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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[657]
Aus den Tyroler Bergen.
Von Adolph Pichler.

Der Wanderer, welcher auf dem Wege nach Achenthal vom Tegernsee herkommt, hat bald einen sehr steilen Felsenkegel vor Augen, der sich rechts vom Bade Kreuth über waldigen Vorbergen erhebt. Hinter einer Kante des Gipfels lauert Stanis, wie von einer Warte die verschlungenen Pfade überblickend, welche sich tief drunten von der Straße abzweigen und durch das Gebüsch winden. Zu seinen Füßen liegt ein Gemsbock, er hat ihn bereits aufgebrochen und die Eingeweide hinabgeschleudert, vorher jedoch ein Stückchen von der rohen Leber mit Salz bestreut verzehrt, um sich einen schwindelfreien Kopf zu erhalten. Die Vorderfüße sind unter den Sehnen der Hinterfüße durchgezogen auf eine Art, daß er das Wild schnell und bequem um den Hals über den Rücken hängen kann. Stanis ist von kurzem, gedrungenem Körperbau mit breiter, hochgewölbter Brust, über dem linken Ohr sitzt keck das grüne Hütchen mit dem Spielhahnstoß und beschattet das scharfe graue Auge, die gebogene Nase springt zwischen den magern Wangen, welche kaum der erste Flaum umsäumt, bestimmt und fest hervor, und der wohlgeformte Mund mit trotzig aufgeworfener Unterlippe, die stark entwickelten Kiefer deuten auf Härte und Entschlossenheit. Es sind die Züge eines Raubthieres, wenn auch eines edlen, man könnte an den Alpenadler denken. Eine graue Joppe, graue Hosen und Strümpfe, über denen das nackte, von biegsamen Sehnen umflochtene Knie hervorragt, vollenden den Anzug. Wenn er sich nicht rührte, möchte man ihn wohl für ein Stück Fels halten.

Stanis war ein weitum berühmter oder berüchtigter Wildschütz. Die bairischen Jäger behaupteten, er sei kugelfest und könne, wenn man ihn dränge, in den Felsen verschwinden. Freilich that es ihm Keiner im Klettern gleich, wie eine Fliege über eine senkrechte Wand läuft, entrann er über die Schorfen, wenn er nur einen Finger oder einen Nagel der schweren Bergschuhe einhacken konnte. Bisweilen nahm er ein Hündlein mit; das arme Thier vermochte ihm nicht zu folgen, da steckte er es in den Schnappsack und trug es über die kahlen Felsenrünste. Der zweitgeborne Sohn eines reichen Bauern im Unterlande, zog er es vor, den ganzen Herbst zu wildern, anstatt auf dem Felde Garben zu schneiden und Korn zu dreschen. Schon lange hatten ihn die Baiern auf dem Strich, ja es war sogar ein Preis auf seine Einlieferung gesetzt, das kümmerte ihn aber wenig, er war frech genug, Nachts vor den Fenstern der Jäger Trutzliedeln zu singen; am Sonntage ging er wohl auch in Tegernsee zur Kirche, wobei man ihm, da er harmlos ohne Waffen erschien, nichts anhaben durfte. Im Wirthshaus versuchten es einmal fünf Jäger, ihn durch Sticheleien zu reizen, er lächelte nur bisweilen und trank ruhig sein Bier, da wagte es Einer, trat ihm auf den Fuß und stieß seinen Stuhl fast um. Nun sprang Stanis auf wie eine Stahlfeder, zeichnete den Kecken mit seinem Schlagringe und warf die Andern, welche Jenem zu Hülfe eilten, durch Thür und Fenster hinaus. Die wilde Rauferei dauerte keine fünf Minuten, seitdem ließ es sich Niemand mehr beifallen, mit Stanis anzubinden.

Nur ein Gegner lebte, dem auch er auswich, und dieser kletterte jetzt den steilen Pfad heran. Dieser war der Förster Peter Auer; der Schuß, mit welchem Stanis die Gemse erlegt, hatte ihn angereizt, den Wilderer zu suchen und zu fangen. Auer glich einem Recken der Vorwelt, an Größe überragte er alle Andern, und obwohl ein Greis von sechszig Jahren, war er noch so stark, daß er als Grundstein für sein neugebautes Häuschen einen Block von beiläufig fünf Centnern frei auf der Schulter herbeitrug und versenkte. Nur beim Klettern merke er das Alter, er mußte langsamer gehen, als in der Jugend, wo er sich wie eine Gemse von Absatz zu Absatz schwang. Stanis ließ ihn ruhig herankommen; als er etwa noch dreißig Schritte entfernt war, streckte er den Stutzen vor und rief ein donnerndes „Halt!“

Der Alte war überlistet. Sei’s Jäger oder Wildschütz, dem dieses begegnet, er muß, will er nicht ein Opfer des Todes sein, die Büchse ablegen und beiseite stellen. Auer erkannte den Stand der Dinge augenblicklich, er wußte, daß Widerstand vergeblich sei, und lehnte sein Gewehr an die Felsenwand. Eine solche Entwaffnung sieht Niemand für schmählich an, ebensowenig als wenn bei einem Duell dem Gegner der Degen aus der Hand geschlagen wird.

Nun trat Stanis vor: „Hast mich fangen wollen, gelt? Bist jedoch abgeschlüpft. Laß gut sein! Du bleibst auf Deinem Platz stehen, die Büchse nehm ich zur Sicherheit mit, dort drunten beim Kreuz kannst Du sie wieder aufklauben. Rührst Dich aber, oder giebst Laut, so schieß ich zurück.“

„Du hast Glück,“ erwiderte Auer, „viel Glück, aber mißbrauch es nicht länger, sonst holt Dich endlich die Strafe Gottes ein.“

„Fasten ist vorbei, brauchst mir nicht zu predigen,“ antwortete Stanis. „Eigentlich hätt’ ich die Gelegenheit nutzen und Dir das Licht ausblasen sollen, wie Du’s unbarmherzig vielen meiner Landsleute gethan, aber Du bist ein alter Mann, hast ohnehin nimmer lang zu leben und siehst ganz meinem Vater gleich; geh’ dieses Mal in Frieden, steig mir aber nicht mehr nach, sonst –“ Er schwieg und nahm Auer’s Gewehr, vor seinen Augen riß er die Zündkapsel ab, spuckte auf das Schloß, daß der Schuß nicht mehr losgehen konnte, belud sich mit der erlegten Gemse und stieg, ohne sich um den Jäger weiter zu kümmern, bergab.


[658] Beim Wirth in der Glashütte war Musik. Der Schullehrer mit seinem Gehülfen saß zu hinterst an der Mauer, auf einem Bretergerüst, das untergelegte Fässer stützten, und fiedelte lustig drauf los. Köhler, Bauernbursche, Jäger mit ihren Mädchen, Alles tummelte durch einander und strampfte, als sollte der Boden einstürzen. Seitab am Tische saßen Gruppen von Bauern mit ihren Weibern, die Mädchen, wenn sie nicht tanzten, gingen ab und zu, um sich in der Hitze mit einem Schluck Gerstensaft zu laben. An einem solchen Tische saß nun Auer’s Weib und Stina, ihre Tochter, beide vorläufig in ein Stück Braten vertieft, den ihnen der Wirth mit einer Schüssel Gurkensalat vorgesetzt hatte. Stina entsandte von Zeit zu Zeit die glänzenden braunen Augen auf das bunte Gemisch des Tanzes, wie es schien, war sie aufgelegt recht lustig mitzuspringen. Mitunter schaute wohl auch ein Bursch herüber, ob sie bald fertig gegessen, um sie sodann aufzufordern. Sie war aber auch die Königin des Festes; dazu erhob sie ihre Schönheit und ihre Tracht. An dieser hatte sie alles Auffällige vermieden, aber auch die häßlichen Bauschen und Falten, welche das Weibsvolk im bairischen Gebirge so abscheulich entstellen. Die langen schwarzen Zöpfe waren um eine silberne Nadel geschlungen, das braune Mieder schloß knapp an den schlanken Leib, während Nelke und Rosenknospe an der Brust mit den Lippen und Wangen zu wetteifern schienen.

Da lief ein Flüstern durch den Saal, Stanis war eingetreten. Lust und Uebermuth sprühte aus seinem Auge, in der Tasche trug er eine Rolle harter Thaler, denn die Gemse war gut verkauft. Er musterte die Gesellschaft, sein Blick blieb an Stina haften. Er hatte nie ein Wörtlein mit ihr geredet, sie nie gesehen, das kümmerte ihn aber wenig, er schritt zum Tisch, und nachdem er die Mutter um Erlaubnis gefragt, bat er sie um ein Tänzchen. Auch ihr war der Fremde aufgefallen, unwillkürlich erhob sie sich und reichte ihm die Hand. Sie war sehr hoch gewachsen, man hätte streiten können, ob sie nicht größer sei als Stanis, dieser behauptete jedoch trotzdem durch die Mächtigkeit des Gliederbaues neben ihr den vollen Rang. Er legte den starken Arm um sie und trat vor die Musikanten, ihm nach die übrigen Tanzpaare. Schnalzend warf er in den Zinnteller, welcher auf dem Fenstersims stand, einen Kronenthaler und sang:

A Gamsl hon’ i g’schoß’n,
Daß der Berg widerhallt,
Und iatz tanz i mit ’m Diendl,
Dös mir am allerbesten g’fallt!
     Juchhui!

Er patschte auf die Lederhosen und tauchte sich in die dichtesten Wogen des Reigens. Schade, daß der alte Bauerntanz mehr und mehr verschwindet und Walzer, Mazurka und all’ der einförmige Schnickschnack auf dem Lande sich einschmuggeln. Hier konnte man ihn noch in seiner wilden Grazie, in seiner verschämten Liebe, in seiner tollen Freude bewundern; auch bei diesem Tanz gilt, wie bei der Schlacht, jeder so viel er werth ist, – versuch es einmal ein Berliner Galan und wage mit seinen Schwefelspähnen solche Sprünge gleich unserem Stanis, der Stinele wie ein feuriger Planet umkreiste und sie dann wieder jauchzend hoch aufschwang, aus dem Arm ließ, sehnsüchtig verfolgte und wieder umfaßte. Da sang ein Jägerbursch, den die Haut juckte:

’S Gamsel hast g’stohl’n
Da drenten in Wald,
’S Stinele, des kriegst nit,
Und wenn’s Dir no a so g’fallt.

Stanis war zu selig, um die Herausforderung zu hören; so ein Mädel im Arm, dachte er sich, ist doch was anders als einen Hirsch pirschen. Ein tüchtiger Schütz hat beides am liebsten. Während des Tanzes fragte ein Nachbar Auer’s Weib: „Wo hast denn deinen Mann?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete sie, „warum er heut so saggrisch ist, durch’s ganze Haus rennt er hin und her und brummt wie eine Hummel. Später kommt er schon.“

Immer wilder wogte der Tanz, die Kleider flogen und der Busen hob sich in feuriger Lust. Da hatte Stinele den Strauß verloren, Stanis holte ihn aus dem Gewühl, anstatt ihn jedoch der Tänzerin zu reichen, steckte er ihn auf den Hut und nahm von diesem eine üppige Staude Jochraute. „Das kann Dir keiner geben von denen, die da sind!“ flüsterte er ihr in’s Ohr, und sie steckte den Büschel erröthend an die Brust.

Jochraute! Schönes ist nichts daran, aber der Aelpler kennt kein edleres Kraut; was ist Edelweiß dagegen! So mancher kühne Bursche hat sich todt gefallen, wenn er seinem Schatz am Himmelfahrtstage einen Strauß bringen wollte, er lag zerschmettert unter den Felsen, die Stäudchen in seiner Hand schmückten dann den Sarg.

Der Jägerbursche hatte Alles gesehen und gehört, noch einmal sang er sein Trutzliedl, da erwiderte Stanis lachend:

„Wer die Rauten mecht hab’n,
Steig aufi auf d’ Wand;
An boarischen Jaga
Fallt’s gewiß nit in d’ Hand’.“

Das wäre sonst das Signal zu einer Rauferei gewesen, einige stämmige tyrolische Holzknechte traten schon an Stanis’ Seite, dieser war aber nur zu einem Handel mit Stinele aufgelegt, die Musik fiel wieder rauschend ein, und von Neuem begann der Tanz. Indessen hatte sich Auer eingefunden, er fragte die Alte nach der Tochter, sie deutete mit dem Finger auf das Paar, der Alte verstummte, von dem, was sich seinem Auge zeigte, keineswegs sehr erbaut. Alles nimmt ein Ende, so auch der Tanz, Bursche und Mädchen suchten verathmend die Plätze, und Stanis führte Stinele an den Tisch zurück.

„Grüß Gott, Vater!“ rief sie schon von Weitem.

„Bist Du Auer’s Tochter?“ flüsterte Stanis.

„Hast Du das nicht gewußt?“ erwiderte sie heiter und eilte auf den Vater zu.

Stanis zögerte einen Augenblick den Kopf senkend, ermannte sich jedoch rasch und trat zu den Eltern. Aug’ in Auge standen die Männer, kein Zug jedoch verrieth, was heute zwischen ihnen vorgegangen, der Tanzboden war neutrales Gebiet wie die Kirche. Da neigte sich Stanis: „Herr Förster, ich dank’ für den Tanz mit Eurem Stinele!“ Dem Mädchen bot er die Hand, welches den Druck arglos erwiderte. „Leb’ wohl,“ fügte er bei, „ich hab’ noch einen weiten Weg, und muß jetzt gehen.“

Das war nur eine Ausrede; die Furcht trieb ihn nicht fort, wohl aber ein Gefühl, als ob es sich nicht schicke, unter solchen Verhältnissen im Angesicht des Greises zu verweilen. Man will ihn beobachtet haben, wie er aus dem Dunkel der Bäume, welche vor dem Tanzsaal standen, in diesen hineinlugte, bis der letzte Geigenstreich verklang und Alles müde nach Hause ging. Er folgte Auer’s Familie von fern auf dem weichen Grase neben der Straße; als bereits die Hausthüre geschlossen war, stand er noch lange und spähte nach den Fenstern.

Am nächsten Morgen holte Stanis sein Gewehr, das er unter einer Haselstaude verborgen, wieder hervor, und stieg in die Wände des Blauberges. Erst gegen Abend gelang es ihm, eine Gemse zu erlegen. In einer baierischen Alpe mochte er nicht einkehren, zur nächsten österreichischen war es über den Schiltenstein zwei gute Stunden, dazu die bei der Dunkelheit halsbrechenden Pfade, er besann sich daher nicht lange und suchte in einer verlassenen Hütte, wo die Bauern das abgefallene Laub bis zum Winter aufzubewahren pflegen, ein Nachtlager. Brod und Käse waren ihm Mittagskost und Abendmahl. Ein Hirtenbube hatte ihn beobachtet, wie er in das Laub schlüpfte, und es einem Jäger, welcher durch den Schuß alarmirt worden war, verrathen. Dieser holte allsogleich seine Cameraden, die Morgendämmerung war noch nicht angebrochen, als sie die Hütte von allen Seiten umstellt hatten. Der Kühnste kroch hinein, nahm Stanis’ Gewehr und reichte es dem Nächsten an der Thüre. Nun folgten zwei Andere nach. Stanis lag im tiefsten Schlafe; als man ihm Stricke um die Hände wand, murmelte er von Stinele und dem Tanz. Die Jäger lachten höhnisch. Nachdem ihm jede Möglichkeit eines Entrinnens, eines Widerstandes geraubt war, schoß der Bursche, der ihn Abends zuvor mit dem Trutzliedchen geneckt, den Stutzen neben ihm ab.

Er fuhr auf – welches Erwachen! Die scharfe Morgenluft gab ihm rasch die volle Besinnung, er schaute grimmig herum im Kreise der Peiniger und biß knirschend in die Stricke. Alles war vergeblich. Als sie ihn mit den Kolben vorwärts stießen, kam kein Laut über seine Lippen; wie die Wilden Amerika’s hätte er sich lieber todt martern lassen, als seine Feinde um Schonung gebeten, und wäre sie auch mit einem Worte zu erlangen gewesen. Diesen Triumph gönnte er ihnen nicht. Da sang der Bursche das Trutzliedl von gestern und rief spöttisch: „Jetzt führen wir Dich zu Stinele!“ Er blieb stumm, aber in seinem Blick loderte tödtlicher Haß.

