „und Deine Mutter hat mir nur Gutes von Dir geschrieben. Bleibe immer ihre Freude.“

Sie sprach es so unendlich klar und mild und freundlich. So blieb sie, so war sie immer, so oft ich sie nachher wiedersah. Und auch eben so schön war sie geblieben; dieselbe Feinheit und Durchsichtigkeit der Haut; dieselben edlen Formen des blassen Gesichtes; keine Runzel darin; derselbe ruhig klare Blick der dunkelblauen Augen. Und sie war, als ich sie zum letzten Male sah, nahe an den siebziger Jahren.

Sie ist gestorben seitdem. Im Tode soll ihre Schönheit eine noch wunderbarere gewesen sein. Ich konnte sie nicht mehr sehen; ich mußte fern von ihr im fremden Lande leben.

Sie war so unglücklich gewesen. „Was fehlt der Tante Therese?“ mußte ich schon damals, als ich sie zum ersten Male sah, meine Mutter fragen.

„Du weißt es ja,“ war die Antwort. „Der Tod des Onkels Fritz. Wir Alle trauern noch um ihn.“

Aber die Tante Therese war so besonders traurig. „Es muß doch noch etwas Anderes sein, Mutter,“ sagte ich.

„Der Onkel Fritz und die Tante Therese waren Zwillingsgeschwister,“ sagte die Mutter. „Sie hatten sich ganz besonders lieb.“

„Es muß doch noch etwas Anderes sein, Mutter.“

„Ja,“ sagte die Mutter, tief seufzend. „Es ist auch noch etwas Anderes. Aber das verstehst Du nicht, Kind.“

Später verstand ich es, und ich werde es nachher erzählen. Vorher muß ich von dem berichten, was ich damals schon wußte, und worüber sie Alle noch trauerten.

Es hatte bis zum Jahre 1813 eine schwere Zeit auf dem deutschen Lande und Volke gelegen. Das deutsche Volk war von einem fremden Tyrannen an die Sclavenkette gefesselt, mit der Sclavengeißel gezüchtigt. Aber keine Geißel, keine Fessel kann ein edles, kann das deutsche Volk zu Sclaven machen. Auch unter jener fremden Tyrannei lebte fort und fort in dem deutschen Volke die Liebe zur Freiheit, der Haß gegen den Despotismus, der Ingrimm gegen den Tyrannen, das glühende Verlangen, die Ketten zu zerbrechen, die Geißel dem Tyrannen zu entwinden, um sie züchtigend und strafend über ihn selbst zu schwingen. Aber das Verlangen konnte noch nicht sofort zur That werden, die Fürstenpolitik stand ihm entgegen, und das deutsche Volk trug das Aeußerste um seiner Fürsten willen – auch damals. Nur einzelne glühende Herzen konnten den Unmuth, den Zorn, den Ingrimm nicht in sich verschließen. Sie wurden das Opfer ihrer Unvorsichtigkeit.

Mein Onkel Fritz, der Zwillingsbruder meiner Tante Therese, war ein Mann von Geist, von Muth, von lebhaftem edlem Herzen. Er hatte die Rechtswissenschaft studirt und kam als Doctor der Rechte in die Heimath zurück. Er machte seine Examina und wurde Advocat an dem kaiserlich napoleonischen Gerichtshofe in der Provinzstadt seiner Heimath. Er hatte sich bald einen Ruf erworben und war der Stolz seiner Familie, der Triumph seiner Zwillingsschwester Therese. Sein Herz glühte von Liebe zum Vaterlande, von Liebe zur Freiheit, von Haß gegen den Unterdrücker.

Eines Abends – es war im Sommer des Jahres 1812 – saß er mit Freunden im Weinhause. Es war an dem Tage die Nachricht eingetroffen, daß die französische Armee den Niemen überschritten habe. Die Freunde sprachen über den möglichen Ausgang des napoleonischen Krieges gegen Rußland. Sie waren allein und thaten sich keinen Zwang an und wurden bald in ihrem Gespräche lebhafter. Anfangs hatten sie Befürchtungen ausgesprochen, dann Wünsche, dann Hoffnungen.

Mein Onkel ergriff sein Glas.

„Stoßt an, Freunde! Verderben und Tod dem Tyrannen in den Eisfeldern Rußlands!“

Er rief es mit lauter, erhöhter Stimme. Während er es rief, öffnete sich die Thür des Zimmers. Die Freunde wollten mit ihm anstoßen, da hörten sie ein Geräusch hinter sich und sahen sich um. Ein französischer Officier stand in der Thür, der Chef der Gensd’armerie der Provinz. Die Freunde stießen nicht an; sie setzten sich still nieder und stellten schweigend die Gläser vor sich hin; sie blickten verwirrt zu Boden. Auch mein Onkel schwieg; aber er hatte sich nicht gesetzt, er hatte nicht die Augen gesenkt.

Er sah ruhig, stolz den Officier an, der die französische Polizeiuniform trug und ein Deutscher war. Er sah ihn mit Verachtung an. Der Officier entfernte sich stumm.

„Er wird nichts gehört haben,“ sagten die Anderen.

„Er hat jedes meiner Worte gehört,“ sagte ruhig mein Onkel.

„So wird er nichts gehört haben wollen. Er kann nicht. Er ist ein Deutscher.“

„Und gerade weil er ein Deutscher ist,“ rief mein Onkel, „hat er jedes Wort gehört, und wird keins vergessen. Der Deutsche, der gegen Deutsche dem fremden Tyrannen dient, der deutsche Edelmann gar, wie dieser einer ist – Gottlob, er ist kein Westphälischer; in dem westphälischen Adel fließt besseres Blut – ein solcher Mensch ist der verkommenste Renegat, kann nur der elendeste Verräther sein. Meine Stunden sind gezählt. Ich weiß es. Entfliehen kann ich nicht, ich mag es auch nicht. Laßt uns trinken. Tod den Verräthern! Dreifacher Tod den deutschen Verräthern!“

Sie stießen wohl mit ihm an, aber ihre Lippen waren stumm, und ihre Herzen voll Schreck und Angst um den Freund, den auch sie verloren sahen.

Noch in derselben Nacht wurde mein Onkel von den französischen Gensd’armen verhaftet. Am andern Morgen wurde er vor ein französisches Kriegsgericht gestellt. Er war angeklagt der Complotstiftung gegen das Leben des Kaisers. Der Commandant der Gensd’armerie trat gegen ihn als Denunciant und als Zeuge auf.

Der Name dieses französischen Commandanten der Gensd’armerie? Ich erzähle hier eine wahre Geschichte. In der westphälischen Stadt, in der sie passirte, ist sie noch heute, nach mehr als funfzig Jahren, in Jedermanns Andenken. Die älteren Leute, obwohl sie damals Kinder waren, haben auch das Bild des schönen muthigen jungen Doctors nicht vergessen, der zum Tode verurtheilt wurde, weil er auf den Kaiser Napoleon geschimpft hatte, und der so ruhig und so muthig in den Tod ging. Sie haben auch den Verrath des deutschen Edelmanns nicht vergessen, der ihn in den Tod trieb. Auch der Name dieses Verräthers lebt noch in dem Gedächtnisse Vieler von ihnen. Aber ich will hier den Namen des Verräthers nicht nennen. Der Mann hatte Kinder; sie mögen noch leben, sie mögen besser geworden sein, als ihr Vater war; sie mögen gar, wie ihre brave Mutter – aber ich will dem Gange meiner Erzählung nicht vorgreifen. Jedoch Eins muß ich hier erklären: der Mann war kein Westphale, seine Heimath war jenseits der Elbe.

Die Freunde meines Onkels waren als Zeugen für ihn aufgetreten. Sie bekundeten, daß er in der Aufregung des Weines gesprochen, daß sie selbst seine Worte ihm nicht zugerechnet hätten. Mein Onkel hatte nicht geleugnet. Er trat stolz der Behauptung entgegen, daß er unüberlegt, daß gar der Rausch aus ihm gesprochen habe. Die Richter – sie waren französische Officiere, aber Franzosen, sie waren keine Verräther; der schöne, stolze, muthige, junge Mann hatte ihre Theilnahme erweckt; sie wollten ihm das Leben retten.

„Sie selbst, Angeklagter,“ sagte der Präsident des Gerichts zu ihm, „können kein klares und richtiges Urtheil darüber haben, ob Sie mit Ueberlegung sprachen, oder in der Hitze des Weines. Es steht fest, daß Sie Wein getrunken hatten, und wer unserem erhabenen Kaiser und seiner glorreichen Armee Tod und Verderben [675] wünschen kann, von dem ist in einer solchen Lage anzunehmen, daß er nicht den vollen Gebrauch seiner Vernunft hatte.“

Da verlangte der Commandant der Gensd’armerie noch einmal das Wort, und er versicherte auf seine Ehre als Officier und auf seinen Eid als Zeuge, daß der Angeklagte mit der vollen Klarheit des Geistes gesprochen und auf ihn Blicke des Hasses und der Herausforderung geworfen habe; über seinen bedachten bösen Willen könne kein Zweifel sein.

Und das Kriegsgericht mußte den Angeklagten zum Tode verurtheilen.

Mein Onkel wurde am folgenden Morgen erschossen.

Erst als er todt war, erfuhren die Seinigen da hinten an der großen Haide seine Untersuchung, seine Verurtheilung, seinen Tod. Meine Großmutter warf der Schreck auf das Krankenlager. Der Tod ging an ihr vorüber, aber sie war gelähmt, und sie blieb es ihr Leben lang. Meine Tante Therese war bis zu dem Tage frisch und blühend gewesen, wie das frischeste junge Leben, obwohl der Tod schon einmal recht hart ihr an das Herz herangetreten war. Von der Stunde der entsetzlichen Nachricht an hat Keiner einen Blutstropfen mehr in ihrem Gesichte gesehen. Doch, damit das Gesicht ihr ganz so weiß und blutleer wurde, wie es war, als ich sie sah, dazu hatte noch anderer Schreck, anderes Entsetzen kommen müssen, und davon erzähle ich jetzt. Jenes hatte sich im Sommer des Jahres 1812 ereignet.

Es kam der Herbst des Jahres 1813. Die glorreichen Armeen des französischen Kaisers waren längst in den russischen Eisfeldern vom Tode, vom Verderben ereilt.

Die Schlacht bei Leipzig war darauf geschlagen. Die Macht Napoleon’s in Deutschland war völlig vernichtet. Der Feind floh aus Deutschland. Erst jenseits des Rheins fühlten die Fliehenden sich sicher, die Massen wie die Einzelnen. Im Süden bei Hanau nur mußte erst noch am vorletzten Octobertage eine zweite Schlacht geschlagen worden, und im Nordwesten Deutschlands, nach dem Rheine hin, hielt in manchen Gegenden das fremde Regiment sich noch fest, bis die ersten Preußen oder die ersten Kosaken ankamen. Dann wurde noch schnell raubmäßig zusammengerafft, geplündert, mitunter gemordet, und nun begann in der rasenden Eile des letzten Augenblicks die wilde Flucht vor den verfolgenden Befreiern, die oft in das eine Thor einer Stadt einrückten, während die letzten Fliehenden noch durch das entgegengesetzte Thor sich hinausdrängten. Manchmal war aber auch die Flucht zu spät, und die Räuber traf blutige Züchtigung. Manchmal kam es aber auch noch anders.

In jene Haiden Westphalens waren die Befreier noch nicht vorgedrungen. In der Provinzstadt hausten noch die Franzosen. Bereiteten sie zu jener hastigen, räuberischen Flucht sich vor, so geschah es heimlich, und nur Wenige erriethen es. Die es nicht erriethen, waren um so mehr von Sorge befangen. Die Flucht der Franzosen mußte bald und unvermeidlich eintreten; aber waren nicht eben so unvermeidlich Raub und Plünderung mit ihr verbunden? Trotzdem erwartete man die Befreier mit heißer, brennender Sehnsucht. Das Schloß Hawichhorst lag, wie gesagt, einsam an dem Ende der großen, unübersehbaren Haide. In nächster Nähe war nicht einmal ein Dorf. Die Landstraße zog sich, über eine Stunde weit entfernt, am anderen Ende der Haide, jenseits des Waldes entlang, der sie begrenzte.

Auch im Schlosse Hawichhorst hatte man von der großen Völkerschlacht bei Leipzig erfahren. Seitdem waren aber über acht Tage vergangen, ohne daß man weitere Kriegsnachrichten erhalten hatte. Nur Gerüchte waren über die Haide gedrungen, oft widersprechend genug. Bald hieß es, die Preußen und Russen seien als Befreier im Anzuge. Bald sollten aus Frankreich neue Truppenmassen heranrücken, um in neuem, verzweifeltem Kampfe die Verfolger aufzuhalten, zurückzuwerfen. Da wurden die Bewohner des Schlosses plötzlich durch Kriegsgetümmel in ihrer unmittelbaren Nähe erschreckt. Es war gegen Abend. Der Tag war kalt und naß.

Meine Großmutter und meine Tante Therese waren in dem gewöhnlichen Wohnzimmer. Die Tante las der Großmutter vor, die in ihrem Rollstuhl lag, die Tante saß am Fenster und strickte bei dem Lesen. Ueber Buch und Strickzeug glitt manchmal ihr Blick durch das Fenster, durch das sie weit in die Haide hinein sehen konnte. Sie war unruhig und schien etwas zu erwarten, was sie fürchtete. Die Großmutter bemerkte ihre Unruhe nicht. Mitten im Lesen hörte die Tante Therese plötzlich auf und horchte nach dem Fenster hin, hinaus in die Haide.

„Was giebt es da?“ fragte die Großmutter.

„Nichts, Mutter.“

„Aber Du stehst so sonderbar aus, Therese.“[1]

„Ich meinte, ich hätte draußen etwas gehört.“

„Was Dich erschreckte?“

„In der jetzigen Zeit kann Einen wohl jedes plötzliche Geräusch erschrecken. Wir wohnen hier so allein.“

Die Großmutter wollte etwas erwidern. Die Tante war rasch aufgesprungen.

„Mein Gott!“ rief sie.

Ihr bleiches Gesicht war blässer geworden.

„Aber was ist da, Therese?“

„Nichts, nichts, Mutter.“

In demselben Augenblicke zuckte auch die Großmutter auf. Auffahren konnte der gelähmte Körper nicht.

„Da wird geschossen, Therese!“

„Ja, Mutter.“

„Und da wieder, und wieder. Es ist jenseits des Waldes.“

„Wenn es nicht schon im Walde ist, Mutter!“

Die Großmutter horchte. „Nein,“ sagte sie dann bestimmt und ruhig.

Man hörte schießen. Es war ein regelmäßiges Gewehrfeuer, aber noch in weiter Ferne; darum hörte man auch nur die regelmäßigen Salven, nicht die einzelnen Schüsse, die vielleicht auch fielen. Es kam von dem Walde her. Es sei schon im Walde, hatte die Tante gefürchtet; es sei noch jenseits desselben, meinte die Großmutter. Die Tante widersprach ihr nicht weiter, sie wollte wohl die alte Frau nicht unnöthig ängstigen.

Ein anderes Geräusch wurde plötzlich laut. Es war in der Haide und schien sich dem Schlosse zu nahen. Anfangs war es ein dumpfes Dröhnen des Haidegrundes; als es näher kam, unterschied man das Stampfen von Pferden, dazwischen das Feuern von Waffen.

Die Großmutter konnte in ihrem Rollstuhle, der mitten in dem Zimmer stand, wohl in die weitere Ferne der Haide blicken, nicht aber das sehen, was in der Nähe darin war.

„Das ist Cavallerie, Therese?“ fragte sie.

„Ja, Mutter, Franzosen. Es sind Carabiniers.“

„Wohin ziehen sie?“

„Sie sprengen dem Walde zu.“

„Also zu dem Kampfe dort?“

„Ja.“

Beide schwiegen und horchten dem Vorbeiziehen der Soldaten. Die Tante stand am Fenster. Zwei Schwadronen französische Carabiniers sprengten dicht am Schlosse vorüber der Ecke des Waldes zu. Sie jagten im Galopp, in geordneten, geschlossenen Zügen, ein Officier voran, andere Officiere zur Seite. Kein Commandowort der Officiere wurde gehört, kein Laut kam aus den Reihen der Soldaten. Man vernahm nur das Stampfen der Pferde auf dem dumpf drohnenden Haideboden und das Klirren der Säbel. So flogen sie durch die Haide, unheimlichen wilden Haidegespenstern gleich. Jenseits der Waldecke verschwanden sie und eilten dem Kampfe entgegen, der im oder am Walde stattfand. Als man das Stampfen der Pferde nicht mehr hörte, tönten die Schüsse wieder über den Wald herüber.

Die Tante stand noch am Fenster. Sie sann nach; sie überlegte etwas; sie schien in steigender Unruhe zu einem Entschlusse, den sie suchte, nicht gelangen zu können. Die Großmutter hatte sie beobachtet. Sie mußte den Kopf schütteln. Sie war eine verständige, besonnene, muthige Frau, sie hatte Vieles erlebt in ihrem langen und auch in jener Einsamkeit unruhigen Leben, und es waren damals wildbewegte Zeiten, Noth und Gefahren drangen in die stillste, verborgenste Einsamkeit hinein.

