Die Gartenlaube (1863)/Heft 44
Der Officier sann nach diesen von der Tante Therese erhaltenen Mittheilungen einen Augenblick nach. Sein Gesicht zeigte Besorgniß.
„Ihr hörtet nur Gewehrfeuer,“ sagte er. „Es ist also nur eine schwache Abtheilung der Verbündeten im Kampfe, die rechts vom Walde kämpfen. Jenseits des Waldes läuft die große Heerstraße, die auch nach der Straße führt. Die Verbündeten werden in der Heerstraße auf dem Marsche zur Stadt gewesen sein und haben wahrscheinlich gar keine, oder nur noch eine schwache französische Besatzung darin vermuthet, aber sie hatten sich darin geirrt. Die Franzosen sind ihnen mit Uebermacht entgegengerückt, haben sie zurückgeworfen, aus der großen Straße hinter den Wald gedrängt; die Carabiniers sollen ihnen von der Haide her in den Rücken fallen. So soll die ganze Abtheilung aufgerieben, vernichtet werden.“
„Und es wird geschehen?“ sagte meine Tante.
„Wenn meine Voraussetzungen richtig sind, und wenn sie sich nicht in den Wald werfen können.“
„Werden sie dies können?“
„Infanterie wohl. Nur sie auch wäre dort gerettet, weil Cavallerie ihr nicht folgen könnte, und weil die Nacht ihnen zu Hülfe käme. Bis morgen früh muß das größere Corps, dem sie vorausgeeilt sind, eintreffen und sie befreien.“
Die Tante Therese hatte noch eine Frage, für sie die wichtigste.
„Kann der Kampf sich hierher ziehen?“
Der Officier zögerte mit der Antwort. „Wir wollen es nicht hoffen, Therese, aber es ist möglich.“
„Und Du glaubst daran!“
Der Officier widersprach nicht. Er schwieg; aber er wurde unruhig. Ein desto klarerer, ruhigerer Muth kam über meine Tante Therese.
„Wir müssen klar sehen, Adalbert,“ sagte sie. „Wir dürfen uns selbst und Eins dem Andern nichts verhehlen. Jeder französische Officier von der Besatzung der Stadt kennt Dich.“
„Ja,“ sagte der verwundete Officier.
„Kommen die Franzosen hierher, so bist Du verloren.“
Der Officier antwortete nicht. Er konnte wiederum nicht widersprechen.
„Fort von hier kannst Du nicht.“
Der Officier hatte seinen Entschluß gefaßt. „Ich kann, Therese,“ sagte er. „Ich kann, weil ich muß.“
„Nein,“ sagte entschieden die Tante. „Du kannst, Du darfst nicht. Es wäre Dein Tod.“
Aber er erwiderte ihr, nicht minder entschieden: „Und mein Bleiben, Therese, wäre nicht blos mein Tod; es wäre auch der Deinige, der Deiner Mutter; es wäre Euer Aller Verderben.“
Meine brave Tante ließ sich nicht irren. „Den Anderen“ sagte sie, „kann und wird man kein Leid zufügen, sie wissen von nichts. Und ich, Adalbert – wenn Du mir jetzt wieder entrissen wirst, zum zweiten Male, dann werde ich mit Dir sterben, dann ist der Tod eine Wohlthat für mich.“
„Therese!“ rief der Officier.
Er richtete sich auf und erhob den gesunden Arm, um die Geliebte zu umfassen. Das Gespräch, die Aufregung hatten ihn angegriffen, und erschöpft fiel er auf sein Lager zurück.
„O mein Gott!“ hauchte seine matte Stimme, und die Augen schlossen sich.
Tante Therese beugte sich mit ihrem schönen, bleichen Gesichte auf sein blasses Gesicht und legte leise ihre Lippen auf seine verwundete Stirn. Eine Thräne drang aus ihrem Auge. – Der Tod war schon einmal meiner Tante Therese recht hart an das Herz getreten, und daran mochte sie wohl in diesem Augenblick denken.
Sie war zehn Jahre alt und war frisch, blühend, lebhaft, fröhlich. Sie sprang durch den Wald und flog über die Haide und war das schönste und das anmuthigste Bild, das Wald und Haide jemals gesehen hatten. So fand die Abendsonne eines schönen Maitages sie in der Haide, am Saume des Waldes. Und in den Strahlen der untergehenden Sonne fand sie so eine glänzende, mit vier Pferden bespannte Equipage, in welcher ein vornehmer Herr und ein bildschöner Knabe von zwölf Jahren mit blonden Locken und wilden schwarzen Augen saß. Der Wagen flog vorüber mit dem vornehmen Herrn und dem schönen Knaben. Aber es waren kaum zehn Minuten vergangen, da stand der Knabe wieder vor ihr und sah sie mit den feurigen Augen so scheu und ehrerbietig an, als wenn sie ein höheres Wesen wäre.
„Saßest Du nicht eben in der schönen Kutsche, die hier vorbeifuhr?“ fragte das zehnjährige Kind des einsamen alten Schlosses den Knaben, als er sehnsuchtsvoll zu ihr zurückkehrte und in seiner Schüchternheit nicht den Muth hatte, ganz an sie heranzutreten.
„Ich saß in dem Wagen.“
„Und wo kommst Du denn schon wieder her?“
„Ich komme aus unserem Schlosse?“
„Aus Eurem Schlosse?“
Aber so wie die rasche Frage den frischen rothen Lippen entschlüpft [690] war, hatte das Kind sich auch schon selbst die Antwort gegeben. Das Schloß Hawichhorst lag hinter der Ecke des Waldes, war keine fünf Minuten weit entfernt. Sie wurde verlegen und schlug die Augen nieder.
„Ah, Sie sind der Freiherr Adalbert,“ sagte sie mit halblauter Stimme.
„Ja, der bin ich. Aber warum siehst Du mich nun nicht mehr an?“
Sie antwortete ihm nicht, schlug aber auch die Augen nicht zu ihm auf.
„Du sprangst vorhin,“ sagte er. „Du fingst wohl Schmetterlinge?“
„Ja.“
„Wollen wir nicht zusammen welche fangen?“
„Ich weiß nicht, ob ich das darf.“
„Warum solltest Du das nicht dürfen?“
„Sie sind so vornehm, sagen mein Papa und meine Mama. Und künftig, wenn Ihr Papa nicht mehr lebt, sind Sie unser Herr.“
Das war es, was sie so verlegen gemacht hatte, daß sie die Augen nicht mehr erheben konnte. Der Sohn des Reichsfreiherrn, der älteste Sohn gar, der „Stammherr“, der künftige Gutsherr, der jetzt schon ebenbürtig mit Grafen und Fürsten war! So hatten stets ihr Vater und ihre Mutter, anders hatte Niemand von ihm gesprochen. Und ihr Vater war der Rentmeister, war Diener, jetzt noch des alten Reichsfreiherrn, aber künftig des Freiherrn Adalbert. Und sie war die Tochter dieses Dieners.
Der junge Freiherr wußte das Alles vielleicht auch, oder er hatte eine Ahnung davon; vielleicht auch nicht, obwohl er noch Du zu ihr sagte, während sie ihn mit dem ehrerbietigen Sie anredete, freilich war sie ein Kind von kaum zehn Jahren. Er fragte sie dennoch: „Und darum dürfen wir keine Schmetterlinge zusammen fangen?“
„Ich will meine Mama fragen,“ fand sie ein Auskunftsmittel.
„Ich werde es bei Deiner Mama auf mich nehmen.“
Er wußte doch wohl, wer er war. Und da das Kind es schon vorher wußte, und mithin seine Verantwortlichkeit sie deckte, so fingen sie zusammen Schmetterlinge, bis es dunkel wurde und keine Schmetterlinge mehr zu sehen waren. Und wie sie darauf zusammen nach Hause gingen, da dachten sie nicht mehr daran, die Eine, daß der Andere ein Freiherr und künftig ihr Herr sei, der Andere, daß er Hand in Hand mit der Tochter des Dieners seines Vaters und künftig seines eigenen Dieners gehe. Hand in Hand gingen sie, vertraulich, scherzend und lachend. Sie sagte zwar noch Sie zu ihm und Freiherr Adalbert. Aber am andern Tage mußte auch sie Du zu ihm sagen, und sie nannte ihn nur noch Freiherr Adalbert, am zweiten Tage ließ sie aber auch den Freiherrn aus.
Der alte Reichsfreiherr war vom ältesten und reinsten Adel, und er war der stolzeste Mann auf seinen alten, reinen Adel. Er hatte Geschäfte mit meinem Großvater, darum war er gekommen, und nur wenn sie Geschäfte zusammen hatten, sah er seinen Rentmeister, dessen Familie aber gar nicht. Sie war die Familie seines Dieners, und für ihn nicht da. Er hatte seine Zimmer für sich, die Jahr aus, Jahr ein für ihn bereit standen, obwohl er vielleicht nur alle fünf oder sechs Jahre einmal herkam. In ihnen hielt er sich auf, wenn er nicht mit dem Rentmeister in der Rentstube rechnete oder draußen Flur und Wald besichtigte. In ihnen frühstückte er, aß er zu Mittag und zu Abend allein mit seinem Sohne, bedient von den Bedienten, die er mitgebracht hatte.
So sah der alte Freiherr meine Tante Therese nicht, er wußte vielleicht nicht einmal, daß sie existirte, und so sah er daher auch seinen Sohn nicht mit ihr. Hätte er aber auch die Beiden beisammen gesehen, er hätte wahrscheinlich nicht einmal gestutzt, Sein Sohn war der Stammherr einer so alten, reinen Adelsfamilie, und meine Tante war nichts als die Tochter seines bürgerlichen Rentmeisters, und Beide waren Kinder, und in acht Tagen reiste er mit seinem Sohne wieder ab.
Am Tage der Abreise aber waren der Freiherr Adalbert und meine Tante sehr traurig; sie suchten allein zu sein, so oft sie konnten, und sie trösteten sich dann damit, daß er versprach im nächsten Jahre wiederzukommen. Wie das werde möglich sein, fragte sie ihn, da doch sein Papa nicht wiederkomme. Er werde es schon machen, antwortete er ihr aber, und mit einer solchen Bestimmteheit, daß sie ihm vertraute. Und er hatte es machen können.
Der Reichsfreiherr hatte einen schwachsinnigen Bruder. Den Irren in eine öffentliche Anstalt bringen, in der er mit Bürgerlichen hätte zusammen leben müssen, litt der Stolz der Familie nicht. Im Hause des Freiherrn führte seine Erscheinung zu manchen Inconvenienzen. Am besten war er aufgehoben in der Familie eines Rentmeisters auf einem der entfernteren Güter. Der Freiherr hatte die Familie meines Großvaters auf Schloß Hawichhorst ausgesucht. Das Abmachen dieser Angelegenheit mit meinem Großvater war mit ein Zweck seiner Herüberkunft gewesen. Nach wenigen Wochen war der schwachsinnige Freiherr Max auf Schloß Hawichhorst gebracht.
Im nächsten Frühjahre war der junge Freiherr Adalbert da, um – zu sehen, was sein Onkel mache. Er war zu Pferde mit einem Reitknecht gekommen, denn er hatte in dem Jahre reiten gelernt und war größer geworden und gesetzter und fing keine Schmetterlinge mehr mit der Tante Therese; aber er gab ihr Reitunterricht, und sie mußte alle Tage mit ihm in den Wald und in die Haide reiten. Als er nach vier Wochen abreisen mußte, tröstete sie sich noch leichter damit, daß er auch im nächsten Jahre wieder kommen werde. Und er kam wieder, und sie setzten den Reitunterricht fort, der im vorigen Jahre nicht zu Ende gekommen war; hatte er selbst doch unterdeß erst die kleine und die große Volte gelernt. So war es auch in dem Jahre, das darauf folgte, und noch ein Jahr, und dann noch eins. Sie jagten wild und lustig und fröhlich durch den Wald, über die Haide.
Als er dann aber wiederkam, war er achtzehn und sie sechszehn Jahre alt geworden; er hatte ihr die Leiden des jungen Werther mitgebracht, sie lasen dieselben gemeinschaftlich, und in ihren Herzen wurde es ihnen sehr weh. Sie ritten nur bei Abend, wenn der Mond schien, über die Haide, suchten bei Tage nur das Dunkel des Waldes auf und jagten auch nicht mehr, sondern ritten langsam nebeneinander her, ließen die Köpfe hängen, wie ihre Pferde, und seufzten tief und schwer. In der Stunde vor seiner Abreise aber waren sie auf einmal die glücklichsten Menschen, ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter strahlten; so nahmen sie Abschied von einander.
Aufgefallen war das Niemandem. Der Onkel Max konnte nichts sehen, weil er schwachsinnig war; meine Großeltern sahen eben so wenig, weil sie bürgerliche Leute waren und weil mein Großvater der Diener des stolzen Reichsfreiherrn war. Wie hätten Seufzer und strahlende Gesichter und entzückte Augen einen andern Gedanken in ihnen wecken können? Mein Onkel Fritz, der Zwillingsbruder der Tante Therese, war in der Provinzstadt auf dem Gymnasium, der jüngere Bruder Franz war noch ein Kind. Meine Mutter war schon verheirathet, sie war sechs Wochen später zum Besuch nach Hause gekommen. Das strahlende und dann wieder still träumerische Glück der Tante hatte ihr auffallen müssen.
„Therese, was ist mit Dir vorgegangen?“
„Nichts, Schwester Elisabeth.“
„Warum wirst Du denn so glühend roth?“
Sie besah sich im Spiegel und konnte nicht mehr leugnen, daß sie roth sah. Da konnte sie auch das Andere nicht mehr leugnen, und wie könnte das Glück eines jungen Herzens von sechszehn Jahren sich lange verschließen, zumal einer geliebten, vertrauten Schwester gegenüber?
„Ich bin die Braut des Freiherrn Adalbert, Schwester Elise; aber kein Mensch darf es wissen, ich habe es ihm versprechen müssen.“
Meine Mutter war leichenblaß geworden. „Um Gotteswillen, Kind, Kind!“
Die Tante Therese begriff sie nicht. „Wie kann Dich das erschrecken, Elisabeth? Er liebt mich, und ich liebe ihn; wir lieben uns eigentlich schon seit sechs Jahren, und als er vor sechs Wochen zum letzten Male hier war, haben wir uns beim Abschiede verlobt, und wenn er großjährig wird, werden wir uns heirathen.“
„Und seine Eltern, Therese?“
„Wissen noch von nichts.“
„Und die unsrigen?“
„Dürfen auch noch nichts wissen.“
„Kind, armes Kind!“ mußte meine Mutter noch einmal ausrufen, diesmal schmerzlich. Und sie setzte dem Kinde Alles auseinander, was bei solchen Gelegenheiten auseinanderzusetzen ist, den stolzen Adel des Freiherrn, ihre bürgerliche Geburt, die Veränderlichkeit des Jünglingsherzens, das erst jetzt in die Welt, in eine [691] vornehme, glänzende Welt, eintreten werde. Sie beschwor die Schwester, an den Freiheren nicht mehr zu denken und, wenn er im künftigen Jahre wiederkomme, ihm aus dem Wege zu gehen und so lange zu ihr, meiner Mutter, zu kommen. Es war umsonst.
Die Tante blieb auch bei dem, was das liebende junge Herz in solcher Lage zu sagen pflegt.
„Er liebt mich und ich liebe ihn, und wir werden uns treu bleiben, mag kommen was da will. Da muß sein stolzer Vater doch zuletzt nachgeben. Und was das Ausdemwegegehen betrifft, so wird er sogar schon in diesem Jahre wiederkommen, zu Michaelis, ehe er zur Universität abgeht, und ich habe ihm versprochen, daß wir uns dann wiedersehen würden, und sein Versprechen muß man halten, denn wenn ich zu Dir ginge, würde er mir nur zu Dir nachreisen.“
In dem Gedanken an Liebe und an Treue war sie glücklich, wurde sie glücklicher. Meine Mutter konnte sie nur mit desto trüberen Ahnungen verlassen!
Aber das Glück der Tante Therese hielt manches Jahr an. Der Freiherr Adalbert blieb ihr treu während seiner Universitätsjahre; er besuchte sie jedes halbe Jahr in den Ferien, seine Liebe war immer gleich zärtlich, gleich herzlich. Er mußte nach Beendigung seiner Studien eine zweijährige Reise durch Europa machen. Seine Briefe an sie während dieser Zeit athmeten vom ersten bis zum letzten Tage nur die herzlichste und zärtlichste Liebe. Als er zurückkam, eilte er zuerst zu ihr. Wie war er glücklich an der Seite des schönen Mädchens mit dem klaren, gebildeten Geiste, mit dem reinsten und edelsten Herzen! Wie war sie glücklich in dem Glück des Geliebten, der sich zu einem vollendeten Manne ausgebildet, der in der fremden Welt, an den ersten Höfen, unter der höchsten Aristokratie und unter den schönsten Frauen Europa’s ihr seine Liebe und seine Treue bewahrt, und nur die eine Sehnsucht gekannt hatte, Arm in Arm mit ihr wieder durch die kahle, graue westphälische Haide zu streifen!