[659] Als sie die Straße erreichten, begegneten ihnen viele Leute, welche die Frühmesse besuchen wollten. Sie warfen einen mitleidigen Blick auf Stanis. „Haben sie ihn endlich,“ sagte Mancher, „der hat sich schlecht gebettet.“ In einem Anger verzehrte eine Bäuerin mit ihren Kindern fröhlich das Morgenbrod, eine Schüssel dicker Suppe und Schmalznudeln zum Eintunken. „Da siehst Du,“ warnte sie den älteren Buben, „wohin der Müßiggang führt.“ Sie stand jedoch auf, um Stanis einige Nudeln zu schenken. Er konnte keinen Finger rühren; das gute Weib steckte sie ihm in den Schnappsack, welchen ihm die Jäger auf den Rücken gehängt hatten. „Gieb ihm nur Nudeln,“ bemerkte der Bursche spöttisch, „im Zuchthaus auf der Plassenburg kriegt er viele Jahre keine mehr zu beißen.“

„Du bist auch nicht der Beste,“ bemerkte die Bäuerin unwillig, „hast Du vielleicht einen Freibrief für die Zukunft, daß Du nie ins Elend geräthst? Man soll den Nebenmenschen nie spotten, wenn er sich nicht wehren kann.“

„Er hat uns lang genug getrutzt!“

„Warum habt Ihr es ihm nicht gelegt, Ihr seid halt für Nichts. Geht, schämt Euch, da schleppen vier solche Laggel einen Menschen gebunden daher, den sie im Schlaf überfielen; Ihr habt wenig Ursach zu einem Triumphgeschrei.“

Sie kehrte den Jägern verächtlich den Rücken.

Diese führten Stanis zu Stinele. Auer war ihr Vorgesetzter, er hatte über das Schicksal des Gefangenen das Weitere zu verfügen. Die Dirne, welche an der Thüre stand, sagte ihnen, daß er in den Wald gegangen sei und erst in einer Stunde zurückkehre.

„Stinele,“ rief der rohe Bursche, „Stinele! wir bringen Dir Deinen Liebhaber!“

Das Mädchen hatte den Lärm längst gehört, ohne sich darum zu kümmern, jetzt beugte sie sich unwillig zum Fenster heraus. Ihr Blick begegnete dem Blick Stanis’, entsetzt fuhr sie mit einem leisen Schrei zurück. In der Brust des Gefangenen schwoll Schmerz, Wuth und Scham zur Riesenkraft, er drehte die Fäuste übereinander, die Knochen knackten, Blut rann über die Finger, die Bande waren gesprengt. Er entriß einem Jäger mit einem Griff sein Gewehr, schlug den Burschen mit dem Kolben nieder, überwarf den nächsten, die zwei andern schossen in der Verwirrung ihre Büchsen ab, fehlten jedoch und liefen eiligst davon. Das war alles das Werk einer Minute. Stanis war frei, er flog die Höhe vor das Haus hinan und sang, eh’ er sich in das Gebüsch barg, droben noch einmal:

Wer die Raut’n mecht hab’n,
Steig aufi auf d’ Wand,
An boarischen Jaga
Fallt’s g’wiß nit in d’ Hand.

Als der Jägerbursche ächzend, mit blutrünstigem Schädel bei der Bäurin, welche Stanis die Nudeln geschenkt hatte, vorbei geführt wurde, erkundigte sich diese um die Geschichte. Man erzählte ihr die Befreiung Stanis’. „Gott sei Dank,“ rief sie aus, „es wär’ schad gewesen um den saubern[1] jungen Menschen, wenn er sich’s nur zur Warnung nimmt und das Wildern aufsteckt. Du aber,“ die Worte galten dem Jägerburschen, „sei ein anderes Mal barmherzig und lobe den Tag nicht vor dem Abend.“

Woche um Woche verrann, niemand hörte mehr von Stanis, doch blieb er deswegen nicht vergessen: der Jägerbursche trug seinen Denkzettel, wegen dessen er oft ausgelacht wurde, an der Stirne herum; vielleicht auch erinnerte sich Auer manchesmal seiner, obgleich er ihn nie nannte, ebenso wenig als Stinele, das wohl am öftersten an ihn dachte. Sie konnte ein Gefühl der Unruhe nicht bewältigen, wem sollte sie vertrauen? Der Mutter? Diese war durch die Keckheit des Burschen, der anfänglich, eh’ sie Näheres von ihm wußte, einen günstigen Eindruck auf sie gemacht, tief gekränkt und schmälte mehr, als der Tochter gefiel. Den Freundinnen? Die hätten sie wahrscheinlich in allen Spinnstuben herumgetragen. Den Sternen? Diese Erfindung hatte sie, obwohl sie nicht neu ist, für sich noch nicht gemacht. Was hätte sie schließlich auch sagen sollen? War sie doch über ihr Herz selbst im Unklaren, daß sie sich fest einredete, nur der Unwille rufe ihr das Bild des Wilderers vor die Seele. – Der Reif hatte längst schon die Zeitlosen versengt, nach einer Reihe klarer kühler Tage meldete ein Herbststurm das Nahen des Winters, die Nebel hingen von den Bergen so dicht in das Thal, daß man sie hätte schneiden mögen, und schwere Tropfen schlugen an die Nordseite des Hauses, mit einem Wort ein Wetter, in welches man keinen Hund hinausjagen soll. Die Dämmerung brach früher als gewöhnlich an, Stinele saß in ihrer Kammer, die ungestört hinten aus lag, denn sie sehnte sich nach Einsamkeit, da tickte es an die Glasscheiben, als suche ein Vögelchen Unterkunft. Sie machte rasch das Fenster auf, eine Hand ergriff den Querstab des Kreuzes, und eh’ sie noch einen Schrei ausstoßen konnte, stand Stanis vor ihr. Er war blaß und abgemagert. Nachdem er der Betroffenen einen Augenblick zur Erholung gegönnt, begann er: „Stinele, wenn Du alles weißt, wirst Du mir verzeihen.“

„Du gehst schleunig, sonst rufe ich den Vater!“

„Thu es und weihe mich dem Untergang, dann ist’s aus.“

Sie schwieg.

„Stinele!“ er faltete dabei wie bittend die Hände, „Stinele, laß mich wenigstens reden; gönnt man doch dem Verbrecher, der zum Galgen geführt wird, ein letztes Wort. Ich hab’ Alles aufgeboten, Dich zu vergessen, Alles! Es war jedoch unmöglich. Stets sah ich Dich, aus jedem Busch tratest Du mir entgegen, in jedem Wölkchen, das vom Thal aufstieg, wallte Dein Gewand, Du glittest wie im Tanz an den Felswänden hin, Gemse hab’ ich seitdem keine mehr geschossen, obwohl mich ein prächtiger Bock fast niederstieß. Ich kann ohne Dich nicht leben, – wie willst Du’s halten mit mir? sag nur ja oder nein. Von Dir hängt es ab, ob ich untergehen –“

„Gott im Himmel!“ unterbrach sie ihn heftig, „der Vater kommt –“

„Dann bin ich verloren!“

„Lauf durch jene Thüre und spring’ aus dem Fenster!“

„Stinele, jetzt weiß ich, daß Du mich lieb hast!“

„Flieh, flieh!“

Die Tritte, die man zuerst unten auf dem Flur vernommen, näherten sich.

„Stinele, und wär’s mein Tod, noch ein Kuß!“

Er drückte sie heftig an sich, sie leistete keinen Widerstand.

Eine Minute später schlugen die Büsche hinter dem Hause zusammen, er war dahin.

Der Vater öffnete die Thüre: „Was machst Du denn für einen Lärm?“ frug er. „Mir schien, es sei etwas Schweres auf den Boden gefallen. Du wirst bleich und roth, was ist denn mit Dir, fehlt Dir etwas? Seit einiger Zeit weiß man wahrlich nicht, was anfangen, nichts ist Dir recht, und Launen hast Du mehr als Haare auf dem Kopf.“

Das Mädchen nahm die Vorwürfe hin, ohne sich zu entschuldigen, hätte doch ein Wort ihre Aufregung verrathen können. Der Vater fuhr fort: „Drunten in der Stube ist schon eingeheizt, ich hab Dich holen wollen, daß Du mir und den Nachbarn die neue bairische Zeitung vorlesest.“

Sie gehorchte der Aufforderung.

Der Himmel klarte sich wieder, selbst im Hochgebirge schmolz die zusammenhängende Schneedecke und ließ nur in Runsen und Senken einzelne Fetzen zurück, die Buchenwälder hatten jedoch schon Roth angelegt, und zwischen den schwarzen Föhren stieg hier und da wie eine goldene Pyramide ein Lärchenbaum. Hoch oben durch den blauen Himmel flogen im langen Striche die Zugvögel dem wärmern Süden zu, hier und da drang ein verlorner Ton hinab und weckte tiefe Sehnsucht nach schönern Ländern; es war Allerheiligen. Längst hat die Gemse ihr schwarzes Winterkleid angezogen, es schützt sie nicht vor der Kugel des Jägers, der sie jetzt besonders eifrig verfolgt. Stanis saß auf einer Bergspitze im milden warmen Sonnenschein, die wundervolle Aussicht von der Spitze der Gletscher bis tief ins bairische Flachland kümmerte ihn wenig, sein Aug’ war in das Thal gerichtet, durch welches bläulicher Rauch floß, in das Thal auf das schimmernde Häuschen Auer’s. Wenn der verliebte Auerhahn balzt, sieht und hört er nicht; auch Stanis balzte, sonst hätte er gewiß das leise Knistern des trockenen Grases hinter seinem Rücken bemerkt. Der alte Auer schlich näher und näher, die Büchse in der Hand, das Auge unverrückt auf den Wilderer, machte er jetzt wieder vorsichtig einige Schritte und blieb, wie sich jener regte, ruhig stehen. Endlich, nur noch einen Steinwurf weit entfernt, rief er mit lauter Stimme: „Stanis!“ Dieser sprang, wie aus einem Traume aufgeschreckt, rasch auf und blieb, als er den Alten erblickte, unbeweglich stehen. Auer schritt langsam vorwärts, erst jetzt besann sich der Wilderer, riß die Büchse von der Schulter und wollte anlegen. „Laß gut sein,“ sagte der Alte ernst, „ich hab Dich schon beobachtet, wie Du [660] beim Geläute während der Wandlung den Hut zum Beten abnahmst; hätte ich Dich schädigen wollen, es wär mir ein Leichtes gewesen. Leg das Gewehr ab, siehst Du, auch ich lehne das meinige an diesen Steinblock, ich bin gekommen, um mit Dir friedlich zu reden.“

Erstaunt that Stanis, wie der Alte verlangt, und trat zu ihm.

„Ja, Stanis,“ begann dieser, „ich hab’ mit Dir lang schon reden wollen und eine schickliche Gelegenheit erwartet, jetzt ist sie da, und meine Worte machen vielleicht Eindruck auf Dich, weil wir hier Gott näher stehen und uns Niemand hört als Engel und Heilige, die heut aus dem weit offenen blauen Himmel niederschauen. Du brauchst mir nicht zu sagen, wer Du bist und was Du bisher verübt hast, ich kenne Dich und Du kennst mich. Auch Dein Vater hat mich gekannt und 1809, wo ich gefangen und verwundet bei ihm auf dem Peinstroh lag, gepflegt wie ein Christ den andern. Er ist jetzt todt, ich hab’ jedoch nicht vergessen, was ich ihm schuldig bin, sondern für ihn gebetet und eine Seelenmesse lesen lassen. Jetzt will ich an Dir vergelten, was er an mir gethan, und an seiner Statt Dir in das Gewissen reden. Willst Du ihm noch in der Grube Schande machen? Wie durch ein Wunder bist Du letzthin entronnen; vielleicht säßest Du jetzt im Zuchthaus und dächtest dort über das siebente Gebot nach; laß es Dir zur Warnung sein und bändige Deine wilde Lust. Ich weiß, zuverlässige Zeugen haben es mir bestätiget, daß Du sonst Jahr aus Jahr ein brav bist, und in Deinem Handwerk als Büchsenmacher unverdrossen arbeitest, nimm Dich zusammen und gelob der Mutter Gottes zum Dank nie mehr zu wildern. Es ist Diebstahl“ – Stanis fuhr auf – „ja Diebstahl, wie ein anderer. Du würdest Dich schämen, von einem Bergmahd auch nur eine Handvoll Heu fortzutragen, und doch läßt es der liebe Gott wachsen ohne Zuthun des Menschen. Wenn Du nachdenkst, kannst Du Dich bei der einfältigen Ausrede, das Wild sei für jeden, der es erlegt, nicht beruhigen. Siehst Du dort den Bach, der durch das Thal rinnt? Kehr’ ihn ab, so werfen Dir die Müller wegen Verletzung des Eigenthums einen Proceß an den Hals, und was ist freier als das Wasser? – Du bist noch jung, Stanis, es wär’ schad’ um Dich! Es ist mir nicht entgangen, in Deiner Brust lebt noch ein edler Funke, blas’ ihn nicht selber aus, ich beschwör’ Dich beim Grabe Deines Vaters, ich bitte Dich bei Deinem eigenen leiblichen und geistigen Wohl!“

Stanis war so erschüttert, daß er kein Wort zu stammeln vermochte.

„Willst Du mir folgen? Schlag ein und zieh’ in Frieden!“ Er hielt mit einem milden, treuherzigen Blick die offene Hand hin.

„Ja, ich will!“ rief Stanis, der sich indeß gesammelt hatte, „ich will, aber stell’ Du, nachdem Du so viel für mich gethan, auch noch den Engel an meine Seite, der mich vor jeder Versuchung schirmt.“

„Der Schutzengel hat Dich ja nie verlassen, das beweist Alles, was Dir widerfahren ist.“

„Ich mein’ das Stinele!“ sagte Stanis tief aufathmend.

„Das Stinele? Nu, Du hast eine spaßige Manier, um ein Mädel zu werben. Uebrigens müßt’ noch die Mutter und hauptsächlich Stinele Ja sagen.“

„Die hat schon Ja gesagt!“

„Hm!“ brummte der Alte, „hält’ mir’s doch denken können, daß sie verschossen ist! So ist’s aber mit den Diendeln. Sind Alle gleich, Eine verdreht wie die Andere.“ Er wendete sich wieder zu Stanis. „Das Gernhaben gehört freilich zur Heirath, aber auch noch viel Anderes. Du bist der zweite Sohn, wirst schon ein Bischen was haben, ein Bischen kriegt Stinele, wenn ich die Augen zudrücke, von mir, das ist aber zu wenig.“

„Hab’ ich nicht gesunde Glieder zum Arbeiten? die Büchsenmacherei trägt auch etwas, und ein Gesell’ wird endlich Meister!“

„Endlich! wär’ schon recht! Wenn Dir gar so ernst ist, weiß ich aber etwas Anderes. Meld’ Dich beim Forstamt, dort braucht man Leute, und Du wirst vielleicht bald als Gehülf’ angestellt. Bist noch jung, Stinele und Du könntet einige Jährchen warten, unterdeß bringst Du’s zu einem bessern Brod und dann meinetwegen Amen. Aber brav sein mußt’.“

„Auer, da hast meine Büchse, ich will sie nimmer anrühren, bis Du mir sie selber giebst. Jetzt müssen wir aber zum Stinele und ihr die Neuigkeit melden, das arme Mädel hat sich viel gekümmert.“

„Ei der Teufel, Du hast Eil’! Den Schießprügel magst’ übrigens selber tragen, auch ist’s bald Mittagszeit; die Alte hat schon so viel gekocht, daß Du mithalten kannst.“

Sie suchten den nächsten Weg, Stanis wollte immer vorwärts über Stock und Block, sonst werde die Suppe kalt.

„Du bist doch der gleiche Trottel, wie ich’s gewesen bin,“ bemerkte der Förster, „laß Dir nur Zeit, die Alte richtet nicht an, bis wir drunten sind, und das Diendl wird derweil auch nicht kalt.“

Stinele pflückte im Garten Blumen und Kräuter, wie erschrak sie, als sie Beide daherkommen sah! Kaum traute sie ihren Augen, was mußte vorgegangen sein! War Stanis gefangen? Dann würden sie schwerlich so friedlich miteinander reden, er böte ihr nicht von Weitem ein lachendes „Grüß Gott!“ Während der Vater in das Haus ging, seiner Alten Bericht zu erstatten, trat er in den Garten und schüttelte ihr die Hand, unbekümmert um die ganze Nachbarschaft, als ob alle Vettern und Basen bereits wüßten, wie es zwischen ihnen gemeint sei. „Laß jetzt das Kranzelflechten für Allerseelen,“ rief er fröhlich, „Nachmittag helf ich, da geht’s schneller, mir steckst noch einen Büschel Blumen auf den Hut.“ Nun erzählte er ihr unter lustigem Schäkern Alles, was geschehen und wie sie sich nun der ganzen Welt als Brautleute zeigen dürften.