„Du ängstigst Dich, Therese?“ sagte sie zu der Tante.

„Der Kampf kann sich hierher ziehen und hier anhalten, Mutter.“

„In der Haide, Kind? Hierher kommen nur Fliehende und Verfolger.“

„Und können nicht auch die in das Haus dringen, plündern, rauben –?“

„Dazu gehört Zeit, Therese, und weder die Einen noch die Anderen haben sie. Indeß Du hast Recht, daß Du besorgt bist. Triff also Anstalten gegen einen möglichen Ueberfall. Ich hier auf meinem Krankenlager kann Dir nicht helfen, armes Kind, [676] und der Franz und der Verwalter sind noch nicht zurück. Sie sind aber auf der entgegengesetzten Seite des Kampfes, und dort sind sie sicherer, als wir hier.“

„Aber wenn sie nun zurückkämen, gerade weil sie uns in Gefahr wissen, um uns beizustehen, und wenn sie dann zwischen die Kämpfenden, Fliehenden und Verfolgenden geriethen?“

Die Großmutter verlor ihren Muth und ihr Vertrauen nicht.

„Die Haide ist groß, Therese, und man sieht und hört weit darin. Gehe jetzt. Laß das Thor verschließen, die Fensterladen fest vorhängen, was zerstörbar ist, unten in die Keller bringen. – Aber wozu brauche ich Dir Weiteres zu sagen? Du bist ja verständig, und hast noch nie Deine Geistesgegenwart verloren.“

Die Tante Therese verließ mit einem schweren Seufzer das Zimmer. Die Großmutter mußte wieder den Kopf schütteln.

„Was ist ihr nur? Sie hat sonst immer den frischen, klaren Muth. Seit dem Tode des armen Fritz freilich – Aber so ganz muthlos wie jetzt, wie seit heute Morgen, war sie noch nie. Was mag passirt sein? – In der Nacht? – Sie wich meinen Fragen aus. – Sollte von Adalbert – – –“

Die Großmutter sank in tiefes, stilles, aber unruhiges Nachdenken.




2. Ein westphälischer Edelmann.

Die Tante Therese war mit sorgenvollem Gesichte in die kleine Halle getreten, die den Hausflur bildete, und wollte auf eine Seitenthür zugehen. Sie besann sich; sie hatte vorher noch etwas Anderes zu thun. Sie schritt quer durch die Halle, geradeaus. Dort öffnete sie eine Thür und winkte in die Stube hinein. Eine alte Magd trat heraus.

„Mache die Thür zu, Christine.“

Die Magd gehorchte.

„Wie geht’s ihm, Christine?“

„Gut, Mamsell.“

„Kann ich zu ihm gehen?“

„Ja, Mamsell.“

„Wo ist der Freiherr?“

„In seinem Zimmer.“

„Er hat nichts gemerkt?“

„Gar nichts.“

„Er spionirt gern.“

„Er weiß von nichts, Mamsell. Sie können ruhig sein. Ich sprach ihn noch vor einer Viertelstunde. Er war ganz unbefangen.“

„Noch Eins, Chrtstine, habt Ihr nichts gehört?“

„Was sollten wir gehört haben, Mamsell?“

„Draußen, hinten am Walde, wird geschossen. Die Preußen oder Russen müssen da sein und mit den Franzosen kämpfen.“

„Um Gott, Mamsell –“

„Ihr hattet also nichts gehört?“

„Die Spinnräder gehen laut.“

Man hörte durch die verschlossene Thür das Schnurren der Spinnräder in der Stube.

„Wo sind die Knechte?“ fragte die Tante.

„Bei der Arbeit; in den Ställen, auf dem Boden.“

„Christine, kehre in die Stube zurück und laß Dir nichts anmerken.“

„Was soll es aber werden, Mamsell, wenn das Schießen hierher käme?“

„Noch ist es weit. Ich will mit ihm sprechen. In zehn Minuten bin ich wieder hier.“

Die alte Magd kehrte in die Mägdestube zurück, und die Tante Therese ging zu der Seitenthür, auf die sie vorhin schon hatte zugehen wollen, öffnete sie und stand am Fuße einer schmalen, dunklen Wendeltreppe. Sie zog die Thür hinter sich zu und stieg leise und vorsichtig die Treppe hinauf. Sie kam in einen langen, dunken Gang und in der Mitte des Ganges an einen Seitengang, der dort einmündete. Ihr Schritt wurde fast unhörbar. Am Ende des Ganges war eine Thür. Ein paar Augenblicke blieb sie horchend stehen. Es war Alles still, rund um sie her. Sie zog aus ihrer Tasche einen Schlüssel hervor, öffnete die Thür kaum hörbar und trat in ein kleines, rundes Gemach. Es war alterthümlich, wie Alles in dem alten Schlosse, das aus den Ritterzeiten stammte. Es war das oberste Stübchen in dem grauen, spitzen Thurme, der über das Dach des Schlosses hinüberragte.

Sie verschloß die Thür hinter sich. Hinten in dem Gemache war ein Bett, und auf diesem saß aufrecht ein großer, schöner, junger Mann in der Uniform eines preußischen Officiers. Er war verwundet, eine Binde umgab seine Stirn, in einer Binde lag sein linker Arm. Sein Gesicht war tief blaß, die Züge waren erschlafft. Er konnte sich nur mit Mühe in seiner sitzenden Stellung aufrechthalten. Die Tante war besorgt zu ihm getreten.

„Lege Dich wieder, Adalbert,“ sagte sie zu ihm.

Er legte sich auf das Bett zurück. Er hatte sich nur bei ihrem Eintreten erhoben. Sie sah ihn mit schwerem Herzen an und zögerte mit der Botschaft, die sie ihm zu bringen hatte.

„Wie geht es Dir, Adalbert?“ fragte sie ihn.

„Es wird besser werden, Therese,“ sagte er.

Seine Stimme war matt, aber seine Augen ruhten voll Liebe und voll Dank auf ihr. Er hielt ihr seine Hand hin, und sie legte die ihrige hinein.

„In Deiner Pflege werde ich genesen,“ fuhr er fort, „in Deiner Liebe, in Deiner edlen, verzeihenden Liebe. Du hast mir das Leben wieder gegeben. Wie sollte es nicht frisch wieder aufblühen?“

Sie seufzte schwer, denn sie mußte ihm sagen, was sie herführte.

„Adalbert, Du fürchtetest einen Zusammenstoß der Alliirten und der Franzosen hier in der Gegend?“

„Er wird kaum zu vermeiden sein, Therese. Die Spitzen der Alliirten rücken kühn, oft tollkühn, in kleinen Abtheilungen vor. Die Provinzstadt hat noch eine starke französische Garnison; sie kann schnelle Hülfe aus den rheinischen Festungen bekommen, die noch in den Händen der Franzosen sind. Da wird sie ohne Kampf sich nicht zurückziehen wollen.“

„Ich fürchte, der Kampf ist schon entbrannt, Adalbert.“

„Was – wo?“ rief lebhaft der Officier.

„Drüben am Walde, rechts, wird geschossen. Die Mutter und ich hörten das Gewehrfeuer seit einer Viertelstunde. Die Wohnstube liegt nach dem Walde hin.“

„Rechts vom Walde?“ fragte der Officier.

„Rechts vom Walde. Und von der anderen Seite, quer über die Haide, eilten vor wenigen Minuten zwei Schwadronen Carabiniers in gestrecktem Galopp dem Kampfplatze zu.“



(Fortsetzung folgt.)



Aus dem Leben deutscher Schauspieler.
3.[WS 1] Emil Devrient.

In dem Hause des wohlhabenden Kaufmanns Devrient, welches zu Berlin in der Brüderstraße lag, herrschte gegen das Ende des Jahres 1815 eine große Aufregung. Man erwartete daselbst die Ankunft des berühmten Schauspielers Ludwig Devrient, der von dem Generaldirector Herrn Iffland eine Einladung zu einem Gastspiele auf dem königlichen Theater erhalten hatte. Gegen den Willen seines strengen Vaters war er zu dessen größtem Herzeleid unter das „Komödiantenvolk“ gegangen, aber sein Genie hatte alle Hindernisse besiegt, und nach jahrelanger Abwesenheit kehrte er als ein ruhmgekrönter Künstler in das elterliche Haus zurück. Der ehrenwerthe, aber vorurtheilsvolle Vater war seitdem gestorben, sein Bruder hatte die Handlung übernommen und freuete sich aufrichtig, den ausgezeichneten und ihm so nahe verwandten Mimen zu begrüßen. Das in den bürgerlichen Familien früher gegen den Schauspieler herrschende Vorurtheil war nach und nach geschwunden, der Künstler galt nicht mehr für einen Vagabunden und wurde in der Gesellschaft nicht nur geduldet, sondern mit Achtung und Auszeichnung, die dem Talent gebührt, behandelt. Hatte doch der König selbst den patriotischen Iffland durch die Verleihung des roten Adlerordens geehrt und gleichsam in ihm den ganzen Stand nobilitirt. Deshalb erwartete den Schauspieler Ludwig Devrient heute ein eben so freundlicher, als herzlicher Empfang von Seiten

[677]

Emil Devrient
als „Petrucchio“ in der Widerspenstigen.

seines soliden Bruders und dessen ehrbarer Familie. Am meisten freueten sich aber seine drei Neffen, Karl, Eduard und Emil, auf die Ankunft ihres berühmten Onkels, der in ihren Augen von einer wahrhaft poetischen Glorie umgeben stand. Sie kannten seine romantische Jugendgeschichte aus dem Munde ihres Vaters, sie hatten von seinen wunderbaren Leistungen gehört, sich an seinem Ruhm berauscht und liebten ihn und in ihm das Theater mit jugendlicher Leidenschaft. Alle drei waren schöne kräftige Jungen mit interessanten, geistvollen Gesichtern, reich begabte Naturen voll frischer Jugendlust und Poesie. Karl, der Aelteste von ihnen, war vor Kurzem erst aus dem Kriege zurückgekehrt, wo der siebzehnjährige Husar in der Schlacht bei Waterloo tapfer mitgefochten. Nach dem freien Soldatenleben wollte ihm das dunkle Comptoir seines Vaters um so weniger gefallen, und mehr als einmal dachte er wohl daran, es heimlich zu verlassen. Auch Eduard, der damals vierzehn Jahr alt war, zeigte wenig Neigung, sich dem Kaufmannsstande zu widmen; er entwickelte ein entschiedenes musikalisches Talent und saß lieber an seinem Clavier als bei den langweiligen Handelsbüchern. Der Jüngste der Brüder, Emil, besuchte noch die Schule, aber auch er besaß bereits eine große Vorliebe für das Theater und beschäftigte sich vorzugsweise mit dem Coloriren und Ausschneiden von Bilderbogen für seine kleine Puppenbühne.

Bei solcher Beschaffenheit kann man sich wohl denken, welch eine Epoche in dem Leben dieser jungen Burschen die Ankunft eines solchen Onkels machen mußte und mit welcher Ungeduld derselbe erwartet wurde. Endlich hielt der Wagen vor der Thür, und aus demselben sprang mit eigener Hast der berühmte Künstler, um sich in die Arme seines ihm entgegeneilenden Bruders zu werfen und seine Neffen nach der Reihe abzuküssen. Ludwig Devrient’s Erscheinung war allerdings dazu angethan, die Herzen seiner jugendlichen [678] Verwandten sogleich zu gewinnen. Sein längliches Gesicht mit dem seinen Muskelspiel, der gebogenen Adlernase und der scheuen Stirn, umwallt von den dunkel gelockten Haaren, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft; der höchste Zauber lag aber in den schwarzen Augen, welche bald so gut, bald so dämonisch wild dreinschauten, während um den seinen Mund die Geister des übermütigsten Humors und des tiefsten Schmerzes einer Menschenseele zuckten. Wie herzlich konnte er lachen, wie freundlich mit den Knaben scherzen! Und dann blickte er wieder so seltsam und so ernst mit den wunderbaren Augen sie an, daß ihre jungen Seelen zusammenschauerten.

In den nächsten Tagen trat der berühmte Onkel auf dem königlichen Theater auf, wobei natürlich seine Neffen nicht fehlen durften. Die kleinen Herzen bebten und jauchzten vor Wonne bei dem Beifall, den das Publicum den genialen Leistungen des großen Künstlers zollte; sie berauschten sich an seinen Triumphen, an seinen Erfolgen und dachten und träumten nur noch vom Theater. Alle drei gelobten sich im Stillen, wie ihr Onkel Schauspieler zu werden, und sie haben Wort gehalten, ungeachtet des Widerstandes, den sie von Seiten ihrer Familie fanden, welche hugenottischen Ursprungs war, urspünglich den Namen de Vrient führte und aus Flandern stammte. Zuerst wußte Eduard den Widerwillen seines Vaters zu besiegen; ihm folgte der feurige Karl bald nach. Um so mehr drang der Vater darauf, daß der jüngste Sohn Emil die kaufmännische Laufbahn einschlagen und das alte Geschäft einst fortsetzen sollte. Zu diesem Behufe mußte er nach vollendeter Schulbildung Berlin verlassen, wo seine theatralischen Neigungen eine nur allzureichliche Neigung erhielten. Ueberzeugt von der moralischen Nothwendigkeit, sich dem Wunsche seines Vaters und dem Wohle seiner Familie zum Opfer bringen zu müssen, machte er selbst den Vorschlag, nach einer kleinen Stadt zu gehen, um sich den Verführungen der Bühne zu entziehen. Ein zweiter, ebenfalls dem Handelsstande angehöriger Onkel, der in Leipzig wohnte, besaß eine in der Nähe von Zwickau gelegene chemische Fabrik. Dorthin reiste Emil vollkommen resignirt und mit dem festen Vorsatz, ein tüchtiger Kaufmann zu werden und einst dem Vater zur Seite zu stehen. Mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit widmete er sich vorzugsweise seinem Beruf, indem er mit strenger Pünktlichkeit seine kaufmännischen Pflichten erfüllte, Geschäftsbriefe und Rechnungen mit schöner, zierlicher Hand schrieb, die Bücher in Ordnung hielt und ähnliche prosaische Arbeiten mit anerkennungswerthem Fleiße trotz aller Unlust lieferte. Nur seine beschränkten Mußestunden waren nach wie vor der Poesie geweiht. Mit einem Bändchen Gedichte oder einem Trauerspiel von Schiller ging er in das nahe an die Fabrik angrenzende Wäldchen, wo er mit lauter Stimme ungestört und unbelauscht declamirte und Verse recitirte.

Ein Jahr hatte er bereits in tiefster Einsamkeit gelebt und sich fast mit seinem Beruf ausgesöhnt, als ihn ein Brief seines Principals und Onkels nach Leipzig rief, um daselbst im Familienkreise das Weihnachtsfest zu feiern. Zufällig fand er daselbst auch seinen Bruder Karl, der bereits anderthalb Jahre an dem Theater zu Braunschweig engagirt war. Die begeisterten Schilderungen des jungen Künstlers, seine lebendigen Erzählungen aus der Theaterwelt, seine ganze glückliche und von Zufriedenheit strahlende Erscheinung erschütterten mit einem Male alle Vorsätze des guten Sohnes und weckten die nur schlummernde Theaterlust mit unwiderstehlicher Gewalt. Der Dämon der Devrient’schen Familie, dieser angeborene Künstlerzug und Zauber regte sich von Neuem in Emil’s Brust, der offen und unumwunden seinem Vater in einem bewegten Schreiben den Zwiespalt seines Innern darlegte und mit heißen Bitten die Gewährung seines Lieblingswunsches erflehte. Trotz seiner entgegengesetzten Anschauung gab der zärtliche Vater auch dem jüngsten Sohne seine Einwilligung zu dem gewählten Beruf, wozu wohl hauptsächlich die glänzenden Erfolge Ludwig Devrient’s und die schnelle Carriere der beiden andern Söhne in der Theaterwelt das Meiste beitrug. Nur die einzige Bedingung stellte der liebevolle Vater, daß Emil sich für seinen neuen Stand erst gründlich vorbereiten und den Unterricht seines berühmten Onkels zuvor genießen sollte. Wider Erwarten zeigte sich dieser mit dem Entschlusse seines Neffen am wenigsten einverstanden, indem er ihn wiederholt auf die „Illusionen“ hinwies, welche schon manchen jungen Menschen getäuscht und unglücklich gemacht. Er warnte ihn vor dem Theater und dessen aufreibendem Leben, das er immer mehr aus eigener Erfahrung und nicht ohne eigene Schuld kennen gelernt hatte. Auch mit dem Unterricht wollte es nicht recht fortgehn; wie mancher geniale Künstler schuf auch Meister Ludwig seine vorzüglichsten Rollen nicht nach methodischen Regeln, sondern nach den augenblicklichen Eingebungen seiner genialen Natur, von der er sich häufig keine Rechenschaft zu geben vermochte. Er war kein sogenannter „denkender Künstler“, wie sie jetzt zu Dutzenden herumlaufen, und auch kein Theoretiker, weshalb er wohl zum Lehrer wenig oder gar nicht taugte. Um so größer war aber sein Einfluß von der Bühne herab, und der junge Emil lernte mehr durch das Beispiel und den Anblick seines Onkels, als aus seinem höchst mangelhaften und fragmentarischen Unterricht. Ebenso sah er sich in seiner Hoffnung getäuscht, durch seinen großen Verwandten ein schnelleres Engagement bei einer größeren Bühne zu finden, da dieser ihm bald das Versprechen gab, für sein Auftreten in Berlin Sorge zu tragen, bald ihn an die Bühne in Weimar als die geeignetste Schule für seine fernere Ausbildung verwies, ohne in dem einen wie in dem andern Falle etwas Ernstes für ihn zu thun, so daß der ungeduldige Nefe zuletzt den verzweifelten Entschluß faßte, auf gutes Glück seinen Bruder Karl, der damals bei seiner Familie in Berlin verweilte, nach Braunschweig zu begleiten und daselbst ein Unterkommen bei dem hochverehrten Director Klingemann zu suchen.