Er sollte noch ein Jahr in dem elterlichen Hause bleiben: dann wollte sein Vater ihm eines seiner Güter zur eigenen Bewirthschaftung abtreten, und dann wollte der Sohn dem Vater seine Liebe entdecken, seine Liebe, die seit acht Jahren in sein Herz gewachsen, die mit seinem Herzen verwachsen war, von der er sich nie und nimmer losreißen konnte. So war der Plan. Und an dem Gelingen des Plans, an der Einwilligung des Vaters zweifelten die Liebenden um so weniger, als unterdeß über Deutschland und auch über Westphalen politische Zustände gekommen waren, die auch dem inneren Leben des Volkes und der Gesellschaft, den Verhältnissen der Schichten des Volkes und der Gesellschaft zu einander eine völlig andere Farbe, eine wesentlich veränderte Gestalt gegeben, die namentlich die bisherige hohe, exclusive Stellung der Geburtsaristokratie vollkommen verrückt hatte. Seit dem Jahre 1807 herrschten die Franzosen im Lande, und es waren die Franzosen der Revolution, und – es ist nicht zu leugnen, die Revolutionen von unten nivelliren nun einmal nach oben, und die französische Revolution that es radical.
Da kam das Jahr 1811. Der Kaiser Napoleon besuchte in jenem Jahre die rheinischen Provinzen seines Reiches. In Düsseldorf hielt er ein großes, glänzendes Hoflager. Alle Notabeln von Rheinland und Westphalen waren dahin entboten. Der vornehme alte Adel beider Länder durfte am wenigsten fehlen, trotz, vielleicht gerade wegen jenes Nivellements der Revolution. Und sie waren alle da, die alten, edeln, stolzen Geschlechter. Das fremde Gewaltregiment hatte zu jener Zeit so viele Mittel des Zwanges. Mit welchen Gesinnungen und Gefühlen manche von ihnen kamen?
Damals war es, als ein westphälischer Edelmann dem stolzen, mächtigen Kaiser jene ewig denkwürdige, stolze und muthige Antwort gab.
Als der Freiherr von Plettenberg zu Plettenberg in der Grafschaft Mark in dem großen Coursaale dem Kaiser Napoleon vorgestellt wurde, herrschte dieser ihn mit finsterem und drohendem Blick an: „Man hat mir gesagt, daß Sie ein guter Preuße sind!“
„Ja, Sire, bis zum Tode,“ war die laute, furchtlose Antwort des westphälischen Edelmanns.
Seine Freunde zitterten für ihn, der Kaiser that ihm nichts. Aber nicht Alle, die hingekommen waren, blieben so ihrer deutschen Gesinnung treu.
Unter den Entbotenen und Erschienenen waren auch der Reichsfreiherr und sein Sohn, der Stammherr Freiherr Adalbert. Der Freiherr repräsentirte eins der edelsten und reichsten Geschlechter Westphalens. Sein Sohn war sein künftiger Erbe; war ein schöner, ein gewandter junger Mann; war frei und sicher und zwanglos in den glänzenden Sälen des mächtigen Kaisers, als wenn er in seinem eigenen Hause wäre; wurde das Verlangen der Frauen und Töchter an dem kaiserlichen Hoflager; wurde umgarnt von den Netzen einer der schönsten, auf Befehl des Kaisers selbst, der den Glanz des neu von ihm geschaffenen Adels befestigen wollte durch den Ruhm und den Reichthum des alten Adels in den von ihm eroberten Provinzen.
Seine Marschälle hatten den Kaiser begleiten müssen, mit ihren Familien. Adelaide, die Tochter eines dieser Marschälle, war in den Cirkeln des Kaisers die Perle der Schönheit, der Anmuth und der Koketterie. Ihr wurde der kaiserliche Befehl, die Gemahlin des jungen westphälischen Freiherrn zu werden. Es hätte freilich des Befehles nicht für sie bedurft. Er konnte vielleicht nur das Feuer ihrer schönen Augen zündender, ihre Stimme schmelzender, alle ihre Netze siegreicher machen. Nirgends in der Welt geht mehr Stolz, mehr Mannhaftigkit, mehr Treue, mehr Liebe zu Grunde, als an den Höfen der Kaiser und Könige.
Der Freiherr Adalbert war in den Netzen der schönen Adelaide gefangen, ehe er eine Ahnung davon hatte. So wußte er auch nicht, wie es geschehen war. Er gewahrte es plötzlich, und da er es gewahrte, wollte zuerst ein tödtlicher Schreck ihn ergreifen. Aber er überwältigte den Schreck, und nun schlugen die Flammen einer wild und unbändig begehrenden Leidenschaft ganz über ihm zusammen. Sie waren angefacht und wurden genährt durch alle Netze einer eleganten Schönheit, durch den hinreißendsten Zauber eines lebhaften Geistes, durch die feinsten Künste einer sieggewohnten Koketterie. Ein Haus, das auf allen Seiten in Brand gesteckt ist, muß rettungslos niederbrennen.
Als alle die anderen westphälischen Edelleute von Düsseldorf in ihre Heimath zurückkehrten, zog der Freiherr Adalbert mit der schönen Adelaide und dem kaiserlichen Hoflager gen Paris. Die schöne und geistvolle Dame hatte ihn fast rührend darum gebeten; ihre Mutter hatte so freundlich ihre Einwilligung, der Kaiser selbst hatte ihm seinen Wunsch zu erkennen gegeben. Das waren Befehle für ihn. Der Wunsch des Kaisers mußte zugleich für den alten Reichsfreiherrn ein Befehl sein.
In Paris wurde der junge Mann betäubt, und der erste Schritt zieht den zweiten nach sich. Nach sechs Wochen bat er seinen Vater um die Erlaubniß, dem Wunsche des Kaisers gemäß in französische Kriegsdienste treten zu dürfen; der Kaiser wolle ihn in seine Adjutantur aufnehmen. Alle Wünsche des Kaisers waren Befehle für seine Unterthanen, und der ehemalige Freiherr des deutschen Reiches war Unterthan des französischen Kaisers. Der Freiherr Adalbert wurde Officier in der französischen Armee und speciell dem Marschall, dem Vater der schönen und geistvollen Adelaide, als Adjutant überwiesen.
Nach einem Vierteljahre bat er seinen Vater um die Einwilligung seiner ehelichen Verbindung mit der schönen und geistvollen Tochter des Marschalls. Dieser Schritt war nur die nothwendige Consequenz der vorigen, und von Anfang an der Wunsch und Befehl des Kaisers gewesen. Der alte Reichsfreiherr konnte seine Einwilligung nicht versagen. Er gab sie freilich mit schwerem Herzen; denn von altem Adel war der Marschall nicht, und also auch die Tochter nicht. Aber selbst die deutschen Fürsten mußten damals auf Befehl Napoleon’s Mesalliancen mit den Töchtern napoleonischer Granden schließen, oder ihre Töchter diesen hingeben, und die deutschen Fürsten suchten wohl gar um solche Verbindungen, wie um eine Gnade, bei dem französischen Kaiser nach.
Meine Tante Therese hatte von dem Geliebten einen Brief aus Düsseldorf erhalten, dann einen zweiten aus Paris, dann keinen mehr. In den beiden Briefen hatte er ihr seine unwandelbare Liebe und Treue so sonderbar, so leidenschaftlich, so sich selbst überstürzend versichert, daß ihr beim Lesen glühend heiß und eisig kalt wurde. Halb und halb war sie deshalb darauf vorbereitet, daß sie einen dritten nicht erhalten werde. Aber was war der Grund dieser plötzlichen Umwandlung? In die graue westphälische Haide drang lange keine Kunde davon. Fragen konnte sie Niemanden. In die Provinzstadt war aber nach einiger Zeit die Nachricht gekommen, der junge Freiherr lebe in Paris, sei dort Adjutant in der unmittelbaren Nähe des Kaisers, werde an dem kaiserlichen Hofe sehr ausgezeichnet, habe eine der schönsten, geistvollsten [692] und vornehmsten jungen Damen dieses Hofes geheirathet. So erfuhr es auch der Bruder meiner Tante, mein Onkel Fritz, der damals so eben sein Examen als Advocat gemacht hatte. Er war der Vertraute der Tante; er eilte nach Hawichhorst und mußte der armen Schwester die entsetzliche Nachricht mittheilen. Sie nahm sie mit großer Fassung auf.
„Konnte er,“ sprach sie, „ein Feind seines Vaterlandes werden, so konnte er auch keine Liebe zu mir mehr in seinem Herzen bewahren.“
Weiter sprach sie kein Wort, weder über ihn noch über sich. Sie zeigte keinen Schmerz, wie gewaltig er in ihrem Inneren wühlen mochte. Sie war still, freundlich; sie konnte heiter sein und erhielt nach einiger Zeit sogar ihre frische, blühende Farbe wieder, die sie nur auf Wochen verloren hatte.
Meine Mutter, mein Onkel Fritz, meine Großmutter, die von Beiden, dann von ihr selbst Alles erfuhr, mußten sie bewundern in der Stärke, in der Größe ihrer Seele. Sie blieb so, auch als später weitere Nachrichten über den Freiherrn Adalbert eintrafen. Er war noch ein Jahr lang in der Adjutantur des Kaisers geblieben; auch ein Jahr lang hatte seine Ehe gedauert, nur ein Jahr lang. Eines Tages hatte er seine schöne und geistvolle Frau in den Armen eines schönen und geistvollen jungen Franzosen betroffen. Den jungen Franzosen hatte er erschossen und von seiner Frau sich scheiden lassen. Dann hatte er vom Kaiser seinen Abschied verlangt; derselbe war ihm nicht bewilligt, dagegen war er zu einem Regimente in einem der entlegensten Winkel Frankreichs verwiesen worden; dort lebte er wie ein Gefangener. Das erfuhr man noch von ihm. Dann hörte man über ihn nichts mehr. Sein alter Vater hatte vielleicht noch Nachrichten; er theilte sie Niemandem mit. Sie mochten ohnehin den Stolz des westphälischen Freiherrn kränken.
In der Nacht vor dem Tage, an welchem meine Großmutter und meine Tante von dem Gewehrfeuer am Walde erschreckt wurden, war von der Haide her ein mit zwei Pferden bespannter offener Bauerwagen langsam auf das Schloß Hawichhorst zugefahren und hatte an dessen Rückseite gehalten. Er war bis fast an den Rand der Leitern mit Heu angefüllt. Als er aber hielt, richtete langsam und mühsam ein Mann in einem Mantel sich in dem Heu auf. Er hatte den Kopf verbunden und trug den linken Arm in einer Binde.
Der Bauer, der den Wagen fuhr, war an ihn herangetreten. Ihm zeigte der verwundete Mann im Wagen eines der unteren Fenster an der Rückseite des Schlosses, an der sie hielten.
„Klopft leise an das Fenster,“ sagte er zu dem Bauer – seine Stimme war matt – „und wenn dann eine alte Frau öffnet, so sagt ihr, ein Sterbender lasse sie bitten, zu ihm herauszukommen.“
Der Bauer that, wie ihm befohlen war. Das Fenster öffnete sich.
„Wer ist da?“ fragte die alte Magd Christine hinaus.
„Ein Sterbender dort im Wagen läßt Euch bitten, zu ihm herauszukommen.“
Es war Mondschein. Die alte Christine sah einen Menschen und einen Wagen, die sie beide nicht kannte. Sie war zweifelhaft, was sie thun solle. Da rief aus dem Wagen eine matte Stimme leise ihren Namen. Sie erschrak, denn sie erkannte die Stimme, oder glaubte sie zu erkennen.
Die alte Magd war eine verständige Person. Auch sie hatte in jener bewegten Zeit so Manches erlebt und das Verhältniß der Tante Therese zu dem Freiherrn Adalbert war ihr, der alten, treuen, vertrauten Dienerin des Hauses, nicht unbekannt geblieben. Auch die späteren Schicksale des Freiherrn kannte sie, und zu dem Kriege, der jetzt noch von Napoleon in Deutschland geführt wurde, hatte der Kaiser auch den letzten Mann, der in Frankreich die Waffen tragen konnte, über den Rhein kommen lassen. Die Schlacht bei Leipzig war vor wenigen Tagen geschlagen. Eine Menge kleiner Gefechte, meist unglücklich für die zersprengten, fliehenden Franzosen, waren ihr gefolgt.
„Ich komme,“ sagte die Magd.
Sie verschloß leise ihr Fenster und trat leise aus einer Hinterthür des Hauses. Ein Geheimniß lag hier unter allen Umständen vor. Sie ging an den Wagen.
Der Verwundete im Wagen richtete sich auf.
„Nenne meinen Namen nicht, Christine.“
Es war der Freiherr Adalbert. Sie konnte ihm vor Zittern nicht antworten.
„Ist die Mamsell Therese zu Hause?“ fragte der Freiherr sie.
„Ja.“
„Bitte sie zu mir. Aber sie muß allein kommen, lasse ich sie bitten. Außer ihr und Dir darf Niemand wissen, daß ich hier bin.“
„Ich gehe zu ihr,“ sagte die Magd.
Sie kehrte in das Haus zurück. Nach zehn Minuten war sie mit meiner Tante Therese wieder da. Die Tante war leichenblaß. Die alte Magd nahm den Bauer auf die Seite. Was der Verwundete im Wagen und ihre Herrin sich zu sagen hatten, das durfte kein Dritter hören.
„Kommt, Mann. Ihr werdet durstig sein. Ich habe Euch zu trinken mitgebracht.“
Meine Tante und der Freiherr waren allein. Sie war an den Wagen herangetreten. Er erhob sich, er hatte sich zurücklegen müssen, als die Magd in das Haus ging, ihre Herrin zu rufen, denn er war zu schwach, um sich lange aufrecht zu erhalten. Der Mond beschien voll sein verwundetes, blasses, erschöpftes Gesicht. Er wollte zu der Tante sprechen; da er sie sah, vermochte er es nicht. Ein Sterbender wollte sie sprechen, hatte der Fuhrmann zu der alten Christine gesagt. Die Magd hatte es ihrer Herrin wiedergesagt. Die Tante sah das zum Sterben matte Gesicht vor sich. Der Anblick wollte ihr das Herz zuschnüren, aber Worte hatte auch sie nicht.
Bis vor wenigen Wochen war es in unserm schönen Vaterlande noch eine unerhörte, nie dagewesene Erscheinung, daß einem deutschen Fürsten aus allen Gauen des weiten Landes der Dank des deutschen Volkes votirt wurde. Dieses eiserne Kreuz des Volksdankes hat sich bis jetzt nur ein Fürst errungen und dieser merkwürdiger Weise nicht durch eine große Kriegsthat, sondern einfach durch seine feste volks- und verfassungstreue Haltung seinen fürstlichen Opponenten gegenüber. Es ist in diesen Blättern bereits früher darauf hingewiesen worden, daß es der Eckstein Friedrich von Baden war, an dessen granitner Festigkeit ein schlimmer deutscher Sonderbund gescheitert ist, und wir glauben deshalb, die Leser der „Gartenlaube“ werden es uns Dank wissen, wenn wir ihnen in flüchtigen Zügen das Bild des Mannes zeichnen, der sich so rasch die volle Liebe eines guten ehrlichen Volkes erworben hat.
Mit Leopold, dem Vater des jetzigen Großherzogs, dem ältesten Sohne Karl Friedrich’s und der Gräfin von Hochberg (aus dem Geschlechte der Geyer von Geyersberg), trat Baden 1830–32 endgültig aus dem Kreise der Maitressen- und Günstlingswirthschaft heraus. Dafür entfaltete der Verfassungskampf seine vollsten Schwingen; der Bismarck Badens hieß Friedrich Landolin Karl von Blittersdorf. Ein und derselbe Fürst, Leopold, sollte nach dem Willen des Geschickes die höchste Spannkraft der dem Volksrechte feindselig gegenübergestellten Kronrechte erlahmen und die Orgie der Umsturzbewegung austoben sehen. Sein Leben brach unter der eisernen Aufgabe. Nach 22jähriger Regierung übertrug der müde Vater seinem zweitgebornen Sohne Friedrich Wilhelm Ludwig, geb. den 9. September 1826, die stellvertretende Sorge für die Regierung. Unter dem Ahnen Karl Friedrich hatte das patriarchalische System sich innerlich gewandelt; unter Friedrich sollte das constitutionelle System seine „neue Aera“ haben.