Das Mädchen senkte ungläubig den Kopf, ihr schien sein ganzes Gerede ein kindisches Märchen, sie zu äffen; ein schöner Traum, aus dem man in eine schreckliche Wirklichkeit erwacht. Da stieg der Vater über die Treppe, das Mütterchen begleitete ihn, sorgsam mit der Schürze die Hände wischend, an den rußigen Küchenzettel auf der Wange dachte sie gar nicht, ihre Züge waren sonnenhell und heiter. „So laß ich es mir gefallen, Stanis,“ sagte sie herzlich, „wenn Du so in das Haus kommst!“

Stinele perlten die Freudenthränen auf das Busentuch. „Ist’s wirklich so?“ rief sie erstaunt.

„Ja, ja, es ist so,“ erwiderte der Alte, „ich hoffe, Stanis thut in Zukunft gut!“

„Ganz gewiß!“ meinte Stanis, „Stinele, da heb’ Du meine Büchse auf, bis ich ordentlich angestellt bin und sie von Rechtswegen tragen darf.“

„Jetzt ratscht aber nicht bis morgen,“ unterbrach ihn Auer, „ich möchte eine Suppe, und die Dienstboten passen auch schon lang und können nicht von der Lieb zehren!“

„Derweil die Mutter anrichtet,“ sagte Stanis, „binden Stinele und ich einen schönen Strauß, heut’ gehört einer auf den Tisch.“

Die Alten kehrten in das Haus zurück, das junge Paar flatterte wie Schmetterlinge von Aster zu Aster, von Nelke zu Nelke, und wenn es sich in die von Ranken umsponnene Laube verlor, so wird es wohl nicht blos Blumen, die der Reif verschont, sondern auch einige Küsse gepflückt haben. Wenigstens erzählte man so im Wirthshaus zur Glashütte, wo die Jäger den Burschen aufzogen und föppelten. Der aber sang:

Eine andere Mutter
Hat auch ein schön’s Kind.


Es sind einige Jahre verflossen, der Leser begleitet mich wieder in eines der zahlreichen waldigen Seitenthäler. Unter den Bäumen erhebt sich ein zierliches Häuschen aus braunen Balken mit einem hölzernen Hirschkopf über dem Söller, den Astern, Kapuzinerkresse und Windling schmücken; das Geräusch unserer Tritte auf dem steinigen Wege ruft ein schönes, junges Weib heraus, ein starker Bube hängt an ihrer Schürze, auf dem Arme trägt sie ein herziges Mädchen.

„Das ist nicht der Großvater,“ sagt sie zu den ungeduldigen Kleinen und will umwenden.

„Wohnt hier der Forstwart Stanis?“

„Ja,“ erwidert sie freundlich, „er muß in einem Viertelstündchen kommen, er ging dem Vater entgegen, den wir heute erwarten. Wollen Sie nicht eintreten?“

Kehren wir ein, es ist ein Bild des reinsten Friedens und der Liebe, welches sich vor uns entrollt, und da naht auch Stanis und Auer. Schließen wir unsere Idylle in der Wildniß mit ihrem herzlichen:

Grüß Gott!

[661]
Aus jüngstvergangenen Tagen.
2. Die Fürsten des Fürstentages.
Franz Joseph – Der Liebling des Volkes – Max von Baiern – Der Mecklenburger – Georg von Hannover – Johann von Sachsen – Der Coburger – Das Resultat.

Es ist in den deutschen Blättern viel zu lesen gewesen von den Aeußerlichkeiten des Fürstentages, von dem feierlichen Empfang des Kaisers Franz Joseph, von dem großen Banket im Römersaal und dem Feuerwerke mit der mißlungenen Germania, von der Gallavorstellung im Theater und was sonst noch der Senat der Stadt Frankfurt seinen hohen Gästen zu Ehren gethan und unterlassen hatte. Wir wollen auf diese Festlichkeiten nicht zurückkommen. Einmal war das, was geschehen, gar nichts Besonderes und Großartiges, und sodann giebt es ein ganz falsches Bild vom Fürstentag, wenn man bei einer Beschreibung desselben dem dabei entfalteten äußeren Glanz einen besonders großen Raum gestatten wollte. Es ging in Frankfurt Gott Lob nicht so her wie auf dem Wiener Congreß vor 50 Jahren, wo die österreichische Regierung 30 Millionen Gulden in Festlichkeiten vergeudete, während ihr vom Kriege erschöpftes Land aus tausend Wunden blutete, während in Ungarn gar die Menschen Hungers starben und den deutschen Staatsmännern über all dem tollen Jubel in den raffinirtesten Genüssen Sinn und Verständniß für die wichtigsten Interessen abhanden kamen. In Frankfurt ist – dies Zeugniß wollen wir den deutschen Fürsten nicht versagen – vor Allem mit vollem Ernst gearbeitet worden, und weil es die Fürsten persönlich gewesen sind, auf deren Thätigkeit das wenn auch schließlich mißlungene Werk des Congresses beruht, so haben wir den Versuch gemacht, einige der hervorragendsten Persönlichkeiten unter ihnen nach ihrer äußeren Erscheinung und ihrem allgemeinen Verhalten zu charakterisiren.

Es gab einmal eine Zeit, da hieß in einem gewissen Schlag deutscher Blätter Oesterreich nicht anders als der „große Kaiserstaat mit seinen unerschöpflichen Hülfsquellen“, und wenn vom Kaiser Franz Joseph die Rede war, so fehlte nie das feststehende Beiwort: „der ritterliche Kaiser“. Das war die Zeit, in der das Concordat abgeschlossen wurde, in der Oesterreich seine Staatseisenbahnen verkaufen mußte, in der ein Darlehn von 500 Millionen Gulden ausgeschrieben wurde und die Staatsfinanzbehörden nicht davor zurückschraken, statt für 500 für 611 Millionen Schuldverschreibungen auszugeben; das war die Zeit, in der das Staatsdeficit mitten im Frieden alljährlich beinahe 50 Millionen betrug und die österreichische Presse nicht wußte, wie sie sich winden und drehen sollte, um nicht Tag für Tag dem Schicksal der Confiscation zu verfallen. Und dann kam eine Zeit, da hörte man nichts mehr von dem „großen Kaiserstaat“ und seinem „ritterlichen Kaiser“, aber die Lombardei ging bei Magenta und Solferino verloren, der österreichische Finanzminister schnitt sich selbst den Hals ab, General von Cynatten, des groben Betrugs angeklagt, hing sich im Gefängnisse auf, und es trat ringsum in der Staatsverwaltung eine Fäulniß zu Tage, daß das verwunderte und entsetzte Europa die Hände darüber zusammenschlug. Das Geschick, das noch zu allen Zeiten die Schmeichler und Speichellecker den Fürsten bereitet, hatte sich an Kaiser Franz Joseph unerwartet rasch erfüllt. Man hatte dem jungen achtzehnjährigen Fürsten bei der Uebernahme der Regierung in die Feder dictirt, er wolle den „Glanz der Krone“ aufrecht erhalten, und rechne dabei besonders auf die „Tapferkeit, Treue und Ausdauer der glorreichen Armee“, und das war allerdings das rechte Programm für einen „ritterlichen“ Kaiser. Aber das 19. Jahrhundert gehört nicht mehr den Rittern, und seit der große Friedrich von Preußen die Aufgabe des Fürsten dahin bestimmt, ein Diener des Staates zu sein, jagt nur noch die fürstliche Romantik dem verderblichen Trugbild des „Glanzes der Krone“ nach. Die furchtbare Lage, in welche das Regiment der fünfziger Jahre den Staat Oesterreich gestürzt, hat seitdem den Kaiser Franz Joseph wohl anderen Sinnes gemacht. Es ist besser, weit besser geworden in Oesterreich. Zwar das Concordat besteht noch und das Deficit ist noch nicht geschwunden, die Silberwährung noch nicht eingeführt, und die Gefängnisse werden noch nicht leer von den Vertretern der österreichischen Presse – die doch die zahmste ist in ganz Europa, die französische und russische ausgenommen; aber es tagt doch in Wien nun auch ein Reichsrath, den wenigstens die Mehrzahl der Provinzen beschickt, der Staat hat doch wieder Credit und leidlich geordnete Finanzen, und zum Beweis, daß auch nach außen hin das Ansehen des Kaiserstaates sich wieder mächtig gehoben, hatte Kaiser Franz Joseph es unternehmen können, dem eben noch so einflußreichen Preußen zum Trotz die Fürsten Deutschlands in Frankfurt zu versammeln.

Wie wird der Kaiser aussehen? war in Frankfurt die allgemeine Frage nicht blos der Neugierigen. Es hing denn doch Etwas, wenn nicht Alles, für den Verlauf des Fürstentages davon ab, daß der Mann auch wirklich eine Persönlichkeit war, der im persönlichen Verkehr und in persönlicher Leitung der Verhandlungen die deutschen Fürsten zu einer Reform der Bundesverfassung bestimmen wollte. Das Urtheil aber über die Persönlichkeit des Kaisers, welches sich seither allmählich in Deutschland gebildet hatte, war Dank der unglücklichen Phrase vom „ritterlichen Kaiser“, offen herausgesagt, nicht gerade das günstigste. Auf der andern Seite stritt wieder eine leichterkärliche natürliche Sympathie für den Mann, der so eben den blendenden kühnen Schachzug in der deutschen Politik gethan. Und mit der einmal erwachten Sympathie schweiften denn auch alsbald die wohlwollenden Gedanken weiter. Man gedachte der Jugend des Kaisers und des verhängnißvollen Geschickes, daß auf die Schultern eines achtzehnjährigen Jünglings in schwerer, schwerer Zeit die Last der Regierung eines Staates gelegt worden war, der unbestritten zu den am schwersten zu regierenden gehört; man gedachte der bitteren Prüfungen, die dies erst dreiunddreißigjährige Leben schon hatte durchkosten müssen und – zu seinem Vortheile bestanden hatte, man gedachte, daß kein einziger deutscher Fürst bis jetzt Krieg geführt, außer dem unblutigen Krieg gegen die eigenen Stände, und daß, den alten König von Würtemberg ausgenommen, keiner von ihnen im Kampfe gegen den äußern Feind die Kugeln pfeifen gehört, außer Franz Joseph. So stritt das Mitgefühl, das die Geschichte des Kaisers erregte, mit dem Zweifel, den der Unwille über die feilen Schmeichel-Federn hervorgerufen hatte.

Endlich kam der Zug, der Kaiser stieg aus, vom Frankfurter Senat ehrfurchtsvoll begrüßt, die Musik spielte die österreichische Nationalhymne, und nach kurzer Besichtigung der Ehrenwache des Frankfurter Bataillons ging es im einfachen zweispännigen Wagen nach dem Gallusthor und auf einem ganz unvermutheten Umwege durch die harrende Volksmenge nach dem Bundespalast. Die Menge stand zu Tausenden noch lange dicht gedrängt in der Eschenheimer Gasse und wartete auf „den Kaiser“, als dieser schon längst vorbeigefahren und im Hofe des Taxis’schen Palastes abgestiegen war. Man hatte sich wenigstens eines achtspännigen Wagens und Gott weiß welches Gepränges versehen und auf den Zweispänner mit dem Manne in der einfachen Obersten-Uniform gar nicht weiter geachtet. Diese vornehme Schlichtheit im öffentlichen Auftreten, die vielleicht bei der Einfahrt eben so sehr der natürlichen Neigung als einer klugen Berechnung entsprach, hat Kaiser Franz Joseph während seines ganzen Aufenthaltes in Frankfurt bewahrt. Die Menge kannte ihn natürlich schon nach wenigen Tagen trotz seines Zweispänners, und er ist selten durch die Straßen gefahren, ohne daß ihn ein Hoch begrüßt hätte, aber bei aller Freundlichkeit, mit der er auf jeden Gruß dankte, hat er nie gezeigt, daß er besonderen Werth auf diese Huldigungen lege, oder gar, daß er es darauf abgesehen habe. Er nahm die Begrüßungen der Menge auf wie ein vornehmer Herr, der es nicht anders weiß, als daß man ihm in der Oeffentlichkeit vorzugsweise Beachtung schenkt, und doch zugleich mit noch gerade so viel Wärme, daß der Begrüßende einen Austausch gegenseitiger Höflichkeit darin erkennen konnte. In diesem seinen, wohlthuenden, wahrhaft fürstlichen Takt ist Kaiser Franz Joseph von keinem der anderen Fürsten erreicht, geschweige denn übertroffen worden.

Wie sich der Kaiser im Verkehr mit den anderen Fürsten gegeben, haben wir natürlich nicht im Einzelnen beobachten können. Sein Auftreten bei dem Banket im Römersaal bewies, daß er sich denn doch bei allem Entgegenkommen seiner überwiegenden Stellung sehr wohl bewußt war. Er schritt als der Erste aus dem Empfangszimmer in den Römersaal und nahm zunächst ganz allein auf dem für ihn bestimmten Ehrenplatz seinen Sitz ein, und dann erst gruppirten sich die übrigen Fürsten im Allgemeinen [662] je nach ihrem Range rechts und links um die Tafel. Die Toastrede, welche der Kaiser während des Bankets hielt, wurde im reinsten Deutsch, mit richtiger Betonung und mit fester, voller, klarer Stimme gesprochen. Von der Befangenheit, die man früher am Kaiser bemerkt hat, war sonach, wenigstens bei dieser Gelegenheit, nichts zu hören. Es ist denn auch das Urtheil über das Auftreten des Kaisers beim Römerbanket bei allen Theilnehmenden ein durchaus günstiges gewesen. Das Urtheil über sein Verhalten bei den Sitzungen des Fürstentages ist, nach Allem was darüber verlautet hat, ein nicht weniger anerkennendes. Kaiser Franz Joseph hat das Präsidium in einem deutschen Fürstenparlament – wie wir glauben, eine nicht ganz leichte Aufgabe – mit aller Umsicht und dem besten Geschicke gehandhabt, er hat sich auch hier redegewandt und der Bestimmungen des deutschen Bundesrechts kundig, er hat sich aber auch während der Debatten stets dessen sehr wohl bewußt gezeigt, was er erreichen wollte.

In dem, was wir bis hierher über den Kaiser gesagt, sind eigentlich alle für Geist und Charakter entscheidenden Züge enthalten, wie sie sich bei flüchtiger Beobachtung in kurzen 14 Tagen feststellen ließen. Schon diese Ungenügendheit unserer Beobachtung der inneren Seiten nöthigt uns indeß, zur Abrundung des Bildes des Staatsmannes auch die äußeren Züge des Menschen aufzunehmen. Was an Franz Joseph vor Allem angenehm berührt, das ist seine schlanke, zierliche und doch elastisch-kräftige, etwas über mittlere Größe hinaufreichende Gestalt und der leichte, zwanglose Anstand, mit dem er sich in jeder Situation, im Stehen wie im Gehen, zu Pferd und im Wagen bewegt. Diese ungesuchte Noblesse scheint nach der glücklichen Proportionalität seines Körperbaues mehr oder weniger angeboren zu sein und wird sich im Verlauf der Jahre bei zunehmender Fülle und Festigkeit des Körpers bis zum Imponirenden steigern. Wir schließen dies unter Anderem auch daraus, daß selbst die Gewohnheit des Befehlens nicht vermocht hat, der angeborenen Grazie und dem Gewinnenden in allen Bewegungen irgend welchen Eintrag zu thun. Der Kopf des Kaisers interessirt bei flüchtiger Beobachtung erst in zweiter Linie. Es ist das kein Studienkopf, wie ihn die Maler brauchen, mit breiter mächtiger Stirn, mit kühn gebogener Nase, mit fein geschnittenen Lippen und großen sonnigen Augen, er entspricht vielmehr im Wesentlichen der Figur, die ja auch nicht hoch und majestätisch, sondern mehr vornehm zierlich ist. Bei näherem Zusehen zieht indeß auch der Kopf des Kaisers an. In der fest gefügten Stirn und dem hellblauen Auge spricht sich denn doch unbedingte Entschlossenheit und Verstand aus, und der dichte Schnurr- und Backenbart erhebt die an sich vielleicht etwas weichlichen Züge zur vollen Männlichkeit. Vor Allem aber ist es der Ausdruck von Offenheit und Milde, der in dem Gesicht gewinnt. Es liegt kein unedler, lauernder, grausamer Zug darin, der Kopf ist einer von denen, die erst unter dem Ausdruck der Heiterkeit die rechte Beleuchtung gewinnen. Das glaubt und hofft und strebt noch in dem Gesicht, und der ganze Mann ist noch der Entwickelung fähig, denn die Jugend ist trotz des etwas gelblichen und nicht eben frischen Teints in allen Zügen unverkennbar.

