Aus dem Leben deutscher Schauspieler (1)
Im Jahre 1825 erschien bei dem Theaterdirector Couriol in Posen ein armer, schmächtiger Knabe mit der Bitte, ihn an dessen Bühne zu beschäftigen. Der Herr ließ sich erweichen und gab dem aufgeweckten Burschen eine Anstellung als Rollenschreiber, Theaterdiener und Billetverkäufer. Aber der Ehrgeiz ließ demselben nicht Ruhe, bis er selbst die Breter betreten durfte, welche die Welt bedeuten. Er quälte seinen Director so lange, bis ihm dieser gestattete, in dem Körner’schen Drama „Tony“ als Negerknabe „Nangki“ aufzutreten. Der angehende Künstler, der merkwürdiger Weise später als Mohr in Shakespeare’s Othello seine größten Triumphe [342] feiern sollte, hieß Ludwig Dessoir, jetzt ein Stern ersten Ranges an dem deutschen Theaterhimmel. Nachdem er noch so glücklich gewesen war, in einigen kleinen Rollen zu debütiren, machte der Herr Director in Stettin, wohin derselbe von Posen sich begeben hatte, Bankerott, und der junge Schauspieler sah sich gezwungen, sein Bündel zu schnüren und ein ferneres Engagement in der weiten Welt zu suchen. Von edlem Ehrgeiz schon damals erfüllt, beabsichtigte der fünfzehnjährige Künstler nichts Geringeres, als auf der königlichen Hofbühne und zwar in der Rolle des „Wilhelm Tell“ aufzutreten, wovon er sich einen ganz außerordentlichen Erfolg versprach. Natürlich wurde sein kühnes Anerbieten zurückgewiesen, aber er ließ sich nicht so leicht abschrecken, indem er sich mit demselben Anliegen an die damals in ihrem höchsten Glanze stehende Königsstädtische Bühne wendete. Der Regisseur derselben, Herr Nagel, gab ihm nach einer kurzen Prüfung den Rath, noch zu wachsen und sich erst bei einem kleinen Theater auszubilden, indem er ihn zunächst nach Spandau wies, wo der Director Krausnick, ein Bruder des bekannten Oberbürgermeisters von Berlin, mit seiner Truppe Vorstellungen gab. Hier fand Dessoir ein Engagement und spielte trotz seiner Jugend Liebhaber, Helden, komische Rollen und Bösewichter gegen ein äußerst bescheidenes Honorar.
Eines Tages befand sich ganz Spandau und besonders das Theaterpersonal in keiner geringen Aufregung. Es hatte sich nämlich wie ein Lauffeuer die Nachricht verbreitet, daß der gefürchtete Kritiker Saphir, der damals in Berlin ein satirisches Blatt herausgab, mit einigen jungen Schriftstellern in Spandau eingetroffen sei, um sich einen Jux zu machen. Am Abend besuchte natürlich die lustige und ziemlich angeheiterte Gesellschaft den Tempel Thalia’s, wo die „Ahnfrau“ von Grillparzer gegeben wurde. Hinter den Coulissen herrschte Heulen und Zähneklappern, und selbst den Muthigsten pochte das Herz. Mit Hohngelächter wurden von den verwöhnten Berlinern die Leistungen der „Bande“ aufgenommen, die erste Liebhaberin, die Tochter des Herrn Directors, trotz ihrer Schönheit verspottet, so daß sie weinend von der Bühne eilte. Jetzt kam die Reihe auch an Dessoir, der den „Jaromir“ gab und rückwärts auf die Scene stürzte, um sein Gesicht wenigstens beim ersten Auftreten den Spöttern zu entziehen. Alles ging auch gut, bis er sich im Verlauf der Rolle gezwungen sah, seine Vorderseite dem Publicum zu präsentiren. Da erschallte ein entsetzliches Gelächter über den jungen Künstler, so daß er nicht zu Worte kam und fast besinnungslos