Die erste Jugend des Fürsten fällt in die Jahre, in welchen das Verfassungsrecht seine bittersten Erfahrungen machte. Aber doch ist der jetzt regierende Großherzog der Erste, dessen Jünglingszeit, obwohl in den gewohnten Bahnen der deutschen Prinzenerziehung vielfach dahingleitend, doch auch die unauslöschlichen Eindrücke empfing, mit denen ein kämpfend bewegend Verfassungsleben jede
[693]Jünglingsseele erfüllt. Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Großherzog Ludwig waren die Pathen des Kindes, dem von dem fürstlichen Vater die leutselige Milde, von der Mutter, Sophie, Prinzessin von Schweden, der Tochter Gustav IV., die charaktervolle Entschlossenheit als Keime künftiger Eigenschaften in die Wiege gelegt sein mochten. Ein sonniger Kreis geschwisterlicher Liebe (Alexandrine, jetzt Herzogin von Coburg, Marie, jetzt Fürstin von Leiningen, Cäcilie, jetzt Großfürstin Michael von Rußland, die Prinzen Wilhelm und Karl) war dazu angethan, den jungen Fürsten die Tugenden des deutschen Hauses warm und dauernd empfinden zu lassen. Aber auch die Schattenseiten dieses engen Familienbandes lagerten sich in seine Nähe, als den hochbegabten älteren Bruder Ludwig, den trautesten Jugend- und Bildungsgenossen, die Vorboten schwerer Gemüths- und Körperleiden immer näher und bedrückender umdrängten, bis sich eine reicherschlossene Geistes- und Körperschöne in frühem Tode (am 22. Jan. 1858) löste. Die bei des fürstlichen Vaters Hintritte (24. April 1852) übernommene Regentschaft Friedrich’s war schon in endgültige Thronbesteigung [694] gewandelt worden durch Patent vom 5. Septbr. 1856, nachdem sich das Leiden des Bruders als unheilbar herausgestellt hatte.
Noch lagen auf dem Lande die schweren Schatten des kaum verharschten Revolutions- und Kriegszustandes. Der Jubelruf des Volkes bei der Vermählung des Fürsten mit Louise, Prinzessin von Preußen (20. Septbr. 1856), zeigte aber doch, wie schnell die Wunden schwer geprüfter Lande und Bevölkerungen vernarben und welch unauslöschliche Liebe das deutsche Volk im Herzen trägt, wenn es in seinem Fürsten das Wohlwollen und die Treue erkennt, deren Bethätigung jedes Staatswesen als mindeste Forderung an seinen Träger stellen muß. Das badische Volk sollte an seinen Fürsten höhere Forderungen stellen und bald die Erfüllung froh erleben dürfen. Aber in jenen Tagen, als der junge Fürst in kraftvoll männlicher Schönheit, ein Angebinde der Mutter Natur an Badens Fürstenhaus, die in der Anmuth des verklärenden Glückes und grazienvoller Erscheinung strahlende Braut heimführte – da erscholl es durch das Land gleichsam wie eine Vorahnung, daß auch der Staat und das Volk sein volles Antheil haben müsse an jener glückverheißenden Zukunft, deren Einzug in das Fürstenhaus die Bevölkerung so froh und herzlich mit beging.
So hoch stand die Sonne des badischen Staatslebens jetzt freilich noch nicht. Im Lande herrschte mächtig und unverhüllt der österreichische Einfluß. Die Jugend des regierenden Großherzogs war mit österreichischen Eindrücken durch mehrfache Reisen nach Wien eng verkettet. Doch standen diese Eindrücke nicht vereinzelt, so wenig wie es der militärischen Erziehung des jungen Fürsten an einem Gegengewichte fehlte. Studien in Heidelberg und in Bonn, namentlich bei Schlosser, Häusser und Vangerow, hatten den Grund gelegt zu einer allgemein wissenschaftlichen Erkenntniß, die das einzig fruchtbare Erdreich des Verfassungsglaubens bildet. Ein längerer Besuch am englischen Hofe (Frühjahr 1856), der vertrauliche Umgang mit der verwandtschaftlich nahestehenden englischen Königsfamilie (der Herzog Ernst von Sachsen-Coburg, der Schwager des Großherzogs Friedrich durch seine Ehe mit der badischen Prinzessin Alexandrine, ist der Bruder des verstorbenen Prinz-Gemahls von England) hatte der theoretischen Erkenntniß die praktische Anschauung zugefügt. Zur Bethätigung einer im deutschen Staatsleben in dieser Vollkommenheit völlig neuen fürstlichen Verfassungsinitiative bedurfte es aber eines äußeren Anstoßes, an dem es so lange gebrechen mußte, als der Rückschlag gegen die revolutionären Vorjahre nur die eben landläufigen Geleise austrat. Nur das Leben der Wissenschaft und der Kunst genoß jetzt schon in vollem Maße die Früchte einer geläuterten Vorliebe und einer echt fürstlichen Freigebigkeit. In diese Zeit fällt die Gründung der Karlsruher Kunstschule mit Schirmer an der Spitze, dem später Lessing als Galleriedirector sich anreihte; schon zuvor hatte die Uebertragung der Theaterleitung an Eduard Devrient, der aus dem Kampfe mit zwei Intendanten als Alleinherrscher des Bühnenwesens siegreich hervorging, klar bekundet, wie fest gewillt der kunstsinnige Fürst war, einer nach ästhetischen Grundsätzen unverbrüchlich strenge geleiteten Kunstanstalt selbst mit dem Opfer festgewurzelter Ueberlieferungen die Aufgabe der Hebung der deutschen Bühne und des deutschen Schauspielerstandes anzuvertrauen.
Endlich kam, nicht gesucht oder vorbereitet von politischen Parteiungen, im Gegentheile einfach herbeigeführt durch die reactionäre Unterschätzung des Volksbewußtseins, die kritische Entscheidung. Politisch hätte vielleicht das ermüdete Volk noch Manches ertragen; an das sittlich-religiöse Allgemeinbewußtsein aber durfte man nicht rühren. Gerade das geschah durch die Vereinbarung mit Rom, und es wird immer in der Geschichte der constitutionellen Entwickelung ein merkwürdiges Blatt sein, wie sich in zweitägiger Schlacht eine aus der Reactionszeit hervorgegangene, großentheils aus Beamten bestehende Kammer gegen Minister, die in jener Zeit noch nicht auf dem Platze wankten, zum Dolmetscher der freien Landesüberzeugung machte. Ohne das constitutionelle System hätte der Großherzog niemals die Wahrheit gehört, ohne die muthvolle Probe der badischen zweiten Kammer wäre sie nicht zum Siege gelangt. Vom 30. März 1860 schreibt sich die Entscheidung, wie eine dramatische Steigerung liest sich die Geschichte jener Tage bis zum Siege des Volksrechtes in der Brust des Fürsten. Der Würfel schwankte, da gab ein Erlaß des Ministers des Innern, Herrn von Stengel, der in einem Rundschreiben an die Amtsvorstände den Fürsten als gänzlich unbeeinflußt von der verfassungsmäßig ausgesprochenen Gesinnung seines Volkes darstellte, den Ausschlag. Fieberhaft wogte es in der Hauptstadt am 2. April 1860; in Massen umdrängte die Bevölkerung das Ständehaus, und ein Alp löste sich von der Brust, als nach 7stündiger Verzögerung Abends 5 Uhr zum Beginn der außerordentlichen Sitzung der zweiten Kammer neue Minister – Stabel und Lamey an Stelle von Meysenbug und Stengel – der siegreichen Volksvertretung gegenübertraten. Mit der Verkündigung vom 7. April, die ein goldenes Gedenkblatt in den Büchern badischer Geschichte bleiben wird, hatte sich der Kampf in der Brust des Fürsten gelöst: „in einem ernsten Augenblicke,“ so sprach er, „der manche Gemüther mit bangen Zweifeln erfüllt, ergreife ich mein schönstes Vorrecht und richte aus der Tiefe des Herzens Friedensworte an mein theures Volk.“
Und dieselbe sittliche Kraft der Entscheidung, die sich in diesem Widerstreite bewährt hat, hielt an für den politischen Ausbau des muthvoll begonnenen Werkes. Es liegt ein großes Zeugniß sittlicher Hoheit in diesem Wendepunkte neu-badischer Geschichte. Derselbe Fürst, der heute die Kraft in sich fand, die Stimme des Volksgewissens in der eigenen Brust nachzuempfinden und ihre Forderung in freier Entschließung zu erfüllen, er hatte gleichwohl dieses Volk zuvor kennen lernen in der Orgie revolutionärer Ausschweifung. Kaum ein Jahrzehnt zuvor war an den Schwärmen einer aufgelösten Soldateska sein Wort machtlos verhallt; sein Leben, das er ohne Bedenken der Pflicht weihte, war bedroht; er hatte den Vater flüchtig, sein Herz brechen sehen müssen an den Folgen jener badischen Umwälzung, in der sich die letzten Reste der Bewegung bis zum Cynismus austobten. Aber sein Herz hatte sich nicht verhärtet gegen das Volk, dem seine Liebe und seine Pflicht gehörte. In der tosenden Brandung der im Sturme aufgelösten Staatsordnung hatte er wohl die Stimme vernommen, die ihm zurief. In die Hand der organischen Gewalten ist es gegeben, mit dem Vaterlande selbst auch die Bewegung zu adeln, die es dereinst zur Sammlung seiner Kraft und zur Einigung führen soll.
Von jetzt ab giebt es keine particularistisch-badische innere und äußere Politik mehr. Und es bleibt von erhebendem Interesse zu beobachten, wie dieselbe trübe Umsturzerfahrung, die in weniger adeligen Naturen verschließend und abstoßend gegen das Gewissen und das Recht des Volkes wirkt, in Friedrich von Baden die entgegengesetzte Wirkung übte. Nicht krämpfig unterbinden soll man die natürliche Volkskraft, die, in wilder Wuth entfesselt, alle Staatsordnung zerbricht. Nein – Sache der obersten organischen Gewalten ist es, dieses Gewissens und dieses Rechtes sich stets bewußt zu sein und in diesem Bewußtsein jene Kraft sicher und stetig auf die rechten Bahnen zu lenken. Was auch Baden in Fragen der inneren Gesetzgebung geleistet hat, und es ist weittragend in vollendeten Gesetzen und in Entwürfen – Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche, Gewerbefreiheit, Freizügkeit, Erleichterung der Eheschließung, bürgerliche Gleichstellung der Juden, Justizorganisation, Verwaltungsgesetz, Entwurf einer Neuordnung der Volksschule – aus jedem einzelnen Schritte tönt doch der Gedanke an das gemeinsame Vaterland verständlich und klar heraus. Großherzog Friedrich selbst hat ihm Worte geliehen – und die schönsten Darlegungen seiner Gesinnung sind nach Form und Inhalt sein selbsteigenes Werk – in dem erhebenden Schlusse einer landständischen Eröffnungsansprache:
„Die Erfolge alles Bemühens für das Wohl unserer geliebten Heimath bleiben stets untrennbar von der Zukunft unseres deutschen Vaterlandes. Immer ernster tritt das Bedürfniß hervor, Deutschlands Macht und Ansehen zu kräftigen, damit es in allen Wechselfällen der Weltgeschichte seinen hohen geschichtlichen Beruf erfüllen kann. Wie anders wäre die Befriedigung der nationalen und politischen Interessen dieses großen Volkes möglich, als in einer festen und thatfähigen Organisation, welche Deutschland zur Vertretung seiner Macht und seines Rechts den Nachdruck eines einheitlichen Willens erschafft und dadurch der Selbstständigkeit der Einzelstaaten zugleich eine unerschütterliche Stütze verleiht.“
Aber nicht Worte allein hat Großherzog Friedrich dem deutschen Einheitsgedanken geliehen, nein auch Thaten. Eine That war die volle Amnestie vom 7. August 1862; eine That war Badens Eintreten für Kurhessen, eine That die Abstimmung für das alte Recht in Schleswig und Holstein, eine That die badische Note in der deutschen Frage; die hehrste aber von allen war des Fürsten [695] eigene Haltung auf dem Frankfurter Fürstentage. Dort bewahrheitete sich das Wort: Ich kann nicht finden, daß ein trennender Zwiespalt besteht zwischen Fürstenrecht und Volksrecht. Zum ersten Male erschaute jetzt mit freudigem Erstaunen Deutschland eine volle, uneingeschränkte Wahrung der Volksrechte durch den Mund eines deutschen Fürsten. Baden erkennt als einziges Entgelt „für das vorübergehende Opfer des Bundesstaates“ die Volksvertretung aus unmittelbarer Wahl. Einem annähernd verwirklichungsfähigen Einigungsplane, an dem vor Allen die Gesammtheit der Souveräne sich betheiligen müßte, könnte Großherzog Friedrich „nicht allein Opfer seiner Stellung und seiner Rechte, sondern auch das schwerere Opfer der Ideen bringen, wonach sich nach seiner festen Ueberzeugung die künftige Verfassung Deutschlands zum Wohle deutschen Volkes und Landes gestalten muß“. Vor die Verwirklichung des Reformplanes aber zieht Friedrich von Baden mit fester, unbeirrter Hand die Laufgräben des deutschen Volksbewußtseins.
Ich stimme nicht für die Errichtung eines von einzelnen Directorialhöfen zu instruirenden Bundesdirectoriums, welches ohne die Schranke constitutioneller Verantwortlichkeit seine Befugnisse auszuüben hat.
Ich stimme nicht für eine aus Delegaten zu bildende Volksvertretung.
Ich stimme nicht für die thatsächliche Vernichtung des Zustimmungsrechts der Bundesabgeordneten bei Feststellung des Bundeshaushaltes.
Ich stimme nicht für die Ausdehnung der Befugnisse des Directoriums auf das Recht und die Pflicht der Ueberwachung, daß der innere Friede Deutschlands nicht gestört werde.
Ein Jubelruf drang durch die Volkskreise Deutschlands, durch alle Gauen, wo noch ein Sinn besteht für Mannesmuth und Treue, als diese Abstimmung kundbar wurde. Ein Katechismus maßvollst begrenzter Volksrechte, aufgestellt von der Hand, gewahrt durch den Mund eines deutschen Fürsten! Können die Liebe und das dankbare Vertrauen eines Volkes ein Lohn sein für männliche Thatkraft und Treue, dann hat Friedrich von Baden diesen Lohn gefunden.
Die ungemeine Liebe des badischen Volkes zu seinem Fürsten, die weit über die Grenzen des Landes hinaus ihren Wiederhall findet, beruht auf der schlichten Tugend seines ganzen Wesens. Für Jedermann verständlich und klar, ohne wirre diplomatische Künste ziert er den Thron, jedem seiner Unterthanen ein Freund, ein Berather, ein Beispiel – das Muster eines liebenden Familienvaters, leutselig und bescheiden, wie jedes wahre Verdienst; unermüdet in der Arbeit, von seltenster Mäßigkeit in allen Genüssen. „Nicht der täuschende Glanz augenblicklich blendender Regierungsmaßregeln,“ sagte Ed. Devrient in seiner Festrede am 9. Septbr., „verwirrt uns sein Bild; nein, schlicht und prunklos, stät und rechtschaffen – wie wir es von einem guten Hausvater verlangen – sehen wir unsern Landesvater uns voranschreiten, und darum ist überall, sobald wir nur die Wahrheit von seinem Thun und Wollen erfahren haben, das Verständniß desselben leicht, die Billigung entschieden, denn das rein menschliche Maß der Dinge, das sittliche Maß genügt zu seiner Beurtheilung.“
Und doch, wer weiß, ob nicht die Innenwelt dieses edlen deutschen Fürstenherzens eine Falte birgt, in welcher der Fürst zum Märtyrer seines deutschen Gewissens sich geworden glaubt? Die Liebe seines und des deutschen Volkes, die sich in erhebendem Ausdrucke stets neu bekundet, möge diese Falte glätten, wenn sie in der That besteht. In den neuen Staatseinrichtungen Badens und in Badens Eintreten für echtes Verfassungsrecht in Deutschland sind unbestreitbar und unbestritten die höchsten sittlichen Aufgaben alles Staaten- und Volksthums gesetzt und von einem edlen Willen zur Verwirklichung angebahnt. Der Wille der Vorsehung und die Thatkraft des Volkes mögen ferner über sie richten. Für Baden haben Ordnung und Freiheit aufgehört Gegensätze zu sein; ein hochherziger Fürst hat sie versöhnt, ein liebendes Volk hat ihn verstanden. Wie einst unter Karl Friedrich das patriarchalische System, so hat unter Friedrich von Baden der Constitutionalismus seine rückhaltslose Einkehr in das deutsche Volksgewissen vollzogen.