Dieser empfing den jungen Kunstnovizen keineswegs in aufmunternder Weise, nur mit Widerstreben entschloß er sich, ihm die Rolle des „Raoul“ in der „Jungfrau von Orleans“ auf die Empfehlung des älteren Bruders anzuvertrauen. Mit Herzklopfen betrat Emil in dieser Rolle zum ersten Male die Breter, welche die Welt bedeuten, wobei er eine eigene, gewiß bei jungen Künstlern höchst seltene Erfahrung machte, die unstreitig für seine große Bescheidenheit spricht. Der laute Beifall, den er bei seinem ersten Auftreten fand, wirkte statt ermunternd geradezu lähmend auf seine Darstellung. Erschrocken über den unerwarteten Applaus, kam er aus dem Zusammenhang seiner Rolle, so daß er dieselbe ebenso kleinlaut und gedrückt beendete, als er sie muthig und glücklich begonnen hatte. Regelmäßig überkam ihn dazu, so oft er im Anfange die Bühne betrat, eine unerklärliche Angst, daß er „stecken bleiben“ werde, und wirklich blieb er auch jeden Abend zur großen Belustigung des Publicums stecken, auch wenn er seine Rolle noch so trefflich gelernt hatte. Das Leiden schien durchaus localer Natur zu sein und schwand erst bei vorgenommenem Ortswechsel. Auch als Sänger debutirte Emil in Braunschweig und zwar mit glücklichem Erfolge, indem er als „Oberpriester Kalchas“ in Gluck’s „Iphigenie“ und als „Eremit“ im „Freischütz“ mit Beifall auftrat. Seine musikalische Bildung blieb nicht ohne Einfluß auf seine theatralische Laufbahn, und es läßt sich nicht leugnen, daß die frühere Vereinigung der Oper mit dem Schauspiel von mannigfachem Nutzen für die Betheiligten war. Da Devrient in Braunschweig nicht die genügende Beschäftigung fand, so wandte er sich nach Bremen, wo er unter dem verdienstvollen Director Pichler mehr als hinreichende Gelegenheit hatte, sein vielseitiges Talent auszubilden. Abwechselnd spielte er den „Melchthal“ in Schiller’s Tell, den „Don Cäsar“ in Donna Diana, im Hamlet den „Laertes“ und selbst den „Tobias Schwalbe“ in Körner’s Nachtwächter. Daneben sang er mit wohlklingender Baßstimme den „Sarastro“ in Mozart’s Zauberflöte, den „Almaviva“ in Figaro’s Hochzeit und sogar den „Don Juan“.

Die übermäßigen Anstrengungen erschöpften nothwendiger Weise seine jugendlichen Kräfte und bedrohten seine Gesundheit so ernstlich, daß er sich genöthigt sah, die Bühne zu verlassen und sich zu erholen. Er ging nach Leipzig, wo der frühere Advocat und enthusiastische Theaterliebhaber Küstner ihn mit offenen Armen empfing und ihm ein vorteilhaftes Engagement anbot, nachdem er sich so weit gestärkt hatte, um das Theater von Neuem zu betreten. In Leipzig lebte damals eine Zahl ausgezeichneter Kunstfreunde, der treffliche Blümner, Amadeus Wendt, Wilhelm Gerhard, die Dichter Rochlitz und Mahlmann, die sich lebhaft für die Bühne interessirten. Dazu kam noch in dem nahen Weißenfels der scharfsinnige, geistreiche Müllner, der als Kritiker und Theaterdichter einen großen Ruf genoß. Der Umgang mit solchen Geistern übte auf Emil einen höchst vortheilhaften Einfluß aus und trug wesentlich zu seiner künstlerischen Ausbildung bei. Hauptsächlich aber wirkte auf ihn das Beispiel und Vorbild der ausgezeichneten Künstler, welche damals theils als stehende Mitglieder, theils als Gäste das Leipziger Theater verherrlichten. Wir brauchen [679] nur die Namen Pius Alexander Wolf und dessen unübertreffliche Gattin, Eßlair, Ludwig Löwe, Korn, Vespermann, Gerstäcker, Blume, Sophie Schröder, eine Händel-Schütz, Neumann-Haizinger und die berühmte Stich-Crelinger zu nennen, um die Anregungen zu bezeichnen, welche dem jugendlichen Künstler zu Theil wurden. Auch die Liebe sollte ihre bildende Macht an Emil bewähren und zur Entwickelung seines Talents wesentlich beitragen. In Leipzig lernte er die geniale Dorothea Böhler kennen, die Schwägerin des trefflichen Genast in Weimar, eine der vorzüglichsten Soubretten, die Deutschland je besessen hat, voll Geist, Anmuth und sprühenden Launen. Während Emil für das ernstere Drama sich den maßvollen Wolf und desden ideelle, von Poesie durchhauchte Darstellung zum Muster nahm, war seine Gattin seine Lehrerin in dem heitern Genre, seine komische Muse, welche den ideellen Zug seiner poetischen Natur mit der Wirklichkeit versöhnte.

Von allen Seiten lächelte das Glück seinem bevorzugten Liebling, und nun sollte auch sein innigster Wunsch in Erfüllung gehen, auf der königlichen Bühne seiner Vaterstadt als Gast erscheinen zu dürfen. Unter den Augen seines großen Onkels trat er mit Beifall in Berlin als „Don Carlos“, „Ferdinand“ in Kabale und Liebe und in einigen minder bedeutenden komischen Rollen auf. Ein zweites Gastspiel im Jahre 1829 sollte zu einem Engagement führen. Dasselbe scheiterte jedoch nicht nur an der unbedeutenden Gelddifferenz, sondern vorzüglich an dem Gutachten des berüchtigten Demagogenverfolgers Tzschoppe, der Emil wunderbarer Weise eine „zu schwache Brust“ decretirte. Andere Gastspiele in Dresden, Prag und Wien lieferten den Beweis, daß der Ruf des jungen Künstlers schnell eine weitere Verbreitung und Anerkennung gefunden hatte. Da das Küstner’sche Unternehmen in Leipzig am 1. Mai 1828 zu Ende ging, so wandte sich Emil zunächst nach Magdeburg und von dort nach Hamburg, wo er schnell wie überall der Liebling des gebildeten Publicums wurde. Hier wurde ihm von dem bereits mehrfach erwähnten Director Schmidt mancher praktische Wink zu Theil. Zu seinem Umgange zählte er daselbst den humoristischen Lebrun, den geistvollen Dramaturgen Zimmermann, den politisch und literarisch anregenden Dichter von „Maltitz“ und – Heinrich Heine, den ungezogenen Liebling der Grazien, mit dem Devrient so manchen fröhlichen Abend, gewürzt durch kaustischen Witz und sprudelnden Humor, verlebte.

Unterdeß erhielt das Devrient’sche Ehepaar, dessen Ruf in der Theaterwelt gegründet war, einen höchst glänzenden und ehrenvollen Antrag von der Dresdner Hofbühne. Beide sollten unter annehmbaren Bedingungen ohne Probegastspiel auf Lebenszeit engagirt werden. Trotz seiner sehr angenehmen Stellung in Hamburg glaubte Emil ein solch schmeichelhaftes Anerbieten für sich und seine Gattin nicht zurückweisen zu dürfen. Am 30. August 1830 spielte er zum ersten Male als neu engagirtes Mitglied auf dem Hoftheater in Dresden, wo es ihm bald gelang, neben seinem eben daselbst verweilenden Bruder Carl durch den Glauz seiner Erscheinung, durch den Reichthum seiner Mittel und die künstlerische Ausbildung seines Talents eine hervorragende Stellung einzunehmen. Schon früher hatte er sich von der Oper zurückgezogen und sich vorzugsweise dem recitirenden Schauspiele zugewendet, mit besonderer Vorliebe aber sich dem höheren Drama gewidmet, ohne darum das feinere Lustspiel und selbst die derbere Posse gänzlich zu vernachlässigen, mehr aus Gefälligkeit gegen seine in diesem Fache excellirende Gattin, als aus innerem Drange und Beruf. Immer mehr entwickelte sich das Talent des Künstlers, wozu Dresden und dessen gesellschaftliche und literartsche Kreise, so wie die eigenthümlichen Theaterverhältnisse wesentlich beitrugen. Der hochgebildete König und der ganze Hof nahmen den lebendigsten Antheil an den dramatischen Aufführungen; die selbst als Bühnenschriftstellerin anonym auftretende Prinzessin Amalie übte ihren Einfluß aus und fand in Devrient den geeignetsten Darsteller ihrer Stücke. Der berühmte Tieck stand dem Generaldirector Grafen von Lüttichau als Dramaturg zur Seite und wirkte, abgesehen von mancher Wunderlichkeit, als Lehrer und Vorleser immerhin anregend und begeisternd auf das Publicum und die Schauspielerwelt, Auch Emil fühlte sich von dem genialen Dichter anfänglich angezogen, obgleich er später ihm ferner stand, um nicht wie viele seiner Collegen in den Verdacht der Servilität und Rollenschleicherei zu kommen. Tiedge, Wachsmann, Böttiger und das durch seine Bildung ausgezeichnete Haus des Majors Serre empfingen den Künstler mit Auszeichnung und traten mit ihm in nähere Berührung. Das gebildete Publicum erkannte schnell seine Vorzüge und ließ es nicht an Aufmunterung und Beifall fehlen, besonders schwärmte die Damenwelt für Emil und seine ideelle Darstellung, welche ganz geeignet war, das weibliche Urtheil zu bestechen.

Achtzehn Jahre behauptete er sich so als Liebling des Dresdner Publicums, und auch im übrigen Deutschland fand er auf seinen vielen Gastreisen die reichste Anerkennung und goldenen Lohn in Hülle und Fülle. Das Glück begünstigte ihn auffallend, als ein schmerzliches Ereigniß sein ganzes Leben tief erschütterte und verbitterte, aber zugleich seiner künstlerischen Richtung erst die echte Weihe gab und ihn zum Manne reifte. Die nothwendige Scheidung von seiner Gattin, der Mutter seiner innig geliebten Kinder, lehrte ihn zum ersten Mal den Ernst des Lebens, die Macht eines großen Schmerzes kennen. Um sich und sein krankes Herz zu heilen, riß er sich aus den gewohnten Verhältnissen und reiste nach Paris, wo er von der noch lebenden Mars, von der noch unentweihten, in ihrer ersten Blüthe stehenden Rachel, von Arnal, Bouffé und den übrigen Künstlern der Weltstadt unvergeßliche Eindrücke empfing. Sein Blick erweiterte sich unwillkürlich unter dem Einfluß großer, zuvor nie gekannter Verhältnisse. Voll von dem Gesehenen und Erlebten betrat er den heimischen Boden, wo er in Frankfurt a. M. in der Unruhe eines lärmenden Gasthofslebens die Bekanntschaft mit dem „jungen Deutschland“ und mit Gutzkow’s „Richard Savage“ machte.

Die Stimmung der Zeit, die Leidenschaft der Gegenwart und ihre Forderungen fanden jetzt ein Echo in seiner Brust. Anders als er gegangen, kam er nach Dresden zurück, bewußter, selbstständiger und schöpferischer, frei von dem immerhin beengenden Einfluß einer genialen, aber seiner ursprünglichen Richtung fremden Frau. Mit Vorliebe spielte er in den Dramen Gutzkow’s, Mosen’s, Laube’s, der neueren Dichter, und es gereicht ihm zu keinem geringen Verdienst, daß er vorzugsweise der jüngeren Literatur und den modernen Schöpfungen trotz der entgegengesetzten Ansichten Tieck’s siegreich Bahn gebrochen. Es folgten eine Reihe von Gastspielen, unter denen das Londoner Unternehmen unstreitig den ersten Rang einnimmt. Hauptsächtich muß es den Bemühungen Devrient’s beigemessen werden, daß die deutsche Schauspielkunst durch ihn, Ludwig Dessoir[2], Lina Fuhr u. s. w. die glänzendsten Triumphe in Englands Metropole feierte. Es war kein geringes Wagstück von einem deutschen Künstler, den „Hamlet“ nach dem Vorgange eines Kean und Kembles vor einem englischen Publicum, das noch dazu durch die Tradition verwöhnt, zu spielen. Wie seine Leistung in dieser Rolle aufgenommen wurde, bezeugt das enthusiastische Urtheil der Londoner Blätter und der ersten Kunstrichter Englands, die ihn ihren Kunstheroen nicht nur gleichstellten, sondern vielfach sogar vorzogen. Nicht minder groß sind seine Verdienste um das Gesammtgastspiel der deutschen Schauspieler bei Gelegenheit der großen Industrieausstellung in München gewesen. Nicht nur verzichtete Devrient uneigennützig auf jedes Honorar, sondern er übernahm auch im Interesse des Ganzen öfters unbedeutende und seinem Talent kaum angemessene Rollen, wie z. B. den „Valentin“ in Goethe’s Faust mit anerkennungswerther Selbstverleugnung. Mit Recht schreibt der berühmte Künstler in einem Privatbriefe: „Auf die beiden künstlerischen Führungen der Londoner Theater-Unternehmung lege ich besonderen Werth und bin stolz darauf, meinen Theil beigetragen zu haben, daß deutsche Kunst dort zuerst sich geltend machen konnte und durch die Protection der Königin und des Prinzen Albert, die mir zu Theil wurde, deutsche Kunst-Unternehmung dort zuerst einen glänzenden Anfang und Ausgang hatte.“

Im Jahre 1856 feierte Emil Devrient sein fünfundzwanzigjähriges Künstlerjubiläum, wobei ihm von allen Seiten die glänzendste Anerkennung und Auszeichnung zu Theil wurde. Mit selbsterworbenen Glücksgütern gesegnet, im Besitze eines schön gelegenen einträglichen Ritterguts hatte er die Absicht, sich von der Bühne gänzlich zurückzuziehen, obgleich seine ganze Erscheinung und die seltene jugendliche Frische seiner Leistungen einen derartigen Entschluß weder forderte, noch rechtfertigte. Die sächsische Regierung fand den geeigneten Ausweg für die Vereinigung seiner Wünsche mit dem Interesse des Publicums, das seinen Liebling nicht vermissen wollte. Devrient wurde zum Ehrenmitglied des Dresdner Theaters ernannt, indem er die verlangte Entlassung und Pension [680] mit der Verpflichtung erhielt, jährlich während drei Monate 24 – 30 Gastrollen gegen ein angemessenes Honorar zu geben. Außerdem ehrten verschiedene deutsche Fürsten sein Verdienst durch Orden und andere Auszeichnungen, die den berühmten Künstler schmücken. So lebt derselbe, dem auch in seinen Kindern und Enkeln ein reiches Glück erblüht, in den angenehmsten Verhältnissen, welche er ganz und gar seinem Talent und seiner nie rastenden Thätigkeit verdankt. Noch besitzt er eine ungewöhnliche Lebenskraft, eine ungeschwächte Liebe für seine Kunst, die ihn allein dazu bestimmt, von Zeit zu Zeit wieder die Bühne zu betreten und jährlich sich wiederholende Einladungen zu Gastspielen anzunehmen, welche den Beweis liefern, daß er noch immer eine unwiderstehliche Zugkraft ausübt und daß das Alter vorläufig noch nicht seinen Lorbeer mit welkender Hand berührt hat.