in den Stuhl niedersank, bis ihn der ehrwürdige Castellan mitleidsvoll beim Arm ergriff und mit sich fortzog. Hinter der Coulisse empfing ihn die Frau Directorin und löste ihm das Räthsel, indem sie auf seine weißen, durch einen häßlichen Fleck entstellten Tricots deutete. Trotz dieses Unfalls gelang es Dessoir im ferneren Verlaufe seiner Darstellung die Theilnahme und den Beifall des gefürchteten Saphir in dem Maße zu gewinnen, daß dieser in einer humoristischen Beschreibung seiner Fahrt nach Spandau folgende Aeußerung that: „Unter den Schauspielern befindet sich ein junger Mann, der den Jaromir mit vielem Feuer spielte. Es wäre traurig, wenn ein solches Talent in diesem Wust und Treiben untergehen sollte!“
In Spandau machte Dessoir auch die interessante Bekanntschaft des Uhrmachers Naundorf, der sich später für den Sohn des unglücklichen Ludwig XVI. von Frankreich ausgab und Ansprüche auf den Thron von Frankreich erhob. Derselbe war damals ein eifriger Theaterfreund und lebte unter ziemlich beschränkten Verhältnissen in Spandau, durch nichts ausgezeichnet, als durch seine Fertigkeit in der französischen Sprache. Nie sprach er mit Dessoir über seine hohe Abkunft, obgleich der damals ungefähr vierzig Jahre alte Naundorf den jungen Schauspieler sehr lieb gewonnen hatte und täglich mit ihm verkehrte. Oefters machten Beide einen Spaziergang von Spandau nach Berlin, um einer Vorstellung im königlichen Schauspielhause beizuwohnen, wobei sie aus ökonomischen Gründen die Gallerte besuchten und ihr mitgebrachtes frugales Abendbrod dort verzehrten, ein Beweis, daß der Erbe Frankreichs sich damals nicht eben in glänzenden Verhältnissen befand. Auf dem Rückwege nach Spandau in später Nacht spielte dann Dessoir das eben gesehene Stück seinem Begleiter vor, der, je toller jener schrie und gesticulirte, um so stärker applaudirte und seinen Beifall zu erkennen gab. Nach langen Jahren, in denen er nichts von seinem Freunde gehört, war Dessoir nicht wenig erstaunt, aus den Zeitungen zu erfahren, welche Ehre ihm in Spandau zu Theil geworden. Damals hoffte er durch die Verwendung seines hohen Gönners mindestens eine Anstellung am „Theatre Français“ zu finden, wenn erst Naundorf den Thron seiner Väter bestiegen. Leider aber gingen diese Träume nicht in Erfüllung, indem der arme Prätendent bekanntlich im Schuldgefängnisse endete.
Bei einer solchen Wanderung nach Berlin mit Naundorf oder einem andern Freunde that auch Dessoir das Gelübde, daß er es dahin bringen wolle, noch einmal auf der königlichen Bühne aufzutreten und zwar über die große Freitreppe seinen Einzug in das Berliner Schauspielhaus zu halten. Obgleich von seinem Begleiter verspottet und ausgelacht, hat Dessoir seinen Schwur treulich erfüllt und sein Wort mit der ihn charakterisierenden Energie gehalten. Im Jahre 1847, wo er von dem damaligen Intendanten, Herrn von Küstner, zu einem Gastspiel eingeladen worden war, betrat er, wie er sich vorgesetzt, die königliche Bühne, indem er zugleich in Erinnerung an sein früheres Gelübde sich das gewöhnlich verschlossene große Portal öffnen ließ und über die nur ausnahmsweise benutzte Freitreppe zu dem Tempel seines Ruhms emporstieg, so daß er wörtlich sein sich selbst gegebenes Versprechen erfüllte.