Es besteht ein eigenthümlicher Gegensatz zwischen dem alten Oesterreich und seinem jungen Kaiser. Dies Oesterreich mit seiner finsteren, schlachtenreichen Geschichte, in der uns fast nur Thaten des Schwertes und der Gewalt begegnen, dies Oesterreich, in dessen weitem Donauthal schon in der grauen Vorzeit die Völker in blutigem Kampf auf einander stießen, dies Oesterreich, dessen Zukunft und Bedeutung noch heute ein ungelöstes Problem der Weltgeschichte ist, dies alte schwertdurchfurchte Oesterreich und sein junger anmuthiger Kaiser! Die Aufgaben der Fürsten wechseln je nach dem treibenden Princip, das in der geschichtlichen Entwickelung die Völker vorwärts drängt. Das treibende Princip in der heutigen Geschichte des deutschen Volkes ist das Streben nach Befestigung seiner politischen Nationalitat. Möge ein gütiges Geschick den Kaiser Franz Joseph vor dem Irrthum bewahren, wie einst Metternich die Unfreiheit Deutschlands für die Unfreiheit Oesterreichs, so heute die Unfertigkeit der deutschen Nationalität für die Unfertigkeit der österreichischen Nationalitäten benützen zu wollen. Der Irrthum Metterttich’s war nur ein bedauerlicher, der Irrtum Franz Joseph’s könnte ein verhängnißvoller werden.

In früherer Zeit fand man in den Bilderläden auf unseren Messen und Jahrmärkten regelmäßig auch das eine oder andere Bild von diesem oder jenem deutschen Fürsten. Seit dem Jahre 1848 ist dies nicht mehr der Fall – die Fürstenbilder „gehen“, wie es scheint, nicht mehr. Um so größer war unser Erstaunen, als wir auf der letzten Frankfurter Messe in dem Bilderlager wieder einmal das Bild eines Fürsten ausgestellt fanden. Aber seltsam! – als bedürfte der ungewohnte Artikel gewissermaßen einer besonderen Rechtfertigung – unter dem Bild standen die drei letzten Verse von dem bekannten Gedicht von Justinus Kerner: „der reichste Fürst“, also namentlich die Versicherung des Grafen Eberhard von Würtemberg an die Fürsten von Baiern, Sachsen und der Pfalz: „daß in Wäldern noch so groß ich mein Haupt kann kühnlich legen jedem Untertan in Schooß.“ Es war das Bild des Großherzogs Friedrich von Baden, auf das der speculative Künstler diese prächtigen Verse von Justinus Kerner bezogen hatte. Wir würden diesen unscheinbaren Umstand nicht erwähnen, wenn er nicht besser und eindringlicher, als wir es vermögen, die Stellung des Großherzogs von Baden zu dem Urtheil des deutschen Volkes charakterisirte. So ist es allerdings, wie unter dem Bild geschrieben steht, und seit wir in Frankfurt dem Manne in sein offenes treues Angesicht und in das große tiefblaue Auge gesehen, haben wir auch die Ueberzeugung, daß es so bleiben wird, daß Großherzog Friedrich immerdar „sein Haupt kann kühnlich legen jedem Untertan in Schooß“. Um vier Jahre älter, als Kaiser Franz Joseph, hat der Großherzog von Baden doch ein noch jugendlicheres Ausehen als dieser. Die Gestalt ist zwar weniger zierlich und elastisch, aber doch immerhin noch straff und schlank. Das Gesicht dagegen hat eine gesündere Farbe und den hellen frischen Teint, wie er sich bei blondem Haar vielfach findet. Ein starker blonder Bart rahmt bis auf das Kinn das ganze Gesicht ein und giebt den regelmäßigen angenehmen Zügen den Ausdruck der vollen selbstbewußten Männlichkeit. Der anziehendste Theil des Gesichts ist indeß die hohe freie Stirn und das große seelenvolle Auge. Es giebt eine Art des Blicks und einen Gesichtsausdruck, die von vornherein unser volles Vertrauen erwecken, die uns schon beim ersten Begegnen anziehen, als hätten wir die Persönlichkeit, der sie angehören, längst gekannt. Nachmachen läßt sich dieser Blick nicht, denn er ist der Spiegel der Seele und wird angeboren. Solcher Art wirkt der Gesichtsausdruck des Großherzogs von Baden.

In der Westendhalle, also vor der Stadt, war es, wo der Großherzog sich seine Wohnung genommen. Aber obwohl er auf diese Weise nur selten in den Straßen sich zeigte, begrüßte ihn doch regelmäßig der Zuruf der Menge. Man wußte es auch in Frankfurt, daß er bereitwillig ein Concordat und ein ultramontan-reactionäres Ministerium hatte fallen lassen, nachdem er sich von der Verderblichkeit beider überzeugt; man vergaß es ihm nicht, daß er seitdem den Liberalismus in ungefälschter Münze hatte coursiren lassen und, ohne gerade von seinem Volk gedrängt zu sein, aus freien Stücken das Seinige gethan, um seines Volkes Wohlfahrt auf der wahren Grundlage der Freiheit, auf dem Princip der Selbstverwaltung, sicher zu stellen; ja man rechnete, was er seitdem gethan, gerade ihm um so höher an, als sich gegenüber den trüben Erfahrungen des Jahres 1849 ein weniger bereitwilliges Eingehen auf die liberalen Forderungen der Zeit wenigstens hätte begreiflich finden lassen. Was er gerade während des Fürstentages im Interesse Deutschlands gethan, war damals, als nur sehr Weniges über die Vorgänge im Bundespalast in’s Publicum drang, noch vollständig unbekannt. Wir wissen auch jetzt noch nicht viel mehr, als was die Karlsruher Zeitung uns mitgetheilt. So viel aber wissen wir bereits, daß an der festen Haltung des Großherzogs von Baden ein schlimmer deutscher Sonderbund gescheitert ist, und daß er, vielleicht er allein, der Forderung des Abgeordnetentages sich angeschlossen, wonach das Ergebniß der Berathungen des Fürstentages einem deutschen Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden soll. Das deutsche Volk wird dessen eingedenk sein.

„Ich bin stolz darauf mich einen constitutionellen König zu nennen,“ sagte König Max von Baiern am Tage nach seiner Thronbesteigung, am 22. März 1848, zu seinen Ständen. „Ich will Frieden haben mit meinem Volk,“ sagte er zehn Jahre später, als er, dem Drängen der Stände nachgebend, das Ministerium Pfordten-Neigersberg entließ. Das sind zwei schöne Worte, und das letztere namentlich – denn das erste ist vergessen – hat dem König manches Hoch und manches Wort des Lobes in Frankfurt eingetragen. Viel wirkte freilich dabei auch das entschieden populäre Auftreten des Königs mit. Kein anderer Fürst hat sich so wie er in unmittelbare Verbindung mit dem Publicum gesetzt. Wir wissen [663] nicht, wie König Max es in München hält; in Frankfurt schien er die Uniform ebensowenig wie das Fahren im Wagen leiden zu mögen, wenigstens zeigte er sich sehr häufig im Civilrock und zu Fuß auf der Straße. Wir wollen dabei das herbe Urtheil eines englischen Berichterstatters nicht unterschreiben, so viel hat jedoch auch uns scheinen wollen, daß König Max in Frankfurt zwar populär war, daß er aber dort auch hat populär sein wollen. Es ist möglich, daß diese Absicht von seiner Seite in aller Unbefangenheit gehegt wurde; gewiß ist, daß sie nicht von allen Seiten mit gleicher Unbefangenheit aufgenommen wurde. Wir unsererseits möchten uns hierbei für die erstere Annahme entscheiden, denn es liegt in dem Gesicht des Königs etwas Hastiges, Unruhiges, das den Schluß auf ein Gefallen am Außergewöhnlichen sehr wohl rechtfertigt.

Es ist sehr schwer, ein richtiges Bild von der äußeren Erscheinung des Königs Max mit der Feder allein zu zeichnen, denn der ganze Eindruck des Mannes ist ein ungewöhnlicher, ohne daß man sich mit dem bloßen Auge Rechenschaft davon zu geben vermag, worin eigentlich der Schlüssel für die einheitliche Auffassung dieser Physiognomie zu suchen ist. Die schlanke, ziemlich große, obwohl, nach der Haltung zu schließen, nicht allzu kräftige Gestalt tritt an Interesse ganz zurück vor dem charakteristischen Ausdruck des Gesichtes. In dem an sich fein geschnittenen Gesicht aber treten hauptsächlich drei Momente bestimmter hervor: eine breite und ziemlich hohe Stirn, deren Bau auf eine lebhafte Thätigkeit der Phantasie schließen läßt, ein Paar tief liegende, anscheinend dunkle Augen, deren scharfer Blick unter den starken schwarzen Augenbrauen die Gegenstände rasch überfliegt, und drittens ein vielleicht nur in nervöser Angegriffenheit beruhender Zug von unruhiger Beweglichkeit um die fest geschlossenen Lippen und die wenig vollen Wangen. Ein dünner, dunkler Schnurr- und Backenbart hebt sodann auf dem blassen Teint das Eigenthümliche des ganzen Gesichtsausdrucks nur noch stärker hervor. Man ist, wie schon gesagt, auch wenn man sich alle einzelnen Züge dieser ungewöhnlichen Physiognomie ganz genau vergegenwärtigt und sie prüfend überblickt, doch vollständig außer Stande hiernach ein Urtheil über das Gemüths- und Seelenleben des Königs abzugeben. Wenn man nach dem Urtheil des baierischen Volkes geht – und das sollte doch wohl eigentlich das entscheidende sein – so ist freilich die Antwort auf die Frage nach dem Charakter des Königs bald gegeben. Es sind nicht viele Fürsten in Deutschland, die sich einer gleich ungeheuchelten Popularität bei ihren Unterthanen erfreuen. „Der gute Könige Max“ sagt man in Baiern und hat vom baierischen Standpunkt aus gewiß ein Recht dazu. Im übrigen Deutschland freilich giebt es Leute, die von ihrem deutschen Standpunkt aus mit der Politik von König Max weniger einverstanden sind. Die Zukunft wird es lehren, ob ihre Klagen gerechtfertigt waren, denn erst mit dem Ausgang der jetzigen Zollvereinskrisis wird sich das Urtheil über die deutsche Politik des Königs von Baiern feststellen lassen.

Nicht ohne ein gewisses besonderes Interesse sah man in Frankfurt der Ankunft der beiden Großherzoge von Mecklenburg entgegen. Mecklenburg, das Land der Urjunker und lutherischen Normalpfaffen, das gelobte Land der Auswanderungsagenten, das Land, in dem das vierte Kind unehelich geboren wird, dies Conglomerat von rechtlosen Unterthanen und Privilegien, diese mittelalterliche Staatsruine – wie wohl der Fürst eines solchen Landes aussehen mag, fragte man sich in den Frankfurter Volkskreisen. Das Volk, dessen Phantasie sich nach den Nachrichten von den Abschlachtungen der Bauern, von der brüllenden Ritterschaft des Landtags, von dem Rostocker Hochverrathsproceß – der schamlosesten That der Reaction – ein ganz ungeheuerliches Bild von dem Lande Mecklenburg zusammengewoben hatte, war in seiner Naivetät natürlich nicht abgeneigt, sich nun auch unter der Persönlichkeit der Fürsten dieses Landes etwas Fremdartiges, noch nicht Dagewesenes vorzustellen, und schien einigermaßen verwundert, als es dem fast erblindeten Großherzog von Strelitz gegenüber nur Mitleid haben konnte und im Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin einen blonden, blühenden Mann mit einem frischen, schönen, wohlwollenden Gesicht vor sich sah. Auf ein prächtiges Pferdegespann hatte man sich wohl gespitzt und war bei aller Anerkennung von dessen Vorzüglichkeit nicht weiter davon überrascht; aber einen so normalen Menschen hatte man sich unter dem Großherzog Friedrich Franz durchaus nicht vorgestellt. Es liegt allerdings etwas sehr Bezeichnendes in diesem Contrast zwischen der Persönlichkeit des Großherzogs und der Vorstellung, die man sich in den Volkskreisen von ihm gebildet hatte. Diesem kräftigen Mann mit seiner gedrungenen, muskulösen Gestalt, mit den blauen sanften Augen, der fein gebogenen edlen Nase, dem schön geformten Schädel, dessen vollständige Kahlheit indeß eben wegen seiner schönen Form und der ungeschwächten Gesundheit des Körpers im Uebrigen keineswegs unangenehm berührt – diesem Manne hätte man wohl die Lösung der Aufgabe zutrauen sollen, aus seinem Lande einen wirklichen Staat, aus einer föderativen Ritterrepublik ein staatsbürgerliches Gemeinwesen zu bilden. Sieht man freilich etwas schärfer in das Gesicht, so entdeckt man nicht unschwer den Ausdruck stark ausgebildeter Gutmüthigkeit, welcher es erklärlich macht, wie Junker und Pfaffen ihn schließlich dennoch vermögen konnten, sein in aller Form Rechtens publicirtes und feierlich beschworenes Verfassungswerk schon nach wenigen Monaten dem Bundes-Schiedsgericht von Freienwalde wieder preiszugeben. Die Schuld, die der Bundestag in Mecklenburg aufgehäuft, wird nicht weniger gesühnt werden wie in Kurhessen. Möge der Großherzog der Sühne dieser Schuld dieselbe Bereitwilligkeit entgegen tragen, wie er sie bewiesen, als es sich vor 13 Jahren darum handelte, sein eigenes Werk, das Denkmal seines Ruhmes, zu vernichten.

Mit vieler Theilnahme wurde König Georg von Hannover betrachtet. Seine hohe majestätische Gestalt und das schöne volle Gesicht imponirten der Menge gewaltig und verstärkten nur den Ausdruck des Mitgefühls sowohl mit dem König, der außer der schweren Last seiner Krone auch noch die Last der Blindheit trägt, als mit dem Volke, das einen blinden König sein ohnehin so schwieriges Amt bekleiden sehen muß. Es mag mit an dem bekannten Bestreben des Königs liegen, seine Blindheit zu verbergen, wenn er seinen Kopf so stark nach aufwärts gerichtet trägt und dadurch sein Gesicht in der Regel den Ausdruck eines ungewöhnlichen Stolzes annimmt. Die übrigen Züge des Gesichtes verrathen wenigstens nicht, daß der hierdurch hervorgebrachte etwas strenge Ausdruck in der Persönlichkeit des Königs an und für sich begründet wäre. Die persönliche Anschauung keines andern Fürsten vermittelt übrigens so sehr das Verständniß seiner Handlungsweise, wie gerade die des Königs von Hannover. Man begreift das Bestreben, das sich in dem einen Wort „Welfenreich“ hinlänglich angedeutet findet, man begreift die bekannte Strafe gegen die Stadt Emden, man begreift endlich sogar den Umsturz der hannoverschen Verfassung und das Regiment, das Graf Borries vollführen konnte, wenn man einmal in diese starr in’s Weite schauenden Augen gesehen. Der Köllig blickt ja nur in das Leere, Schrankenlose, vor seinem Blick kann sich allerdings das Land Hannover zum „Welfenreich“ erweitern, vor seinem Blick können allerdings die Schranken verschwinden, welche die Rechte Anderer vor ihm hergezogen, und in diesem Conflict zwischen der Vorstellung von seinen königlichen Pflichten und der mangelnden Anschauung von den concreten Verhältnissen des Lebens liegt, wie wir glauben, die einfache Erklärung seiner Regierungsweise und – die Tragik seines Lebens.

König Johann von Sachsen, dem deutschen Volk schon durch seine Uebersetzung des Dante als Gelehrter und als einer der begabtesten deutschen Fürsten bekannt, hat sich nur selten in der Oeffentlichkeit gezeigt. Es entsprach dies auch ganz der Vorstellung, die sich nach den in’s Publicum dringenden Gerüchten über seine vorzugsweise vermittelnde Thätigkeit bei dem Congreß gebildet hatte. Charakteristisch war es sodann, daß er als der erste Fürst, im schlichten Civilrock, den zoologischen Garten besuchte und sich hier mit vieler Aufmerksamkeit und Ausdauer die einzelnen Thiere und deren Naturgeschichte erklären ließ. Das Aeußere des Königs wich nur wenig davon ab, wie man sich ihn nach den bekannten Bildern vorgestellt hatte. Man wußte, daß der König – vielleicht als der einzige deutsche Fürst – seinen Bart glatt rasiren läßt, man wußte, daß er es liebt, in bequemer Civilkeidung zu gehen, man wußte, daß er sich bereits in vorgerücktem Lebensalter befindet. Die festen klugen Züge, das etwas vortretende Kinn, die kleinen, grauen, ruhigen Augen entsprachen auch im Uebrigen der Vorstellung, die man sich von dem vielseitig gebildeten, geistig thätigen alten Herrn gemacht hatte.