Als Künstler ist Emil Devrient der vorzüglichste Repräsentant der ideellen Richtung im Schauspiel, wobei ihn seine ganze Persönlichkeit und die äußere Erscheinung wesentlich unterstützt. Die hohe, schlanke Gestalt, das edle, griechische Profil, die angeborene Anmuth und der Adel seiner Bewegungen charakterisiren den geborenen Liebhaber und verleihen ihm den Zauber der Schönheit und der Poesie. Sein Organ klingt kräftig und doch weich, seine Deklamation ist zwar frei von jedem falschen Pathos, aber schwungvoll und besonders in den lyrischen Partien höchst ansprechend. Sein Spiel ist maßvoll, ohne darum die Leidenschaftlichkeit und Bewegung vermissen zu lassen. Hauptsächlich wirkt der Künstler durch die Macht der schönen Persönlichkeit und seine poetische Auffassung. Deshalb gelingen ihm vorzugsweise die ideellen Gestalten, die lyrischen und rhetorischen Helden der Schiller’schen Muse, die er mit allem Zauber und Glanz der poetischen Erscheinung auszustatten weiß. Seine Leistungen befriedigen und entzücken mehr durch die Harmonie des Ganzen, als durch überraschende und glänzende Einzelheiten. Sie gleichen den italienischen Seen, in denen sich der blaue Himmel, die goldene Sonne und der melancholische Mond abspiegeln; selbst der Sturm vermag nicht ihre Schönheit zu zerstören und die klassische Ruhe gänzlich zu vernichten. Auch im Aufruhr der Elemente, während der Donner rollt, die Blitze zucken, bleiben sie schön und ansprechend. Freilich fehlt ihnen dafür die dämonische Gewalt und die Größe des brausenden, in allen seinen Tiefen aufgewühlten Meers, oder die hinreißende Macht des schäumenden Wassersturzes. Selbstverständlich schließt bei einem Künstler, wie Emil Devrient, diese ideelle Richtung Natur und Wahrheit keineswegs aus. Er selbst bezeichnet sein Streben dahin: „ich war stets bemüht, die ideale Schönheit mit größerer Wahrheit zu vermählen, ohne dem Realismus, dem Vernichter unserer Kunst, Zugeständnisse zu machen.“

Auch im Lustspiel, das eine schärfere Charakteristik fordert, besonders im feineren Conversationsstücke, ist Devrient ausgezeichnet, und einzelne seiner Leistungen, wie der „Bolingbroke“ im Glase Wasser, meisterhaft zu nennen, wobei seine Kenntniß der höheren Gesellschaft, seine feinen Lebensformen und seine angeborene Grazie zur vollen Geltung kommen. Hier wie im Drama wirkt der Zauber seiner Individualität, die er freilich mit selbstbewußter Einsicht zu verwerthen weiß wie kein zweiter Schauspieler, weit entfernt sich mit einem bloßen Naturalismus begnügen zu lassen. Ueberall erkennen wir in Devrient eine echte Künstlernatur, die allerdings, vom Glück in seltener Weise begünstigt, das ihr anvertraute Gut durch eigenes Verdienst, durch unablässiges Ringen und Streben vermehrt und vervollkommnet hat, wodurch seine außerordentliche Wirkung und seine bis in’s höhere Alter hinaufreichenden Triumphe erklärlich scheinen. – Im Privatleben ist Devrient durch Liebenswürdigkeit und Humanität ausgezeichnet; er verbindet die feinen Formen des Hofmanns mit der Anmuth und Leichtigkeit des Künstlers. Maßvoll auch in seinem Umgange kann er in zusagender Gesellschaft eine wahrhaft bezaubernde Heiterkeit zeigen und mit den Fröhlichen von ganzem Herzen sich freuen, wie er andererseits den Hülfsbedürftigen gern beispringt und fremde Noth und Thränen bereitwillig lindert und trocknet.

Max Ring.



Räuber und Räuberwesen in Unteritalien.

Die Zeitungen hatten vor einigen Monaten Gelegenheit, alle Welt von den nächtlichen Ueberfällen der Garotters[3] zu unterhalten, welche während des vergangenen Winters die Straßen der englischen Metropole beunruhigten. Neueren Datums sind die Nachrichten aus der Schweiz, welche – nicht sehr zum Vortheil dieses beliebten Tummelplatzes der europäischen Reisenden – von Räuberbanden sprechen, deren traurige Thätigkeit einige der frequentesten Bergpassagen unsicher gemacht habe. Indessen würde man in beiden Fällen Unrecht thun, wenn man aus diesen Erscheinungen Rückschlüsse auf den Zustand der Gesellschaft, der sie entsprungen sind, machen wollte; es sind zufällige Ausbrüche von Uebeln localer und durchaus abnormer Natur, ohne Zusammenhang und tiefere Begründung, deren radicale Heilung ausschließlich in den Händen der Sicherheitspolizei liegt.

Anders steht es um das Räuberwesen in Unteritalien. Hier ist es ein Mittel der politischen Aktion und hat als solches nicht blos sein System, sondern – was die Natur desselben noch verschlimmert – auch seine Vergangenheit und Geschichte. Der entthronte Bourbon, der in dem Rufe steht, es gegenwärtig anzuwenden, ist nicht der Erfinder desselben; er ist nur einer Tradition seines Hauses treu geblieben, indem er Freibeuter in seinen Dienst genommen, die aus der Loyalität einen Handelsartikel machen und, als die geschworenen Feinde der Ordnung, ihr verächtliches Handwerk mit der Glorie des politischen Martyriums und der Romantik zu umgeben suchen.

Als bei der französischen Invasion von 1798 und der Flucht des damaligen Herrscherpaares, Ferdinand’s und Carolinens, die Bauern in Calabrien sich erhoben, da waren es in der That Heldenmuth und Vaterlandsliebe, welche die Anfänge dieses Aufstandes beseelten. Indessen mischten sich sehr bald unreine Elemente hinein, indem die Hauptleute der Räuberbanden, welche stets in den calabrischen Wäldern Schutz gefunden, aus ihren gesetzlosen Aufenthaltsorten hervorkamen, um an die Spitze einer Bewegung zu treten, welche den Schein der edelsten Motive für sich hatte. Es hat nichts Ueberraschendes für den Kenner italienischer Zustände, daß diese Banditen auf der Stelle die eigentlichen Leiter und autorisirten Führer des patriotischen Aufstandes wurden; denn Verbrecher und Auswurf der Gesellschaft, wie sie waren, hatten sie sich doch jederzeit einer Art von Popularität unter einer Bevölkerung erfreut, welche keine geregelten Begriffe von Gesetz und Ordnung besaß und nicht ohne eine gewisse Bewunderung die Beispiele ritterlicher Kühnheit oder romantischen Edelmuths wiederholte, durch die der Eine oder Andere von den Banditen jener Zeit sich einen Namen machte. Zu diesen Banditen gehört z. B. „Fra Diavolo“, dessen Ruhm und Andenken in einer Oper fortlebt, welche wir selber auf unsern Bühnen noch zuweilen hören. Der Bandit, der sich unter diesem Beinamen eine Unsterblichkeit gesichert hat, die mindestens so lange dauern wird, als diejenige von Auber selber, hieß eigentlich Michele Pezza, und war, bevor er zu seiner politischen Notorietät gelangte, dadurch ausgezeichnet, daß dieselbe Regierung, die ihn später in ihre Dienste nahm, auf seinen Kopf mehrere Male einen bedeutenden Preis gesetzt hatte.

Ein Anderer derselben Bruderschaft, Namens Pronio, war ursprünglich Geistlicher gewesen und war unter die Räuber gegangen, nachdem er wegen Mordes aus seinem Orden ausgestoßen, zu den Galeeren verurtheilt worden und entsprungen war. Die grauenhaftesten Dinge jedoch wurden von einem gewissen Gaetano Mammone, einem Müller, erzählt. Es war seine Gewohnheit, so oft er sich mit seinen Banden zu einem Zechgelage niedersetzte, die Gefangenen, die er während des Tages gemacht, in der Nähe zu haben, um sich und seine Spießgesellen damit zu amüsiren, daß er die armen Schlachtopfer eines nach dem andern und in gegebenen Zwischenräumen niedermetzeln ließ, während im Kreise lustig dazu gesungen und getrunken ward. Dieser politische Held pflegte sich zu rühmen, daß er mit eigenen Händen vierhundert Personen kalten Blutes getödtet habe.

Verworfene Subjecte dieser Art waren es, mit denen der König und die Königin sich von Palermo aus zuerst 1798 und dann bei der zweiten Flucht 1806 in Verbindung setzten. In dem letzteren Jahre benutzten sie geradezu diese Banditen, um Insurgentenbanden zu organisiren. Ehrenzeichen und sogar Adelsdiplome wurden angewendet, um den Eifer derselben anzuspornen, und während der

[681] ganzen Zeit von 1806 bis 1812 unterhielt die Königin Carolina einen regelmäßigen Briefwechsel mit Bandenführern, welche sich Insurgenten nannten, in Wahrheit aber nichts Anderes waren, als Räuber. Die beiden Regierungen Joseph Bonaparte’s und Murat’s wurden von den schmählichen Thaten dieser Banditen gekennzeichnet. Die Anzahl derselben war so bedeutend, daß sie in ganz Calabrien sowohl Leben als Eigenthum unsicher machten. Aus den fast unzugänglichen Dickichten der Wälder brachen sie hervor, um bald dieses, bald jenes Haus oder Dorf zu plündern, unter dem Vorwand, daß die Bewohner derselben französisch gesinnt seien. Die heilige Sache der Religion und Loyalität wurde zum Deckmantel von Grausamkeiten gemacht, welche ihresgleichen nicht haben in der ganzen Geschichte politischer Verbrechen. Denn wenn es auch nichts Neues war, im Namen des Glaubens und der Königstreue zu rauben und zu morden, so war dies doch das erste Beispiel davon, das Interesse der Fürsten in die Hände professioneller Räuber und Mörder zu legen, und verurtheilte Missethäter zu Werkzeugen der Staatskunst zu machen. Es herrschte ein Regiment des Schreckens, an dessen Wiederholung zu denken schon genügt, um Schauder zu erregen. Denn dieser entsetzliche Zustand rief Repressalien der zur Zeit anerkannten Regierung hervor, welche nicht minder grausam waren, als das Verbrechen, gegen das sie sich richteten. Indessen hatte es während der langen Periode seiner Dauer zu tiefe Wurzeln geschlagen, um so bald wieder ausgerottet werden zu können. Es überlebte die französische Invasion, den Strafcodex Murat’s und die Unmenschlichkeiten des General Manhès, der die Verordnungen desselben zur Ausführung brachte. Es überlebte sogar die Restauration der Bourbonen; Ferdinand war gezwungen, einige seiner besten Alliirten zum Galgen zu schicken, nachdem er den Thron wieder bestiegen, und die Nachkommen der Banditen, welche einst die Correspondenten der Königin Caroline waren, sind es, die im Namen ihres Urenkels den alten Schauplatz mit neuen Blutmalen zeichnen.

Das Brigantenwesen beschränkt sich auf die Provinz. Die Städte, und namentlich Neapel, werden von einer andern Art der organisirten Räuberei, der sog. „Camorra“ heimgesucht, über welche uns ein neuerdings in Paris erschienenes Buch (La Camorra. Mystères de Naples) von Marc-Monnier einige höchst interessante Aufschlüsse giebt.

Die Camorra ist eine geheime Gesellschaft, welche, aus den offenkundigsten Missethätern zusammengesetzt, von Raub, Gewalt und Betrug lebt, unter sich aber gewissen Regeln folgt und ihren selbstgewählten Obern unbedingten Gehorsam leistet. Die Camorristen sind in den Städten, und, wie gesagt, vornehmlich in der Hauptstadt, das, was die Briganten auf dem Lande sind: die ausgewählten Männer der Schurkerei und des Verbrechens, aufgewachsen in den Gefängnissen und geschult in den Galeeren. Ueber ihren Ursprung ist wenig bekannt. Indessen steht so viel fest, daß die Regierung Ferdinand’s II. die Zeit ist, in welcher sie zuerst zu einer allgemeinen Notorietät gelangten. Anfänglich spielten sie keine politische Rolle; und obwohl es Thatsache ist, daß sie unter den Bourbonen weit öfter die Verbündeten als die Feinde der Polizei waren, so begnügten sie sich doch damals mit einem Krieg gegen die Gesellschaft im Allgemeinen. Die Bevölkerung, aus der sie hervorgegangen, wurde von ihnen in der unerhörtesten Weise terrorisirt. Jedermann wußte von ihrer Existenz, und Niemand hatte den Muth, mit ihnen anzubinden. Jeder Bootsmann im Hafen, jeder Lastträger auf der Straße wurde von ihnen in Contribution gesetzt. Sogar bis in die Gefängnisse reichte ihr allmächtiger Arm, und die elenden Gefangenen mußten ihren kärglichen Vorrath von Kleidungsstücken und Brod mit ihnen theilen. Die ganze Art ihres Daseins und Auftretens, ja schon die Möglichkeit von Verhältnissen, in welchen Raum ist für ein Unwesen von solcher Organisation und solcher Dauer, würde uns wie ein Roman erscheinen, wenn nicht die Documente vorlägen, welche die Wirklichkeit desselben bestätigen. Daß eine Gesellschaft, welche durch lange Jahre der Mißregierung verwildert ist, gleich der von Neapel und anderen Städten Unter-Italiens, fast mehr noch als Furcht eine gewisse Sympathie empfinden sollte für die kühnen Uebertreter des Gesetzes, hat nichts Wunderbares, nachdem wir gesehen, daß aus ähnlichen Motiven die Bauern von Calabrien einen tiefen Respect vor den Briganten hegten, die ihnen das Haus über dem Kopfe anzündeten.

Das Jahr 1848 bezeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte der Camorra; das Beispiel ihrer Brüder aus der Provinz mochte wirken – kurz, die Camorristen wechselten über Nacht ihre Rollen und wurden aus Räubern plötzlich Freunde des Vaterlands. Man wird sich aus den Vorgängen jener noch nicht allzu entfernten Zeit erinnern, daß die Bewegung von 1848, in Neapel wenigstens, ein Werk der gebildeten Classen war; das eigentliche Volk nahm damals noch so gut als keinen Theil daran, und die Reaction erfolgte fast ohne Widerstand. Da war’s, daß die Camorra mit den liberalen Führern zu intriguiren begann, indem sie ihnen vorspiegelte, sie sei im Stande eine allgemeine Volkserhebung zu bewerkstelligen „unter gewissen Bedingungen“. Daß diese „Bedingungen“ auf nichts hinausliefen, als darauf, Geld zu erpressen, bedarf wohl kaum einer Erwähnung; sie hatten indessen ihre Rollen zu gut gespielt. Der damalige Polizeiminister glaubte, daß die Camorristen im Ernst conspirirten, und ließ sie en masse nach den Inseln transportieren. Für die Camorristen war diese von allen möglichen Wendungen die glücklichste. Denn ihr Exil diente nur dazu, sie aus gemeinen Verbrechern in politische Märtyrer zu verwandeln, und ihr Triumph ließ nicht lange auf sich warten. Das Jahr 1860, als Franz II. seinen Unterthanen eine Verfassung gab, öffnete die Gefängnisse und führte auch die Camorristen zu den Schauplätzen ihrer ehemaligen Heldenthaten zurück. Ihre erste Manifestation, nach ihrer glorreichen Rückkehr, bestand darin, die Polizeistationen von Neapel anzugreifen, die Polizeiacten zu verbrennen und die Polizeibeamten zu mißhandeln. Die Hauptstadt stand unter der fortwährenden Gefahr der Brandschatzung, die Polizei verlor den letzten Rest von Macht und Ansehen und löste sich zuletzt gänzlich auf.

In dieser Krisis beschloß Liborio Romano, welcher eben zum Polizeiminister ernannt worden war, sich des verzweifeltsten Auskunftsmittels, welches ihm nur die Noth eingeben konnte, zu bedienen, indem er Diejenigen, gegen welche die bisherige Polizei sich als so machtlos erwiesen, an die Stelle derselben setzte, und Denjenigen die Sorge für die Sicherheit der Stadt übertrug, welche dieselbe vorzüglich bedroht hatten. Mit einem Wort, er nahm die Camorra in seinen Dienst und machte sie zu Hütern der öffentlichen Ruhe. Das Experiment des Ministers schien von einem unerwartet günstigen Erfolge gekrönt zu werden; die Einwohner Neapels erfreuten sich eines bisher unbekannten Zustandes der Ordnung, nachdem die ehemaligen Widersacher derselben ihre besten Freunde und Beschützer geworden waren. Die neue Polizeimacht betrug sich mehrere Monate lang nicht blos gesetzmäßig, sondern sogar ehrenhaft und anständig, und als Franz II. Neapel verließ und Garibaldi einzog, da geschah es unter ihrer Aegide, daß der Wechsel ohne Blutvergießen und Plünderung vor sich ging. Die Camorristen hatten die Sicherheit und Ordnung in den Straßen aufrecht erhalten. Allein bald genug sollte sich das Unnatürliche eines Zustandes ergeben, in welchem man, um mit dem Sprüchwort zu reden, den Wolf zum Hirten gemacht hatte. Die Probe dauerte den Camorristen zu lang, und sie fielen in ihre alten Gewohnheiten zurück. Mit obrigkeitlicher Gewalt bekleidet, nahmen sie unter Anderem den Schmuggelhandel früherer Tage in so großem Maßstab wieder auf, daß die Zolleinkünfte von Neapel fast gänzlich verschwanden und an einem denkwürdigen Tage das Octroi an sämmtlichen Thoren der Hauptstadt nicht mehr ergab, als einen einzigen Franken!