Ehe er aber zu diesem hohen Ziel gelangte, wurde der Künstler von dem launenhaften Schicksal vielfach herumgetrteben; Jahre lang führte er das wechselvolle Leben des wandernden Komödianten an verschiedenen kleinen umherziehenden Bühnen und sogenannten „Schmieren“. So irrte er durch Pommern, Sachsen und Schlesien, allerlei komische und mitunter auch tragische Abenteuer erlebend. In einer kleinen Stadt gab er zu seinem Benefiz den „Hamlet“, obgleich ihm der praktische Director und alle Welt abgerathen und das damals sehr beliebte „Donauweibchen“ empfohlen hatten. Aber Dessoir wollte den Hamlet spielen, und wenn er auch keinen Groschen darauf einnehmen sollte. Nach hergebrachter Sitte mußte er die Honoratioren des Städtchens selbst einladen und von Haus zu Haus herumwandernd die Billete abzusetzen suchen. Es hatte die vorangehenden Tage zufällig stark geregnet, und die schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen glichen einem Sumpf. Aus Vorsorge hatte er sein einziges und bestes Paar Beinkleider hoch aufgestreift, um sie nicht zu beschmutzen. Seine Stiefeln jedoch trugen, da er, wie sich denken läßt, den Luxus der Ueberschuhe noch nicht kannte, deutlich die Spuren des langen, schlechten Weges. Eine ganze Wagenladung von Straßenschmutz heftete sich an seine Absätze und hinterließ, wohin er trat, die deutlichen Spuren seiner Gegenwart. In diesem Aufzuge trat er in das Zimmer einer begüterten Matrone, um sein Anliegen vorzubringen und sie zum Besuch des Hamlet einzuladen. Aber ehe er noch ein Wort sprechen und seine Wünsche ihr vortragen konnte, fielen ihre scharfen Blicke auf die unglücklichen Stiefeln, welche die weißen, sorgsam gescheuerten Dielen verunreinigten. „Will Er wohl ’raus!“ schrie ihm die zornige Frau entgegen. „Will Er wohl ’raus. Er Schw…d!“ Und als Dessoir zögerte, hetzte sie ein Rudel von Hunden, mit denen sie umgeben war, auf den armen Künstler, der schleunig die Flucht ergriff. Nicht viel besser erging es ihm bei seinen übrigen Besuchen, so daß er nach Abrechnung der Tageskosten auf seinen Antheil siebzehn Silbergroschen und zehn Pfennige erhielt. Dennoch hätte er mit keinem Könige getauscht; hatte er doch den Hamlet gespielt!
Auch nach Muskau, wo der berühmte Fürst Pückler residirte, wurde die Bande verschlagen, aber Niemand wollte sie aufnehmen, bis die Wirthin des Rathskellers, eine zärtliche Wittwe, sich der armen Künstler erbarmte und ihnen ein Unterkommen gewährte, gerührt von der kräftigen Schönheit des ersten Liebhabers. In der Hoffnung, vor dem Hofe spielen zu dürfen, lebten die ausgehungerten Jünger Thaliens auf Kosten der verliebten Wirthin in Saus und Braus, bis diese selbst sammt ihren Gästen von ihren unerbittlichen Gläubigern eines Tages an die Luft gesetzt wurde. Zu dieser Verlegenheit wendete sich der Herr Principal de- und wehmüthig an die Fürstin, da der Fürst selbst abwesend war, mit der Bitte, einige Vorstellugen in dem kleinen reizenden Hoftheater geben zu dürfen. Die Erlaubniß wurde ertheilt, und an dem bestimmten Abende erschien auch die Fürstin, eine Tochter des bekannten preußischen Ministers Hardenberg, die „angebetete Julie“ in den „Briefen eines Verstorbenen“, mit ihrem ganzen Hofstaat und sämmtlichen Beamten. Dessoir, welcher im letzten Act erst auftrat, hatte sich zu dieser festlichen Gelegenheit mit Aufopferung seines ganzen Vermögens einen neuen blauen Leibrock mit gelben Messingknöpfen anfertigen lassen und erwartete, damit Aufsehen zu erregen. Wer aber beschreibt seine Gefühle, als sich die Fürstin [343] schon nach dem zweiten Act erhob und mit ihrem Gefolge das Theater verließ! Am nächsten Tage erhielt der Director eine angemessene Summe und den Rath, Muskau so schleunig als möglich zu verlassen, den er auch so pünktlich erfüllte, daß er seine Gläubiger zu bezahlen vergaß.