Eine glänzende Cavalcade, aus Officieren und Stutzern der Aristokratie Turins zusammengesetzt, bewegte sich in den schattigen Waldgängen, welche zu dem herzoglichen Jagd- und Lustschlosse „La Veneria“ führten. Den Mittelpunkt dieses schimmmernden Zuges bildeten zwei mit geschmückten Damen angefüllte Carossen. In der ersten Carosse gewahrte man vier derselben, welche drei Stufenjahre repräsentirten. Zwei der Damen waren dem Greisenalter nahe, eine konnte so eben die dreißiger Jahre passirt haben, die jüngste schien höchstens 19 bis 20 Jahre zu zählen. Diese junge Schöne war der Gegenstand fortwährender Huldigungen eines äußerst chevaleresken, hohen Officiers, welcher die glänzende Uniform der brandenburgischen Truppen des Kurfürsten Friedrich III. trug und kaum zweiundzwanzig Jahre zählen konnte. Er war das Abbild einer kraftvollen Jugend. Dennoch hatte die Fülle der Gesundheit, welche aus seinem blühenden Antlitz strotzte, nicht vermocht der Regelmäßigkeit seiner edlen, achtunggebietenden Züge Eintrag zu thun und ihnen jene Feinheit zu nehmen, die den Sprossen eines erlauchten Geschlechtes bekundete. Die äußerst kleidsame Uniform ließ seine schöne Gestalt doppelt vortheilhaft erscheinen, und es konnte nur auffallen, daß der noch sehr junge Soldat bereits die Abzeichen eines hohen militärischen Ranges trug; doch ward man bald darüber aufgeklärt, denn der Officier war Markgraf Carl Philipp von Schwedt, Stiefbruder des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg, General in der Hülfsarmee, welche der Kurfürst dem von den französischen Truppen bedrängten Herzog von Savoyen gesendet hatte. – Die schöne Frau nannte sich Marquise von Balbiani-Salmour. Sie war Wittwe eines Obersten, stammte aus einem der edelsten Geschlechter Italiens und war körperlich und geistig eine der bevorzugtesten Damen ihrer Zeit. Krieg und Liebe – zwischen diesen beiden Gegensätzen brachte der junge Markgraf seine Zeit in Italien hin. Kurfürst Friedrich III., später der erste König von Preußen, hatte im richtigen Gefühl der Gefahr, welche Deutschland durch die Uebergriffe Ludwig’s XIV. drohte, die kampfgeübten Truppen seines großen Vaters dem bedrängten Fürsten zum Beistande gesendet. Brandenburgische Landeskinder fochten unter den Fahnen ihres Kurfürsten am Rheine gegen den fremden Gewalthaber. Sie stürmten die Festung Bonn. Brandenburgische Truppen bluteten im fernen Ungarlande gegen den Erbfeind, den Türken. Sie waren es, welche den heißen Kampf bei Salankemen entschieden. Sechstausend brandenburgische Kriegsleute fuhren über den Canal und halfen dem Prinzen von Oranien sein Ansehen bei der englischen Nation erhöhen, bis der flüchtige Jakob II. des Thrones verlustig erklärt und der Oranier, nunmehr Wilhelm III., den erledigten Königssitz als Herrscher eines freien Volkes bestieg.
Friedrich III. hat vielfache Bekrittlungen seiner Prachtliebe, seiner Neigungen für das Auffällige erfahren müssen. Diese waren aber eng verbunden mit dem großen Entwurfe, der schon als Kurfürst ihm vorschwebte und der ihn beschäftigte, dessen Ausführung er energisch durchsetzte und dadurch den Grund zur Macht des preußischen Staates legte. Einer der größten Vorzüge aber, den der Kurfürst vor vielen Andern hatte, war die Heilighaltung des gegebenen Wortes. Nie hat ihn der Geist kleinlicher, steifer Ceremonie so stark beherrscht, daß er nicht die Heiligkeit eingegangener Verpflichtungen beobachtet hätte. Er überlegte lange. Ging er aber auf eine Vorlage ein, so konnte man auf sein Wort Felsen thürmen. Die Durchführung einer versprochenen Sache geschah immer ganz, ohne Kleinlichkeit, und auch hierin zeigte er stets eine Würde, die ihn zu dem später angenommenen Königstitel berechtigte. Er genoß die Achtung seines Volkes, weil er in jeder Beziehung selbst achtungswerth dastand. Nie hat er den geringsten seiner Unterthanen seiner Ruhmsucht geopfert, wenn gleich er die hochgestellten schwer aus den Banden dessen befreite, was er für nothwendig
[696] erkannte. Diese kurze Charakteristik des Kurfürsten möge seine Handlungsweise bei den folgenden Ereignissen erklären, die wir erzählen wollen.
Getreu seiner Vertheidigungspolitik, hatte Kurfürst Friedrich dem durch Catinat schwer bedrängten Herzog von Savoyen, Victor Amadeus, ein Hülfscorps brandenburgischer Truppen gesendet. Sie fochten mit großer Auszeichnung unter dem Oberbefehle des Prinzen Eugen. Der commandirende General dieses Elitecorps war ein französischer Refugié, der Herr von Barennes. Unter ihm diente Markgraf Carl Philipp als Volontair, nachdem er sich schon in früheren Kämpfen durch persönliche Tapferkeit ausgezeichnet hatte.
Unmittelbar nach der Ankunft der Brandenburger in Italien bezog man die Winterquartiere. Turin ward der Sammelplatz der verschiedenen Kriegsvöker, welche in den kommenden Zeiten ihre blutigen Rollen spielen sollten. Victor Amadeus, selbst ritterlich, galant und dem Luxus zugethan, hielt es für eine besondere Aufgabe, seinen Gästen den Aufenthalt in seiner Hauptstadt so angenehm wie möglich zu machen.
Während man heute die neuerbauten Schanzen besichtigte, Exercitien und Recognoscirungen vornahm, vereinigten am folgenden Tage glänzende Maskenfeste die Befehlshaber aller Truppen ohne Ansehen des Ranges; von der wilden Musik der kriegerischen Weisen, vom Rasseln der Trommeln ging man über zu den schmeichelnden Tönen der von den herzoglichen Musikern ausgeführten Sarabanden, und den schweren Reiterstiefel mit dem seidenen Schuh vertauschend, wiegte man sich im Tanze mit den Schönen des Hofes und der Stadt.
Hier war es, wo Markgraf Carl Philipp die Bekanntschaft der Gräfin Salmour machte. Jung und feurig mußte auf ihn die schöne, geistreiche Dame einen mächtigen Zauber ausüben. In jener durch den frivolen Ton des französischen Hofes bereits verderbten Zeit mußte ein so gestaltetes Weib doppelt glänzend erscheinen, wenn man sah, wie fern es von jeder Koketterie sich hielt, wie anspruchslos sie inmitten aller Huldigungen blieb, und wie hoch ihr der makellose Name ihres Geschlechtes stand.
Hiervon überzeugte sich der Markgraf sehr bald, als er ihr den Antrag machte, ihm, dem seine hohe Geburt eine Fürstentochter zur Gattin in Aussicht stellte, ohne priesterlichen Segen angehören zu wollen. Ein Hinweis auf den Götzen jener Zeit, Ludwig XIV., auf Carl II. von England fruchtete Nichts. Die Gräfin wies diese Zumuthungen in edler und einfacher Weise mit den Worten ab: „Monseigneur, ich bin zu arm, um Ihre Gemahlin, aber aus einem zu guten Hause, um Ihre Maitresse werden zu können.“
Gleichwohl war ihr der schöne, liebenswürdige Prinz nicht gleichgültig geblieben. Es verging einige Zeit, während welcher sich die Liebenden in allerlei Projecten erschöpften, wie die Zukunft sich rosig und heiter gestalten lasse.
Nachdem der Markgraf mit seinem Fürstenworte der Gräfin betheuert, daß er nie von ihr lassen werde, kam man überein, die Trauung heimlich stattfinden zu lassen. Die Gräfin zog ihre Verwandten, die Grafen Salmour und Herren von Balbiani, so wie deren Frauen in das Geheimniß. Obgleich die Besonneneren unter ihnen die Köpfe schüttelten, so reizte doch die Aussicht auf die glänzende Verbindung den Ehrgeiz der Familie, und man erwartete mit Bestimmtheit die Aufhellung des letzten dunklen Punktes, der sich am Liebeshorizonte des Markgrafen und der schönen Salmour zeigte.
Dieser dunkle Punkt war die Einwilligung des Bruders, des Kurfürsten Friedrich, in eine den glänzenden Zukunftsprojecten desselben durchaus nicht zusagende Verbindung. Indessen glaubte man, daß nach geschehener Trauung, und bei dem tadellosen Rufe der Gräfin, Friedrich III. doch Bedenken tragen würde, eine Lösung des Ehebündnisses anzubefehlen. Man war in Berlin bereits von der Neigung unterrichtet, welche Markgraf Carl Philipp für die schöne Salmour hegte, da seit seiner Ankunft in Turin schon eine geraume Zeit verflossen, hielt jedoch die ganze Sache für eine jener vorübergehenden Liaisons, wie sie in der letzten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts an allen Fürstenhöfen Europa’s zu finden waren.
In dem ersten Rausche der Freude, welche die Gräfin über das Gelöbniß des geliebten Markgrafen empfand, hatte sie bald einen Weg gefunden, der an’s Ziel führen sollte. Es war ihrem Bruder gelungen, durch Geld einen armen Advocaten zu bewegen, die bei der Trauung nothwendigen richterlichen Functionen zu übernehmen. In gleicher Weise hatte man einen Priester, Lea, ausfindig gemacht, welcher sich bereit erklärte, den kirchlichen Act vollziehen zu wollen. Beide Personen standen in dem Rufe, schon einige Male bei ähnlichen Intriguen gedient zu haben. Der Gräfin waren Beide unbekannt, und sie hatte nur die endlich nahe Erfüllung eines Wunsches vor Augen, den sie ebenso sehnlich realisirt haben wollte, als der Markgraf.
Carl Philipp hatte sofort eingewilligt. Als jedoch der Tag immer näher rückte, empfand er ein Gefühl des Mißbehagens über die ganze Lage der Dinge. Sein ritterlicher Charakter sträubte sich gegen die Heimlichkeit. Er hatte seiner Verlobten nur die Ungleichheit des Standes ihm gegenüber vorzuwerfen, er war sich der Aufrichtigkeit seiner Gesinnung bewußt, er war Soldat, geachtet nicht nur deshalb weil er einen fürstlichen Namen trug, sondern weil er auch durch Tapferkeit sich desselben werth gezeigt hatte; weshalb sollte er nun zaudern, offen vor aller Welt Diejenige als Gattin vom Altar hinwegzuführen, die er so innig liebte und welche das Glück seines Lebens zu werden versprach? Er hielt es für eine Feigheit, bei Nacht und Nebel wie ein Schuldbeladener sich mit der Frau seines Herzens in eine Capelle zu schleichen. – Gleichwohl verhehlte er sich nicht, welchen verschiedenartigen Eindruck die Ceremonie auf seine militärische Umgebung hervorbringen würde, von der ein großer Theil, mit dem Stolze des Kurfürsten bekannt, seine Mißbilligung offen zu verstehen geben mußte. Der Markgraf überzählte die kleine Schaar Derer, welche ihm unbedingt ergeben waren. Die Armee betete ihn als einen jugendlichen Helden an, und was die Gegner seines Heirathsprojectes betraf, so beschloß er, daß auch sie zugegen sein sollten, wenn er sich ehelich verband, denn durch die Anwesenheit hoher Officiere mußte der ganze Act das Gepräge des Officiellen erhalten; da sich nun voraussehen ließ, daß keiner der Opponenten sich als Trauungszeuge einstellen würde, wenn ihm die Dinge, die da kommen sollten, bekannt wären, so hatte der Markgraf den allerdings sehr kühnen Entschluß gefaßt, durch Ueberraschung auf seine Gegner zu wirken, sie zu betäuben und sie dergestalt zu Mitwirkenden bei der kirchlichen Handlung zu machen.
Er veranstaltete ein Fest auf dem Jagdschlosse des Herzogs, La Veneria. Die höchsten Officiere hatten Einladungen erhalten, und in glänzendem, Eingangs dieser Erzählung bereits geschildertem Zuge begaben sich Wirth und Gäste auf den Weg.
Im Jagdschlosse angelangt, welches der Herzog dem Markgrafen zur Verfügung gestellt hatte, wurden die Geladenen in die mächtige Gallerie geführt, woselbst eine prachtroll servirte Tafel ihrer wartete. Bevor jedoch das Diner begann, schlug der Markgraf seinen Gästen einen Spaziergang durch die schattigen Umgebungen des Schlosses vor. Die glänzende Menge vertheilte sich in den Laubgängen, und Carl Philipp blieb mit der Gräfin allein. Die Unruhe, welche sich Beider bemeistert hatte, duldete keine Zeugen. Man sprach sich gegenseitig Muth ein, man übersah noch einmal die Anzahl der Ergebenen. Auf unbedingte Zustimmung ihrer sämmtlichen Angehörigen durfte die Gräfin rechnen, der Markgraf dagegen war nur seiner drei Adjutanten, der Herren Déspreuves, de Péras und Stylle, sicher. Dieser kleinen Armee stand die bei Weitem zahlreichere der hohen Officiere und Diplomaten entgegen, an deren Spitze sich der Prinz von Hessen-Darmstadt, des Markgrafen Vetter, der General der brandenburgischen Hülfstruppen Mr. de Varennes, Major von Hoffmann, Herr de la Motte Fouqué, der energische Cavallerieoberst von Hackeborn und die Officiere de Coruneau, Camas, von Kaphengst und Déprés befanden. – Indessen war keine Zeit mehr zur Ueberlegung. Die Stunde des Diners nahte heran, während desselben sollte der Streich geführt werden. Die Gräfin ging in fieberhafter Aufregung zwischen ihren Damen in der Gallerie umher, während der Markgraf seine Erregtheit unter einer gewissen Geschäftigkeit zu verbergen suchte, indem er sich angelegentlich um die kleinsten Nebendinge, die Anordnung der Tafel und dergleichen erkundigte.
Schmetternde Trompetenfanfaren riefen die Gäste endlich zu Tische. Der Markgraf hatte ein Musikcorps der brandenburgischen Cavallerie in der Gallerie postirt, deren Wölbungen von den anfeuernden Klängen der Blasinstrumente wiederhallten.
Bald war die Unterhaltung im vollsten Gange. Die ausgesuchtesten Speisen, die köstlichsten Weine erhöhten das Vergnügen der Tafel, dem die wahrhaft fürstliche Umgebung, die großartige Architectur der Gallerie, zugleich eine gewisse Würde verlieh.[1] Die [697] Officiere, welche sich sorglos den Genüssen eines herrlichen Mahles hingaben, brachten Toaste aus auf den Kurfürsten in Berlin, auf den Markgrafen, auf den Herzog Victor, auf die Armeen der Verbündeten; jedes Mal fielen donnernd Pauken und Trompeten ein, die Gäste hatten keine Ahnung von der Ueberraschung, die ihrer wartete, und die Lust hatte den höchsten Grad erreicht, wobei sich Jedermann gestand, seit langer Zeit kein so herrliches und zugleich gemüthliches Fest genossen zu haben. Plötzlich erhob sich der Markgraf, der nun den richtigen Augenblick gekommen glaubte. Hoch aufgerichtet, glühend von Erregung, von Muth, von Liebe stand er da; die Linke in die Hüfte gestemmt, in der Rechten das Kelchglas voll edlen Weines, den schönen Kopf ein wenig hinten übergeworfen, bot er dem Beschauer ein herrliches Bild von Jugendmuth und Hoheit. Er bedankte sich in kurzen Worten für die Freude, die ihm geworden, so viele liebe Gäste bei seinem Feste sehen zu können, er gedachte des Herzogs Victor, seines Bruders in Berlin und schloß endlich, indem er seine kraftvolle Stimme erhob, mit den Worten: „Diesen Becher aber, meine Freunde, leere ich auf das Wohl Derjenigen, die ich liebe, der mein Herz gehören soll und mit demselben meine Hand. Ich leere ihn auf das Wohl der edlen Gräfin Salmour, die ich mir erwählet habe zum ehelichen Gemahl, daß sie theile mit mir den Fürstentitel. Und darum habe ich Sie Alle, meine Freunde, geladen, daß Sie Zeugen sein sollen des feierlichen Actes, der mich noch zu dieser Stunde mit ihr auf ewig verbinden wird.“
Die Wirkung dieser Eröffnung läßt sich kaum beschreiben. Die brandenburgischen Officiere blieben in einer Art von Erstarrung. Sie glichen plötzlich in Stein verwandelten Personen. Einige stießen dumpfe Töne, Schreie der Ueberraschung aus, Andere sanken erstaunt in ihre Sessel zurück. Unmittelbar nach den Worten des Markgrafen lagerte sich eine Todtenstille über die ganze Versammlung, der heitere Lärm des Festes verstummte. Carl Philipp stützte die fast ohnmächtige Gräfin. – Nicht lange aber sollte die Stille der Gäste dauern. Sie war die Ruhe vor dem Ausbruche des Gewitters gewesen. Brausend machte sich der Unmuth der Officiere Luft. Herr von Varennes rief: „Das ist gegen den Willen unsres gnädigen Kurfürsten, dessen Krieger wir sind.“ Dieser Ruf war das Signal zum lauten Widerstand. „Verrath! wir sind in eine Falle gelockt, keine Anerkennung!“ schrieen die Getäuschten.