Seit dem Polizeiministerium Spaventa’s trat eine Aenderung ein. Man sah, daß es unmöglich sei, auf diesem Wege fortzufahren, und enthob die Camorristen ihrer Verpflichtungen als Wächter der öffentlichen Sicherheit und Einkünfte. Allein so leicht war es nicht, trotz neuer Deportationen und strenger Maßregeln, mit ihnen fertig zu werden, und der Krieg der Regierung gegen sie ist noch heute nicht zu Ende. Die große Schwierigkeit besteht darin, Zeugen zu finden, die es wagen, gegen sie aufzutreten, während es andererseits nicht an scheinbar ganz respectablen Leuten fehlt, welche stets bereit sind, zu ihren Gunsten zu sprechen und zu intriguiren. So besteht die Gesellschaft der Camorra noch heute fort, und es leidet keinen Zweifel, daß sie, nachdem die constituirte Regierung ihrer zweifelhaften Hülfe sich begeben hat, auf’s Neue in den Dienst jener unsichtbaren Macht getreten ist, welche in den Provinzen von Unter-Italien die Briganten beschäftigt und, indem sie noch einmal das traurige Vorrecht in Anspruch genommen hat, aus Verbrechern der gefährlichsten Art politische Helden zu machen, ihrer Sache den letzten Anspruch auf die Sympathien der civilisirten Welt raubt.

Julius Rodenberg.



[682]
Der Schmollwinkel eines verbannten Königs.
Von Ludwig Storch.

Die Dichter künftiger Zeiten werden in der poetischen Darstellung der unsrigen zumeist das gänzliche Mißverstehen des nach seiner vollständigen Reife und der dieser entsprechenden freien Bewegung empordrängenden Volksgeistes als tragischen Hebel für den Sturz der Könige und der Dynastien gebrauchen; in jedem Falle ein poetischer Vorwurf und um so bedeutender, wenn die Träger der sich feindlich gegenüberstehenden Ideen, und namentlich der unterliegende, als Individuen unsere Achtung, zuweilen sogar unsere Verehrung in Anspruch nehmen dürfen.

Diese Betrachtung kam mir im verwichnen Frühling im einsamen Wohnsitz eines von der Welt vergessenen Fürsten, der, einem alten, durch Verkehrtheiten und Schicksale der seltsamsten Art ausgezeichneten Regentenstamme entsprungen, die unbeneidenswerthe Mission hatte, den intriguanten und despotischen Geist dieser Dynastie in seiner Person zur verderblichsten Gipfelblüthe zu bringen, eines der schönsten und reichsten Länder Europa’s, ganz im Sinne seiner fluchbeladenen Ahnen, zum Schauplatze eines abscheulichen Bürger-, beziehentlich Bruderkriegs zu machen und desslen staatliche und sociale Entwickelung auf geraume Zeit zurückzuwerfen.

Ich hatte mehr als ein Motiv, von Wertheim den lieblichen Taubergrund aufwärts zu wandern. Die hauptsächlichste Veranlassung war der ewig junge Reiz der Natur, der milde, warme, süße Charakter des südlichen Deutschlands, der in diesen Gegenden des untern Mains und des Odenwaldes so klar zu Tage tritt; eine zweite: die alten berühmten Stätten unserer Vorfahren zu besuchen, die sich unter dieser milden Sonne wohnlicher und gastlicher erhalten haben, als sonst wo. Und darunter nimmt die ehemalige Cistercienserabtei Brombach nicht die niedrigste Stelle ein. Ein dritter, obwohl untergeordneter Grund war, zu sehen, wie das alte Klostergebäude sich als Residenz des ehemaligen Königs, beziehentlich Usurpators der Krone von Portugal, jetzigen Herzogs von Braganza, Dom Miguel, ausnehme.

Man ist in Franken daran gewöhnt, die zahlreichen, meist leidlich erhaltenen, ehemals prächtigen Gebäude der säcularisirten Klöster zu den verschiedensten Zwecken verwendet zu sehen. In den Städten sind sie meist Casernen geworden, auf dem Lande Fabriken; die reichste und prächtigste Abtei Frankens, wahrscheinlich ganz Deutschlands, das Cistercienserkoster Ebrach im Steigerwalde ist – Gott sei’s geklagt! – ein Zucht- und Zwangsarbeitshaus, und die stolze Benedictinerabtei Banz ein eben so stolzes Fürstenschloß. Brombach hat als Wittwe keine Schwester; sie allein ist Residenz eines im Exil lebenden Königs.

Ich war doch neugierig, wie sie zusammenpassen möchten, die alte Abtei und der Sproß des alten Königsgeschlechts, und wie der Ruhm des Hauses, so war auch der ihres fürstlichen Insassen mir nicht unbekannt geblieben. Der Ruhm Dom Miguels? wird der Leser erstaunt fragen. Gewiß! Auch ich war erstaunt, als ich von diesem Ruhm zuerst vernahm, nachdem ich in meiner Jugend diesem Fürsten wegen seiner Aufführung mehr und länger gegrollt, als irgend einem Andern.

Es ist ein natürlicher Zug des Menschen, unter den Mitlenbenden an den Altersgenossen, zumal in der Jugend, den meisten Antheil zu nehmen. Als ich zuerst anfing das Auge von Homer und Virgil auf die Weltbegebenheiten zu werfen, die mit mir zugleich auf der Lebensbühne in Scene gingen, waren nach dem Wartburgfeuer 1817, dessen Funken in meiner Seele die Flammen der Begeisterung für Recht, Tugend, Wahrheit und Schönheit und für Deutschlands Größe und Herrlichkeit entzündet hatten, Sand’s blutige That, die Karlsbader Beschlüsse, deren nächste Folgen uns armen Gymnasiasten übel aufspielten, und die Revolution in Portugal mit Dom Miguel’s politischem Debüt die Dinge, die mich zumeist bewegten. Der portugiesische Prinz war nur einige Monate älter als ich, was Wunder, wenn ich seine schmutzige Laufbahn mit bitterem Groll und zuletzt mit verbissenem Haß verfolgte. Derweil ich und meine Altersgenossen auf dem Gymnasium uns mit den griechischen und lateinischen Autoren abmühten, um etwas Erkleckliches zu lernen, und von unseren Lehrern wahrlich nicht als Herren behandelt wurden, kam dieser Knabe von Brasilien nach Lissabon, um eine gerechte Volkserhebung in Blut zu ertränken, nach der Krone seines Vaters zu greifen, die kaum errungene liberale Verfassung umzustürzen, Pfaffen und Junkern wieder den alten verderblichen Einfluß zu geben, und die Fackel der Zwietracht gleichsam in jedes Haus des unglücklichen Landes zu werfen. Nach drei Jahren hatte er dermaßen Alles untereinander geworfen, daß der vertraute Rathgeber seines Vaters, des Königs Johann IV., der Marquis Loulé ermordet, die Minister verhaftet und der König im Palaste streng bewacht wurde. Freilich geschah dies Alles und noch weit mehr Schlimmes auf Antrieb seiner intriguanten, herrschsüchtigen Mutter, einer spanischen Infantin, die den unliebenswürdigen Prinzen, nichtsdestoweniger ihren Liebling, in Brasilien wie einen wilden Rangen hatte aufwachsen lassen und nun zur Ausführung ihrer volksfeindlichen Pläne zu benutzen suchte. Aber das saubere Weiber-, Pfaffen- und Junkerstückchen mißlang, und Prinz Miguel mußte mit seiner Mutter nach Wien auswandern, wo er wie ein Held aufgenommen, wohl gepflegt und so zur Fortsetzung seiner ungezügelten Lebensweise aufgefordert wurde. So trieb er’s denn zwei Jahre lang, bis zum Tode seines Vaters 1826, um nun das Hauptstück in Scene zu setzen, dessen Vorspiel er geliefert und in welchem er eine so wenig dankbare Rolle spielte. Dom Pedro, Kaiser von Brasilien, war auch der gesetzliche Erbe der portugiesischen Königskrone, entsagte aber derselben zu Gunsten seiner siebenjährigen Tochter Donna Maria da Gloria, nachdem er dem Lande eine Verfassung gegeben hatte. Die volks- und freiheitfeindliche Partei der Königin Wittwe erklärte dagegen Dom Miguel zum rechtmäßigen Thronerben. Aber Dom Pedro hatte diese Pläne dadurch vereitelt, daß er den Bruder zum künftigen Gemahl der jungen Königin und bis zu deren Volljährigkeit zum Landesregenten erklärt hatte. Auf diese Weise wurde die Partei der Königin Wittwe in Schach gehalten. Dom Miguel nahm die Anerbietungen Dom Pedro’s an, verlobte sich mit dessen Tochter, beschwor dessen Constitution und wurde von diesem zum Regenten ernannt. Im Februar 1828 in Lissabon angekommen, übernahm er die Regentschaft, löste die Versammlung der verfassungsmäßigen Landesvertreter auf und berief die alten feudalen Cortes, von welchen er sich zum legitimen (absoluten) König von Portugal erklären ließ. Somit war die Constitution, der Pfahl im Fleische der Junker- und Pfaffenpartei, beseitigt, und der Absolutismus fuhr übermüthig mit vollen Segeln einher. Die Königin Wittwe und ihre Partei hatten ihr Ziel erreicht, ihr Liebling war absoluter König, die unumschränkte Gewalt war hergestellt, Junker und Priester reichten sich vergnügt die Hand zur Unterdrückung und Verhöhnung der Volksrechte. Und das Glück begünstigte das nichtswürdige, treulose Unternehmen. Was half es, daß Dom Pedro seinen eidbrüchigen Bruder aller ihm zugestandenen Rechte für verlustig erklärte und dessen Verlobung mit seiner Tochter aufhob; er war im fernen Brasilien, und sein hülfloses Kind segelte eben von dort her der portugiesischen Küste zu, von welcher, durch den Machtbefehl des Usurpators zurückgewiesen, es nach England ging, wo ein kalter Empfang seiner wartete, da das Ministerium des Königs Georg IV. auf Dom Miguel’s Seite stand.

Die zehnjährige Königin sah sich deshalb veranlaßt, im folgenden Jahre 1829 nach Brasilien zurückzukehren. In Portugal entbrannte zwar der Kampf der Parteien, aber er war von kurzer Dauer. Dom Miguel’s Waffen siegten, die Partei der Donna Maria da Gloria floh, vollständig geschlagen, aus dem Lande, theils nach England, theils nach Brasilien, und die aristokratisch-klerikale Partei hatte nun ganz freie Bahn. Und Dom Miguel benutzte sie nach Herzenslust. Das scheußlichste Schreckenssystem, vom frechsten Uebermuthe und hohnlachender Tyrannenlaune gehandhabt, wurde jeder liberalen Regung im Lande verderblich. Der sechsundzwanzigjährige König überließ sich allen tollen Eingebungen seiner zügellosen Begierden. Alle nidrigen Eigenschaften der Dynastie Braganza, die das Verdienst beanspruchen darf, das unter dem großen Könige Emanuel einst so blühende Portugal moralisch und materiell an den Bettelstab gebracht zu haben, kamen in ihm noch einmal und zwar zur höchsten Blüthe. So wahnsinnig hatte keiner seiner Vorfahren gewirthschaftet. Er zeigte für nichts Sinn als für Jagden, Jäger, Hunde, Pferde, Stiergefechte und Weiber und beging mit den adligen und geistlichen Dienern seiner Lüste unerhörte Ausschweifungen. Alle Zeitungen waren [683] voll von Details solcher Abscheulichkeiten. Ich erinnere mich noch einzelner Mittheilungen, die mich wahrhaft empörten. So wurde unter Andern berichtet, seine liebste Kurzweil sei das Schlachten; er sei nicht nur ein trefflicher Jäger, sondern auch ein guter Metzger und tauche seine Hände gern in Blut. Genug, Dom Miguel wurde für ein Scheusal ausgeschrieen, das unter den Lebenden nicht seines Gleichen hatte, und sein Ruf brachte den Haß aller Liberalen gegen die aristokratisch-klerikale Partei aller Länder zum Siedepunkte. Und es ging ein wahrer Jubel durch die civilisirte Welt, als den beiden Nachbarssöhnen, Schwägern und Gesinnungsgenossen, die die ganze pyrenäische Halbinsel in blutige Verwirrung gestürzt und an den Rand des Verderbens gedrängt hatten, schnell hintereinander das treulose Handwerk gelegt und sie vom Schauplatz ihrer volksfeindlichen Thaten verjagt wurden.

Don Carlos, der Prätendent von Spanien, mußte, von seinem Bruder, dem König Ferdinand VII., nach Portugal verwiesen, bald nach dessen Tode (29. Septbr. 1833) sich nach England einschiffen, während Dom Miguel vom Heere seines in Portugal gelandeten Bruders Dom Pedro, der unterdessen auch durch eine brasilianische Revolution vom dortigen Kaiserthrone vertrieben war, geschlagen und von der Quadrupelallianz zwischen Spanien, Portugal, England und Frankreich feindlich behandelt, sich in einer Capitulation verpflichten mußte, ferner in Rom zu leben und allen Ansprüchen auf die portugiesische Krone zu entsagen. Daß aber diesem Prinzen Eide und Versprechungen nichts galten, hatte er bereits sattsam bewiesen, und so widerrief er denn auch schon nach wenigen Tagen in Genua seine Verzichtleistung; wodurch er der ihm von der portugiesischen Regierung ausgesetzten Jahresgelder verlustig ging. Dagegen wurde er, in Rom angekommen, vom Papste als König von Portugal anerkannt, wofür Se. Heiligkeit die Ehre hatte, diesen König standesgemäß zu unterhalten.

So lange Gregor XVI. lebte, mochte dies Verhältniß halbweg erträglich sein, zumal die aristotratisch-klerikale Partei bei den fortdauernden fieberhaften Zuckungen des portugiesischen Staatskörpers stets in der Hoffnung erhalten wurde, ihren Schützling Dom Miguel noch auf den dortigen Königsthron zu bringen. Als aber Pius IX. die päpstliche Regierung unter Auspicien antrat, welche Dom Miguel’s Hoffnungen nicht begünstigen zu wollen schienen, obgleich es sich, wie sich bald zeigte, anders verhielt; als in Folge dieser merkwürdigen Täuschung der gute Papst aus Rom flüchten mußte, wie Dom Miguel schon zweimal aus Portugal; als dann nach der Wiederkehr des Papstes (150) die französische freundschaftliche Unterstützung eintrat: da mochte Dom Miguel ein lästiger Kostgänger Roms sein und auf der andern Seite seine unsichere Lage ihm unerträglich werden. Er that dazu, sich derselben zu entziehen, indem er, der fast fünfzigjährige Mann, sich mit einer in Rom lebenden zwanzigjährigen deutschen Prinzessin vermählte (Septbr. 1851). Die Gemahlin des Herzogs von Braganza ist die Tochter des verstorbenen Erbprinzen von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg aus Heubach am Untermain. Daß Dom Miguel von seinen Hoffnungen auf die portugiesische Königskrone keine aufgegeben, zeigte sich bei der Geburt seiner ältesten Tochter, wo von ihm und seiner Partei unzweideutige Demonstrationen in dieser Richtung gemacht wurden, welche, von den durch den schwankenden Charakter der Königin von Portugal herbeigeführten neuen Wirren unterstützt, zu Tage brachten, daß Dom Miguel unter dem alten Adel und der Pfaffheit in Portugal noch eine Partei habe, die nur auf eine günstige Gelegenheit lauere, um die Königin mit ihrem Gemahle, Herzog Ferdinand von Coburg, zu verdrängen und Dom Miguel oder dessen Tochter auf den Thron zu heben. Der unerwartete Tod der vierunddreißigjährigen Königin Donna Maria da Gloria (15. Nov. 1853) brachte diese Bestrebungen vor der Hand zur Ruhe.

In Deutschland hat es die öffentliche Aufmerksamkeit nicht weiter erregt, daß Dom Miguel mit seiner Gemahlin in deren Heimath zog und von der Residenz der katholischen Linie des fürstlich Löwenstein’schen Hauses, wo er anfangs wohnte, die seinige in die ehemalige Abtei Brombach, eine Besitzung der Löwenstein-Rosenberg’schen Familie, verlegte. Mir wenigstens war Alles neu, was ich in Wertheim über Wohnung, Familienverhältnisse und Lebensverhältnisse des Herzogs von Braganza erfuhr.