Endlich gelang es dem vagabundirenden Künstler, ein Engagement bei einer festen Bühne und zwar beim Theater in Lübeck zu finden, aber auch hier war seines Bleibens nicht lange, weil nur im Winter gespielt wurde und im Sommer die Gesellschaft auseinander stiebte. Wieder mußte Dessoir zum Wanderstabe greifen und von Stadt zu Stadt pilgern, um ein Unterkommen zu suchen. So gelangte er auf dem Wege nach Wiesbaden in das Städtchen Höchst, wo er müde vom Wege im Wirthshause ausruhte und sich mit einem Schoppen sauren Aepfelweins stärkte.
Als er darauf zum Thor hinaus mit dem Ränzchen auf dem Rücken wieder weiter zog, begegnete er auf der Landstraße einem Herrn in eleganter Kleidung, der ihm wunderbar bekannt vorkam. Unwillkürlich sah er ihn an, und auch der Fremde, vielleicht von einem ähnlichen Gefühl ergriffen, blickte ihm forschend in’s Gesicht. Ohne zu grüßen, eilte Dessoir an ihm vorüber, aber wie gezwungen drehte er sich noch einmal um und wieder begegnete er den nachstarrenden Blicken des Unbekannten, die eine magnetische Gewalt auf ihn auszuüben schienen. Noch einmal, wo der Weg sich theilte, wendeten sich Beide gleichzeitig nach einander um, dann schritten sie jeder seiner Straße. Erst nachdem der Fremde aus seinen Augen geschwunden war, machte sich Dessoir Vorwürfe, daß er ihn nicht angeredet, da er in ihm seinen älteren Bender, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen, erkannt zu haben glaubte. Dieser Bruder war ebenfalls Schauspieler, aber damals bereits ein berühmter und durch seine Genialität ausgezeichneter Künstler am Hoftheater zu Braunschweig. Als Dessoir nach Wiesbaden kam und bei dem dortigen Director Haake sich wegen eines Engagements meldete, erfuhr er, daß sein Bruder daselbst in einigen Gastrollen aufgetreten sei und augenblicklich als Gast bei einem adligen Gutsbesitzer, Baron Schweitzer, in der Nähe verweile. So sehr er sich aber auch sehnte, den Bruder an sein Herz zu drücken, so wollte er sich ihm in seinen jetzigen traurigen Verhältnissen und abgerissenen Kleidern nicht präsentiren, am wenigsten aber ihn bei seinen vornehmen Bekannten aufsuchen. Erst als der Director Haake nach wiederholter Weigerung ihm ein Engagement mit einem monatlichen Gehalt von 36 Gulden, eine für ihn bis dahin unerhörte Summe, anbot, entschloß sich Dessoir, seinem Bruder zu schreiben und ihn zu seinem Debut in Wiesbaden einzuladen.
An dem Abend, wo er den „Brausen“ in den „humoristischen Studien“ gab, meldete ihm der Theaterdiener kurz vor der Vorstellung die Ankunft eines fremden Herrn, der ihn zu sprechen wünschte. Obgleich er wußte, daß es sein Bruder war, ließ er ihn bitten bis nach der Vorstellung zu warten, da er die allzugroße Erschütterung für sein entscheidendes erstes Auftreten mit Recht fürchtete. Nachdem er glücklich und nicht ohne Beifall seine Rolle, mehr das Urtheil des ebenfalls gegenwärtigen Bruders und berühmten Künstlers als des Publicums fürchtend, zu Ende gespielt hatte, verließ er mit klopfendem Herzen die Bühne. Draußen an der Treppe erwartete ihn ein hoher, schöner Mann, der ihn lautlos umarmte, während die heißen Thränen über seine Wangen rollten. Auch Dessoir weinte, und so hielten sich die Brüder nach langer Trennung fest umschlungen, zu ergriffen, um ein Wort zu sprechen.