„Das gilt dem Coburger, daß Ihr’s wißt!“ rief bei der Auffahrt zum Römerbanket ein vor uns stehender Arbeiter, nachdem er in das Hoch auf den eben vorbeigefahrenen Herzog Ernst von Coburg kräftig eingestimmt hatte. Es lag etwas gar Zutrauliches [664] in dieser halb komischen Aeußerung des Arbeiters, und sie kann wohl als der Ausdruck der Volksstimmung gelten, die sich für den Herzog gebildet hat. Herzog Ernst war noch vor einem Jahre in der Schützenjoppe zu Frankfurt gewesen und hatte vor den Augen von Zehntausenden als Ehrenpräsident des deutschen Schützenbundes die Bundesfahne eingeweiht, er war ja überdies lange genug in den reactionären Blättern als der Herbergvater des Nationalvereins geschmäht worden, ihm konnte, wo er sich auch blicken ließ, der Jubel des Volkes nicht fehlen. Aber die Volksgunst ist wandelbar, und man hat es gerade Herzog Ernst, dem „schlichten Patrioten“, wie er sich in der Schützenfesthalle selbst genannt, nicht wohl genommen, daß er bei der Wahl zwischen den Forderungen Oesterreichs und den Forderungen des Abgeordnetentages, zwischen Delegirtenversammlung und Parlament für die Delegirtenversammlung und gegen das Parlament sich erklärt hat. Großherzog Friedrich von Baden, der nichts weiter hat sein wollen, als ein verfassungstreuer, für das Wohl seines Landes thätiger Fürst, ist auch dem Ruf des Kaisers gefolgt, aber er hat darum doch nicht die Rechte des Volkes verleugnet. Dieser Vergleich ist am Schluß des Fürstentages vielfach angestellt worden und zwar nicht zum Vortheil des Herzogs. Herzog Ernst ist ein begabter, kluger Mann; das spricht aus den fest geschlossenen Lippen und dem ganzen geistig durchwehten Ausdruck seines Gesichtes, das haben auch seine Reden in Gotha und in Frankfurt bewiesen. Aber das Volk schätzt Festigkeit höher als Klugheit, und wenn der Herzog den Ruhm des Diplomaten mit dem Ruhm des Volksvertrauensmannes verbinden will, so darf er in den Fragen der Freiheit des Volkes den Diplomaten nicht über den Volksmann Herr werden lassen. Der Fürstentag ist an dieser Klippe gescheitert; mag Herzog Ernst sich vorsehen, daß ihm – wenn auch vielleicht mit Unrecht – nicht Gleiches widerfährt.

Die übrigen Fürsten – mit Ausnahme des wackern volksfreundlichen Großherzogs von Weimar, den ich aus eigener Anschauung nicht zu schildern vermag – traten wenig oder gar nicht in den Vordergrund, und die Frankfurter und alle hier anwesenden Fremden haben sich auch wenig um sie gekümmert.

Die regierenden Herren sind seitdem aus Frankfurt wieder geschieden, ein unfertiges Werk als das Ergebniß vierzehntägiger Verhandlungen hinterlassend; unfertig nicht blos deshalb, weil es ihnen weder gelungen, unter sich eine Einigung zu erzielen, noch auch Preußens Zustimmung zu erlangen, nein unfertig vor Allem deshalb, weil sie es abermals nicht über sich vermocht, dem Volke zu geben, was des Volkes ist: ein aus freier Wahl hervorgegangenes Parlament. Es hat den deutschen Fürsten bei ihren Berathungen an einer warnenden Stimme nicht gefehlt. Noch ehe sie zur fünften Sitzung fuhren, lag schon das einstimmige Urtheil des deutschen Abgeordnetentages über den österreichischen Entwurf fertig da. Entgegenkommender konnten die deutschen Abgeordneten sich nicht äußern, als sie es gethan. An den Fürsten wäre es gewesen, von all den gegründeten Bedenken, welche vorgebracht waren, vor Allem wenigstens das Entscheidende zu berücksichtigen: die Forderung einer deutschen Volksvertretung auf Grund freier Wahlen. Vergebens! Man verfiel auf’s Neue in den unbegreiflichen Irrthum, daß man den jungen Wein in alte Schläuche füllen, daß man denselben Geist, dessen gewaltiges Drängen und Streben überhaupt doch den ganzen Fürstentag zusammen gebracht, daß man dem mächtig aufstrebenden Geist der deutschen Nation die Form für seine Bethätigung beliebig zurecht schneiden könne.

Die Folgen dieses Verfahrens liegen bereits klar am Tage. In allen Theilen Deutschlands hat sich das Volk den Forderungen des Abgeordnetentages angeschlossen und die von den Fürsten beschlossene Bundesreform zurückgewiesen; Preußen hat seinerseits die Forderung eines freigewählten Parlaments sich angeeignet und verlangt, daß in Ministerialconferenzen die Verhandlungen weiter geführt werden, und in Folge dieses gemeinsamen Widerstandes Preußens und des deutschen Volkes ist die vom Fürstentag beschlossene Bundesreform wirklich geworden, was der Abgeordnetentag vorausgesagt hatte: „schätzbares Material“ für die Zukunft. Wo sind die Hoffnungen und Erwartungen hin, mit denen wir dem Zusammentreten des Fürstentages entgegengesehen? Ist es wirklich wahr, was man sich jetzt schon voll Mißtrauen in’s Ohr flüstert: das ganze Project habe weiter keinen Zweck gehabt, als eine Handhabe zu bieten zur Sprengung des Zollvereins? Wir wissen nicht, ob die Zweifler Recht haben, und noch berechtigt Nichts zu der Annahme, daß man es wirklich gewagt, mit den heiligsten Interessen unserer Nation ein schnödes Spiel zu treiben.

Aber wie dem auch sei, ganz ohne Ergebniß ist denn doch der deutsche Fürstentag nicht auseinander gegangen, mag im Uebrigen aus seinen Beschlüssen werden was da will: das ist die abermalige und diesmal freiwillige und deshalb unwiderrufliche Anerkennung der Fürsten Deutschlands, daß der jetzige Zustand unserer Bundesverfassung „schlechthin chaotisch“ sei, daß „der Boden schwankt unter den Füßen dessen, der sich auf ihn stellt,“ und daß „der bloße Wunsch, die morschen Wände möchten den nächsten Sturm noch aushalten, die dazu nöthige Festigkeit nimmermehr zurückgeben kann.“ An diesem Geständniß aber wollen wir festhalten, denn es ist ein von den Fürsten selbst ausgestellter Frei- und Majestätsbrief für die deutsche Nation. Wo ist der Richter, der künftig noch Bestrebungen in den Volkskreisen verurtheilen mag, die auf die Herstellung einer besseren deutschen Bundesverfassung gerichtet sind? Selbst wenn sie irrig wären, diese Bestrebungen, können sie deshalb für schuldig erklärt werden, nachdem die Bestrebungen der deutschen Fürsten selbst sich als irrig herausgestellt?




Octoberfeuer.
Von Johannes Scherr.

Napoleon, der letzte eigenwüchsige und großangelegte Despot, hatte seinen Kaiserthron mit beispielloser Genialität bis hoch in die Wolken hinaufgebaut. Auf der schwindelnden Höhe desselben stehend, sagte er nach der Geburt des Königs von Rom zu Cambacérès: „Ein Sohn ist Uns geboren! meine Dynastie hat unausrottbare Wurzeln geschlagen; mich zu fällen ist unmöglich!“ In diesen Worten rasete schon die tolle Ueberhebung des Kaiserwahnsinns, in welchen die Nichtswürdigkeit seiner Anbeter und seiner Sclaven – und letztere zählten nach Millionen – den glücklichen Abenteurer, den Meineidigen vom 18. Brumaire, den wundersamen Mischmasch von Heros und Histrio allmählich hineingeschmeichelt hatte. Mit kolossaler Wucht lastete die eiserne Adlerkralle des Eroberers auf dem Festland von Europa. Als er jedoch im Wahnwitz seines Weltherrschaftstraumes die erobernde Kralle über den Niemen, über die Wolga, über den Ural hinweg und nach Asien hinein, nach Indien hinüber strecken zu wollen sich vermaß, als er, dem Moloch seiner Herrschergier eine unerhörte Menschenhekatombe darzubringen, sechsmalhunderttausend Söhne aller continentalen Völker auf die russischen Steppen und in’s Verderben schleppte, da trat ihn die Nemesis an. Drei Werkzeuge aber erwählte sich zunächst die rächende Göttin: – den Stein, welcher zu Petersburg in der Seele des Czaren die Glut des Napoleonhasses schürte; den Rostoptschin welcher in das heilige Moskau die Brandfackeln schleuderte – eine That, deren Größe der kleine Sinn unserer kleinen Gegenwart kaum noch zu ermessen vermag – und den York, welcher durch den in der poscheruner Mühle mit den Russen abgeschlossenen Vertrag von Tauroggen der schwankenden Politik Preußens endlich wieder einen Halt und zur Befreiung Deutschlands von der schmach- und jammervollen napoleonischen Zwingherrschaft das Signal gab.

Sie wurde vollbracht. Aber „wenn heut’ ein Geist herniederstiege“, der Geist von einem aus jenen heldenmüthigen Tausenden, welche dafür gestorben, und die Frage erhöbe. „Was ist aus dieser Befreiung geworden?“ – was würdet ihr, die ihr damals den Söhnen des Vaterlandes so viel versprachet, was würdet ihr zu antworten vermögen? Ah, es ist nicht schwer zu errathen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In grandioser Monotonie und doch zugleich mit buntestem Scenenwechsel bethätigt sich das welthistorische Gesetz von Ebbe und Fluth. Zeiten giebt es, Ebbezeiten, wo das Feld des Denkens wüst liegt und „Alles des Nutzens hartem oder des Genusses schwelgerischem

[665] Dienste verkauft ist“, wo alle edleren Instincte aus der Gesellschaft verschwunden scheinen, wo die Begeisterung ein Spott und die Scham ein Gelächter, wo die Bestie gemeiner Selbstsucht frech aus dem Menschen hervorgrinst, die Völker dem Despotismus entgegenkriechen, um ihm die Füße zu küssen und seinen Speichel zu lecken, die Pfaffen dem glücklichen Verbrechen ihr Tedeum singen, ein charakterloser Literatentroß gelungene Schurkereien zu „Gesellschaftsrettungen“ umschönfärbt, die Männer ihre Talente, die Frauen ihre Reize dem Meistbietenden zuschlagen und über alle die tausend privatlichen Niederträchtigkeiten die öffentliche Feigheit als ein verbindender Kleister giftig sich hinschleimt. Und wieder giebt es Zeiten, Fluthzeiten, wo aus dunkeln Wetterwolken schwerster Noth die heiligen Gedankenblitze Freiheit und Vaterland herniederfahren und zündend in die Herzen schlagen, daß sie auflodern in reinen Flammen, welche alles Kleine, Gemeine, Schlechte verzehren und die Menschen emporflügeln in die Aetherhöhen der Ideale. In solchen Völkerfrühlingstagen werden edle Gelübde begeistert gethan und schön erfüllt, werden schmerzlichste Opfer lächelnd gebracht, werden Fesseln gesprengt und Frevel gesühnt, werden Thermopylenkämpfertode gestorben, Marathonschlachten geschlagen und wandeln die Nationen in glorreichem Auf- und Vorschritt die Bahnen, die ihre Seher und Propheten ihnen gewiesen.

So ein Frühling ist im Jahre 1813 über Deutschland aufgegangen. Aber „wenn heut’ ein Geist herniederstiege“, zu fragen: „Welches waren die Früchte der Blüthenträume von damals, für die wir Gut und Blut dahingegeben?“ – so gäbe es nur zu antworten: Man schlug die Blüthen von den Bäumen, bevor sie zu Früchten werden konnten, und das Resultat des „Befreiungskriegs“ war eine aus Macchiavellismus und Brutalität monströs gemischte Politik, welche, was 1813 eine Tugend gewesen, zum Verbrechen stempelte, die deutschen Jünglinge wie Bösewichte hetzte, weil sie ihre Mutter Germania liebten, und jede leise Mahnung an die Rechte des Volks und die Bedürfnisse der Nation wie Raub und Mord verfolgte, – eine Politik, die, von Verblendung in Verblendung fallend und Schuld auf Schuld häufend, bis in unsere Tage herein unselig fortgewirkt hat.

Und doch, wie erquickt es Auge und Seele, durch all das Dunkel bitterer Enttäuschungen in die Frühlingshelle von 1813 zurückzublicken! Wie erquickt dieser Rückblick Auge und Seele selbst dann, wenn er keineswegs durch das Kaleidoskop einer unseren Gefühlen leicht sich einschmeichelnden Schönfärberei geschieht, sondern ohne alle so oder so zugeschliffene Gläser vom festen Standort geschichtlicher Wahrhaftigkeit aus!

Die Größe des nationalen Elements in der Erhebung Preußens, voran Ostpreußens, im Frühjahr von 1813 wird noch überwogen durch das freiheitliche, durch den Charakter bürgerlicher Selbstthätigkeit, welcher so überraschend und so gediegen diese ganze Bewegung kennzeichnete. Es ist ganz unzweifelhaft das schönste Blatt in der Geschichte des deutschen Volkes. Nach jahrhundertelanger feudaler Barbarei und fürstlicher Despotie trat hier mit einmal ein deutscher Volksstamm in seiner Gesammtheit, Bürger, Bauern und Edelleute mitsammen, handelnd auf die weltgeschichtliche Bühne, mit wunderbarer Energie, Opferwilligkeit und Gesetzesachtung das nothgebotene Selfgovernment übend. Dazu gebietet die Gerechtigkeit, ausdrücklich zu sagen, daß, was im Frühjahr von 1813 in Preußen, vorab in Ostpreußen geschah, zugleich auch das schönste Blatt in der Geschichte des deutschen Adels ausmacht. Denn weit, fürwahr, ist der argwöhnische Gedanke hinwegzuwerfen, daß der preußische Adel damals im Grunde doch nur für die Restauration altpreußischer Junkerei auf- und eingestanden sei. Nein, auch er fühlte und handelte unter dem Antrieb des heiligen Sturmes, dessen Odem damals die Seelen weitete.

Das Vaterlandsgefühl und die Freiheitssehnsucht waren mächtig in den Menschen. Ein von Lessing, Kant, Schiller und Fichte erzogenes Geschlecht war herangewachsen. Denn nicht in der Schule einer die Geschichte fälschenden, von einem erlogenen Mittelalter faselnden Romantik, sondern in der Region, wo der von jenen vier Erwählten ausgegossene Ideenstrom rauschte, ist der Geist von 1813 großgezogen worden, in der Region, wo der Genius des Tellschöpfers waltete, die Herzen aller Empfänglichen mit sittlichem Pathos und edelstem Enthusiasmus tränkend. Wir Nachgeborenen, enttäuscht, verbittert und hoffnungsarm, wir können uns kaum noch einen Begriff machen von dem „lechzenden Durst“, womit nach Schiller’s Hingang die deutsche Jugend sich herbeidrängte, um sich „am Quell seiner Poesie zu berauschen“. Kein Wunder demnach, daß wir in den echten und rechten Zeitgesängen der Befreiungskriegsepoche, in den Liedern von Ludwig Uhland, Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner, in den aus unerschöpflichem Born quellenden Ehren- und Spottversen, Zeitgedichten und geharnischten Sonetten von Friedrich Rückert, wie später noch in den Liedern von Julius Mosen, überall der leuchtenden Feuerspur der Muse Schiller’s begegnen. Und nicht etwa nur in Dichterklängen, nicht etwa nur in den Herzen einer Jugend, welche auf blutigen Walstätten bald herrlich erwies, wie todesmuthig-ernst ihre Begeisterung war – nein, allenthalben, wo ihr zu jener Zeit in Deutschland fühlende Frauen und denkende Männer reden hört, vernehmt ihr den Wiederhall der ewigen Worte, welche Schiller seine Attinghausen und Stauffacher in die Zukunft hatte streuen lassen, eine tausendfältig, millionenfältig fruchtbringende Gedankensaat. Ja, das Vaterlandsgefühl war mächtig in den Menschen, und eines höher gehobenen Lebens Pulsschlag ging durch das Volk.