Vom Weine erhitzt, ließen sie sich zu so drohenden Gebehrden hinreißen, daß die Freunde des Markgrafen es für gerathen hielten, diesen und die Gräfin in ihre Mitte zu nehmen. Die Gegenpartei sah das als eine Herausforderung an, und im Augenblick waren die Degen blank, was den Markgrafen und seine Freunde veranlaßte, gleichfalls vom Leder zu ziehen. Der Tumult wuchs von Minute zu Minute, zwischen die Angstrufe der Damen mischten sich die Streitreden der Männer, wobei namentlich der Prinz von Hessen und Herr von Varennes das Wort führten, indem sie den Markgrafen ganz entschieden des Ungehorsams gegen seinen Fürsten, Bruder und Kriegsherrn, so wie des Mangels an Achtung vor seinem hohen Namen ziehen; Carl Philipp dagegen schwur hoch und theuer, er werde sich eher in Stücke hauen lassen, als die Gräfin aufgeben. „Folgen Sie mir, Madame,“ rief er, „ich werde Ihnen zeigen, daß ich Ihrer und meiner hohen Ahnen würdig bin.“
Jetzt schien der Augenblick gekommen, der einen blutigen Zusammenstoß bringen sollte. Man versuchte dem Markgrafen und seinen Begleitern das Hinausgehen aus dem Saale zu wehren, schon klirrten die Degen aneinander, als plötzlich ein Officier des Herzogs Victor mit 30 Mann im Saale erschien, Namens seines Herrn den Streitenden Ruhe gebot und die Officiere in sehr höflichen Worten ersuchte, den Frieden eines fürstlichen Schlosses nicht zu brechen. Die Degen wurden sofort eingesteckt, und man überhäufte sich gegenseitig mit Vorwürfen; da man jedoch nicht wagte, dem Markgrafen weitere Anlässe zur Aufregung zu geben, so begnügte der herzogliche Officier sich damit, den inzwischen angelangten Priester Lea, so wie den Notar zu arretiren, für welches Verfahren Herr von Varennes die Verantwortung übernahm.[2]
Wieder folgte tiefe Stille auf diese geräuschvollen Scenen. Die lange Gallerie ward öde. Die Nacht brach herein, und man hörte das Rollen der Wagen oder den Galopp der Pferde, welche die Gäste nach der Hauptstadt zurückführten.
Noch in derselben Nacht fertigte Varennes einen Courier nach Berlin ab, der den Kurfürsten von dem Vorgefallenen benachrichtigen mußte. Er ließ sich am folgenden Tage bei dem Herzoge Victor melden und verlangte die Verhaftung des ihm untergebenen Markgrafen und der Marquise. Der Herzog versprach, der Letzteren seine Befehle zukommen zu lassen, weigerte sich aber entschieden, dem Markgrafen gegenüberzutreten, an dessen Person ihn Gastfreundschaft und Hochachtung fesselten. Varennes sendete einen zweiten Courier nach Berlin, der die Weigerung des Herzogs überbrachte. Man muß indessen einräumen, daß Varennes als ein ehrenhafter Soldat handelte. Er sprach in seinem Berichte von dem Markgrafen und der Gräfin mit größter Hochachtung und berief sich nur auf seine Stellung als Vorgesetzter, kraft deren er keine Vorgänge dulden dürfe, welche dem Interesse seines Souverains entgegenliefen.
Der Markgraf hatte vollauf zu thun, seine schöne Geliebte zu trösten. Mit den Hindernissen und Gefahren aber schien ihre gegenseitige Liebe zu wachsen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Scenen in der Veneria zur allgemeinen Kenntniß der Liebhaber von Klatschereien gekommen waren. Allein so sehr auch böse Zungen geschäftig sich regten, der Charakter der Gräfin, die Ritterlichkeit ihres hohen Anbeters standen hoch über jeder Verunglimpfung, und nach wenig Tagen machte das Gerede einer ungeheuchelten Bewunderung Platz. Die romantischen Zuthaten verliehen dem ganzen Verhältnisse einen doppelten Reiz, und Varennes sah bald ein, welch schwierigen Stand er der öffentlichen Meinung gegenüber haben werde, da sogar die Officiere nur durch die Bande der Disciplin gehindert wurden, ihre Sympathien für den Markgrafen offen an den Tag zu legen.
Carl Philipp gestand sich bald, daß ihm, wenn er sein gegebenes Wort halten wolle, kein Mittel als die geheime Trauung übrig bleibe. Bei seinen Streifereien durch die Umgegend Turins hatte er die Bekanntschaft einiger Mönche des Camaldulenser-Klosters gemacht. Namentlich war es der Pater Colomban, der den Prinzen sehr in sein Herz schloß. Carl Philipp zögerte nicht, sich dem Geistlichen zu entdecken, und diese Beichte wirkte dergestalt auf den guten Pater, daß er den Bitten des Markgrafen nicht lange widerstand. – Genug, die priesterliche Einsegnung des Paares fand statt, und zwar mit genauer Aufrechthaltung aller nothwendigen Formalitäten. Als Zeugen waren anwesend der Bruder und der Schwager der Gräfin, für den Markgrafen die Herren von Péras und Stylle. Péras hatte den gerichtlichen Ehecontract als „Auditor Sr. kurfürstlichen Gnaden von Brandenburg“ aufgesetzt, und die sämmtlichen Zeugen hatten ihn unterschrieben. – Der Würfel war also gefallen. Das neuvermählte Paar schwelgte in Wonne und vermied es sorgfältig, nach dem Norden zu blicken, von woher die Blitze sich erwarten ließen.
Man hatte die Vermählung so geheim als möglich gehalten. Was wäre aber wohl verschwiegen geblieben zu einer Zeit, in der sich alle Welt mit Intriguen ähnlicher Art beschäftigte? Der Markgraf hatte vielleicht selbst an dem Bekanntwerden Schuld. Er fand zuweilen eine Erleichterung darin, seine Besorgnisse irgend einem Freunde zu klagen. Namentlich wirkte die Anwesenheit des jungen Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau (später der alte Dessauer) sehr ermuthigend auf ihn. Der Fürst war im Verlaufe seiner Reise durch Italien nach Turin gekommen; hier hatte er mit dem Markgrafen Freundschaft geschlossen. Carl Philipp schüttete sein Herz aus und fand bei Leopold ein offenes Ohr. Der junge Dessauer befand sich in derselben Lage, da er sich vor seiner Abreise mit der Apothekerstochter Anna Föhse in Dessau verlobt hatte. Er gab dem Markgrafen die Versicherung, daß kein Mensch in der Welt ihm die Heirath mit der schönen Föhse hindern solle; er hat diese Zusicherung gehalten.
Hierauf stützte sich der Markgraf, berief sich auf das Beispiel des Fürsten und brachte es durch seine Leidenschaftlichkeit dahin, daß die ganzen Verhältnisse, mit den nöthigen Randglossen versehen, nach Berlin berichtet wurden[3].
Der Kurfürst nahm diese Entdeckungen sehr übel auf, was [698] ihm nicht zu verargen war. Abgesehen davon, daß er die Heirath seines Bruders mit der Gräfin als ein seinen hohen Entwürfen sich entgegenthürmendes Hinderniß betrachtete, so stand er dem Schauplatz der Ereignisse zu fern, um vollständig leidenschaftslos urtheilen zu können. Auf den ersten Bericht Varennes’ über die Vorgänge in der Veneria hatte er indessen mit großer Mäßigung geantwortet und befohlen: „der Sache möglichst wenig Wichtigkeit beizulegen.“ Außerdem steht es fest, daß der Markgraf keinen Schritt gethan hat, um über die etwaige Verständigung mit seinem Bruder in Unterhandlung zu treten. Er erwartete mit Resignation die kommenden Dinge. – In Turin theilte man sich bei Hofe in zwei Lager: während die Freunde des Markgrafen sich angelegen sein ließen, ihm ihre Gesinnungen offen darzulegen, blieben die Gegner der Heirath von dem Hause Carl Philipp’s fern.
Während sich dergestalt die Wolken thürmten und den Himmel des Eheglücks für Markgraf Carl Philipp verfinsterten, umzog sich der politische Horizont nicht minder drohend. Schon tobte in den gesegneten Thäler Savoyens auf’s Neue die Kriegsfurie. Es ist für den Markgrafen ein zwiefacher Ruhm, daß er sich nicht durch die Bande der Liebe fesseln ließ, sondern eingedenk seines Namens beim Schall der Schlachttrompete hinauseilte in den Kampf. Ohne Zaudern, der Umarmung seiner schönen Gattin sich entwindend, stürzte er, einer der Muthvollsten, in die feindlichen Reihen. In allen Gefechten war er seinen Kriegern voran, und bei dem Sturm auf Casale pflanzte er das brandenburgische Banner auf die eroberte Schanze und sank, von feindlichem Hiebe getroffen, hart verwundet nieder, die Fahnenstange umklammernd, in der Rechten das mit Feindesblut geröthete Schwert haltend. Aus dem Kampfe getragen, nach Turin geschafft, genoß er die Pflege seiner Gattin. – Unterdessen waren drei Schreiben aus Berlin eingetroffen. Das erste, an Varennes adressirte belobte dessen Eifer und Verhalten und befahl: Die Trennung beider Gatten, falls die Ehe wirklich geschlossen sei, mit Gewalt, doch möglichst vorsichtig herbeizuführen. Wenn dem Beginnen Varennes’ durch die savoyischen Behörden Hindernisse entgegengesetzt würden, so habe Varennes hiermit die Ordre, seine Truppen unverzüglich von der Armee der Verbündeten zurückzuziehen. Das zweite Schreiben war an den Herzog gerichtet und enthielt einen feierlichen Protest gegen die wider Wissen und Willen des Kurfürsten, als Landes- und Kriegsherrn, abgeschlossene Verbindung des Markgrafen mit der Gräfin Salmour. Der dritte Brief, für den Markgrafen bestimmt, stellte diesem in nachdrücklichen Worten das Unpassende der Verbindung vor; der Kurfürst beschwor ihn, seiner Ahnen und der hohen Bestimmung eingedenk zu sein, welche ihm die Vorsehung zugedacht habe. Brüderlich ermahnte ihn der Kurfürst, wie ein Mann zu verzichten und dem Dienste des Vaterlandes seine Neigung zu opfern. Zum Schluß ward ihm der Befehl ertheilt, seine Stelle als Officier der savoyischen Hülfstruppen aufzugeben und sich unverzüglich zur Uebernahme eines Commandos an den Rhein zu begeben, woselbst brandenburgische Soldaten seiner warteten.
Der vernichtende Schlag war geschehen. Gegen die eiserne Pflicht des Soldaten, des Unterthans kämpfte die Liebe. Sie siegte, und das Unglück der Liebenden war entschieden.
Nachdem Varennes dem Herzoge die gemessene Ordre des Kurfürsten mitgetheilt, und Victor Amadeus sich den begründeten Einwendungen fügen mußte, der Markgraf außerdem fest auf seinem Kopf bestand, beschloß der Commandeur zu handeln.
Die schönste Mondnacht, wie sie nur von dem milden Himmel Italiens herabsinken kann, lag über Turin. Die Uhren der Kirchthürme verkündigten die zwölfte Stunde. In den einsamen Straßen zeigte sich nur hie und da ein heimkehrender Nachtschwärmer; aus weiter Ferne schallte das Klingen einiger Guitarren, auch diese Töne erstarben, und in tiefer Ruhe, umschattet von den hohen Bäumen und Gebüschen lag das kleine Hotel des Markgrafen Carl Philipp. Nur ein auf den Garten gehendes Fenster war matt erleuchtet. Es war das Fenster des Zimmers, in welchem Carl Philipp schlummerte, bewacht von seiner Gattin, die, an seinem Lager im Armsessel ruhend, in ein leichtes Nachtgewand gehüllt, sorgfältig jede Regung des Schlafenden verfolgte.
Die poetische Ruhe der Nacht ward plötzlich durch dumpfe Töne gestört. Es waren die gleichmäßigen Tritte einer zahlreichen Patrouille, welche unheimlich durch die stillen Gassen hallten. Die Soldaten trugen österreichische und piemontesische Uniformen. Voraus schritten vier Officiere in brandenburgischer Kriegertracht. Bei dem Hotel des Markgrafen angelangt, vertheilte der Erste der Zugführer die Posten rings um das Gebäude. Nachdem dies geschehen, traten die Uebrigen durch das offene Thor in den Garten und näherten sich einer Hinterthüre des Hauses, an welche einer der Officiere leise klopfte. Sie öffnete sich ein wenig, und das bleiche Gesicht eines Dieners schaute durch die Spalte: „Sie sind es, Herr von Hackeborn?“ stöhnte der Ueberraschte. „Ich bin es. Laut unserer Verabredung[4] haben Sie zu öffnen. Schnell! – Ordre des gnädigen Herrn Kurfürsten.“ Die Pforte sprang auf, und die Officiere traten hinein. Leise stiegen sie eine Treppe hinan, am Ende derselben angelangt, stießen sie auf eine durch schwere Vorhänge maskirte Thür. Hackeborn schob den Vorhang zurück und legte seine Hand auf die Klinke. – „Hier ist es.“ flüsterte er leise.
In dieser Nacht heftiger als sonst an der kaum geschlossenen Wunde leidend, ward Carl Philipp ängstlich von seiner treuen Pflegerin bewacht. Von ihr behütet, entschlummerte er sanft, und nur zuweilen schüttelte eine leichte Wallung des Blutes fieberhaft den Schlafenden; jeder Bewegung achtete die Gräfin sorgsam, sie erhob den schönen Kopf und blickte erwartungsvoll auf das bleiche Gesicht des geliebten Gatten, bereit, jede Hülfsleistung zu verrichten, deren der Genesende bedurfte. – Unruhig warf Carl Philipp im Schlafe sein Haupt, wie von bösem Traume gequält. Die Gräfin fuhr auf. Er beruhigte sich wieder. Die Stille der Nacht ward nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen. Auf dem blassen Antlitze des Markgrafen zitterte der Schein des Lichtes, der aus einer blauen Ampel hervorstrahlte. Noch einige Augenblicke lauschte die Gräfin, dann lehnte sie das Haupt in die Polster zurück. – Plötzlich war es ihr, als werde geräuschlos die Thür des Schlafcabinets geöffnet. Sie blickte scharf in das Halbdunkel. Nein – es war keine Täuschung, die Pforte drehte sich in ihren Angeln – ein Mann trat in das Gemach. – Sollte sie träumen? – unmöglich, so lebhaft zu träumen – ihre Hand fuhr zu dem Glockenzuge, sie hielt ihn zwischen den Fingern, es war Wirklichkeit – und da – da waren mehrere Männer in das Zimmer getreten, ein Lichtschein, von außen kommend, fiel durch die Thüre, sie erkannte Uniformen, Waffen. Mit einem lauten Schrei sprang sie empor, die Glocke tönte, und in den Corridoren ward es lebendig.
Auf den Angstschrei seiner Gattin war der Markgraf erwacht. Sofort hatte er die ihm drohende Gefahr überblickt. Er schnellte sich empor und stand vor den Officieren, zugleich stürzten durch die gegenüberliegende Thüre die Frauen der Gräfin in das Gemach, Stimmen und Rufe erschallten, eine Scene der Verwirrung begann, die Zornreden des Markgrafen donnerten durch den Lärmen; inmitten dieser Aufregung blieb Hackeborn fest und unerschütterlich, die linke Hand am Schwerte, das offne Befehlschreiben des Herzogs in der Rechten haltend.
„Im Namen des Herzogs und meines Kurfürsten!“ rief er. „Herr Exempt, ich befehle Ihnen, sich der Person der gnädigen Frau Gräfin mit aller Schonung zu versichern.“
„Keinen Schritt zu ihr!“ schrie Carl Philipp, der den am Bettpfosten hängenden Degen gezogen hatte. Wie ein Tiger zum Sprung bereit, vorn übergebeugt, stand er da.
„Gnädigster Herr, es ist der Befehl Ihres Herrn Bruders und Kurfürsten.“
„Sie sind ein Henker!“
„Herr Markgraf! Ihrer Erregung verzeihe ich jenes Wort. Sie sind Soldat wie ich, und ich frage Sie, ob der Soldat zaudern darf, wenn der Befehl seines Herrn ihn ruft.“
„Wohlan denn,“ schrie der Markgraf, „Soldaten, ja so lassen Sie uns handeln wie Soldaten. Mann gegen Mann! Heraus mit den Klingen, kommt heran, wir wollen fechten!“
Das blitzende Schwert in seiner Faust beschrieb einen Kreis, und der Markgraf stand vor der ohnmächtigen Gräfin, welche von ihren Frauen gestützt wurde.