Endlich führte der ältere Bruder den jüngeren mit sich fort in ein nahegelegenes Weinhaus. Was hatten sich Beide nicht Alles zu erzählen von ihrer Vergangenheit, von der Heimath und von ihrem Künstlerleben! Dessoir war besonders darauf gespannt, das Urtheil seines Bruders über seine heutige Leistung zu erfahren. Dieser lobte sein Spiel, setzte jedoch hinzu: „aber Du hast bei dieser Scene zu viel gelacht.“ Wieder verging einige Zeit, und sie sprachen von ganz anderen Dingen, als der ältere Bruder von Neuem rief: „aber Du hast zu viel gelacht.“ Nach einer Weile wiederholte er dieselben Worte immer stärker, immer heftiger, wohl mehr als funfzig Mal, sodaß jener sich eines unheimlichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte. Schon früher hatte er ein dumpfes Gerücht gehört, daß der geniale Künstler an periodischem Wahnsinn leide und deshalb das Hoftheater in Braunschweig verlassen habe. Er konnte nicht mehr an der Wahrheit zweifeln, sein hochbegabter Bruder, den er erst wiedergefunden – war wahnsinnig.
Dessoir blieb in seinem Engagement und folgte seinem Director nach Mainz, wo er bald ein Liebling des Publicums wurde, während sein unglücklicher Bruder sich von ihm trennte, in Deutschland herumirrte und bis nach Laibach an die äußerste Grenze ging, überall mit Beifall gastirend, aber wegen seiner Krankheit kein festes Unterkommen findend. Nach längerer Wanderung kehrte er endlich verarmt nach Mainz zurück, wo er ein Asyl bei dem jüngeren Bruder suchte und auch fand. Dieser spielte damals mit großem Beifall den „Fahnenjunker Schrankenau“ in dem bekannten Drama „die Soldaten“ von Arresto. Nach der Vorstellung ging der Unglückliche, dessen Lob Dessoir verdient zu haben glaubte, schweigend neben ihm her, ohne sich über seine Leistung zu äußern, bis jener ihn dringend um seine Meinung fragte. „Du bist ein Komödiant geworden,“ sagte der wahnsinnige Künstler, „ein bloßer Komödiant, ohne Wahrheit und Natur, die Du als Anfänger noch besessen hast.“ Und nun entwickelte er ihm mit schneidender Kritik die Mängel seines Spiels, so daß Dessoir gestehen mußte, daß sein Bruder Recht habe. Derselbe wurde von nun an in seinen klaren Stunden der Lehrer Dessoir’s, der ihm einen großen Theil seiner Bildung und seines nachherigen Künstlerruhms zu verdanken hatte. Auf Dessoir’s Verwendung gestattete der Director Haake dem Unglücklichen, auf dem Theater in Mainz aufzutreten; er gab den „Lear“ und zwar mit so großartigem Erfolge, daß der Herzog von Nassau ihn in derselben Vorstellung in Wiesbaden zu sehen wünschte. Dies geschah auch, aber schon im zweiten Acte überfiel den armen Künstler sein altes Leiden; der Wahnsinn Lear’s war nicht mehr vollendete Kunst, sondern grauenvolle Wahrheit und Natur, so daß der Vorhang plötzlich fallen mußte und die Vorstellung nicht zu Ende gegeben werden konnte.
Traurige Tage und furchtbare Nächte verlebte jetzt Dessoir mit seinem Bruder, der fortwährend mit Selbstmordgedanken umging und den er keinen Augenblick unbewacht lassen durfte. Eines Tages stürzte der Wahnsinnige sich auf einen österreichischen Officier, der in Begleitung eines großen Hundes, welcher sein Mißfallen erregt hatte, über die Mainzer Brücke ging. Der so plötzlich angegriffene Militär griff nach seinem Degen, um den Beleidiger seiner Ehre zu durchbohren. Nur durch Zeichen war es Dessoir möglich, den Officier zu belehren, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu thun habe, und so den Unglücklichen vor dem sicheren Tode zu retten. Später, als Dessoir ein Engagement in Leipzig bei dem bekannten Director Ringelhardt angenommen hatte, führte sein genialer Bruder seinen längst gehegten Vorsatz aus, indem er sich im Wahnsinn unter den seltsamsten Umständen selbst das Leben nahm.