Preußen, das unter dem Griff der napoleonischen Adlerkralle auf die Hälfte seines vormaligen Gebiets eingeschrumpfte, ausgesogene, ausgepreßte, zerstampfte Preußen hat im Frühjahr von 1813 Opfer gebracht, die geradezu beispiellos sind. Jener glorreiche Königsberger Landtag, in dessen Beschlüssen der Sturmgeist der Zeit den verknöcherten altfritzigen Absolutismus entschieden durchbrach, gab dem übrigen Lande das schönste Beispiel, indem er, wie jedes seiner Mitglieder willig und bereit war, den letzten Sohn und den letzten Thaler der Sache des Vaterlandes darzubringen, so auch nicht anstand, für diese Sache den letzten Nerv der Provinz anzustrengen. Was dieses Ostpreußen, nach allen den ungeheuren Leiden und Einbußen von 1807 bis 1813 jetzt leistete, kann man an der Thatsache ermessen, daß es von je 100 Männern zwischen 18 und 50 Jahren nicht weniger als 45 unter die Waffen, im Ganzen 71,445 zur Linie und Landwehr stellte und trotz der bitterlichen Armuth und Noth, welche im Lande herrschte, zur Ausrüstung der Landwehr allein 1,025,859 Thaler aufbrachte. Solche Wunder wirkt Vaterlandsgefühl. Hier, in Königsberg, ist der große Scharnhorst’sche Gedanke der Schaffung eines deutschen Volksheers damals zuerst zur Verwirklichung gekommen. Der Graf Alexander von Dohna, Vorsitzer des Landtags, hat damals das beste Wort gesprochen, welches jemals aus eines deutschen Edelmanns Mund gegangen, ein Wort, welches so recht den Kern von Scharnhorst’s Landwehridee bloßlegte: – „Wir wollen Alle Krieger sein, aber Bürger bleiben!“

Und „wenn nun heut’ ein Geist herniederstiege“ und fragte: „Sind die Nachkommen solcher Väter Bürger geblieben?“ so würde er zur Antwort erhalten: „Das nicht, aber sie sind dafür „„kleine Herren““ geworden“ …

Während die am frischen Haff entzündete Flamme Ostpreußen durchlohte, nach Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien hereinschlug und ihren Feuersaum bis zur Elbe heranrollte, an den Gestaden der Ost- und Nordsee in den Bauerschaften Etwas vom alten Stedinger- und Dithmarsensinn, in den Städtern Etwas vom alten Hansageist weckend, bliesen und trieben zu Breslau die Männer der That, des Losschlagens, des Wagnisses auf Leben und Tod, die Männer des Widernapoleonismus, die Franzosenhasser und Deutschgesinnten, die Scharnhorst, Blücher und Gneisenau, die Boyen und Grolman zur Sammlung, zum Entschluß, zum Handeln.

Schon der erste königliche Erlaß vom 3. Februar wirkte elektrisch, und prächtig ward offenbar, was man einem gesunden Volke zutrauen darf und soll. Die preußische Jugend bis weit in’s Mannesalter hinein erhob sich unter dem Jubelrufe: „Krieg, Krieg für Freiheit und Vaterland!“ Denn diese war die echte und ursprüngliche Losung. Die Hörsäle der Universitäten, die oberen Classen der Gymnasien, die Comptoire, die Kunst- und Werkstätten leerten sich, die Pflüge standen verlassen. Väter und Mütter weihten ihre Kinder, Schwestern ihre Brüder, Bräute ihre Bräutigame, Frauen ihre Gatten dem heiligen Krieg. Die Städte begannen von Freiwilligen zu wimmeln, die Straßen von den ziehenden Schaaren zu stauben. Greise griffen mit Jugendkraft nach den Waffen; Knaben flehten schluchzend, wenigstens als Trommelschläger mitgehen zu dürfen; Manchen, an deren jungfräulichem Ruf nicht der leiseste Makel, schwangen sich, vom heiligen Eifer über die Bedenklichkeiten ihres Geschlechtes hinweggehoben, in den Husarensattel oder bewehrten sich mit der Jägerbüchse, und mehr als eine der schönen Kriegerinnen hat höchste Proben der Tapferkeit abgelegt, [666] und mehr als eine ist den schönsten der Tode gestorben. Und weil die Weihekraft der großen Stunde alle Alter und Geschlechter, alle Stände und Berufsclassen mit Macht durchdrungen hatte, ward es möglich, daß das kleine, arme Preußen im Frühling und Sommer von 1813 nicht weniger als 271,000 Streiter unter die Fahnen bringen konnte. Ach, das war damals ein Leben und Weben im alten Breslau, wo die Schalen der Weltgeschickswage auf- und abstiegen, wo das Herz Deutschlands schlug, wo in der rauchigen Bierstube „zum Scepter“ die edelste Blüthe deutscher Jugend sich drängte, um in die Freischaar der Lützower einzutreten, in jene „Schwarze Schaar“, in deren Sinn der Krieg, zu welchem sie sich rüstete, kein Krieg war, „von dem die Kronen wissen,“ kein Fürsten- und Diplomatenkrieg, sondern ein Volkskrieg, aus dem Mutter Germania in verjüngter Herrlichkeit hervorgehen sollte! Und wie bog sich in diesen Tagen der „Altar des Vaterlandes“ unter der Last der auf ihn gehäuften Opfergaben! Das Einzige, Letzte, Theuerste, mit rührender Beeiferung ward es dargebracht, und kecklich darf man sagen, daß wie mit seinem Blute so auch mit seinem Gute niemals ein Volk freigebiger gewesen sei, als das preußische im Jahre 1813, wenn man betrachtet, daß das arme und ausgesogene Land neben den von Gemeinde- und Staatswegen geforderten Opfern noch freiwillige im Betrage von Millionen aufgebracht hat.

Daß, was Preußen durch den Befreiungskrieg errang, in gar keinem Verhältniß zu seinen Anstrengungen und Leistungen stand, daß die ursprüngliche Idee dieses Krieges, d. h. die Wiedergeburt und zeitgemäße, auf der Basis bürgerlicher Freiheit zu bewerkstelligende Neugestaltung des deutschen Reiches, wie sie durch das berühmte „Manifest von Kalisch“ vom 25. März dem deutschen Volke feierlich verkündigt und verheißen wurde, gar nicht zur Erfüllung kam, ist auf verschiedene unheilvolle Ursachen zurückzuführen. Erstens auf die Schwäche der preußischen Diplomatik, welcher Richtung und Energie zu geben die Hardenberg und Humboldt nicht das Zeug hatten. Zweitens auf die Falschheit des Czaren Alexander, welcher zwar die Kräfte Deutschlands zu seinen widernapoleonischen Zwecken ausnutzen wollte, aber selbstverständlich der Schaffung eines großen und mächtigen Deutschlands durchaus entgegen war. Drittens auf die verhältnißmäßig geringe Tragweite des deutschen Erhebungsgedankens. Denn es muß gesagt werden, daß es nur ein Märchen ist, wenn geglaubt wird, die Flamme des Befreiungskrieges habe hingeschlagen über alles deutsche Land, wie sie der Meinung des Freiherrn von Stein zufolge hätte thun sollen und können. Sie that es aber nicht. In Oesterreich hatte, wie das eine durchaus natürliche Folge des von Franz und Metternich consequent eingehaltenen Mißregierungssystems war, der Widernapoleonismus nicht entfernt einen freiheitlichen und deutschnationalen Charakter, sondern einen ausgeprägt reaktionären, aristokratisch-absolutistischen und widerdeutschen. Aber auch abgesehen von Oesterreich, hatte die Bewegung nur das östliche und nördliche Deutschland ganz und voll ergriffen, während sie im südwestlichen nur sporadisch vorkam, nur einzelne Bekenner und Förderer hatte. Die rheinbündischen Fürsten waren fanatische Napoleonisten und blieben es, bis ihnen unter österreichischer Vermittelung ihre volle Souverainetät gewährleistet wurde und damit den nationalen Hoffnungen die Axt an die Wurzel gelegt war. Allerdings war der Wellenschlag des deutschen Gedankens stark genug, um auch in die höfischen Regionen hinaufzureichen, und es waren in diesen Kreisen z. B. der Kronprinz Wilhelm von Würtemberg im freisinnig-nationalen und der Kronprinz Ludwig von Baiern im mittelalterlich-romantischen Sinne davon erfaßt; aber bekannt ist auch, daß Beide ohne allen Einfluß auf das Verhalten ihrer Höfe gewesen sind. In Würtemberg war die größte Kraftäußerung des patriotischen Geistes von 1813 diese, daß ein, wohlverstanden noch nach dem Beitritte des Königs zur widernapoleonischen Allianz, im Local des Stuttgarter Lesevereins angeschlagener obrigkeitlicher Befehl, „nicht über Politik zu reden,“ herabgerissen wurde und zwar „ungestraft“. Wir wissen auch, daß besagter König, als die Nachricht eingegangen, daß Napoleon den unfähigen Wrede bei Hanau über den Haufen gerannt habe, sich zu einem Siegesbanket niedersetzte und unter Trompeten- und Paukenschall ein Hoch auf seinen „erhabenen Protector“ Napoleon ausbrachte.

Es ist eine schmerzliche Thatsache, daß der Empereur hauptsächlich durch den umfassend und eifrig geleisteten Gehorsam, welchen seine Befehle bei den Rheinbundsfürsten fanden, deren Truppen sich bis zum Herbst mit unbestrittener Tapferkeit für den Zwingherrn schlugen, in den Stand gesetzt war, im Frühlingsfeldzug von 1813 den verbündeten Preußen und Russen noch einmal den Meister zu zeigen und dadurch namentlich dem Kaiser Alexander die Ueberzeugung beizubringen, daß Rußland, Preußen und England mitsammen unvermögend wären, den Napoleonismus zu bewältigen. Die Folge hiervon war, daß man Oesterreichs Beistand um jeden Preis erkaufen zu müssen glaubte, und der Preis, welchen Oesterreich dafür forderte und bewilligt erhielt, ist wahrlich ein hoher gewesen. Der starre und zähe Kaiser Franz, in dessen Hand der frivole, bis zur letzten Faser entdeutschte Metternich nur ein schmiegsames, geschickt zugeschnittenes und wohleingeöltes Werkzeug war, ließ sich, also zum Meister der Situation geworden, durch seine Minister „von dem Bonaparte losmachen“, wie er es nannte. Denn er haßte, wie bekannt, seinen Herrn Schwiegersohn gründlich; aber durchaus nur darauf zielend, die gute Gelegenheit zu benutzen, um Oesterreich seine ehemalige Machtstellung zurückzuverschaffen, wollte er den Napoleonismus nur eingeschränkt und keineswegs vernichtet wissen. Erstens, weil ihm die napoleonische Macht als Gegengewicht gegen die russische dienlich schien; und zweitens, weil sich seinem Haß doch wieder ein geheimes Gefühl der Achtung, ja so zu sagen der Zärtlichkeit für den Vernichter der Revolution und schwiegersöhnlichen Meisterdespoten beimischte. Metternich, ein Staatsmann ohne alle Initiative und aller selbstständigen Ideen bar, aber ein Meister der Formen diplomatischer Spiegelfechterei, vollbrachte die ihm übertragene Arbeit, Oesterreich aus dem französischen Lager in’s verbündete hinüberzulootsen, mit Geschicklichkeit, wenn auch nur unter dem mächtigen Beistand der starren Hartnäckigkeit Napoleon’s. Er stellte zunächst den ersehnten Beitritt seines Kaisers zu ihrer Allianz den Verbündeten in Aussicht, aber unter zwei Grundbedingungen. Zum Ersten müßte in das ganze widernapoleonische Geschäft ein „correcterer Styl“ als der bisher eingehaltene gebracht werden. Von „Freiheit“, „deutschem Vaterland“, „Volksrechten“, „nationaler Verfassung“ und anderen dergleichen „Ungeheuerlichkeiten“ mehr, wie die „beklagenswerthe“ Proklamation von Kalisch sie „leider“ in Umlauf gebracht, müsse unbedingt Abstand genommen, jenes „gefährliche“ Manifest selbst für immer der Vergessenheit überwiesen, ferner jede Appellation an das Nationalgefühl der Massen vermieden, der mit Kundgebung „jakobinischer“ Grundsätze begonnene Krieg durchaus in die correcten Geleise eines „nüchternen Cabinetskrieges“ hinübergeleitet, jede Betheiligung der Völker an den öffentlichen Angelegenheiten, soweit sie nicht eine allerhöchst befohlene sei, energisch zurückgewiesen und dafür gesorgt werden, daß die unbequeme und verdammliche Hitze des „Freiheits- und Vaterlandsrausches“ unter dem Kühlapparat „reindynastischer Interessen“ unschädlich „verdampfe“. Zum Zweiten dürfe dem Empereur nicht zu Viel zugemuthet und müsse – wie das Oesterreich in seinen „maßvollen“ Friedensvorschlägen präcisiren werde – insbesondere zu dessen Gunsten auf die „Chimäre“ der vollständigen Befreiung eines „chimärischen“ Deutschlands von den Franzosen verzichtet werden. Diese Bedingungen und Bestimmungen gingen Rußland und Preußen ein, und darauf hin schloß Oesterreich mit ihnen den Reichenbacher Vertrag (27. Juni), kraft dessen es versprach, der widernapoleonischen Allianz beizutreten, falls Napoleon die Friedensvorschläge Oesterreichs verwerfen würde.

Er verwarf sie. In der That, er verwarf diese „maßvollen“ Friedensbedingungen, welche ihn im Grunde ganz als den gelassen hätten, der er war. Denn die Franz-Metternich-Politik wollte ihm ja alles Ernstes den Besitz von Frankreich, Italien, Belgien, Holland, der Schweiz, dem linken Rheinufer, Westphalen und dem Rheinbunde lassen, dessen Auflösung nur als „wünschbar“ bezeichnet wurde. Wundersam, aber sehr wahr: Deutschland hat nie einen grimmigeren Feind, aber auch nie einen besseren Freund wider Willen gehabt, als den Napoleon! Nicht allein deshalb, weil sein eiserner Zwingherrnbesen Berge von mittelalterlichem Unrath aus deutschen Landen weggefegt hat; auch nicht deshalb nur, weil seine Tyrannenfaust dem schlafenden Deutschthum so in die Seele griff, daß es endlich wieder erwachen mußte; sondern auch und ganz insbesondere deshalb, weil er in seinem Kaiserwahnsinn den elenden, undeutschen und widerdeutschen franz-metternichischen Frieden, welchen er im Juni zu Dresden, im August zu Prag, ja, wenigstens was die Hauptsache, d. h. die Fortdauer seines Kaiserthums betraf, noch im folgenden Jahre zu Chatillon hätte schließen können, hochmüthig verwarf.

Er that es, wie Jedermann weiß oder wissen könnte, zu Metternich’s tiefem Bedauern, und der österreichische Minister hat, [667] unzweifelhaft mit Wissen und Willen seines Herrn, vor dem er Staub war, auch noch nach der Eröffnung des Herbstfeldzugs von 1813 sein „Finassiren“ mit Napoleon fortbetrieben, sehr eifrig namentlich unmittelbar nach der letzten großen Liebkosung, welche Dirne Fortuna ihrem verwöhnten Liebling am 27. August bei Dresden zu Theil werden ließ. Aber die preußischen, gegen den Willen des erbärmlichen Zweiächslers Bernadotte erfochtenen Siege von Großbeeren und Hagelsberg – dann der große Blüchersieg an der Katzbach und endlich der russisch-österreichisch-preußische Triumph bei Culm, sie machten dem „Finassiren“ vorerst ein Ende und knüpften den Knoten der Allianz Oesterreichs mit den Verbündeten mittelst des Teplitzer Vertrags vom 9. September fester. Auch hiebei aber setzte es in Betreff der deutschen Sache seine Absicht und seinen Willen durch. Der Freiherr von Stein forderte bei dieser Gelegenheit bekanntlich die Wiederherstellung des deutschen Kaiserthums in verbesserter Gestalt. Preußen widersetzte sich und noch entschiedener Oesterreich. Hardenberg und Humboldt schlugen dann die Errichtung eines deutschen Bundes vor mit straff-föderativen Formen, kraft welcher die Souverainetätsansprüche der mittleren, kleineren und kleinsten deutschen Staaten zu Gunsten des Ganzen beschränkt werden sollte. Allein auch davon wollte Oesterreich Nichts wissen, und Metternich brachte es dahin, daß festgesetzt und erklärt wurde, der Rheinbund zwar müsse aufgelöst werden, allein die Fürsten desselben und überhaupt sämmtliche zwischen dem wiederhergestellten Oesterreich und Preußen, dem Rhein und den Alpen gelegenen Staaten und Stäätchen sollten die volle und unbedingte Souverainetät besitzen („l’indépendence entière et absolue“).