„Um des Himmels willen, Herr Markgraf,“ rief Hackeborn. „kommen Sie zu sich. Ich beschwöre Sie, lassen Sie kein brandenburgisch Blut fließen. Es kann sich Alles zum Guten wenden. Bedenken Sie, daß wir gehorchen mußten.“
„Heran! heran!“ schrie der Markgraf.
„Und kostet es mein Leben,“ rief Hackeborn, „lieber als das seine.“
[699] Mit einem kühnen Sprunge gelangte er dicht an den Markgrafen, seine nervige Hand umklammerte die Rechte Carl Philipp’s und das Gefäß des Degens. Beide Männer rangen mit einander.
„Helfen Sie mir, meine Herren,“ befahl der Oberst. „Seine Hoheit sind außer sich. Den Degen! halten Sie den Degen.“
Die Officiere eilten hinzu, und der noch schwache Carl Philipp sah sich bald ohne Waffe. Wie ein Verzweifelter wehrte er sich gegen seine Angreifer, die alle Stöße und Schläge geduldig ertrugen und ihn zu halten strebten. Da – ein lauter Schrei – eine letzte convulsivische Bewegung, matt und hinfällig sank Carl Philipp in die Arme Hackeborn’s zurück. Das Blut überströmte sein Nachtgewand. Die Wunde von Casale war wieder aufgebrochen. Sanft ließ der Oberst ihn auf ein Polster gleiten.
„Dem Himmel sei Dank,“ sagte er dumpf, „kein brandenburgischer Degen hat seinen Heldenleib berührt.“ Carl Philipp öffnete die Augen. Er stierte den Ort an, wo er zuletzt seine Gattin gesehen. „Katharina,“ stöhnte er leise – und, als hätte seine lispelnde Klage das Ohr der Geliebten erreicht, schmerzvoll tönte aus dem Garten herauf der Abschiedsgruß: „Philipp! Philipp!“ – er erstarb in dem Rollen des davoneilenden Wagens, welcher die Gräfin von dem Gatten hinweg in das Kloster Santa Croce entführte.
Ein pomphafter Katafalk erhob sich inmitten der Domkirche zu
Berlin. Auf der Höhe desselben lagen die Abzeichen der fürstlichen
Würde. Hut, Degen und Sporen, die Handschuhe und eine Schärpe
waren von goldenem Lorbeerzweige umwunden. Unter den Klängen
der Orgel verrichteten die Mitglieder der kurfürstlichen Familie
weinend ihr Gebet am reichgeschmückten Sarge Markgraf Carl
Philipp’s von Schwedt.
Fünf Tage nach der Trennung von seiner Gattin war er einem hitzigen Fieber erlegen, welches die neuaufgebrochene Wunde und die furchtbare Gemüthserregung erzeugt hatten. Seine Liebe ward sein Tod. Unter zahlreicher Escorte hatte man die Leiche nach Berlin geführt.
Katharine von Brandenburg, wie sich fortan die Gräfin von Salmour nannte, die der Exempt auf Befehl des Herzogs in ein Nonnenkloster gebracht, ward unmittelbar nach seinem Tode in Freiheit gesetzt. Sie war ohne Vermögen; sie stand allein auf den Schutz ihrer Verwandten angewiesen in der Welt.
Kurfürst Friedrich III. hatte ihr hunderttausend Thaler bieten lassen, wenn sie den Namen einer Frau von Brandenburg ablegen wolle.
Als der Sarg in die fürstliche Gruft gesenkt war, veweilten der Kurfürst und die Seinigen noch eine Zeit lang in der menschenleeren Kirche. Friedrich stand sinnend vor dem Grabe seines Stiefbruders. Er winkte mit der Hand einen Gruß hinab und verließ die Kirche. In seinem Cabinete angelangt, warf er sich in den Sessel, er schlug die Hände vor das Gesicht, und heiße Thränen entströmten seinen Augen. – Wenige Stunden später hatte er sich wieder in die Geschäfte der Regierung vertieft. Zahlreiche Einläufe warteten seiner zur Erledigung. Der Kurfürst las Alles selbst. Ein Schreiben schien besonders seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er hielt es dicht vor die Augen, seine Stirne zog sich in Falten, gleichsam als wollte er doppelt genau sehen, um sich zu überzeugen, daß er richtig gelesen. – Es war ein Schreiben der Gräfin Salmour. – Sie unterzeichnete „Katharina von Brandenburg“ – sie schlug, die arme, junge Wittwe, die ihr gebotenen hunderttausend Thaler aus. –
„Monseigneur,“ schrieb sie, „die Ehre, den brandenburgischen Namen führen zu dürfen, steht mir höher im Werthe als alle Schätze der Erde. Sie fühlen selbst zu zart, Sie denken selbst zu hochherzig, als daß Sie es mißbilligen könnten, wenn ich Sie bitte: behalten Sie Ihr Geld und lassen Sie mir den Namen meines Gatten, der unbezahlbar ist.“
Friedrich ließ das Papier sinken. „Hochherzig, edel!“ sagte er nach einer Pause zu sich selber. „Sie war seiner würdig. Ja, es ist ein unschätzbarer Name, und wenn ich ihn einst nicht mehr führe, so soll er doch als ein Kleinod stets in meiner Königskrone prangen, und wer ihn führt, soll mir nahe sein. Das sei die Sühne zwischen uns, mein armer, geliebter Bruder! Auch ich habe gelitten, als ich Dein Glück und Deine Liebe opfern mußte für die einstige Erhöhung meines Hauses.“ –[5]
Wer kennt sie nicht, jene empörenden Gräuel, welche religiöser Fanatismus und Intoleranz in einem der blühendsten Länder Süddeutschlands noch im Jahre 1731 sich erlaubten? Ueber 22,000, sage zweiundzwanzig Tausend brave, biedre Menschen wurden in Salzburg durch den gewissenlosen, geldgierigen und trunksüchtigen Erzbischof Leopold Anton Eleutherius von Firmian und dessen rohe Creaturen lediglich ihres protestantischen Glaubens wegen von ihren Almen, ihren Heerden, ihren Feldern, von ihren prangenden Thälern und hellen klaren Seeen, von ihren Goldbergwerken, Marmorbrüchen und Salzwerken gerissen, in raffinirtester, brutalster Weise gemißhandelt und, als alle diese Mißhandlungen sie zum „alleinseligtnachenden“ Glauben ihrer Bedränger zurückzuzwingen nicht vermochten, im härtesten Winter, unter allen Qualen des Frostes und Elends, zum Lande hinausgejagt. Sie zogen zum Theil nach Hannover und Holland, zum Theil wanderten sie nach Nord-Amerika aus, die weitaus meisten aber wandten sich nach Preußen und fanden in Preußisch-Litthauen eine neue Wohnstätte. Friedrich Wilhelm I. äußerte hierbei seine Entrüstung.
- „wie es eine reichs-kündige Sache sei, mit was großer Hefftigkeit die arme Glaubens-Genossen in dem Erz-Stifft Saltzburg bedränget und verfolgt würden, und daß von Seiten des Corporis Evangelici zu Regensbnrg deshalb nicht allein bei Ihr. Kaiserl. Maj., sondern auch bey dem Ertz-Bischoffe von Saltzburg selbst bewegliche Vorstelligen geschehen, dieselbe aber bey dem Ertz-Bischoffe noch zur Zeit nichts im geringsten verfangen wollten, sondern derselbe einen Weg wie den andern fortfahre, auf eine unchristliche und selbsten von dem grösten Theil seiner Glaubens-Verwandten zum höchsten improbirte Art die härteste Persecutiones wider besagte Evangelische auszuüben, er auch an die Kaiserl. darwider an ihn ergangene Verordnungen sich gar nicht kehren, noch die behörige Parition leisten wolle.“
Er drohte mit Repressalien, nahm auch über 20,000 Salzburger Emigranten auf, die er unterstützte und damit zugleich, wie er sich ausdrückte, „sein wüst Land peuplirte“. 130 Jahre mußten seitdem vergehen, ehe sich endlich, endlich die österreichische Regierung veranlaßt oder vielmehr von dem allgemeinen und lauten Ruf der öffentlichen Meinung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit und unbedingter Toleranz genöthigt sah, für die Protestanten die frühern Beschränkungen in Rücksicht auf Errichtung von Kirchen mit Thürmen, Glocken, Begehung von religiösen Feierlichkeiten, des Bezugs von Büchern und Schriften aufzuheben, ihnen die selbstständige Ordnung, Verwaltung und Leitung der kirchlichen Angelegenheiten zu gewähren und ihnen die vollste Freiheit des Glaubensbekenntnisses und den Vollgenuß der bürgerlichen Rechte zuzusichern. Erst von nun an, seit 1861, war den Protestanten in Salzburg die Möglichkeit gegeben, ein kirchliches Leben mit Selbstständigkeit der religiösen Genossenschaft zu begründen, erst von da an eine Aussicht vorhanden, daß die mildere Richtung der Gegenwart den Schandfleck des Jahres 1731 auslöschen möge.
Unter der Aufschrift „Der Salzburger Jammer“ habe ich im Jahrgang 1861 der Gartenlaube Nummer 27 und 28 jene That des brutalsten Fanatismus und ihren Entwicklungsgang, das Salzburger Volk und den erzbischöflichen Hof, die grausamen und unbarmherzigen Mißhandlungen und Bedrückungen, die unerhörten Leiden, aber auch die edle, feste Standhaftigkeit der Evangelischen, ihren Schwur zu Schwarzach und ihre Auswanderung geschildert.
[700] Eben diesen letzten, bedeutsamen Act des Salzburger Drama’s suchte ein deutscher Künstler von bestem Ruf, der Historienmaler Professor Martersteig in Weimar, dem Auge und Herz der Mitwelt gleichsam plastisch vorzuführen, er suchte die bedeutsamsten Momente und Züge jener Auswanderung in ein Ganzes zusammenzudrängen, und so entstand zunächst in Carton jenes ergreifend schöne Bild, welches der beifolgende, so gelungene Holzschnitt wiedergiebt.[6] Von Salzburg her, dessen ragende Festung Hohensalzburg den Hintergrund bildet, bewegt sich unter Militär-Escorte ein Zug vertriebener Protestanten nach der Grenze, um in unbekannter weiter Ferne eine neue Heimath und mit ihr eine Stätte zu finden, wo sie ihrer religiösen Ueberzeugung in Gewissensfreiheit leben können. Sie haben viel Schmach und Qual erdulden müssen, sie haben auch viel, ja fast Alles verloren und verlassen, ihr gewohntes Daheim, ihren häuslichen Heerd, ihre Besitzthümer, aber standhaft, in unerschütterlichem Gottvertrauen ziehen sie der ungewissen Zukunft entgegen. Die kernigen, tröstenden Worte halten sie aufrecht, die ihnen aus der Bibel verlesen werden, aus einer Bibel, die schon bei den frühern nächtlichen Zusammenkünften im Walde als Erbauungsbuch gedient hat und den nachherigen Bibel-Verbrennungen der Pfaffen glücklich entgangen ist. Weil man unter andern auch bei Ruprecht Winter, einem dreiundsiebzigjährigen, kranken Bauer, eines jener verhaßten Bücher im Hause unter der Bank gefunden, wurde er aus dem Bette gerissen, nebst seinem Weibe auf einen Wagen geworfen, an den Füßen geschlossen, ohne Verhör in eines jener schmählichen Gefängnisse gethan und erst, als der kranke Greis den Tod befürchten ließ, gegen hundert Gulden Buße freigelassen. Wir sehen ihn auf dem Bilde links, von inniger Liebe gestützt und von dem treuen Hunde in das Exil begleitet. Einen andern Greis Namens Vierleitner hatten die Unmenschen nicht nur so hart an seinen Füßen geschlossen, daß der eine Fuß unbrauchbar wurde, sondern überdies seinen Sohn an ihn, den Vater, geschlossen und sie beide in ein finsteres, feuchtes, ungesundes Loch, drei Mann tief unter der Erde, geworfen, so daß sie nicht neben, sondern über einander liegen mußten. Auch sie beide erscheinen in unserem Bilde wieder, in dessen Mitte. Ohne Ahnung, ob er wohl die neue Heimath wird erreichen können, schleppt sich der Alte, am Arme des Sohnes und auf die Tochter gestützt, dahin. So ist es, neben der Standhaftigkeit, die Liebe, die uns aus dem Bilde überall entgegenleuchtet. Sie ist es, welche die arme, kranke Frau auf dem Schubkarren dahinführt; sie ist es, welche das Kind in einem umgebundenen Tuche trägt und an sich drückt; sie ist es endlich, welche in Gestalt des kleinen Buben die Mutter, die unglückliche junge Wittwe tröstet, die am Reste ihrer Habe in Schmerz zusammengesunken. Der escortirende Soldat hinter ihr wird sie nicht lange ihrer Trauer überlassen, – und ist sie denn nicht auch noch tausendmal glücklicher, als jene andere Mutter, welcher der Jesuit ihr Kind raubt? Schon im Jahre 1684, als die Tefferegger Protestanten das Land Salzburg zu verlassen gezwungen wurden, mußten dieselben diejenigen ihrer Kinder, die unter vierzehn Jahren waren, zurücklassen. Man steckte sie, wohl 1500 an Zahl, in die Klöster, ohne daß die Vorstellungen der protestantischen Fürsten hiergegen etwas fruchteten. Damals war es die Hochherzigkeit einer deutschen Frau, der Freifrau Henriette Katharine von Gersdorff zu Groß-Hennersdorf, welche wenigstens einige dieser Kinder rettete, indem sie, eine gelehrte Dame, dem Kaiser eine lateinische Ode übersandt hatte und als die ihr nachgelassene kaiserliche Gnade Freilassung der Kinder erbat. Gleiche Grausamkeit, wie 1684, übte man auch bei der Auswanderung im Jahre 1731: man suchte den Eltern die unmündigen Kinder zu rauben und übergab sie den Jesuiten. So hat auch auf unserem Bilde der Pfaffe das Kind bereits gefaßt, und vergebens hält ihn die verzweifelnde Mutter, vergebens schaut der Knabe ängstlich zurück; doch getrost! vielleicht ist es der zehnjährige Balthasar Brandstätter aus Goldegg, welcher, seinen Eltern geraubt und in eine drei Stock hoch gelegene Kammer gesperrt, auf die Straße herabsprang, wohlbehalten unten ankam und allein und auf Umwegen seinen Eltern bis Augsburg nacheilte. Und nun noch eine Figur des Bildes: jenes schlanke, schmucke Mädchen hinter der knieenden Frau und ihrem Knaben. Auch sie hat von dem Land-, Markt- und Berg-Richter den Abzug-Schein erhalten,
- „daß sie (so viel wissend) in ihren verrichteten Bauren-Diensten aufrecht und redlich ansonsten sich verhalten, doch aber wegen der verlassenen Römisch-Catholischen Religion, welche in diesem hohen Ertz-Stifft und Lande alleinig geübet und zugelassen, aus eben solchen zu emirgiren und sich zu begeben gehalten worden,“
und weinend blickt sie noch einmal nach dem Dörfchen zurück, das ihr so heimisch lieb, und das sie doch nimmer wiedersehen soll. Sie ahnt nicht, daß auf dieser Wanderung, fern in Altmühl im Oettingischen, ein braver, biederer Bursch in rasch entflammter, inniger Liebe, doch unter dem Vorwand, sie für seinen Vater als Magd zu dingen, sie in das Haus des vermögenden Vaters einführen und ihr ein neues Glück schaffen werde. Sie ahnt nicht, daß sie sechzig Jahre später in dem schönsten aller der Gedichte des größten deutschen Dichters als ein Musterbild deutscher sittiger Weiblichkeit, als Hermann’s Dorothee, wieder aufleben und verewigt werden würde!
Und was nun die übrigen, umgebenden Gruppen des Bildes anlangt, so bitten wir unsere Leser die classischen Verse des eben erwähnten Goethe’schen Gedichts nachzulesen.