In Leipzig gefiel Dessoir dem Publicum mit jedem Tage mehr und mehr, indem er die größten Fortschritte machte, wie die höchst anerkennenden Kritiken Heinrich Laube’s, der damals die Zeitschrift „Europa“ daselbst redigirte, hinlänglich bekundeten. Trotzdem gab er schon nach kurzer Zeit seine angenehme Stellung auf, um der höchst talentvollen und reizenden Liebhaberin Fräulein Reimann zu folgen, welche bald seine Gattin wurde. Das junge Ehepaar fand in Breslau ein vortheilhaftes Engagement und wurde in kurzer Zeit der Liebling des dortigen Publicums. Beide wurden allgemein geachtet und geliebt, verehrt und auf den Händen getragen. Leider sollte dies Glück nur von kurzer Dauer sein, die aus Liebe geschlossene Ehe wurde durch häusliche Zwistigkeiten vielfach gestört und endlich getrennt. Unter diesen Umständen konnte und wollte Dessoir nicht länger in Breslau bleiben, aber die Theilnahme für ihn war im Publicum so groß, daß sein letztes Auftreten auf der dortigen Bühne zu einer in der Geschichte des Theaters nie erlebten Scene die Veranlassung wurde. Am Schlusse erhob sich ein nie erhörter Sturm, den der Künstler nur durch einige passende Worte und durch das Versprechen seiner baldigen Wiederkehr zu beschwichtigen vermochte.
Von Neuem begann der indeß zum wahren Künstler herangereifte Mann ein herumschweifendes Wanderleben, doppelt beschwerlich nach solchen Vorgängen. Zunächst wandte er sich nach Berlin, wo ihm die Aussicht zu einem Gastspiele an der Hofbühne eröffnet worden war. Aber ein eigener Unstern vereitelte seine Pläne; auch in Prag, wo er einige Mal mit Beifall auftrat, mußte er dem bekannten Affenspieler Klischnig weichen, für den der auf seine Casse bedachte Director Stöger und das Publicum schwärmten. Nicht glücklicher war er in Wien, wo er auf Empfehlung von Laroche und Peche auf dem Hofburgtheater unter der Direction des Dichters Deinhardstein gastirte. Er hatte den „Ferdinand“ in Schiller’s „Kabale und Liebe“ gewählt, eine seiner besten Rollen, [344] die er in Breslau mit dem größten Beifall gegeben hatte; aber seine eigene Befangenheit und vor Allen der Rath Deinhardstein’s und der Wiener Schauspieler, Maß zu halten und die Traditionen des Burgtheaters zu beachten, wirkten so erkältend auf seine Darstellung, daß er dem Publicum keinen Beifall abzugewinnen vermochte. Endlich gelang es ihm in Pesth ein eben so vortheilhaftes, als auch für seine künstlerische Entwickelung wichtiges Engagement abzuschließen. Hier fand er bald die verdiente Anerkennung und Bewunderung seines sich immer glänzender entfaltenden Talents. Zugleich lernte er daselbst Fräulein Pfefer, die Tochter einer der angesehensten und wohlhabendsten Familien, kennen, die den allgemein geachteten Künstler später mit ihrer Hand beglückte. Ein Gastspiel, wozu er nach Karlsruhe eingeladen war, führte, trotzdem er von dem Publicum daselbst mit dem größten Beifall aufgenommen wurde, nicht zu dem gewünschten Resultat, das er bald darauf nach dem Abgang des ersten Liebhabers Carl Devrient unter den glänzendsten Bedingungen erlangte. Bis zum Jahre 1849 verblieb Dessoir als Mitglied des dortigen Hoftheaters, hochgeachtet als Mensch und Künstler, anerkannt von der Kritik und von der großherzoglichen Familie. Sein Leben und Wirken gestaltete sich immer freundlicher, sein Ruf verbreitete sich durch ganz Deutschland, so daß ihm zuletzt von der Berliner Hofbühne unter dem Generalintendanten von Küstner ein Gastspiel angeboten und somit sein Herzenswunsch erfüllt wurde, in der Stadt der Intelligenz aufzutreten.