In Wertheim kannte Jedermann die Person Dom Miguel’s, und sie wurde mir einstimmig als eine von Ansehen sehr unbedeutende geschildert. Mehr als einmal wurde mir gesagt: er sehe aus wie ein alter kleiner Jude. Was mich aber in das größte Erstaunen setzte, war die allgemeine Versicherung von Hoch und Niedrig, daß der Herzog von Braganza ein höchst gütiger, sanfter, liebenswürdiger und vor Allem ein ungemein wohlthätiger Herr sei, für den seine Dienerschaft schwärme, der von allen Menschen in Heubach, Wertheim, Brombach und in der ganzen dortigen Main- und Taubergegend geliebt und geehrt, von den Armen und Hülfsbedürftigen aber wahrhaft angebetet werde. Er thue keinem Thiere weh, geschweige einem Menschen, im Gegentheil wo und wie er einen Menschen erfreuen könne, besänne er sich nicht, sondern gebe im Nu hin, was er eben habe. So sei es buchstäblich schon vorgekommen, daß er den Rock vom Leibe, die Stiefeln von den Füßen an Bettler verschenkt habe. Es wurden mir wahrhaft rührende Beispiele von der Mildherzigkeit und dem Edelsinne des Herzogs erzählt, und sie kamen mir von so glaubhaften Personen und aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung zu, daß an ihrer Wahrheit durchaus nicht zu zweifeln war. Aber noch mehr: durch den Bruder einer Dame, die Dom Miguel in Rom jahrelang gekannt und zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, erfuhr ich, daß er dort eben so sanft, gut und mildthätig gewesen war, wie jetzt in Franken. Ein ehrenwerther Mann, der den Herzog, gut kannte, sagte mir:

„Es ist keine Spur von Verstellung in ihm; er giebt sich stets und zu aller Zeit, wie er ist. Der Grundton seines Wesens ist Milde, Güte, Menschenfreundlichkeit; und deshalb muß er immer so gewesen sein, denn es ist doch ganz unmöglich, daß die menschliche Gemüthsart sich mit der Zeit in ihr Gegentheil verkehre und daß ein blutgieriges Ungeheuer zum sanftesten Menschenfreund werde. Die geschichtlichen Berichte über das frühere Leben und Gebahren des Herzogs und sein jetziger Lebenswandel, der doch offen vor Jedermanns Augen liegt, sind ein psychologischer Widerspruch, ein unauflösliches Räthsel. Ich bin deshalb fest überzeugt, daß die schlimmen Dinge, die über den Herzog in Umlauf gesetzt worden sind, entweder Erfindungen des Parteihasses waren, oder von Andern, von seinen Anhängern, auf seinen Namen begangen wurden. In Brasilien von der leidenschaftlichen Mutter verzogen, ohne Bildung aufgewachsen, von Weibern und Pfaffen gegängelt und gemißbraucht, beging er natürlich Verkehrtheiten, und Unbesonnenheiten in Menge, und besonders seinem bis zur Verächtlichkeit schwachen Vater gegenüber, sobald man ihm die Ueberzeugung beigebracht, daß er die alleinige Hoffnung und Stütze des Thrones und des Altars in Portugal sei. Seine Thaten sind aus der alten Weltanschauung des König- und des Priesterthums, die er ja mit Tausenden theilt, aus Leichtsinn und Verführung entstanden. Man sollte bei seiner Beurtheilung wenigstens das Eine fest in’s Auge fassen, daß er nie Heuchler war, sondern seine Ueberzeugung stets offen bekannte und für sie als eine ihm heilige Sache nie den Kampf scheute.“

Dies ist die Ansicht eines ehrlichen vorurtheilsfreien Mannes, der den Herzog genau kannte. Ich gebe sie ohne Zusatz wieder und lasse sie an ihren Ort gestellt sein. –

Wir gingen an einem der schönsten Junimorgen über die Berge und theilweise durch Wald, den sehr anmuthigen tiefen Taubergrund, in den uns oft die freundliche Einsicht vergönnt war, zur Rechten, nach dem nur eine Meile entfernten Löwenstein-Rosenberg’schen Gute Brombach. Von weitem schon sahen wir es von einer Berghöhe liegen, und der Anblick erweckt bedeutende Erwartungen, deren größere Hälfte freilich nachher nicht erfüllt wird. Die ehemalige stattliche Abtei liegt auf einer sanft aufsteigenden Fläche der linken Thalseite, ziemlich nahe am Flusse. Der Taubergrund trägt fast in seiner ganzen sechszehnmeiligen Länge denselben Charakter eines tiefen Einschnittes mit steilen Bergwänden, die auf der Südseite mit Wein, auf der Nordseite mit Holz bestanden sind. Die Thalsohle selbst besteht aus üppigen Wiesen. Die Fruchtbarkeit des Thales wird gerühmt; die Tauberweine sind beliebt. Die meist tiefe Einsamkeit des Thals trägt zuweilen das Gepräge der Schwermuth. Dies ist namentlich um Brombach der Fall. Ein weit ausgedehnter hochbewaldeter Berg liegt dem Kloster gegenüber, aus dessen Fenstern das Auge vom hellen Grün der Wiesen sich zum dunklern des prächtigen Waldes erhebt.

Die Geschichte Brombachs, welches 1151 gegründet wurde, ist die aller Cistercienserklöster von hoher Blüthe bis zum Fall durch innere Verderbniß und den Untergang durch den siegenden Protestantismus. Drei Mal war es den Bischöfen von Würzburg gelungen, die Mönche [684] in das wiedereroberte Heiligthum zurück zu führen. Der nach der dritten Rückkehr des Ordens nöthig gewordenen Restauration verdanken die Gebäude und Anlagen die nun so sehr in Verfall gerathene Pracht. Denn die letzten anderthalb Jahrhunderte ihres Bestehens bis zur Säcularisation gediehen diese Mönche bis zur üppigsten Raffinerie des Lebensgenusses. Man sieht es heute noch zur Genüge an der verblichnen Herrlichkeit dieser Gebäude und Gärten, in welch reicher und kostbarer Blüthe die Abtei zuletzt gestanden hat. Nach der Säcularisation (1803) wurde Brombach der katholischen Linie Löwenstein-Wertheim-Rochefort (Rosenberg) als Entschädigung für die im Frieden von Lüneville verlornen Besitzungen des fürstlichen Hauses im Luxemburgischen, in Lothringen

Die Cistercienserabtei Brombach in Franken.

und der linksrheinischen Pfalz überlassen, worauf sie eine der bedeutendsten Landwirthschaften hier errichtete, die weitläufigen Gebäude aber als Jagdschloß benutzte, bis sie in der neuesten Zeit den verbannten portugiesischen Usurpator als einsamer Schmollwinkel aufnahmen.

Man sieht, die alte Mönchszelle hat ein wechselvolles und fast romantisches Schicksal gehabt.

Zuerst fällt die bis zur Armseligkeit herabgekommene ehemalige prunkvolle Einrichtung in’s Auge, der prätentiöse Uebergang des Renaissance- in den Rococostyl an den Gebäuden, die überall nur ärmlich oder gar nicht aufgebessert sind, die verwilderten Gärten, die die fürstlich reiche Anlage noch erkennen lassen, die defecten, obsoleten, ursprünglich schon so unnatürlich gezierten Statuen, die ganze nüchterne, nun durchlöcherte und fetzenhafte forcirte Herrlichkeit, womit die Aristokratie und der Klerus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Wunden und Schäden zu verkleben suchte, die der dreißigjährige Krieg dem unglücklichen Vaterlande geschlagen.

Während die malerischen Trümmer eines alten Bergschlosses oder eines Klosters stets einen poetischen Eindruck auf das Gemüth des sinnigen Beschauers machen, erregt der Anblick solcher vom Zahn der Zeit nur erst benagten, von dem durch und durch lügenhaften verzerrten Geiste, der sie sich geschaffen, nun schon über ein halbes Jahrhundert verlassnen, aber doch noch gleichsam nach Moschus, Schminke und Moder duftenden Exuvien des 17. und 18. Jahrhunderts Ekel und Widerwillen. Welch eine auffallende Uebereinstimmung zwischen diesem verlumpten und verloderten Rococo und seinem jetzigen Bewohner, dem letzten Träger des durch jenen Geist so übel berüchtigten Namens Braganza, in welchem er noch einmal, dem verlöschenden Lichtflämmchen am Dochte gleich, mächtig emporgeschlagen, um nun als ohnmächtiges, still schleichendes, unheimliches Gespenst in diesen ihm analogen Räumen zu spuken!

Doch man wird mit der Unheimlichkeit des Gebäudes und des Geistes darin versöhnt. Mit jener durch die Kirche und den Kreuzgang, welche wahrhaft wundersame Bauten seltner reiner, ja vielleicht einziger Schönheit sind. In der That gilt dieses Münster in der Geschichte der mittelalterlichen Baukunst als classisches Unicum, das manchen Kunstkenner nach Brombach zieht und zu genußreicher Bewunderung hinreißt. Wir haben hier nämlich einen specifisch deutschen Bau der romanischen Architektur des 12. Jahrhunderts vor uns, von französischen Elementen beeinflußt, aber doch selbstständig behandelt. Alle Verhältnisse sind höchst edel und rein und machen auf die Seele des Beschauers einen erhebenden Eindruck. Dieser muß selbst sowohl auf den nüchternen Protestantismus der Schweden und der lutherischen Grafen Löwenstein, als auch auf den wunderlich erhitzten Schnörkelgeist der Rococoschnitzer ein sehr starker gewesen sein; denn die Einen, wie die Andern haben die poetisch schönen Formen der Kirche und des Kreuzgangs unberührt gelassen, so daß man in ihrem Genusse nicht durch die andersartigen Anhängsel und die Verballhornisirung des 17. und 18. Jahrhunderts gestört wird, wie bei so vielen, ja den meisten aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert stammenden Kirchenbauten.

[685]  

Die Versöhnung mit dem Geiste, der ihm so angemessen jetzt in der alten Abtei lebt, mit dem Manne, der kein Verständniß für seine Zeit hat, wird durch seine Armuth und sein glückliches Familienleben bewirkt. Die Armuth dieses Königs im Exil, die uns auf jedem Schritte in Brombach mitleiderregend entgegentrat, stimmte uns wehmüthig. In dem wahrhaft imposanten Pferdestalle der ehemaligen Aebte standen zwei kleine unansehnliche Pferde und eine Kuh, in der Remise eine Kutsche, die keinerlei Anspruch auf Eleganz erheben durfte. Das war die Equipage der herzoglichen Familie. Die jüngsten Kinder wurden von einer Bonne in einem Kinderwäglein spazieren gefahren, wie es die bürgerlichen Mittelclassen zu besitzen pflegen. In dieser Art war Alles, was wir sahen. Uebrigens das Haus unheimlich öde. Die bewohnten Zimmer waren natürlich nicht für uns zugänglich, auch hatten wir keine Lust, sie zu betreten.

Wir hatten in Wertheim gehört, Dom Miguel sei im Bade in Mergentheim. Als wir in Brombach nach ihm fragten, lächelte der Einwohner, der uns Auskunft gab, mit den Worten: „Der kann in kein Bad gehen; er verreist nie, er bleibt Sommer und Winter hier.“

„Aber womit beschäftigt er sich denn das ganze Jahr lang?“ fragte ich von dieser Antwort schmerzlich berührt.

„Er geht viel auf die Jagd, die er leidenschaftlich liebt.“

„Aber er kann doch nicht immer auf die Jagd gehen? Er liest und schreibt wohl viel oder dictirt seinem Secretair, vielleicht seine Memoiren, die gewiß interessant werden dürften?“

Der Mann schüttelte mit dem Kopfe. „Davon hab’ ich nie gehört. Die herzogliche Familie gewährt sich selbst die beste und schönste Unterhaltung, denn ihre Glieder lieben sich einander sehr zärtlich.“

So ist Dom Miguel ein glücklicher Familienvater; wirklich wurde uns die Herzogin als eine vortreffliche und sehr liebenswürdige Dame geschildert, die an dem alternden Gatten mit großer Liebe hange und opferfreudig das Exil mit ihm theile. Sieben allerliebste Prinzessinnen sind dieser glücklichen Ehe bereits entsprungen und wachsen in der idyllischen Einsamkeit dieser Taubereinöde auf, ihrem, wie die Eltern der Sage nach hoffen, künftigen glänzenden Loose entgegen. Der Herzog soll die jugendliche Gattin und die blühende Kinderschaar mit der größten Zärtlichkeit lieben, in seiner ältesten Tochter die dereinstige legitime Königin von Portugal, in den anderen die Gemahlinnen europäischer Fürsten sehen. Fließt doch in ihren Adern reinstes Fürstenblut, und ist er doch überzeugt, daß der Absolutismus und die katholische Kirche wieder in schönsten Flor kommen werden. Der Mann lebt in einer merkwürdigen Selbsttäuschung, aber wie er nun einmal ist in seiner Totalität, ist er eine interessante poetische Erscheinung.

Die Geschichte hat über Dom Maria Evarist Miguel, Herzog von Braganza, zu Gericht gesessen und ihr strenges, jedenfalls gerechtes Urtheil über ihn gesprochen; später wird auch die Poesie ihre mildere Stimme über ihn abgeben, und vielleicht tragen dann diese Spalten der Gartenlaube dazu bei, daß ihr Urtheil freundlicher und versöhnender werde.



Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 9. Die Schrecken oder Geradflügler. Die Wanzen oder Halbflügler.
(Schluß.)
Die Schaben als Preußen, Russen und Schwaben – Der Ohrwurm – Die intelligenten Wanzen – Bett-, Koth-, und Kohlwanze – Anakreon und die Cicaden – Blattläuse – Die Blattläuse als Milchkühe der Ameisen – Schildläuse.

Was die Werren im Garten, das sind die Schaben, Kakerlaken oder Schwaben (Blatta) in den Häusern – häßliche, nächtliche, unheimliche Gesellen, mit haarigem, plattgedrücktem, seitlich zackigem Körper, langen Stachelbeinen und noch längeren dünnen Fühlhörnern, die sich Tags über in Winkel und Ritzen drücken, Nachts dagegen herumlaufen und Alles benagen, was nur irgend Nahrung bieten kann. In dem östlichen Europa namentlich geht ihre Zahl über alle Beschreibung – in Rußland besonders wimmeln nicht nur die Bauernhäuser und Kneipen, sondern die Gasthöfe und Edelsitze von diesen häßlich riechenden Thieren so sehr, daß mir Freunde erzählen, die Wände hätten ihnen in Gaststuben anfänglich aus gebuckeltem Nußbaumholz gebildet erschienen, bis sie sich überzeugt hätten, daß es nur Schaben gewesen seien, die eine an der andern unbeweglich die Wand tapezirten! Sonderbarer Weise schiebt denn auch ein Volksstamm dem andern die Einführung dieses Ungeziefers zu: die Russen nennen sie „Preußen“ und sind fest überzeugt, daß die germanische Race der slavischen durch Ueberlassung dieser Schmarotzer einen Schabernack hat anthun wollen – die biederen Tyroler, welchen die Glaubenseinheit so sehr an das Herz gewachsen ist, daß sie vor Allem den katholischen Glauben als Bedingung zur Berechtigung des Aufenthaltes in ihrem Lande verlangen, nennen sie „Russen“ und halten sie wahrscheinlich für geheime Sendlinge der ketzerischen, griechischen Propaganda – und die übrigen deutschen Volksstämme nennen sie „Schwaben“, als wenn die gemüthlichen Träger der Reichssturmfahne neben anderen Wohlthaten auch diese dem gemeinsamen deutschen Vaterlande erwiesen hätten.

Sonderbar ist die Fortpflanzungsweise dieser nächtlichen Nager, vor denen nichts sicher ist, selbst nicht einmal die Fußsohlen der Kranken, die wir aber vorzugsweise in Vorratskammern, in Bäckereien und Mehlhandlungen antreffen. Die Weibchen legen nicht große vielzahnige Eier, welche sie lange Zeit im After steckend mit sich herumtragen, wie es noch in einem neuesten Buche über die Naturgeschichte der keinen Feinde der Landwirtschaft heißt, das sonst vortreffliche Beobachtungen enthält – diese Anfangs gelben, später braunwerdenden, verhältnismäßig sehr großen Körper, welche das Weibchen mit sich herum trägt, sind Eihülsen, wahre Cocons, mit lederartiger Hülle, welche erst im Inneren 30 und 40 Eier enthalten.

Wo sie sich einmal eingenistet haben, ist ihre Vertilgung schwer – sonst aber kann man sie sich durch häufiges Waschen der Stubenböden und Ecken mit heißem Wasser, durch Schwefeldampf, durch mit Arsenik vergiftetes Mehl oder Zwieback und durch Kälte in den Räumen leicht vom Leibe halten. Letzteres Mittel besonders wirkt vortrefflich; denn trotz ihrer Verbreitung im Norden scheuen die Schaben nichts mehr als Luft und Kälte. Offenstehen von Thüren und Fenstern durch einige kalte Winternächte tödtet sie ebenso sicher, wie die Stubenfliegen.

Ich darf den Ohrwurm oder Ohrgrübler (Forficula auricularia) nicht vergessen. Wer jemals die prächtige Schlingpflanze mit dunkelblauen Glocken, welche die Botaniker Cobaea scandens nennen, gepflanzt und gezogen hat, der wird sich auch des Aergers erinnern, welchen ihm die Ohrwürmer gemacht haben. Zu Hunderten sitzen sie in den Glocken, fressen sie durch, speisen die Blätter – kurz, gebehrden sich, als sei die Cobaea ihr Lieblingsgericht. Außerdem aber gehen sie auch nächtlicher Weile an Früchte, an die Blumenblätter der Rosen, Dahlien und Nelken, und im Nothfalle an die meisten krautartigen, saftigen Blumenpflanzen, wie Petunien. Tags über bergen sie sich in Ritzen und Löchern, und mag es wohl auch einigemal geschehen sein, daß ein Ohrwurm einem im Grase Schlafenden in das Ohr oder die Nase kroch – gewiß nur, um einen Schlupfwinkel zu finden. Das Gekrabbel im Ohre soll eine höchst unangenehme Empfindung sein, doch ist es in solchem Falle leicht, sich von dem Eindringling zu befreien, indem man einige Tropfen Oel in das Ohr träufelt, die auf den Ohrwurm ganz dieselbe Wirkung äußern, wie auf die Werre. Man fängt indessen die Ohrwürmer sehr leicht, indem man hohle Hörner oder Klauen von Schafen und Kühen an die Spaliere hängt. Sie verkriechen sich darin vorzugsweise gern.