Noch war der Künstler, Professor Martersteig, mitten im Schaffen desselben, als der Hülferuf der jetzigen Evangelischen Salzburgs nach den materiellen Mitteln zu einem selbstständigen kirchlichen Leben durch die Zeitungen scholl. Da tauchte in der Künstlerseele der Gedanke auf, ob nicht durch eine patriotische That der deutschen Künstler, durch Beisteuer und Verloosung von Gemälden, jene materiellen Mittel beschafft und damit den Salzburgern geholfen werden könne. Er trug sich mit diesem Gedanken, ließ ihn allmählich reifen und festere Gestaltung gewinnen und theilte ihn sowohl bei Gelegenheit der großen Künstler-Versammlung zu Salzburg im Jahre 1862, als auch nachher in Weimar Geistesverwandten mit. Zu Verwirklichung dieser schönen Idee, aus Beiträgen deutscher Kunstgenossen eine Sammlung von Kunstwerken zu schaffen, durch deren lotteriemäßige Verloosung die Mittel zum Bau einer protestantischen Kirche in Salzburg gewonnen werden könnten, constituirte sich am 23. October 1862 ein Centralcomité in Weimar und erließ zuvörderst an alle Künstler Deutschlands einen Aufruf, in welchem um Unterstützung des Unternehmens durch Zusage und Einlieferung von Kunstwerken gebeten wurde. Die Bitte fand überall, in den Künstlerkreisen Norddeutschlands wie Süddeutschlands, freundliche Aufnahme und guten Anklang. Die Weimarischen Künstler ließen sich nicht die Ehre nehmen, den Reigen zu eröffnen, und zahlreiche Zusagen namhafter Kunstgenossen von fern und nah folgten. Bald, ja in wenigen Monaten verdoppelte sich die Zahl der Geber, während der Werth der Kunstbeiträge seit der Vertheilung des ersten Rechenschaftsberichts das Dreifache erreicht und überstiegen hat. Auch hier war es – nächst dem Vorsitzenden des Comité, Oberhofmeister von Beaulieu-Marconnay zu Weimar – der Professor Martersteig, der durch brieflichen Verkehr mit entfernt wohnenden Künstlern und auf Reisen zu denselben für die gute Sache unermüdlich wirkte. Im zweiten Rechenschaftsbericht konnte das Centralcomité constatiren, daß der Werth der bereits eingegangenen Kunstwerke über 6000 Thaler zu veranschlagen sei, und als zu der protestantischen Kirche in Stadt Salzburg im Laufe dieses Sommers der Grund gelegt wurde, konnte das Comité in den Grundstein ein Denk- und Erinnerungsblatt legen, das mit den Worten schloß:
- „Der Grund ist gelegt zu der ersten protestantischen Kirche im schönen Salzburger Lande, gelegt durch die evangelische Standhaftigkeit der Salzburger Protestanten selbst, gelegt unter dem Schutz einer toleranten Regierung. Daß auf diesem Grunde sich bald ein würdiger Bau erhebe, dieses mitzuwirken haben auf den Ruf des Centralcomité schon jetzt viele und namhafte Künstler – ohne Ansehen der Confession – sich bereit und thätig gezeigt, und noch weit mehrere werden gewiß dem gegebenen Beispiele nachfolgen.
- Und so dürfen wir in den Grundstein dieses zu erbauenden Gotteshauses – auf den besonderen Wunsch unserer protestantischen Brüder zu Salzburg – dies Gedenkblatt einsenken, als ein Zeugniß frohster Zuversicht für die gedeihliche Vollendung des Werkes und zugleich als eine Bürgschaft werkthätigster Theilnahme daran von Seiten der gesammten deutschen Künstlerschaft – eine Bürgschaft, welche einzulösen diese (so vertrauen wir!) nicht säumen wird.“
[701]
[702] Sehr richtig ist bemerkt: ohne Ansehen der Confession. Es handelt sich ja durchaus nicht um eine confessionelle Demonstration, durchaus nicht um einen Angriff auf den katholischen Glauben, wir fragen nicht, wer katholisch, wer protestantisch; es handelt sich einfach darum, den Evangelischen Salzburgs nach den empörenden Mißhandlungen und Leiden, welche ihre Vorfahren von dem rohesten und brutalsten Fanatismus haben erdulden müssen, endlich zu ihrem Rechte zu verhelfen, zu dem Rechte der Gewissensfreiheit und freien Gottesverehrung, das jeder Religionsgenossenschaft und jedem Mitgliede derselben gleichmäßig zukommt, und zur Benutzung dieses Rechts, zur Befriedigung ihres religiösen Bedürfnisses ihnen die Mittel zu schaffen – es handelt sich um einen Act der Humanität, würdig unsers Jahrhunderts der Aufklärung und Toleranz. Dies ist der Sinn des Unternehmens, und die deutschen Künstler haben ihn wohl verstanden. Wie damals, im Jahre 1731, die Mißhandlung und das Elend der Salzburger Protestanten bei allen Confessionen, in allen menschlich fühlenden Herzen Theilnahme und Mitleid hervorriefen – wie auf der Wanderung der Vertriebenen zahlreiche Katholiken warmes Mitgefühl für sie zeigten und selbst die Juden in edler Mildthätigkeit sich ihrer erbarmten, so haben sich auch jetzt in Nord- und Süddeutschland, in katholischen wie protestantischen Gegenden die deutschen Künstler – gleichviel ob protestantischen, ob katholischen Glaubens – der guten, edlen Sache mit Eifer angenommen. Sie haben es vom Standpunkte jener idealen, humanen Weltanschauung aus gethan, welche, über die Glaubensverschiedenheiten erhaben, die eigentliche Heimath der echten Kunst ist.
In diesem Sinne gab auch bei Gelegenheit der deutschen Künstler-Versammlung in Weimar am 20. August dieses Jahres in erhebender Verhandlung über die Salzburger Angelegenheit Professor Gräfe aus Wien, von anderen Oesterreichern unterstützt, die Erklärung ab, wie er und viele seiner Genossen und Landsleute es sich, als Deutschösterreicher und Katholiken, zur Ehrenpflicht und Gewissenssache machten, früher begangenes Unrecht zu sühnen und ihre brüderliche Gesinnung gegen die Salzburger Protestanten zu bethätigen, während von Blomberg aus Berlin für die protestantischen Brandenburger die Pflicht in Anspruch nahm, im Hinblick auf den Schutz, den einst die ihres Glaubens willen vertriebenen Salzburger bei ihren Altvordern in der Mark gefunden, in demselben Geiste jetzt, wo eine erleuchtete und duldsame Regierung den Salzburgern gestatte, in der eigenen Heimath ihrer Gottesverehrung zu leben, für deren kirchliche Bedürfnisse mit zu sorgen.
Aus Altenburg, Berlin, Braunschweig, Breslau, Carlsruhe, Cassel, Cöln, Danzig, Darmstadt, Dresden, Düsseldorf, Eisenach, Frankfurt a. M., Gotha, Hamburg, Hanau, Hannover, Heidelberg, Hildesheim, Ilsenburg, Kiel, Königsberg, Landau, Leipzig, Magdeburg, Mannheim, Meiningen, München, Nürnberg, Oldenburg, Rudolstadt, Stuttgart, Weimar, Wien, Wiesbaden u. s. w. haben sich bereits über 220 Künstler dem Unternehmen angeschlossen und Beiträge bereits eingesandt oder doch zugesagt, und ebenso haben die beim Weimarischen Künstlerfest anwesenden Deputirten der verschiedenen Localkunstgenossenschaften Zusage ertheilt, für die Salzburger Angelegenheit in den Kreisen ihrer Genossenschaften zu wirken. Das Comité hat sich daher veranlaßt gesehen, den Termin für die Anmeldung weiterer Gaben bis zum 1. Jan. 1864 zu verlängern, während die Einsendung der Beiträge selbst bis Johannis 1864 geschehen kann und dann mit der Verloosung selbst vorgeschritten werden wird. Im Ganzen mag bis jetzt ein Werth von ungefähr 8000 Thaler eingesandt oder zugesichert sein. Noch sind aber, um ein würdiges protestantisches Gotteshaus in Salzburg entstehen zu lassen, bedeutende Mittel zu beschaffen. Mit dem zweiten Rechenschaftsbericht hat das Central-Comité daher einen erneuten Aufruf an die deutschen Künstler erlassen. Auch durch die Gartenlaube, das gelesenste, verbreitetste deutsche Blatt, das von jeher jeder echt edlen, patriotischen Sache ihre Spalten entgegenkommend geöffnet hat, sei den deutschen Künstlern die Salzburger Sache dringend an das Herz gelegt. Ihnen sei es Ehrensache, durch Beiträge ihrer schönen Kunst das Unternehmen und durch dessen Unterstützung sich selbst zu ehren; den deutschen Kunstanstalten und dem gesammten deutschen Volke sei es Ehrensache, sowohl jetzt bei der Sammlung der zu verloosenden Kunstwerke, als auch nachher bei der Verloosung selbst den guten Zweck nach Kräften zu fördern. „Möge sich dann“ – so schloß der erste Aufruf, und so mögen auch diese Zeilen schließen – „möge sich dann im romantisch-schönen Salzburg die protestantische Kirche erheben, ein Denkmal ebenso evangelischer Standhaftigkeit der Salzburger, als auch edelster Theilnahme und Toleranz der deutschen Künstlerwelt!“
Eine erfahrene Köchin soll es besser verstehen, was zu des Leibes Nahrung und Nothdurft gehöre und wie dies am zweckmäßigsten zu bereiten sei, als alle Professoren und Gelehrten der Welt. Bezweifeln wir dies auch keineswegs, so drängt sich uns doch andererseits der Gedanke auf, daß es unserer Zeit nimmermehr angemessen sei, wenn in irgend einer Beziehung die Praxis allein, ohne jede Theorie, unser Schaffen bestimmt. Diese Einsicht hat die Küchenchemie in das Leben gerufen, an deren Hand die verständige Hausfrau jeden geringsten Gegenstand ihrer Thätigkeit genau kennen lernt, so daß sie nun nicht blos nach den alten Erfahrungen oder den Vorschriften des Kochbuchs blindlings die Speisen darstellen, sondern nach eigenem klaren Wissen das Vortheilhafteste für ihren Haushalt auswählen, sich vor Verfälschungen hüten und die zweckmäßigste Zubereitungsweise ermessen kann. Nächst diesen bietet die Küchenchemie noch zwei andere bedeutende Vortheile: Die Darlegung des Nahrungswerthes der verschiedenen Speisen und die Kenntniß schädlicher Einflüsse, welche von den Geschirren herrühren können.
Blicken wir nun in das wirkliche Leben. An der großen Tafel eines Gasthauses stellen wir keineswegs weitläufige Betrachtungen über die Zusammensetzung der erscheinenden Gerichte an. Wir prüfen dieselben nach ihrer Reinlichkeit, ihrem Aussehen und Geschmack; sind wir von diesen Eigenschaften befriedigt, so langen wir bei gutem Appetit tüchtig zu. Die aufgetragenen Speisen sind sämmtlich köstlich und besonders schön die Compots und eingemachten Gemüse. Die Bohnen z. B. sehen so frisch und lebhaft grün aus, als seien sie soeben erst gepflückt, und doch stammen sie vom vorigen Jahre her.
Bald nach dem Essen fühlen wir eine Unbehaglichkeit, einen unbestimmten Druck im Magen und einen leichten, aber desto unangenehmeren Drang zum Erbrechen. Eine gleich nach dem Mittagsessen getrunkene Tasse starten Kaffee’s lindert die häßlichen Empfindungen zwar, doch stellen sie sich bald wieder ein und werden desto stärker, je mehr der Magen sich entleert. Wir schreiben dies Unwohlsein einer Ueberladung des Magens, dem schlechten Bier, dem starken Rauchen und vielen anderen derartigen Umständen zu, beruhigen uns bei deren Unbedeutsamkeit und ihrem alltäglichen Vorkommen und ertragen unser Leid, so gut es gehen mag. Dergleichen Zufälle wiederholen sich oft, werden auch wohl noch ärger, bringen Abspannung, Mattigkeit und andere Beschwerden hervor, so daß ein Arzt herbeigerufen werden muß. Dieser curirt auf Hämorrhoiden, Magenkatarrh u. s. w., kann jedoch den Patienten keineswegs herstellen, sondern muß ihn mit Hoffnungen trösten – und sich mit der Wahrheit zufrieden geben, daß seine ganze Wissenschaft nicht viel mehr als ein Tappen im Finstern ist.
Indessen liegt die Quelle des Ungemachs ganz nahe – wir sind vergiftet, vergiftet von den schönen grünen Bohnen, die wir so oft in dem Gasthause gegessen haben.
Schauen wir nun aufmerksam im Leben um uns her, da finden wir die Erklärung für eine ganze Reihe von Schmerzen und Leiden, denen das arme Menschengeschlecht ausgesetzt ist und gegen die wir vergeblich Heilmittel suchten, weil wir ihre Ursachen nicht kannten und folgerichtig eben kein Uebel gehoben werden kann, bevor man seine Ursachen zu erforschen und zu heben vermag. Die Gegensätze des Sauer, Süß, Salzig, die Verwandelungen der thierischen und pflanzlichen Stoffe während der Zubereitung in der Küche äußern so mannigfaltige und bedeutende Einflüsse auf die [703] verschiedenartigen Geschirre und Geräthschaften, daß bei einer nicht genauen Kenntniß der Eigenschaften und Einwirkungen auf einander, bei nicht außerordentlicher Reinlichkeit und Sorgfalt, das Hineingelangen fremdartiger und oft giftiger Stoffe in die Speisen gar nicht zu vermeiden ist.
Am gefährlichsten erscheinen in dieser Beziehung die kupfernen Gefäße; einerseits weil sich in ihnen Kupferoxyd bildet, welches leicht auflöslich ist und daher von den Speisen leicht aufgenommen werden kann, und andererseits, weil alle Kupferverbindungen für den menschlichen Organismus höchst verderbliche Gifte sind. Wie bald aber Kupfer in die Nahrungsmittel gelangen kann, davon nur einige Beispiele. In einem der besten Kochbücher (dem Scheibler’schen, bei Amelang in Berlin) heißt die Vorschrift zum Einmachen grüner Bohnen in Essig und Zucker:
„Ganz junge grüne Bohnen werden von den Fäden befreit und in Wasser mit ganz wenig Salz in einem kupfernen unverzinnten Geschirr gar, aber nicht zu weich gekocht, in kaltem Wasser abgekühlt und zum Abtropfen auf ein Sieb gelegt. Zu 1 Pfund Bohnen koche man 3/8 Quart Essig mit 3/4 Pfund Zucker, einigen Nelken und einem Stück Zimmt auf, und gieße ihn durch ein Sieb kochend auf die in einen Napf gelegten Bohnen. Am nächsten Tage koche man diese in einem kupfernen Kessel einmal auf, nehme sie mit einem Schaumlöffel heraus, lege sie in Gläser, koche den Essig noch ein wenig ein und gieße ihn auf die Bohnen, die damit bedeckt sein müssen.“
Wenn hierzu nicht von vornherein der „unverzinnte“ kupferne Kessel durchaus blank gescheuert ist, jede Fuge, Falte, Beule und jeder Flick mit verdünnter Schwefelsäure (Sauerwasser) und kochendem Wasser gereinigt wurde, dann löst sich das dort sitzengebliebene Kupferoxyd mit Hülfe des Salzes sofort auf. Ebenso entsteht auf dem Drahtsiebe durch die nassen und salzigen Bohnen jedenfalls Eisenrost, der jedoch für die Gesundheit nicht nachtheilig ist. Bleiben dagegen die Bohnen in dem kupfernen Kessel über Nacht oder auch nur bis zum Kaltwerden stehen, so enthalten sie jedenfalls eine bedeutende Menge von essigsaurem Kupferoxyd – den bekannten Grünspan. Dies geschieht oft genug aus Unwissenheit oder Nachlässigkeit, zuweilen aber sogar absichtlich, damit die Bohnen eben die erwähnte schöne, frischgrüne Farbe von dem Grünspan erhalten. Wenn beim Einkochen von Fruchtsäften und Gelee’s, bei der Zubereitung salziger oder Alkalien enthaltender Speisen, saurer Saucen etc. diese bis zum Erkalten in den kupfernen oder Messingkesseln stehen bleiben, so nehmen sie in jedem Falle Kupferoxyd auf. Wird ferner kohlensaures Ammoniak, das sogenannte Flüchtig-, Hirschhorn- oder Kuchensalz in einem Messingmörser gestoßen, der nicht durchaus rein und trocken ist, so wird es sehr giftig und muß sogleich fortgeworfen werden.
Dies Alles wissen die Köchinnen meistens recht gut – wie viel Unheil vermögen aber dennoch Nachlässigkeit, Leichtsinn oder gar böser Wille anzurichten!