Damit waren die Hoffnungen auf die Herstellung deutscher Nation, auf ein deutsches Gesammtvaterland glücklich vermetternicht, d. h. eingesargt und begraben. Die geäfften Deutschen schlugen sich fortan, indem sie gegen den Napoleonismus weiterfochten, im Grunde nur noch für einen anderen Anstrich ihrer Fesseln, für dynastische Egoismen und diplomatische Ischariothismen, und der veränderte Charakter des ganzen Krieges gab sich hörenden Ohren schon dadurch deutlich kund, daß in den Lagern an die Stelle der Arndt- und Körner’schen Eisen- und Feuerlieder die anbefohlene allbekannte officiell-servile Drehorgelei gesetzt ward. Also triumphirte Oesterreich, die Zweideutigkeit der russischen und die Schwäche der preußischen Politik gleichermaßen irreführend. Und nicht zufrieden damit, Princip und Charakter des widernapoleonischen Krieges gefälscht zu haben, hat die Metternich’sche List nachmals noch den Versuch gemacht, durch die Feder von Judas Gentz auch die Geschichte dieses Krieges zu fälschen, indem sie den genannten Judas, in schreiendem Widerspruch gegen früher von ihm selber gethane Aeußerungen, lügen ließ: „die Völker, die Jugend, die Freiwilligen hätten Anno 1813 so gut wie gar Nichts gethan, sondern Alles sei vollbracht worden durch die wundervolle, im Stillen längst vorbereitete Eintracht der Höfe.“

„Wenn heut’ ein Geist herniederstiege“ und fragte: „Aber ließen sich denn die Völker solchen schnöden, höhnischen Undank gefallen?“ – so müßte die Antwort lauten: Ja wohl! denn was ließen und lassen sich die Völker nicht Alles gefallen? O, sie hatten ja, nachdem sie damals gelitten und gestritten, um also belohnt zu werden, vollauf zu thun, ihre Todten zu begraben, ihre Wunden zu verbinden, ihre eingeäscherten Häuser wieder aufzubauen, ihre zerstampften Felder wieder zu beackern, – wie hätten sie, den schweren Kampf um des Lebens Nothdurft kämpfend, Sinn und Zeit haben sollen, zu bedenken, wie ungeheuer man sie betrogen? …

Etwas jedoch war, allen Metternich’schen Betreibungen und Erfolgen von Reichenbach und Teplitz zum Trotz, auch im Herbste von 1813 vom Frühlingsgeist des großen Jahres noch vorhanden und in frischester Wirksamkeit. Das war der deutschpatriotische Zorn, der flammende Napoleonhaß, welcher in dem Zelte des alten Blücher wachte. Hier lebte fortan der Nerv des Krieges, hier ward der Gedanke: „Herunter muß der Bonaparte!“ täglich auf’s Neue zur That, um mit unlähmbarer Federkraft den Zwingherrn erst nach Elba und dann nach Sanct Helena zu schnellen. Man hat dem Generalissimus der Coalition, dem Fürsten Schwarzenberg, dessen Oberbefehlshaberschaft übrigens mehr nur eine formelle als eine substantielle gewesen ist, vielfach Unrecht gethan, indem man ihm Mängel und Mißgriffe in seiner Kriegsführung zum Vorwurf machte, welche eigentlich ganz andere Leute als er verschuldet haben. Des Fürsten Heercommando war ein Martyrium, wie das seine erst neuestens bekannt gewordenen vertraulichen Auslassungen (in den während der Feldzüge von 1813–14 an seine Frau geschriebenen Briefen) klärlich darthun, und er hat, soweit seine Fähigkeiten reichten, seine Pflicht im Sinn und Geist eines österreichischen Magnaten zwar, aber durchaus als ein redlicher, humaner, ehrenhafter, versöhnlich-vermittelnder Mann gethan. Ganz unzweifelhaft jedoch ist, daß der Schwarzenberg mit dem Napoleonismus nie zu Stande gekommen wäre, falls nicht der widernapoleonische Geist, welcher im Blücher’schen Heere lebte und auch die preußischen Generale und Soldaten beim Nordheer beseelte, unablässig vorwärts und zur Entscheidung gedrängt und getrieben hätte. Es ist jetzt auch anerkannt, von und bei Wissenden wenigstens, daß die berühmte „Zwickmühle“, d. h. der Trachenberger Kriegsplan vom 11. Juli, welchen man lächerlicher Weise Bernadotte zugeschrieben hat, den Napoleon entweder gar nicht oder jedenfalls nicht so tüchtig und vernichtend gezwickt haben würde, wie sie that, falls nicht der Blücher dafür gesorgt hätte, daß die Wände dieser Zwickmühle mehr und mehr um den Schlachtendonnerer her zusammengeschoben wurden.

Wahrlich, der heldenmüthige Alte, welchen Napoleon in seiner Wuth einen „versoffenen Husaren“ und die Umgebung seines Königs einen „betrunkenen Tollkopf“ und „blinden Dreinstürmer“ gescholten haben, er hat den Sinn des restlichen, von Toll, Radetzky und Knesebeck mitsammen entworfenen und festgestellten Kriegsplans am besten begriffen und am thatkräftigsten zur Ausführung gebracht. Das ganze Verhalten des schlesischen Heeres vom Beginn des Herbstfeldzugs bis zum 18. October bezeugt das unwiderleglich. Als die preußischen Generale Bülow, Tauenzien und Borstell abermals ihrem Oberfeldheren Bernadotte zum Trotz am 6. September bei Dennewitz ruhmvoll geschlagen und glänzend gesiegt hatten, begann Blücher, nachdem er sich mit diesen seinen Waffenbrüdern verständigt hatte, seine „Rechtsabschwenkung“ aus Schlesien und erzwang am 3. October bei Wartenburg, wo der York mit seinem Harst hochherrlich die „Pflaumenschlacht“ focht und gewann, den Uebergang über die Elbe, welcher auch den Bernadotte, obzwar sehr gegen seinen Willen, über den Strom nachzog und dem schwarzenbergischen Heere Luft und Lust schuf, wiederum aus Böhmen hervorzubrechen und zwar diesmal in der Richtung auf Leipzig. Diese Blücher’sche Handhabung der kolossalen Heerzange, womit die Verbündeten ihren Gegner zu umfassen und zu packen suchten, ist es gewesen, welche den Napoleon zwang, endlich die Elblinie aufzugeben und, nach dem fehlgegangenen Stoß in der Richtung auf Düben, in die Ebenen von Leipzig zurückzuweichen, wo aber nicht, wie er noch immer sich schmeichelte, ein entscheidender Sieg, sondern eine vernichtende Niederlage seiner wartete. Nicht also, wie die napoleonische Mythologie gefabelt hat, der „Abfall“ Baierns, welchen Napoleon erst am 13. October erfuhr, nachdem er schon am 8. Dresden verlassen hatte, sondern der Elbübergang Blücher’s war das entscheidende Moment in der Kette von Ursachen, welche die Entscheidung bei Leipzig herbeigeführt haben. Daß aber der Entscheidungstag schon der 16. October, daß der eigentliche Held dieses Tages der geniale Feldhauptmann und tapferste Soldat Prinz Eugen von Würtemberg bei Wachau und der eigentliche Entscheider der alte Blücher bei Möckern gewesen ist, darüber kann heute gar kein Zweifel mehr sein.

Es verdient als ein eigenthümliches Schicksalsspiel noch besonders hervorgehoben zu werden, daß, während der „dicke Frieder“ von Würtemberg eine der Hauptstützen der napoleonischen Zwingherrschaft in Deutschland war, ein Prinz seines Hauses, der genannte „Prinz Eugenius der edle Ritter“, in den Feldzügen von 1812, 1813 und 1814 als einer der tüchtigsten Hebel zum Sturze des Napoleonismus sich bewährte. Und ebenso muß betont werden, daß es ein schwersterworbenes, aber größtes Verdienst des alten Recken Gebhard Leberecht gewesen ist, den „Piaffirer“ (Großthuer) Bernadotte, dem die zweideutige czarisch-alexandrische Politik zu einer Rolle verholfen hatte, welche die Befähigung und noch mehr den Charakter des Gascogners weit überstieg, an der Elbe festzuhalten und auf das Entscheidungsfeld „heranzukriegen“. Mußten doch alle Saiten der Geduld sowohl als der Entschiedenheit aufgezogen werden, um zu erreichen daß der gasconische Capriolenschneider, welcher aus dem trüben Wasser seines Gebahrens die Krone von Frankreich heraufzufischen wähnte, mit seinen 90,000 Mann da nicht ausrisse, wo der Blücher mit seinen 60,000 Mann anzugreifen entschlossen war. Es ist uns, beiläufig bemerkt, aus

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Vogelansicht des Schlachtfeldes von Leipzig.

Stellungen der Franzosen

vom 16. October
vom 18. October

Stellungen der Verbündeten

vom 16. October
vom 18. October


Der 16. October 1813. Schlachtfeld bei Wachau.

Französische Linie.

1 Victor, Herz. v. Belluno, II. Corps, 20,000 M.
13 Oudinot, Herzog v. Reggio, 3. u. 4. Div. d. jungen Garde, 12,000 M.
3 Augereau, Herzog v. Castiglione, IX. Corps, 10,000 M.
11 Fürst Poniatowsky, III. Corps, 8000 M.
5 Graf Lauritson, V. Corps, 15,000 M.
9 Mortier, Herzog von Treviso, 2. Div. d. jungen Garde, 12,000 M.
7 Macdonald, Herzog von Tareut, XI. Corps, 15,000 M.

Linie der Verbündeten.

2 Prinz Eugen v. Würtemberg, 10,000 M.
4 General von Kleist, 10,000 M.
12 General Bianchi, österr. Reserve, 15,000 M.
10 Graf Pahlen. III., 3000 M.
6 Fürst Gortschakoff, 9000 M.
8 General Klenau, IV. österr. Corps, 24,000 M.

Bezeichnung der Orte.

A Wachau.
a Dösen.
b Markkleeberg.
c Gröbern.
d Göhren.
e Güldengossa.
f Universitätsholz.
g Liebertwolkwitz.
h Groß-Pößna.
i Colmberg.
o Galgenberg mit Denkmal.


Der 16. October. Schlacht bei Möckern.

Französische Linie.

25 Marmont, Herz. v. Ragusa, VI. Corps, 18,000 M.
17 Gen. Lagrange, II. Div.
15 Gen. Compans, I. Div.
19 Gen. Frederic, III. Div.
21 General Dombrowsky, Sonham, Delmas, vom III. Corps, 12,000 M.


Linie der Verbündeten.

General von Blücher, schlesische Armee, 60,000 M., als:

20 Generallieut. v. York, I. preußisches Armeecorps, 21,500 M.
18 General von Sacken, 9000 Reiter.
14 Generatlieut. St. Priest, 12,000 M. Russen.
16 General Graf Langeron, 18,500 M. Russen.


Bezeichnung der Orte.

B Möckern.
k Wahren.
l Lindenthal.
m Groß-Widderitzsch


Der 16. October. Gefecht bei Lindenau

Französische Linie.

23 General Bertrand, IV. Corps, 10,000 M.

Linie der Verbündeten.

22 General Graf Syulai, III. österr. Corps, 17,000 M.
24 Prinz v. Hessen-Homburg, I. Colonne und III. österr. Corps.
26 Fürst Moritz Liechtenstein, I. österr. leichte Division, 5500 M.

Bezeichnung der Orte

C Lindenau.
n Leutzsch.


Der 18. October. Schlacht und Sieg bei Leipzig.

Französische Linie.

33 Poniatowsky, Augereau, VIII. und IX. Corps. Oudinot, III. u. IV. Div. d. jungen Garde, 30,000 M. –
31 Victor, Lauriston, II. u. V. Corps, 30,000 M. – Macdonald, XI. Corps, 12,000 M. –
39 General Reynier, VII. Corps, 10,000 M. –
41 Ney, Fürst v. d. Moskwa, linker franz. Flügel. –
29 Marschall Marmont, VI. Corps, 15,000 M. (Kampf um Schönefeld.) –
37 General Dombrowsky, 5000 M. –
35 Marschall Mortier, I. u. II. Div. d. jungen Garde, 10,000 M.

Linie der Verbündeten.

34 I. Colonne. Erbprinz v. Hessen-Homburg, später General Graf v. Nostiz, 50,000 M. –
32 II. Colonne. General Barclay de Tolly 50,000 M. –
28 III. Col. General Graf v. Bennigsen, 65,000 M. –
38 IV. Col. Carl Johann, Kronprinz von Schweden, 50,000 M. –
40 Capitain Bogue, engl. Raketenbatterie. –
30 General Graf Langernon, 30,000 M. (Sturm auf Schönefeld.) –
36 V. Colonne. General v. Blücher, 25,000 M.

Bezeichnung der Orte.

D Leipzig.
a Connewitz.
b Dölitz.
c Thonberg.
d Napoleonstein.
e Stötteritz.
f Probsthaida.
g Meusdorf, Monarchenhügel, Schwarzenberg’s Denkmal.
h Holzhausen.
i Zuckelhausen.
k Zweinaundorf.
l Mölkau.
m Baalsdorf.
n Engelsdorf.
o Paunsdorf.
p Sommerfeld.
q Schönefeld.
r Abnaundorf.
s Eutritzsch.
t Gohlis.

Für die zwei Schlachten von Wachau und Möckern und das Gefecht von Lindenau, am 16. October, sind die betreffenden Dörfer mit liegenden Buchstaben, für die Gesammtschlacht am 18. mit stehenden Buchstaben bezeichnet. Die Pfeile deuten die Richtung der betreffenden Corps-Bewegung an.

WS: Der Text wurde mit dem von Seite 669 ergänzt. Zu besseren Übersichtlichkeit wurden die Stellungen vom 18. Okt. sowie die Liste der Orte ebenfalls in Tabellenform dargestellt. [669] WS: Die Texte wurden mit dem Bild auf der vorigen Seite zusammengeführt  [670] jenen Vorbereitungstagen zur Leipziger Schlacht eine hübsche und wohlbezeugte Episode überliefert, echt pommer’sches Gewächs. Unweit vom Petersberg bei Halle begegnet der alte Blücher, Feldmütze auf dem Kopf, abgeschabten grauen Mantel über den Schultern, die ewige Tabakspfeife zwischen den Zähnen, einer verdrossen durch den zähen Lehmbodenkoth sich fortarbeitenden Colonne von Bülow’s Corps. „Na,“ sagt er zu den pommer’schen Grenadieren, „wie freu’ ich mich, meine Pommern wieder mal zu sehen. Habt euch sakermentisch gut geschlagen bei Großbeeren und Dennewitz; so habt ihr, Gott straf’ mir! Und schätz’ ich mir’s recht zur Ehre, so zu sagen auch ein Pommer zu sein.“ Die Grenadiere schauten auf, und da sie den Alten nicht kannten, der ganz allein dahergeritten kam in gar keinem oberfeldherrlichen Aufzug, brummte Einer kopfschüttelnd aus den Reihen hervor: „Ja, det glöw ik wol, nu mag jeder Hundsfott wol een Pommer wesen“ (ja, das glaub’ ich wohl, jetzt will jeder Hundsfott ein Pommer sein). „Schwernöther ihr,“ lachte der Alte, den Gaul wendend, „ihr bleibt immer die Alten, brav und grob, Gott verdamm’ mir!“

Am 14. October waren die Wände der widernapoleonischen „Zwickmühle“ endlich so enge zusammengeschoben, daß innerhalb derselben die Vorbereitungen zu dem beispiellosen Waffenconcert, betitelt Leipziger Völkerschlacht, getroffen werden konnten. Schwarzenberg hatte sich, die schwere Bürde seiner drei Monarchen auf dem Nacken, langsam über das Erzgebirge herübergeschoben und war über Altenburg und Zeitz am südlichen Saume der Walstatt angelangt. Vom Norden her zog Blücher, den heftig sich sträubenden Gascogner mit sich ziehend wie an einem Nasenringe, und bereit, seine zu Halle versammelten Harste auf dem rechten Ufer der Elster über Schkeuditz gen Leipzig vorzuführen. Der Empereur einerseits traf an dem genannten Tage ebenfalls in Leipzig ein, und nachdem er die Stadt umritten hatte, vernahm er in seinem Quartiere zu Reudnitz von Liebertwolkwitz her das Stimmen der Instrumente zu der ungeheuren dreitheiligen oder dreitägigen Symphonia heroica, d. h. das Getöse des Reitertreffens, welches Schwager Murat da draußen gegen preußische und russische Reiterei schlug und verlor. Am folgenden Tage rückten Schwarzenberg’s Schlachthaufen in die Stellungen, in welchen und aus welchen hervor sie am 16. Octbr. den Kampf führen sollten. Den Schlachtplan hatte bekanntlich der aus sächsischen in österreichische Dienste übergetretene General Langenau entworfen. Andere hatten dann an dem ungeschickten Plane ungeschickt herumhantirt, und so kam es, daß Schwarzenberg’s Gewalthaufe in den engen, unwegsamen „Sumpfzwickel“ zwischen Elster und Pleiße gepfercht wurde, wo für Massenentwickelung kein Raum und das vorausgesetzte und geforderte rechtzeitige Hervorbrechen über die Pleiße bei Connewitz einem tüchtigen Feinde gegenüber fast eine Unmöglichkeit war. Napoleon dagegen hatte den rechten Flügel seiner Schlachtordnung an die Pleiße lehnend, seine Hauptstellung auf den sanften, die weite Ebene beherrschenden Bodenerhöhungen bei Markkleeberg, Wachau und Liebertwolkwitz. Gestützt auf das in seinem Rücken liegende Leipzig, meinte er im Stande zu sein, Schwarzenberg und Blücher getrennt zu halten und jenen am 16., diesen am 17. zu schlagen. Ein Herankommen Bernadotte’s glaubte er gar nicht ernstlich mit in seine Berechnung ziehen zu müssen: er kannte ja seinen „Piaffirer“; aber er kannte noch immer nicht den alten Recken, welcher den Piaffirer am Nasenringe hielt. Hätte er den Blücher gekannt und geahnt, was ihm von dieser Seite bevorstand, er würde sich nicht begnügt haben, den Marschall Marmont mit 20,000 Mann und 84. Geschützen nach Möckern zu schicken, um diese allerdings sehr feste Stellung gegen ein allfälliges Vorgehen des Blücherheeres zu bewachen und zu behaupten.