Leider geschah dies zu einer höchst ungünstigen Zeit und zwar im Jahre 1847, während des sogenannten Kartoffel-Aufstands in Berlin. Die Straßen waren mit tobenden Volkshaufen gefüllt, so daß der Künstler nur mit Mühe durch die wogende Menge bis zum Schauspielhause dringen konnte, wo er, getreu seinem Schwur als Jüngling, über die große Freitreppe seinen Einzug hielt. Trotzdem unter diesen Verhältnissen die Vorstellung nur schwach besetzt war, feierte Dessoir gleich den ersten Abend einen glänzenden Triumph. Unter den Zuschauern, die den fremden Künstler durch ihren Beifall ehrten, befand sich der damalige Prinz von Preußen, der jetzige König Wilhelm I., der mit am lebhaftesten ihm applaudirte. Mit jeder neuen Rolle stieg seine Beliebtheit, und bei der letzten Gastrolle, welche Shakespeare’s Othello war, verlangte das Publicum so stürmisch seine Anstellung in Berlin, daß er sich genöthigt sah, gegen das ausdrückliche Verbot, einige Worte an die aufgeregte Menge zu richten, um dieselbe zu beschwichtigen. Wurde auch Dessoir damals noch nicht engagirt, weil alle Fächer besetzt waren, so hinterließ er doch ein so ehrenvolles Angedenken, daß die Intendanz ihr Augenmerk für den Fall einer Vacanz auf ihn gerichtet hielt. Reich an Anerkennung und Lob kehrte der Künstler nach Karlsruhe zurück, wo im Jahre 1849 der badische Aufstand ausbrach. Der Großherzog mußte flüchten, das Hoftheater wurde aufgelöst, und Dessoir gastirte in Hamburg, als in Berlin der bekannte Hofschauspieler Hoppé starb, an dessen Stelle er sogleich berufen wurde.
Seitdem zählt Dessoir zu den beliebtesten und angesehensten Mitgliedern des Berliner Schauspiels; vorzugsweise gilt er für den würdigen Repräsentanten und Vertreter des classischen Drama’s. In den Tragödien Shakespeare’s, Schiller’s und Goethe’s befriedigt er in gleicher Weise den Kenner wie das Publicum durch die Tiefe seiner Auffassung, die innere Kraft seiner Darstellung und die Energie des leidenschaftlichen Pathos. Sein Richard III., Othello, Coriolan, Hamlet, Brutus, Butler etc. sind in jeder Beziehung Meisterwerke, in denen er den Zuschauer überrascht und mit sich fortreißt. Nicht minder glänzt er in den Werken neuerer Künstler als „Caligula“ in Halm’s „Fechter von Ravenna“ und als „Narciß“ in dem gleichnamigen Drama von Brachvogel, eine Rolle, die er geschaffen hat und die kein zweiter Darsteller in Deutschland mit ähnlicher Vollendung giebt. Diese Erfolge sind um so höher zu veranschlagen, da Dessoir, wie sein berühmter Vorgänger Seydelmann, von der Natur nicht besonders begünstigt ist; sein Organ klingt rauh, seine Gestalt ist für den Heldenspieler zu klein und gedrungen. Wie Seydelmann hat auch er Alles sich selbst und seinem Geiste zu verdanken. Von den meisten seiner Collegen unterscheidet er sich durch das geistige Gepräge, das er jeder seiner Rollen zu geben weiß, und selbst da, wo der Kenner mit seiner Auffassung nicht einverstanden sein kann, wird er doch der immer interessanten Leistung mit Spannung folgen und den echten Künstler, auch wo er irrt und sich vergreift, sogleich erkennen. Dessoir verschmäht die kleinen Hülfsmittel, die gewöhnlichen Theaterkunststücke; stets ergreift er seine Rolle in ihrer Totalität, in großen