Die Wanzen oder Halbflügler. (Hemiptera.)

Ein Schnabel, meist gegliedert, fest, rund, röhrig, der meist gegen die Brust hin eingeklappt werden und sehr empfindlich stechen kann – vier Flügel, die bald gleichmäßig geadert und durchsichtig,

[686] bald ungleichartig sind, indem die vorderen theilweise lederartig und undurchsichtig sind – eine unvollständige Metamorphose, ruheloses Wandern und Häuten, bei welchem allmählich die Flügel ausgebildet werden – das sind die allgemeinen Kennzeichen, welche den Schnabelkerfen (Rhynchota) als Ordnung zukommen. Im Einzelnen finden sich aber viele sehr große und wesentliche Verschiedenheiten, so daß die Thiere einander ziemlich unähnlich sehen.

Die Wanzen vor allen Dingen gleichen gewissermaßen den Käfern: ihre Flügeldecken sind häufig sehr hart und mit glänzenden und metallischen Farben geziert. Die meisten unter ihnen sind räuberische Bestien, welche mittelst ihres starken, spitzen Schnabels andere Insecten anstechen und aussaugen und dadurch selbst häufig eine gewisse Nützlichkeit erlangen. Unausstehlich ist der Geruch, der den meisten anklebt und der auch an Fingern und Kleidern so fest haftet, daß es schwer hält, ihn loszuwerden. Im Uebrigen scheinen die Wanzen hochorganisirte und intelligente Thiere zu sein, die, in gewisser Beziehung den Ameisen ähnlich, nur ungesellig und nicht in geordneten Gesellschaften lebend, alle Gelegenheiten zu benutzen wissen, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Weiß man ja doch von der Bettwanze, diesem ekelhaftesten aller Schmarotzer, daß sie auf unzugängliche Betten von der Zimmerdecke sich herabfallen läßt, um dem Schlafenden das Blut auszusaugen, und daß sie mit großer Schlauheit sich zu verstecken weiß, sobald ihr irgend welche Gefahr droht. Nicht minder scheint bei den meisten Wanzen die Sorge für die Jungen eine äußerst zärtliche und ausdauernde zu sein. Die Mutter hütet die Eier und setzt sich darauf, als wolle sie sie ausbrüten, sie leitet die jungen Wänzchen, die anfänglich keine Flügel haben, ganz in der Weise wie eine Henne ihre Jungen, deckt sie mit ihrem Leibe gegen Gefahr oder trägt sie selbst auf dem Rücken davon. Unter sich scheinen die Wanzen weit verträglicher als viele andere Insecten. Anderen Arten aber werden sie durch ihren giftigen Stachel selbst dann verderblich, wenn sie auch im Allgemeinen auf pflanzliche Nahrung angewiesen sind.

Ich erwähne hier nicht weiter die Bettwanze (Acanthia lectularia) welche niemals, auch im vollkommenen Zustande nicht, Flügel erhält und von der trotz aller gegentheiligen Behauptungen die alten Griechen und Römer schon eben so geplagt wurden, als die modernen Nationen. Am schauderhaftesten sollen sie in Nordamerika hausen, und in New-York namentlich soll man sich auch mit der größten Reinlichkeit ihrer niemals vollständig erwehren können. Man hat allen Ernstes den Vorschlag gemacht, die häßliche Kothwanze (Reduvius personatus), welche im Kehricht und Staub sich aufhält und mit ihrem starken gekrümmten Stachel andere Insecten nächtlicher Weile überfällt und aussaugt, als Kammerjäger gegen die Wanzen anzustellen. Ich glaube indeß, das Vertilgungsmittel wäre übler, als das Uebel selbst; denn die Kothwanze stinkt noch ärger als die Bettwanze, und sticht noch weit empfindlicher und schmerzhafter als diese. In unserem Nachbarlande Savoyen, dessen zum Theil unzugängliche Binnenthäler sich gerade nicht der größten Reinlichkeit erfreuen, scheint man hie und da der Ansicht zu sein, als wenn Wanzen und Flöhe im Kriegszustande mit einander lebten. Wenigstens antwortete eine Wirthin einem meiner Freunde auf die Frage, ob nicht viel Flöhe in dem Bette seien, wo er die Nacht zubringen sollte. „Flöhe? Wo denken Sie hin, lieber Herr! Die Wanzen haben sie alle gefressen!“

Die Wanzen, welche in Garten und Feldern von Pflanzen sich nähren und unter welchen namentlich die Kohlwanze (Cimex oleraceus) sich auszeichnet, durchbohren die grünen Pflanzentheile und namentlich die Blätter mittelst ihres Rüssels so, daß dieselben wie ein Sieb aussehen und absterben. Häufig stechen sie auch die Früchte an, die sie außerdem noch durch den Geruch, den sie ihnen mittheilen, ungenießbar machen. Außer der erwähnten Kohlwanze habe ich in Nizza und Genf äußerst häufig auf Artischocken eine sehr schädliche Wanzenart gefunden, deren Larven vollkommen schwarz sind und in ungeheuerer Menge die jungen Setzlinge überfallen, so daß dieselben häufig absterben. Leider habe ich versäumt, die Art, welche ich nirgends erwähnt finde, näher zu bestimmen und ihre Lebensart genauer zu studiren. Am unangenehmsten werden alle diese Gartenwanzen im Herbste, wo sie auf alle Weise in die Häuser sich einzuschleichen suchen, um in einem Verstecke zu überwintern und mit ihrem Geruche die Möbel zu verpesten.

Auch die Cicaden dürfen wir unter den schädlichen Halbflüglern nicht vergessen. Unbegreiflich ist es, wie die Alten diesen unleidlichen Sängern mit ihrem großen Kopfe, großen breiten Augen und meist durchsichtigen Flügeln, welche die Gewächse auf erbarmungswürdige Weise aussaugen, den Preis des Gesanges zuerkennen konnten. Ich muß gestehen, daß mir diese eine Thatsache einen höchst unvortheilhaften Begriff von der musikalischen Bildung der Griechen und Römer beigebracht hat; denn es giebt für ein einigermaßen musikalisch empfindliches Ohr keine ärgere Qual als das entsetzliche Gezirpe und Gezwicker der Tausende von Cicaden, welche in Italien auf allen Sträuchern und Bäumen vom Sonnenaufgang bis spät in die Nacht die Ankunft des Frühlings feiern. Anakreon hat zwar eine äußerst liebliche Ode über sie, deren Uebersetzung ich mich nicht enthalten kann hier mitzuteilen:

„Glücklich nenn’ ich dich, Cicade,
Daß du auf den höchsten Bäumen,
Von ein wenig Thau begeistert,
Aehnlich einem König singest;
Dein gehöret all’ und jedes,
Was du in den Feldern schauest,
Was die Jahreszeiten bringen;
Dir sind freund die Landbebauer,
Weil du keinem lebst zu Leide;
Und die Sterblichen verehren
Dich, des Sommers holden Boten;
Und es lieben dich die Musen,
Und es liebt dich Phöbus selber;
Er gab dir die klare Stimme,
Und dich reibet nicht das Alter,
Seher, erdgeborner Sänger,
Leidenlos, ohn’ Blut im Fleische –
Schier bist du den Göttern ähnlich!“

Virgil weiß es aber besser: nach ihm wiederhallen die Sträucher bei brennender Sonne von schrillenden Cicaden, und offenbar scheint ihm nach dem Beiworte, das er braucht, der Ton nicht allzu musikalisch.

Bei uns sind glücklicherweise diese großen lärmenden Cicaden selten, und nur hier und da findet man auf Ulmen eine größere Art, deren mit sonderbaren Vorderfüßen ausgestattete Larven mir schon öfter gebracht wurden, da man sie für ein gänzlich fremdes Thier hielt. Unter den kleineren Springcicaden ist namentlich eine kaum linienlange, blaßschwefelgelbe Art zu ermähnen, welche auf Rosen außerordentlich häufig ist und die Blätter derselben siebartig durchbohrt (Cicada rosae), sowie die Schaumcicade (Cercopis spumaria), deren Larve besonders gerne an Grashalmen und Wiesenkräutern, sowie an Weiden saugt und sich gänzlich in ihren schaumigen Unrath hüllt, der einem Tropfen Speichel sehr ähnlich sieht. Das Volk nennt dieses den Kuckucksspeichel, und wenn auch gewöhnlich diese Schaumcicaden den Gewächsen keinen allzugroßen Schaden zufügen, so habe ich doch schon Trauerweiden unter ihrer großen Menge kränkeln und zuletzt absterben sehen. Unangenehm werden die Thiere aber noch dadurch, daß der schaumige Zuckersaft, den sie aus dem Baume hervorziehen, um so lebhafter abtropft, je wärmer es ist, sodaß es unmöglich ist, des Schattens der Bäume zu genießen, auf denen sie sich in großer Menge aufhalten.

Den Cicaden nahe stehen die Blattflöhe oder Sauger (Psylla), welche ebenfalls Springbeine besitzen, den Rüssel zwischen den Vorderbeinen tragen, wie wenn er aus der Brust entspränge, und deren Weibchen mit einer großen und dicken Legeröhre versehen sind, mittelst deren sie ihre Eier in den Haarfilz der Knospen und zwischen die Blätter derselben einschieben. Auf dem Apfel- und Birnbaume namentlich giebt es zwei verschiedene Arten (Psylla pirisuga und mali), die im Frühjahre erscheinen und deren Larven und Nymphen Blüthen und Laubknospen dergestalt verbohren und aussaugen, daß die Schossen sich krümmen, verwachsen, trauern und absterben, und die demnach wirklich äußerst schädliche Thiere sind.

Noch schädlicher aber sind die Blattläuse (Aphis), die wohl jeder meiner Leser kennt und deren äußerst zahlreiche Arten sich auf einer Unzahl von Gewächsen finden, welche meistens unter diesen Schmarotzern in bedeutender Weise leiden. Es sind langbeinige, dickleibige, plumpe Thiere mit glasähnlichen Flügeln, langen, fadenförmigen Fühlern und gewöhnlich zwei eigenthümlichen Röhren auf dem Rücken des Hinterleibes, durch welche sie kleine Tröpfchen von Honigsaft von sich geben können. Sie sitzen meist auf der Unterseite der Blätter oder an den grünen Schossen der Gewächse in dichten Haufen zusammen, wechseln, nachdem sie sich einmal mit ihrem geraden, langen Rüssel eingestochen und angesaugt haben, kaum mehr während ihres Lebens den Platz und zeigen höchst eigenthümliche Verhältnisse hinsichtlich ihrer Fortpflanzung.

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Bei den meisten Arten finden nämlich zwei Generationen statt, durch besondere weibliche Individuen, von welchen die einen ohne Begattung lebendige Junge gebären, die anderen dagegen sich mit den kleineren Männchen begatten und Eier legen, welche zur Fortpflanzung der Art über die Winterzeit hinaus bestimmt sind. Die Männchen sind immer geflügelt, die Weibchen bald geflügelt, bald ungeflügelt, je nach den verschiedenen Arten, ohne daß man eine bestimmte Regel aufstellen könnte. Man hat mit vieler Ausdauer die verschiedenen Generationen beobachtet, welche während eines Sommers aus einer Blattlaus hervorgehen können, und sich dabei überzeugen müssen, daß, wenn nicht Feinde und Schädlichkeiten aller Art die Zahl dieser Blattläuse außerordentlich beschränken, die Nachkommenschaft eines einzigen lebendig gebärenden Blattlausweibchens während eines Sommers in die Millionen gehen könne. Denn bei der Apfelblattlaus, wo Schmidtberger die gediegensten Beobachtungen angestellt hat, dauert es gewöhnlich sieben bis zwölf Tage, bis ein neugebornes Weibchen selbst wieder Junge zu gebären beginnt, und zwar werden von einem jeden Weibchen wenigstens dreißig bis vierzig Junge etwa während acht Tagen zur Welt gebracht. Man kann sich aus dieser schnellen Vermehrung erklären, wie Gewächse, an denen nur eine einzige Blattlaus den Nachforschungen entgangen ist, in kurzer Zeit über und über mit Blattläusen besetzt sein können. Uebrigens hängen alle diese Generationen, welche sich ununterbrochen folgen, sehr von dem Wetter, der Sonne und der Nahrung ab, welche die Thier finden, und namentlich die geflügelten Weibchen scheinen dazu bestimmt, Kolonien auf anderen Pflanzen zu gründen, während die ungeflügelten die Vermehrung auf der Stammpflanze besorgen.

Aeußerst interessant ist das Verhalten der Blattläuse gegen die Ameisen, welches ich schon in einer früheren Vorlesung berührte. Die Blattläuse sind wirklich die Milchkühe der Ameisen, und es giebt sogar einige unter der Erde an Wurzeln lebende, gänzlich ungeflügelte Arten, welche von den Ameisen im Winter mit großer Sorgfalt gepflegt, durch Ueberbaue geschützt und gewissermaßen wie Stallvieh behandelt werden. Da die Colonien der Blattläuse sich häufig auf der Unterseite der Blätter oder selbst in Auswüchsen aufhalten, welche sie durch ihr Saugen erzeugen, und häufig schwer zu finden sind, so hält es leicht, sie zu entdecken, sobald man nur den Ameisen folgen will, die stets gebahnte Wege zu allen Blattlauscolonien haben. Und nun beobachte man eine solche Ameise, wie sie von Blattlaus zu Blattlaus geht, mit ihren Fühlhörnern sie streichelt, ihnen sanft aus den Rücken klopft, sie auf alle Weisen liebkost, bis endlich aus der Honigröhre auf dem Hinterleibe ein klares Tröpfchen hervordrängt, das süß schmeckt und von der Ameise mit Begierde geschlürft wird! Hat sie sich gesättigt, so läuft die Ameise zurück und läßt andere zu, welche dasselbe Spiel wiederholen.

Es ist keine Frage, daß bei bedeutender Anhäufung die Blattlausarten, deren Zahl Legion ist, großen Schaden verursachen können. Unter unseren Blumengewächsen sind es namentlich die Geranien und Rosen, unter unseren Nutzgewächsen die Apfelbäume und Johannisbeeren, welche in günstigen Jahren von den Blattläusen auf außerordentliche Weise mitgenommen werden, so daß alle Schossen verkrüppeln und man häufig genöthigt wird, die Pflanzen soweit als möglich zurückzuschneiden, um ihnen wieder einen ordentlichen Trieb zu gestatten. Zwar haben sie außerordentlich viele Feinde an den Sonnenkäferchen, den rothen Milben, den Larven der Flor- und Schwebfliegen, den meisten fleischfresenden Wanzen, ja selbst den kleinen Grasmücken und Zaunkönigen; allein nichts destoweniger sind die Anstrengungen aller dieser Feinde geringfügig im Verhältniß zu der ungeheueren Vermehrung, welche einzelne Arten darbieten. Zerdrücken, Abbürsten, Abspritzen können niemals vollständig zum Ziele führen; doch liegt es nahe, auf Hopfenpflanzen die Larven von Sonnenkäferchen zu suchen, die dort häufig vorkommen, und von diesen die Blattläuse auffressen zu lassen.

Das seßhafte Element, das in der Natur ebenso gut wie in der menschlichen Gesellschaft vorkommt und lieber auf dem Platze verdorrt, als daß es sich bewegte, wird unter den Halbflüglern von den Schildläusen (Coccus) repräsentirt. Die Untersuchungen über diese seltsamen Thiere sind bei Weitem noch nicht abgeschlossen, indem man namentlich über den Punkt noch nicht im Reinen ist, ob eine geflügelte Generation, welche äußerst klein ist und keinen Schnabel besitzt, wirklich, wie man bisher glaubte, dem männlichen Geschlechte angehört. Neuere Untersuchungen lassen vermuthen, daß diese kleinen geflügelten Dinger vielmehr ebenfalls Weibchen sind, welche die Bestimmung haben, die Colonien auf andere Pflanzen zu übertragen.

Genauer bekannt sind eigentlich nur die schildförmigen, seßhaften, ungeflügelten Weibchen, welche an vielen Pflanzen, namentlich Rosen, Pfirsichen, Pomeranzen, Reben, Eichen sich finden und in ihrer äußeren Form bald einer Linse, einem breiten Schiffchen oder einem Schilde gleichen. Der braunen Farbe wegen sehen diese Thierchen meist einer Warze oder einem Auswuchse ähnlich, und an den Rosen namentlich werden sie leicht mit einem nicht ausgebildeten Dorne verwechselt. Untersucht man das regungslos an das Gewächs geheftete Thier, so sieht man, daß es auf der unteren Kopfseite einen Stechschnabel besitzt, mit welchem es sich in die Rinde eingebohrt hat, sodaß man es häufig nur nach Zerbrechen dieses Schnabels loslösen kann; daß seine Beine meist verkümmert, die Geschlechtsteile dagegen außerordentlich entwickelt sind. Die so gestalteten Weibchen legen nun ihre Eier unter ihren eigenen Körper und decken dies Häufchen vollständig wie ein Schild selbst nach ihrem Tode, der nach beendigter Fortpflanzung eintritt. Sie trocknen ganz aus und bilden nun ein horniges Blättchen, unter welchem manchmal Tausende von Eiern geschützt liegen. Die Jungen, welche nach wenigen Tagen hervorkriechen, laufen anfänglich sehr hurtig umher, setzen sich aber nach mehrfacher Häutung fest, um dann ebenso wie die Alten der Fortpflanzung obzuliegen. Vor Allem haben die Pfirsichbaume, sowie die Orangen, Citronen und Oleander, die wir in unseren Kalthäusern ziehen, außerordentlich unter diesen Schildläusen zu leiden, die man nur schwierig mittelst energischen Abbürstens entfernen kann.