In vielen Fällen ist die Vergiftung gar nicht wahrzunehmen, weder zu sehen, noch zu schmecken; warum also soll das Dienstmädchen sich den Aerger machen, den das Eingeständniß ihrer Nachlässigkeit bringen würde – mag’s daher nur so bleiben! Oder das Hirschhornsalz ist nur ein klein wenig grün geworden, weshalb soll die sparsame Hausfrau es fortwerfen – ’s wird ja nichts schaden! Und doch ist in beiden Fällen das Kupfer hinreichend, um, mindestens bei den schwächlicheren Mitgliedern des Hausstandes, arges Unwohlsein hervorzurufen. Unwillkürliches Grausen und Entsetzen müßte uns ergreifen, wenn wir bedenken, wie schon durch die kupfernen Geräthe allein unsere Gesundheit und unser Leben so vielfach von scheußlichem Gift bedroht ist. Diese Furcht verliert sich jedoch bedeutend in Betracht dessen, daß unter der Herrschaft einer verständigen Hausfrau, welche das Wohl der Ihrigen gewissenhaft überwacht, solche Fälle wohl niemals eintreten können. Völlig beruhigt können wir aber erst im Hinblick auf unsere Wissenschaft, die Küchenchemie, sein, denn sie lehrt uns den Weg kennen, auf dem wir in einfachster und zugleich sicherster Weise die Kupfervergiftungen in den Speisen u. s. w. entdecken können. Zum Glück ist diese chemische Analyse so gar leicht, daß sie jede Hausfrau sofort unternehmen kann. In das verdächtige Gericht, sei es Gemüse, Eingemachtes oder was es wolle, wird eine Stricknadel oder ein blankgescheuertes eisernes Messer hineingetaucht und unberührt über Nacht stehen gelassen. Ist das Eisen am anderen Tage roth überzogen, so liegt der Kupfergehalt klar am Tage, und auf diese Art läßt sich dies noch in so geringen Quantitäten entdecken, daß, wenn die Nadel gar nicht roth oder röthlich angelaufen erscheint, wir von der Abwesenheit des Giftes fest überzeugt sein dürfen.
Diese treffliche Probe beruht auf dem bekannten Vorgange der galvanisch-chemischen Reduction des Kupfers.
Problematische Existenzen. Berlin hat wie jede andere große Stadt gewisse problematische Existenzen, Menschen, deren Dasein für alle Nichteingeweihte ein verborgenes sociales Räthsel bleibt. Wir sehen eine Menge von Männern und Frauen, welche durchaus kein bestimmtes Gewerbe, kein sichtbares Geschäft treiben und doch in Lust und Freuden leben; von ihnen gilt der Spruch des Evangeliums von den Lilien des Feldes, daß sie weder säen noch spinnen und doch dastehen in Pracht und Herrlichkeit, wenn sie auch sonst mit den Lilien wenig oder nichts gemein haben. Wir wollen auf gut Glück einige dieser dunklen Existenzen herausgreifen und das Räthsel ihres Daseins zu lösen suchen.
Vor uns erscheint ein junger Mann in höchst eleganter Toilette; er läßt sich nur in den feinsten und gesuchtesten Restaurationen sehen, wo er die Bekanntschaft junger Officiere und Cavaliere sucht, die sich merkwürdiger Weise zu unserem Freunde hingezogen fühlen. Bald ist er der Vertraute ihrer kleinen und großen Abenteuer, er kennt ihre Verhältnisse auf das Genaueste, ihre Aussichten, Hoffnungen und Verlegenheiten, den Stand ihrer Finanzen und besonders ihrer Schulden. Mit anscheinender Uneigennützigkeit bietet er ihnen seine Dienste an, welche auch gern angenommen werden. Wenn es ihnen an Geld fehlt, so kennt er einen Geschäftsmann, einen gefälligen, liebenswürdigen Herrn, der sich ein Vergnügen daraus macht, gegen einen mäßigen Zinsfuß seinen Freunden zu helfen. Das Anerbieten wird natürlich mit dem größten Dank acceptirt, ein Wechsel ausgestellt, der gewöhnlich am Verfalltage nicht eingelöst werden kann. Durch die Vermittelung des jungen, liebenswürdigen Mannes wird der Wechsel gegen eine entsprechende Entschädigung prolongirt und, da der Schuldner zum zweiten Mal noch weniger die anwachsende Summe zahlen kann, von neuem unter den früheren oder noch lästigeren Bedingungen verlängert, bis endlich der gefällige Gläubiger die Geduld verliert und mit der Strenge des Gesetzes droht. Zu spät erkennt der junge Officier oder Baron, in welche Hände er gefallen ist; er hat sein Ehrenwort gegeben, und wenn er nicht den Abschied nehmen will, bleibt ihm nichts übrig als sich seinen Angehörigen zu entdecken, welche meist mit schweren Opfern und oft um den dreifachen Preis den verfallenen Wechsel einlösen müssen. Unser Freund, dessen problematische Existenz die Welt sich nicht zu erklären vermag, ist der Lockvogel eines oder mehrerer Wucherer von Profession, die ihn unterhalten, elegant kleiden und mit dem nöthigen Taschengelde versehen, um die Rolle eines vollkommenen Gentlemans im Kreise seiner aristokratischen Bekannten und Freunde zu spielen.
Nicht minder räthselhaft ist das Dasein eines andern jungen Mannes, der den ganzen Tag in Lesecabinets und Kaffeehäusern zubringt, wo er emsig die Zeitungen studirt und sich öfters kleine Notizen in seine von schöner Hand gestickte Brieftasche macht. Seinem Aeußeren und seinem Betragen nach wäre man versucht, ihn für einen Gelehrten oder angehenden Schriftsteller zu halten, obgleich er für keine irgend namhafte Zeitung schreibt. Häufig sieht man ihn in Gesellschaft dieses oder jenes berühmten Künstlers, Schauspielers oder Sängers, mit denen er auf einem freundschaftlichen Fuße steht. Auch die Damen der Oper und des Ballets empfangen ihn mit größter Zuvorkommenheit und Rücksicht, obgleich er, wie bekannt, mit der Kritik nichts zu schaffen hat. Er macht verhältnißmäßig einen bedeutenden Aufwand und erscheint Abend für Abend im Theater, und zwar gewöhnlich in den theueren Prosceniumslogen. Nie wird er bei einem Debut, bei einer ersten Aufführung oder bei einem Benefiz fehlen. Er ist ein großer Enthusiast und verschwendet große Summen auf Blumen und Kränze, die er bei solchen Gelegenheiten den Künstlern zuwirft. Gewöhnlich giebt er auch mit seinen in die feinsten Glacéhandschube gekleideten Händen das Zeichen zum Applaus, ohne daß es dem Publicum einfällt, den feinen, jungen Mann in der Prosceniumsloge für einen gewöhnlichen Claqueur zu halten. Vergehens fragt man, woher er die Mittel zu einem so kostspieligen Leben nimmt, da er kein Vermögen besitzt und notorisch kein Geld bei seiner Lebensweise erwerben kann. Dieses Räthsel löst sich, wenn wir erfahren, daß der uneigennützige Theaterfreund auf Kosten eines oder mehrerer Künstler lebt, für die er in jeder möglichen Weise Reclame macht, indem er ihre selbstgeschriebenen Kritiken in die betreffenden Journale bringt, ihre selbstgekauften Blumen und Kränze ihnen zuwirft, kurz Alles das für sie thut, was sie selbst nicht thun können, mit einem Worte ihre lebendige Reclame ist.
Ueberhaupt ist das Theater und Alles, was damit zusammenhängt, ein höchst fruchtbarer Boden für die problematischen Existenzen, besonders für die gewöhnliche Claque, welche in Berlin zwar noch nicht die Höhe und Ausbildung der Pariser Claque erreicht hat, aber doch ihren Mann [704] nährt und mit dem besten Erfolge betrieben wird. Wer kennt hier nicht den kleinen Herrn mit den orientalischen Zügen, der jeden Abend das Theater besucht und von dessen Fäusten oft das Geschick eines Dichters oder Künstlers abhängt? Wie der kleine David mit seiner Schleuder den Riesen Goliath, so hat der kleine Beherrscher der Berliner Claque schon manchen großen Schauspieler todt geschlagen, obgleich er nichts weniger als ein blutdürstiger Wütherich ist und mit den Schwachen Mitleid hat.
Geht man an einem Tage, wo ein beliebtes Stück gegeben wird oder ein renommirter Künstler auftritt, an der Theatercasse vorüber, so lernt man gleich einen ganzen Schwarm solcher problematischer Existenzen kennen. Jüngere und ältere Männer von zweifelhaftem Aeußeren stehen und warten auf dem Flur mit wahrhaft rührender Geduld, die nicht allein aus ihrer Kunstliebe zu entspringen scheint, oft bei der härtesten Kälte, bis das Fenster geöffnet wird und das bekannte Gesicht des Cassirers sichtbar wird. Schnell drängen sie sich heran und fordern für mehrere Thaler, die sie aus ihrem abgegriffenen schmutzigen Portemonnaie hervorziehen, Theaterbillete, mit denen sie schleunigst davoneilen. Abends kann man dieselben Kunstliebhaber in der Nähe des Theaters sehen, wo sie eine förmliche Börse eröffnen und die zu den gewöhnlichen Preisen gekauften Billete oft um das Doppelte und Dreifache zum Verkauf anbieten. Wie einträglich das Geschäft sein muß, geht daraus hervor, daß diese Leute den von der Polizei verbotenen Handel immer wieder fortsetzen, trotzdem die Strafe im Wiederholungsfalle 50 Thaler oder entsprechendes Gefängniß beträgt. Aber nicht immer glückt die Speculation, auch diese Börse ist, wie jede andere, großen Schwankungen unterworfen, und zuweilen sieht sich der arme Billethändler genöthigt, seine Waare unter pari loszuschlagen und mit bedeutendem Verluste abzugeben. Dennoch soll auch dieses Geschäft so mancher dunklen Existenz nicht nur das Leben reichlich fristen, sondern noch ganz ansehnliche Ueberschüsse abwerfen.
Eine Ehrenthat. Was Hermann Schulze-Delitzsch, der Gründer
der deutschen Genossenschaften, dem deutschen Volke geworden ist, welchen
unberechenbaren Segen er durch die von ihm in’s Leben gerufenen Vorschußvereine
gestiftet hat, welche Stellung er als einer der hervorragendsten
Führer der deutschen Demokratie einnimmt, darüber den Lesern unserer
„Gartenlaube“ noch ein Wort sagen zu wollen, hieße Eulen nach Athen
tragen. Die Nation weiß, wen sie unter seinem „europäischen Namen“
verehrt, und hat bekanntlich erst neulich dieser ihrer Verehrung einen beredten
Ausdruck gegeben. Freunde und Gesinnungsgenossen, Männer aus
allen Schichten des deutschen Volkes, namentlich auch Genossenschaften und
Vereine, hatten das bedeutende Capital von nahe an 50,000 Thaler zusammengebracht
und es dem allgeschätzten Volksmanne, der, ohne an persönlichen
Vortheil zu denken, Zeit und Thätigkeit den Interessen des Gemeinwohles
widmet, nebst andern sinnigen und werthvollen Gaben am
4. October d. J. durch eine Deputation als ein Zeichen ihres Dankes
überreichen lassen.
Und wie hat der Gefeierte den ihn und sich gleich ehrenden Gebern geantwortet? Seine Antwort ist ein neuer Beweis seiner hochherzigen Gesinnung, der Selbstverleugnung gewesen, mit welcher er unablässig und bei Allem nur die gemeine Sache im Auge hat. „Es ist,“ sagt er in seiner Tags darauf durch die Presse veröffentlichen dankenden Erklärung, „meines Wissens das erste Mal, wenigstens innerhalb der liberalen Partei, daß man, um die Thätigkeit eines Mannes für die gemeine Sache zu erhalten, ihm die Mittel zu seinem Lebensunterhalte bietet. Desto ernster und größer ist aber eben deshalb die Verplichtung, welche damit an ihn herantritt.“ Und so hat er das Dargebotene nur bedingungsweise angenommen. Nachdem er, lediglich dem wiederholten Drängen der Genossenschaften nachgebend, einen verhältnißmäßig unbeträchtlichen Theil der gesammelten Summe zum Erwerbe einer bescheidenen Häuslichkeit für sich und die Seinen verwendet, entzieht er das gesammte Capital selbst seiner Einzelverfügung, um es als Stiftung von einem Comité verwalten zu lassen, in dem er sich nur eine einzige Stimme vorbehält, und nimmt, so lange er lebt, blos die Zinsen zu freier Bestimmung für sich in Anspruch. Doch auch diese wesentlich nur im Interesse der Lebensaufgabe, die er sich gestellt hat, nur, um davon den ihm erwachsenden Büreauaufwand zu decken, seine Reisekosten zu bestreiten und nach Befinden selbst einen Ueberschuß zum Honorar gewähren zu können. Nach seinem Rücktritte aber sollen die Zinsen des Capitals zur Besoldung solcher Männer verwandt werden, „deren Wirken und Thatkraft man in der öffentlichen Sache zum Besten des deutschen Vaterlandes in nationaler, politischer und sozialer Hinsicht in Ansprnch nimmt.“
So hat ein deutscher Demokrat gehandelt, ein Mann, welchen die Reaction, die ihren Jüngern mit nicht verschmähten Rittergütern lohnt, aus seiner ursprünglichen Wirksamkeit und Erwerbsquelle gedrängt hat; der, ohne persönliches Vermögen, hinsichtlich seiner Existenz nur auf seine eigene Thätigkeit angewiesen ist, – und darauf als echter Arbeiter zunächst angewiesen bleiben will. Zwar könnte man einwerfen – und hat dies bereits gethan – wie er mit seiner Ablehnung einen Präcedenzfall geschaffen und jede spätere ähnliche öffentliche Dankesgabe schwierig, ja unmöglich gemacht hat – allein nichtsdestoweniger gebührt einer solchen großsinnigen Selbstlosigkeit die volle Bewunderung. Sie hat dem reichen Bürgerkranze des Volksfreundes ein neues unverwelkliches Blatt eingewunden. Wie übrigens die öffentliche Meinung Schulze’s Benehmen zu würdigen weiß, das zeigt der Brief, welcher der Elberfelder Zeitung unlängst von einem geachteten Manne zugegangen ist. Diesem hat „das Beispiel hochherziger Selbstverleugnung, das Herr Schulze-Delitzsch in diesen Tagen gegeben hat,“ den Wunsch rege gemacht, „dem Namen des hochverehrten Mannes in Elberfeld ein bleibendes Andenken zu stiften“. Er schlägt zu diesem Behufe die Errichtung einer Schulze-Delitzsch-Stiftung vor, zu Gunsten eines schon bestehenden ober noch zu gründenden nützlichen oder wohlthätigen Instituts der Stadt Elberfeld, und stellt seinerseits tausend Thaler zu solchem Zwecke zur Verfügung. Möge der angeregte Gedanke nicht blos bei den Mitbürgern des wackern Mannes, sondern auch anderwärts Anklang finden und starke Betheiligung hervorrufen!
Bei dieser Gelegenheit wird es uns zur angenehmen Pflicht, die Leser der Gartenlaube auf ein sehr ähnliches und vortrefflich ausgeführtes Bildniß hinzuweisen, zu welchem Schulze-Delitzsch vor Kurzem gesessen hat. Wir meinen die von dem Bildhauer Carl Dorn in Berlin modellirte Büste, die in drei verschiedenen Größen, in ganzer Lebensgröße mit Gewand, in 2/3 und 1/3 Lebensgröße, für 8, 3 und 1 Thaler vom Künstler – Schönhauser Allee 177 in Berlin – zu beziehen ist. Herr Dorn, ein Schüler des bekannten Professor Bläser, hat mit diesem zusammen bis vor Kurzem an dem kolossalen Reiterstandbilde Friedrich Wilhelm’s IV. gearbeitet, welches die neue Rheinbrücke in Köln schmücken wird.
- ↑ Das Schloß ward 1706 von den Franzosen unter la Feuillade zerstört, später aber wieder neu aufgebaut.
- ↑ Es ist nicht erklärt, woher diese militärische Hülfe so schnell kam. Man glaubt, der Herzog Victor habe von den kommenden Vorgängen Kenntniß gehabt und auf alle Fälle Vorbereitungen getroffen. Der Priester und der Notar blieben ein Jahr lang in Haft.
- ↑ Es hat immerhin lange genug gewährt, bis der Schleier des Geheimnisses gelüftet wurde. Das junge Paar war über Jahr und Tag vermählt, als der Befehl zur Trennung eintraf.
- ↑ Der im Einverständniß mit Hackeborn handelnde Kammerdiener flüchtete nach Berlin.
- ↑ Die Gräfin vermählte sich zum dritten Male mit dem sächsischen Minister und Feldmarschall Grafen Wackerbarth. Ein von diesem adoptirter Sohn aus ihrer ersten Ehe, Gabaleon von Wackerbarth-Salmour, starb in sächsischen Diensten. Erst bei ihrer Heirath legte sie den Titel „Madame de Brandebourg“ ab. Sie starb 1719).
- ↑ Eine vortreffliche Photographie vom Martersteig’schen Carton hat der Maler und Professor Finke zu Altenburg geliefert, ebenso auch von dem sich daran reihenden Bilde Martersteig’s: Der Schwur der Salzburger Protestanten in Schwarzach vom 5. August 1731.