Zügen, indem er jede kleinliche Detailmalerei und Effecthascherei mit Absicht vermeidet. Seine Charaktere sind aus einem Guß, historische Bilder von mächtiger poetischer Wirkung und Wahrheit, keine Genregemälde der modernen Schule, die den Sinn für das höhere Drama und die classische Tragödie verloren zu haben scheint. Er dringt in die Tiefe seiner Aufgabe mit seltenem Scharfblick und läßt sich nicht wie die Mehrzahl seiner Collegen an der Oberfläche genügen. Deshalb tragen alle seine dramatischen Gebilde den Stempel der Innerlichkeit und Gediegenheit. Immer sind seine Intentionen groß und von einem idealen Hauch durchweht, wenn auch zuweilen das Maß seiner Kräfte ihre vollendete Ausführung nicht zuläßt. Man erkennt zu jeder Zeit in ihm den philosophischen Künstler, der mit dem Dichter Hand in Hand geht und den Schatz der Poesie zu heben sucht, wodurch er einen besondern Reiz auf jeden gebildeten Zuschauer ausüben muß. Die männliche Energie, welche ihn auch als Menschen charakterisirt und gleichsam das Geheimniß seiner Erfolge enthält, bewahrt ihn jedoch vor der gewöhnlichen Schwäche der sogenannten denkenden Schauspieler und verleiht seinen Leistungen die nöthige plastische Kraft und Leidenschaft. Deshalb gelingen ihm auch solche Rollen am besten, in denen eine dämonische Natur gewaltsam hervorbricht und die tiefe zurückgehaltene Leidenschaft plötzlich emporschießt, wie im Othello Shakespeare’s und in dem Schiller’schen Butler, oder die Helden des Gedankens, wie Hamlet.
Diesen Eigenschaften verdankt Dessoir seine Stellung am Hoftheater und die Anerkennung des Publicums und der Kritik, welche in ihm den würdigsten Darsteller Shakespeare’s und der deutschen classischen Dichter erblickt. Ganz besonders war es der ausgezeichnete Dramaturg Rötscher, der die Verdienste des Künstlers in ausführlicher Weise gewürdigt und die einzelnen Rollen Dessoir’s eingehend besprochen hat; weshalb wir auf ihn verweisen müssen, da der uns gestattete Raum eine weitere Behandlung der verschiedenen Rollen nicht erlaubt. – Im Jahre 1853 erhielt Dessoir die Aufforderung, sich einer Gesellschaft der vorzüglichsten deutschen Schauspieler anzuschließen, die in London eine Reihe von Vorstellungen mit großem Beifall eröffnete. Hier in der Heimath Shakespeare’s gab der Künstler den Othello; kein geringes Wagstück, nachdem der berühmte Edmund Kean in dieser Rolle die höchsten Triumphe gefeiert hatte, so daß kein Schauspieler, selbst nicht der eigene Sohn Kean’s, es wagte, nach ihm in derselben Rolle aufzutreten. Trotzdem Dessoir mit solchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, gelang es ihm, das von traditionellen und nationalen Vorurtheilen erfüllte Publicum nach und nach zu begeistern und in dem Maße zu befriedigen, daß die englische Kritik und besonders Lewes, der berühmte Verfasser von „Goethe’s Leben“, ihn als den würdigen Nachfolger Kean’s, des besten englischen Schauspielers, anerkannten und ihm an die Seite stellten. – In dem Atelier des ausgezeichneten Hofphotographen L. Haase ist vor Kurzem ein Album erschienen, welches Dessoir in seinen Hauptrollen darstellt. Diesem Album ist das der Gartenlaube zu diesem Zwecke überlassne Bild des Künstlers als Richard III. entlehnt.