Blätter und Blüthen.

Reliquien von Felix Mendelssohn. Berlin besitzt zwei interessante Familien, beide jüdischen Ursprungs, in denen das Talent gleichsam erblich, der Ruhm als ein Fideicommiß erscheint. Es sind dies die wohlbekannten Häuser Beer und Mendelssohn, vom Himmel außerdem noch reichlich mit irdischen Schätzen gesegnet. Aus dem ersten Hause stammt der berühmte Componist der Hugenotten und des Propheten, Meyerbeer, in diesem Augenblick der unumschränkte Beherrscher der Oper, der Dichter Michael Beer, dessen Trauerspiel „Struensee“ ihn überlebt hat, und der ebenfalls bereits verstorbene Agronom Wilhelm Beer, der mit dem Staatsrath Mädler in Dorpat die beste Mondkarte herausgegeben hat. – Der Ahnherr des Mendelssohn’schen Hauses war der Philosoph Moses Mendelssohn, der Freund Lessing’s, der Reformator seines Volkes und einer der feinsten Denker des vergangenen Jahrhunderts. Unter seinen Nachkommen, die sich sämmtlich durch Gediegenheit und Bildung auszeichneten, nimmt Felix Mendelssohn-Bartholdy als einer der größten Componisten unserer Zeit eine besonders hervorragende Stellung ein. Seine musikalischen Werke sichern ihm den wohlverdienten Ruf, der ihm nicht nur in Deutschland, sondern in der gamzem gebildeten Welt zu Theil geworden ist. Auf der Höhe seines Ruhms, mitten in seinem Wirken und Schaffen wurde er durch einen allzufrühen Tod der Kunst und dem Vaterlande entrissen. Sein Andenken lebt in seinen herrlichen Compositionen, in seinen unsterblichen Liedern, die fort und fort erklingen und den Namen ihres Schöpfers preisen.

Aber nicht nur den Künstler, auch den Menschen lernen wir lieb gewinnen durch seinen vor Kurzem von seinen Angehörigen herausgegebenen Briefwechsel, der bei Hermann Mendelssohn in Leipzig erschienen ist. Diese Briefe legen ein lautes Zeugniß für den Charakter, die Seelenreinheit und die geistige Bedeutung des berühmten Componisten ab, sie gestatten uns einen tiefen Einblick in die Werkstätte seiner Kunst, in das Innere seines Lebens und Denkens. – Nach allen Seiten hin war Felix Mendelssohn eine echte Künstlernatur, ein vollendeter Mensch, harmonisch angelegt und ausgebildet, einer der hervorragendsten Geister seiner und aller Zeiten, wie aus diesen kostbaren Reliquien genügend hervorgeht. Ihm wurde das seltene Glück zu Theil, einer Familie anzugehören, die seinen Genius vollkommen erkannte und würdigte, ihm keine Hindernisse in den Weg legte, sondern seine freie Entwickelung nach Kräften förderte. In den Briefen des Vaters erkennen wir überall den gediegenen, lebensklugen Mann, der auch für die Kunst ein angeborenes, natürliches Urtheil besitzt und dies unbefangen dem Sohne gegenüber geltend macht, selbst als dieser bereits auf der Höhe seiner Kunst stand und als berühmter Componist gefeiert [688] wurde. Dieser nimmt mit Dank die väterlichen Ermahnungen und selbst den Tadel hin und schreibt ihm: „Ich will’s ein andermal schon besser machen.“ Ebenso rührend ist die Pietät Mendelssohn’s für seine Mutter, deren Tod ihn so sehr erschüttert, daß seine Freunde ernstlich für seine Gesundheit fürchteten. „Gestern,“ meldet er nach diesem Verlust, „habe ich dirigiren müssen, das war schrecklich. Sie sagten, das erste Mal würde es immer schrecklich sein, und ich müsse einmal durch; ich glaube es auch, aber doch wollte ich, ich hätte ein paar Wochen warten können. Mit einem Liede von Rochlitz fing es an, aber wie in der Probe die Altstimmen piano sangen: „Wie der Hirsch schreit“, so wurde mir so schlecht, daß ich nachher auf die Flur hinausgehen mußte und mich ausweinen.“

Von seinen Geschwistern stand ihm seine Schwester Fanny, die Gattin des talentvollen Malers Hensel, am nächsten durch ihr großes musikalisches Talent. Er nennt sie scherzhaft in den Briefen an die Mutter „den Cantor mit den dicken Augenbrauen und der Kritik“; ihr Urtheil ist ihm maßgebend, und er fordert sie auf über den „Paulus“ und die „Melusine“ wie ein College mit dem andern zu sprechen. Auch Fanny Hensel starb frühzeitig, und nicht mit Unrecht wird behauptet, daß die todte Schwester den liebenden Bruder nachgezogen habe. – Aber nicht blos die Kunst hält ihn ausschließlich gefangen, sondern auch die großen Fragen der Zeit interessiren ihn lebhaft. Mit seinem Bruder Paul bespricht er die Verhältnisse des Lebens, der Religion und Politik. Für die Zusendung der „Vier Fragen“ von Johann Jacoby und für die liberale Schrift des Ministers Schön dankt er ihm voll Anerkennung für diese freisinnigen Männer. Sein Verhältniß zu dem kunstliebenden Könige Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der Mendelssohn durch Titel und Orden auszeichnete, vermochte nicht seinen klaren Sinn zu trüben und ihm seine Freiheit zu rauben. Anmuthig scherzt er in einem Briefe aus Kösen über die preußischen Geheimräthe und die rothen Adlerorden vierter Classe, „die wie Johanniswürmchen aus allen Sträuchern leuchten.“

Die Musik aber ist der eigentliche Inhalt seines Lebens, die Seele seiner Seele, obgleich ihm kein Gebiet des Wissens und der Bildung verschlossen bleibt. Aufgefordert über seine „Lieder ohne Worte“ eine Erklärung zu geben, schreibt er: „Es wird so viel über Musik gesprochen, und sowenig gesagt. Ich glaube überhaupt, Worte reichen nicht dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende keine Musik mehr machen.“ Er lebt und webt nur in und für seine Kunst, voll Strenge gegen sich und seine eigenen Schöpfungen, voll Milde gegen die Leistungen Anderer. Neidlos erfreut er sich an jedem wirklichen Talent, ohne daß seine Toleranz so weit geht, die Verirrungen des modernen Virtuosenthumes zu billigen, über die er sich folgendermaßen äußert: „Es macht mir weniger Vergnügen als Seiltänzer und Springer; bei denen hat man doch den barbarischen Reiz, immer zu fürchten, daß sie den Hals brechen können, und zu sehen, daß sie es doch nicht thun, aber die Clavierspringer wagen nicht einmal ihr Leben, sondern nur unsere Ohren – da will ich keinen Theil daran haben.“ – Ebenso interessant sind Mendelssohn’s Urtheile über seine musikalischen Zeitgenossen, über Chopin, den er den „Paganini des Claviers“ nennt, der ihm aber an der Pariser Verzweiflungssucht und modernen Leidenschaftssucherei laborirt, über Thalberg und Liszt, der nach seinem Urtheil bei der ihm eigenen musikalischen Unmittelbarkeit und enormen Technik alle Anderen weit hinter sich zurücklassen würde, „wenn eigene Gedanken bei alledem nicht die Hauptsache wären und diese ihm von der Natur – wenigstens bis jetzt – wie versagt schienen, so daß in dieser Beziehung die meisten andern großen Virtuosen ihm gleich oder gar über ihn zu stellen sind.“

In dieser Weise geben die Briefe Mendelssohn’s den reichsten Aufschluß über sein Denken und Leben, sowie über sein Wirken in Düsseldorf, Leipzig und Berlin; sie enthalten zugleich eine Fülle anregender Gedanken und Anschauungen des berühmten Componisten, vor Allem aber tragen sie dazu bei, das edle, schöne Menschenbild des heimgegangenen Meisters der Seele des Lesers vorzuführen, ein Bild, das in unserer von den verschiedensten Interessen zerrissenen Zeit doppelt durch seine harmonische Schönheit und Wahrheit uns wohl thut und erhebt. – In der That sind diese Briefe heilige Reliquien eines großen Künstlers, eines vollendeten Menschen.




Der Componist der Volksmelodie zum deutschen Vaterlandsliede. Von all den Vaterlands- und Freiheitsliedern, welche die große deutsche Erhebung der Jahre 1813 und 1814 entstehen ließ, und welche zum Theil zur Förderung dieser patriotischen Erhebung mitwirkten, ist keines von so gewaltiger, nachhaltiger Bedeutung geworden, als Arndt’s Lied: „Was ist des deutschen Vaterland?“ Im April 1813 überließ es der Dichter mit der bescheidenen Bemerkung, daß ihm dasselbe nicht verfehlt erscheine, der „Deutschen Zeitung“, die damals bei Reimer unter Niebuhr’s Leitung erschien, zur Aufnahme. Das Lied, obwohl von den Herren Recensenten vielfach angegriffen, ist als der energischste Ausdruck des deutschen Gesammtnational-Bewußtseins das eigentliche deutsche Nationallied geworden und geblieben, und der Dichter sollte in seinem Greisenalter noch die freudige Ehre erleben, daß ihm am 18. Mai 1848 vom deutschen Volke durch dessen Vertreter in Frankfurt (auf Antrag von Jahn und Soiron) für dieses sein Lied der Dank der Nation jubelnd votirt wurde.

Doch nicht allein der Text ist es, nein, namentlich ist es auch die Melodie, was das Lied in alle Kreise des deutschen Volkes eingeführt und dem Volke so lieb, ja zum eigentlichsten Volksliede gemacht hat. Begeistert singen die vierstimmigen Männerchöre die schöne, feurige Reichardt’sche Composition, aber ebenso begeistert singt noch jetzt und sang schon vor Reichardt’s Schöpfung das deutsche Volk die ursprüngliche kernige Volksmelodie. Von wem rührt sie her? Vergebens schlagen wir die meisten Liederbücher auf, das Lied enthalten sie wohl, aber der bescheidene Komponist hat sich nicht genannt. Wer ist es? Wir können es verrathen, und Andre haben es schon früher verrathen. Johannes Cotta ist es, gebürtig aus Ruhla im Thüringer Wald. Als Stud. theol. in Jena componirte er das Lied im Jahre 1814. Noch immer warm patriotisch denkend und fühlend, lebt der alte würdige Herr zu Willerstedt bei Buttstedt als Pfarrer und Adjunct.

Jetzt, wo in diesen Tagen in Erinnerung an die deutsche Volksthat von 1813 das Arndt’sche Lied mit der Reichardt’schen oder Cotta’schen Melodie von tausend und abertausend Lippen erklungen ist, dürfte es an der Zeit sein, jene geschichtliche Thatsache weitern Kreisen zur Kenntniß zu bringen.




Ein Prachtwerk. Die Eiche, das Sinnbild der Kraft und Dauer, ist, ebenso wie die Palme, der heilige Baum seit Jahrtausenden, nicht blos den alten Germanen, die in Eichenhainen ihren Wodan verehrten, auch den Griechen, welche die Eiche ihrem Zeus geweiht hatten, und uns, die wir mit dem Eichenblatte die Bürgertugend krönen und unsere Turner und Schützen kränzen. Ja, wir sprechen vorzugsweise gern von der deutschen Eiche und dem deutschen Eichenwalde, und dennoch wächst von den dreihundert verschiedenen Arten von Eichen, die man heute kennt, nur eine verschwindend kleine Anzahl bei uns in Deutschland; in ganz Europa und im Oriente zählt man blos 58 Arten, alle übrigen kommen auf die Neue Welt, namentlich auf Nordamerika, das man recht eigentlich das Land der Eichen nennen könnte.

So schön unsere Steineiche mit ihrem knorrigen Riesenstamme und ihren weit schattenden Aesten ist, die schönsten Eichengattungen sind doch nicht bei uns einheimisch. Dies zeigt uns ein Blick in ein im verflossenen Jahre im rührigen Verlage von Eduard Hölzel in Wien und Olmütz erschienenes Prachtwerk: „Die Eichen Europa’s und des Orients. Beschrieben von Dr. Theodor Kotschy, Custos-Adjunct des k. k. botanischen Hofcabinets.“

Auf vierzig Foliotafeln bringt das Buch in mit der wissenschaftlichsten Genauigkeit und technisch meisterhaft ausgeführtem Oelfarbendrucke die Blätter und Früchte von vierzig verschiedenen Eichenarten vor Augen, welche der Verfasser, der Mehrzahl nach, auf seinen Reisen in Kleinasien, im cilicischen Taurus, im Libanon und Antilibanon gesehen und zum Theile selbst entdeckt hat. Es gereicht der deutschen Wissenschaft und dem deutschen Buchhandel zur höchsten Ehre, und weder Frankeich noch England haben bis jetzt dem Werke ein ähnliches über denselben Gegenstand zur Seite zu stellen.

Als ein wesentliches Verdienst des Buches müssen wir es hervorheben, daß es auf die Culturfähigkeit der beschriebenen fremdländischen Eichen für unsere Klimate immer ein besonderes Augenmerk richtet und somit neben der scientistschen auch eine praktische und national-ökonomische Bedeutung anstrebt. Wir lernen durch Bild und Text eine Reihe überaus prachtvoller Eichen kennen, wie z. B. die vielleicht herrlichste ihres gesammten Geschlechtes, die in Kurdistan gefundene Königseiche, die bei uns recht gut gedeihen und unseren Wäldern und Parks einen neuen landschaftlichen Reiz zuführen würde.

Die genannte Verlagshandlung ist übrigens bekanntlich auch die erste gewesen, welche in Wien eine Anstalt für Oelfarbendruckbilder errichtet und auf diese Weise bereits mehrere bekannte Gemälde vaterländischer Künstler in verhältnißmäßig billigen Copien auch dem minder bemittelten Publicum zugänglich gemacht hat, neuerdings u. A., nach einem Originale von A. Hansch in Wien, die Gegend von Salzburg in Abendbeleuchtung und Mozart am Dominikanerchore in Wien, nach einem Oelbilde von F. S. Schams.


Aufruf. Der Consul der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Herr M. C. Gritzner in Heidelberg, ersucht die „Gartenlaube“, als das gegenwärtig verbreitetste deutsche Blatt, die nachstehend verzeichneten Namen unlängst in Amerika verstorbener Deutscher zu veröffentlichen, um auf diese Weise deren etwa noch in der Heimath lebende Angehörige am sichersten ausfindig machen zu können:

Friedrich Calinbach, gebürtig aus Würtemberg.
Ernst Fuhrmeister, gebürtig aus Sachsen.
H. Henser, gebürtig aus Hessen.
Johann Ackermann, gebürtig aus St. Gallen in der Schweiz.
Friedrich Zuelsdorf, dessen Eltern in Deutschland wohnen sollen.
Otto Friedrich aus Potsdam.
Wilhelm Ritter aus Hannover.
Paul Andertold aus Breslau.
David Rindersacher (oder Rinderfacher), die Frau soll noch in Deutschland leben.
Louis Krause aus Hamburg, und
Gustav Stoldt, dessen Mutter auf Helgoland gelebt haben soll.

Im Interesse unserer Leser glauben wir diesem Ansinnen entsprechen zu müssen und bitten die eventuellen Hinterlassenen, sich behufs weiterer Mittheilungen und Geltendmachung allfälliger Erbschaftsansprüche direct an genannten Herrn Gritzner wenden zu wollen.




Leipzig und die wichtigsten Orte des Schlachtfeldes. Unter diesem Titel ist ein großes lithographisches Tableau, gezeichnet von B. Straßberger, erschienen, das allen Besuchern des Leipziger Schlachtfeldes, wie allen denen, welche an den weltgeschichtlichen Ereignissen auf Leipzigs Fluren Interesse nehmen, empfohlen werden kann. Dasselbe zeigt in der Mitte eine Ansicht der Stadt Leipzig, in den Randbildern die oft genannten Dörfer Möckern, Lindenau, Schönefeld, Liebertwolkwitz, Wachau, Probsthaida, Connewitz, Dölitz, Lößnig, Stötteritz. Zu dem äußerst billigen Preise von 10 Ngr. ist das Blatt durch alle Buch- und Kunsthandlungen (Leipzig, in Commission beim Magazin für Literatur) zu beziehen.



  1. WS: Im Original fehlendes Hochkomma ergänzt.
  2. Siehe den betreffenden Artikel in der Gartenlaube: Aus dem Leben deutscher Schauspieler – Ludwig Dessoir
  3. S. den Gartenlauben-Artikel Die Garrotte in London

Anmerkungen (Wikisource)

  1. eigentlich 4. Teil der Serie