Die Scribenten und Docenten der napoleonischen Mythologie fabelten und fabeln, daß die Verbündeten gleich zu Anfang der Völkerschlacht mit einer „erdrückenden Uebermacht“ gegen ihren Gegner hätten auftreten können. Nun ist aber Thatsache, daß der Entscheidungstag der erste der drei Schlachttage war, und ebenso ist Thatsache, daß an diesem 16. October die Streitkräfte der Verbündeten – Dank dem nicht zweideutigen, sondern geradezu verrätherischen Benehmen, d. h. absichtlichen Nichtherankommen Bernadotte’s – den französischen gar nicht oder doch nur ganz unbedeutend überlegen waren. Denn Napoleon hatte am 16. jedenfalls nicht weniger als 190,000 Mann, worunter etwa 33,500 Reiter, mit 700 Geschützen, wogegen seine Gegner, die getrennten Heere Schwarzenberg’s und Blücher’s (jenes 133,078, dieses 60,431 Mann stark) zusammengerechnet 193.509 Streiter, worunter ungefähr 38,000 Reiter, mit 750 Kanonen aufzubringen vermochten. Und die französische Macht wurde vom Napoleon commandirt, der, wenn auch nicht mehr der ganze, doch noch immer ein Zweidrittels-Napoleon war.

So hat er denn da, wo er selber die kolossale Symphonie dirigirte, d. h. auf der Südseite der ungeheuren Walstatt, am 16. October seinen Feinden den alten Kriegsmeister und Schlachtendonnerer noch einmal gezeigt. Aber doch nicht mehr, lange nicht mehr in der früheren zermalmenden Wetterstrahlsweise. Besonders unglücklich stritten an diesem Tage die österreichischen Generale Gyulai vor Lindenau, Merveldt bei Connewitz, Klenau bei Liebertwolkwitz. Schwarzenberg’s biedermännische Hand war lange nicht eisern genug, um die Nachtheile eines schlechten Schlachtplans, um die in Folge der glänzenden Unfähigkeit von mehr als einem General lose und verzettelte Ausführung desselben mittelst einer straff einheitlichen und imponirenden Führung des Generalcommandostabs aufzuwiegen. Aber es wurden diese Nachtheile dennoch großen Theils aufgewogen durch die Einsicht und Standhaftigkeit einzelner Führer, sowie durch das wetteifernd heldenmüthige Streiten der verbündeten Truppen, welche naiv genug waren, zu glauben, es sei ernst gemeint, wenn der Generalissimus, welcher es übrigens für seine Person ehrlich und ernst meinte, in seinem Tagesbefehl vom 15. October ihnen zugerufen hatte. „Ihr kämpft für die Freiheit Europas!“ Wie mögen die Franze, Metterniche und Gentze gelacht haben, als sie diese Redensart zu Gesicht bekamen!

Doch nicht in Menschen von der Sorte pulsirt, was „sterblich nicht“ im Menschen und den schweren Erdenkloß emporträgt in die hellen Regionen, von wo der göttliche Anhauch – („afflatus divinus“) – zu großem Denken und Thun ausgeht. Seht, dort drüben, wo am 16. October um Behauptung und Erstürmung der Hochebene von Lindenthal blutig gerungen ward und der alte Blücher den entscheidenden Möckernsieg gewann, da waltete voll und ganz dieser Anhauch, waltete herrlich in den schlichten preußischen Landwehrmännern, welche auf den Zuruf eines ihrer fallenden Führer, des zum Tode getroffenen Grafen Wedell, „Rettet das Vaterland!“ den in und um Möckern mit höchster Bravour fechtenden Franzosen die eiserne Garbe unwiderstehlich in’s Fleisch trugen. „Jeder“ – hat ein anderer tapferer Führer, der Major Hiller, nachmals ausgesagt – „Jeder brannte vor Begierde, nahe an den Feind zu kommen, und ohne Bedenken stürzten die Bataillone auf meinen Zuruf, daß heute Deutschlands Schicksal entschieden werden müsse, über die Leichen ihrer Brüder mit Hurrah von Neuem auf den Feind.“ Die Umstände fügten es, daß, wie Männiglich weiß, die Möckernschlacht wiederum durchaus nur von preußischen Truppen, vom Corps des prächtigen Griesgrams York, welcher an diesem Tag ein „Bataillengeneral“ erster Größe war, geschlagen und gewonnen wurde. Der Sieg war vollständig. Marmont wurde mit den kläglichen Trümmern seiner Streitmacht am Abend bis unter die Mauern von Leipzig zurückgetrieben, und damit war die Schutzwand Napoleon’s auf der Nordseite des Leipziger Entscheidungsfeldes zerstört.

Aber auch auf der Südseite hatte der größte aller Schlachtenvirtuosen doch mehr nur scheinbare als wirkliche Vortheile errungen, und man dankte das ganz namentlich dem Prinzen Eugen von Würtemberg, welcher, der ganzen auf ihn fallenden Wuth des napoleonischen Kanonenzorns zum Trotz, Wachau und damit die Schlacht bis zur äußersten Möglichkeit gehalten hatte. Mit 4700 Preußen und 5200 Russen war der Wackere in den Kampf gegangen, und von diesen 9900 Streitern ließ er 6333 todt oder verwundet auf der Walstatt, – so war hier gestritten worden. Und des Prinzen entsetzlich verdünnte Bataillone traf dann auch noch der erste Stoß der Reitermasse von 8000 Mann, womit Napoleon schließlich das Centrum der Verbündeten sprengen wollte, ein Stoß, der an dem tüchtigen Gegenstoß russischer Kürassiere und Dragoner sich brach. Als die Blutarbeit dieses Tages zu Ende, standen die Franzosen mit ihrem Centrum bei Wachau, mit dem rechten Flügel an Markkleeberg, mit dem linken an die sogenannte Schwedenschanze gelehnt, die Verbündeten dem Feinde in einem Halbkreis parallel gegenüber, mit dem Centrum vor Güldengosta. Sie zeigten eine feste Haltung, und Schwarzenberg traf sofort seine Anordnungen zur Erneuerung des Kampfes, in dessen Wagschale das Gewicht der Verstärkungen fallen mußte, welche [671] Bennigsen und Colloredo dem rechten Flügel der Schlachtlinie zuzuführen angewiesen und im Begriffe waren.

Napoleon verbrachte die Nacht vom 16. auf den 17. October in seinem hinter Wachau an der Straße nach Borna aufgeschlagenen Zelte. Er glaubte, als er am Abend dort vom Pferde gestiegen, noch immer an die Möglichkeit des Sieges. Der Mann, dessen frühere Gabe und Kunst, den Menschen allerlei Phantasmen von Gloire und dergleichen Seifenblasen mehr vorzugaukeln, während er selber Dinge und Menschen sah, wie sie sind, längst zum Selbstbetrug umgeschlagen war, hegte noch am Abend des 16. Octobers die kaiserwahnsinnige Illusion, er habe es allfort in der Hand, über Krieg oder Frieden zu entscheiden. Da kam die Hiobspost von Möckern. Jetzt machte der Empereur, dessen Zuversicht durch diese Botschaft sehr gedämpft werden mußte, mittelst Absendung des gefangenen Generals Merveldt den bekannten Waffenstillstands- und Friedensversuch beim Kaiser Franz, welcher Versuch aber vollständig scheiterte, weil selbst Finassirer Metternich den kriegerischen Gang der Entscheidung der Dinge jetzt nicht mehr aufhalten zu wollen wagte. Als am 17. bis gegen Abend zu auf Merveldt’s Sendung von Seiten der Verbündeten gar keine Antwort erfolgte, „verkroch“ – wie Augenzeuge Odeleben berichtet hat – der Schlachtendonnerer sich in sein Zelt, es mehrten sich im Hauptquartier die „finsteren Gesichter, und sprach man unverhohlen von der Nothwendigkeit des Rückzugs.“ Es war dafür gesorgt, daß der Kampf am 18. October, zu welchem man am 17. beiderseitig sich rüstete, auf Seiten der Franzosen nur ein Kampf um den Rückzug sein konnte. Aber es ist mit gutem Grund anzunehmen, daß die entschiedene Niederlage, welche Napoleon am dritten Schlachttage erfuhr, geradezu eine Vernichtung hätte werden müssen, falls Schwarzenberg von der erdrückenden Uebermacht, welche ihm am 18. October zur Verfügung stand, richtig und entschlossen Gebrauch gemacht hätte. Ist es doch notorisch, daß er von seiner Streitmacht 100,000 oder sogar 120,000 Mann gar nicht in’s Feuer brachte, und hieraus erklärt es sich, wie es zuging, daß die Franzosen noch gegen 90,000 Mann stark am 19. October ihre Flucht bewerkstelligen konnten.

Der alte Blücher hatte sich am 17. Octbr. schon frühzeitig wieder an seine widernapoleonische Arbeit gemacht, indem er, während das gestern arg mitgenommene Corps York’s in Möckern sich wieder in Stand setzte, durch die herbeigezogenen Heerhaufen Sacken’s und Langeron’s Alles, was von Franzosen noch auf der Nordseite von Leipzig zu finden war, in’s Weichbild der Stadt zurücktreiben ließ. Kam dann ein Bote Schwarzenberg’s daher geritten, kühn mitten durch die feindlichen Stellungen hindurch gesprengt, der glänzende ungarische Husar Stephan Széchenyi, nachmals so berühmt geworden und eines so mitleidswerthen Todes gestorben. Der meldete dem Blücher zu Mockau von Seiten des Generalissimus, daß dieser am morgigen Tage den Feind mit aller Macht – (leider in Wahrheit nicht mit aller Macht!) – angreifen werde und ein Gleiches auch von dem Blücher’schen und dem Bernadotte’schen Heer erwarte. „Ja, ja,“ blücherte der alte Recke, „an mich soll’s nicht fehlen. Was aber den Millionenhund von Juden oder Zigeuner angeht, den Bernadotte, den kriege der Teufel rann uff det champ de bataille!“ Er hat ihn aber dann doch, wie bekannt, „rann“ gekriegt, der Alte, obzwar nur mit großer Selbstüberwindung und Selbstverleugnung und nur weil der Gascogner zweifelsohne merkte, daß die ihm unterstellten preußischen Generale und Soldaten entschlossen waren, auch gegen den Willen ihres Feldherrn bei Leipzig am 18. October mit zu kämpfen und mit zu siegen, wie sie trotz ihm bei Großbeeren und Dennewitz gestritten und gesiegt hatten. Gab doch einem vertrauten Boten Blücher’s am 17. October der brave Bülow zur Antwort: „Bei meinem Wort, ich werde jedenfalls mannhaft zu meinen Landsleuten und Waffenbrüdern stehen und unbedingt mitschlagen!“

Nachdem der alte Recke erst in der Morgenfrühe des 18. Octobers durch energisches Durchgreifen schließlich alle Ränke und Schwänke Bernadotte’s beseitigt hatte, war das ungeheure Streiternetz vollendet, welches um den Völker-Nimrod zusammen gezogen werden sollte und wirklich zusammengezogen ward. Leider nicht so nachdrücklich, daß ihm nicht noch eine Oeffnung, die über Leipzig gen Weißenfels, zum Entschlüpfen offen geblieben wäre. Am Abend des 17. hatte selbst sein grenzenloser Hochmuth sich eingestehen müssen, daß es unmöglich länger mit 145,000 Mann das Feld gegen 300,000 Feinde behaupten zu wollen, und daß es sich nur noch darum handeln könne, den Rückzug zu erstreiten. Darauf zielte sein Schlachtplan für den 18. October, und man hat daher die Schlacht von diesem Tage, obgleich sie die riesenhafteste und blutigste der neueren Zeiten, mit Fug ein bloßes „Arrièregardegefecht“ genannt. Die französische Schlachtordnung war so, daß die Corps, welche bislang auf der Südseite der Stadt gekämpft hatten, auf dem Plateau von Probstheida sich zusammenschlossen und nördlich und östlich Marmont und Ney den rückwärts gebogenen Kreis verlängerten, welcher in einer Ausdehnung von zwei Stunden dem Feinde überall und so lange die Stirn bieten sollte, bis bei allmählicher Verengerung des Kreises ein Theil desselben nach dem andern über Leipzig und Lindenau sich abziehen könnte. Die Verbündeten ihrerseits wollten auf der Südseite der Walstatt in drei Angriffssäulen gegen die feindliche Stellung vorgehen, während auf der Ostseite das Nordheer unter Bernadotte und auf der Nordseite Blücher den Kampf zu führen hätte.

Der große Schlachttag ist hundertmal geschildert worden. Aber besäße man auch des alten Homeros epische Tuba und vermöchte man sie mit dem Athem des Dichters der Nibelungenschlacht zu schwellen, man müßte das Instrument überwältigt sinken lassen bei dem ungeheuren Anblick, als nun die 450,000 Streiter antraten zu dem reisigen, riesigen Rennen und Ringen, zu der Völkerschlacht, wie Müssling sie zuerst genannt hat, als er das völkerwanderungsgleiche Gewoge der zum Angriff aufmarschirenden Colonnen Schwarzenberg’s erschaute. Vom sogenannten Thonberg aus, neben einer halbzerstörten Windmühle auf einem Feldstuhl sitzend, hat der Empereur die Abwehr geleitet. Die ganze Schlacht zerfiel, nachdem sie um die achte Morgenstunde angehoben hatte, in zwei Acte: in die Linksschwenkung des schwarzenbergischen und die Rechtsschwenkung des bernadotte-blücher’schen Heeres. Auf der Südseite kämpften die Verbündeten lange Stunden hindurch nicht mit dem Erfolg, welchen ihre heldenmüthigen Anstrengungen verdient hatten. Erst nach und nach gelang es ihnen, mit entsetzlichen Verlusten, Boden zu gewinnen und die Seiten des Halbkreises der feindlichen Stellung mehr gegen Leipzig hinzudrücken. Das Eingreifen des Nordheeres, voran Bülow mit seinem Harst, der um 1 Uhr zum Sturm auf Paunsdorf vorging, während Blücher’s Anordnung gemäß Langeron’s Corps gleichzeitig zum Angriff auf Schönefeld vorschritt, entschied die Niederlage der Franzosen, eine so unbedingt unvermeidliche Niederlage, daß es ganz lächerlich ist, wenn die albernen und die pfiffigen Pfaffen des Napoleoncultus diese Niederlage allerlei kleinen und kleinlichen Nebenumständen, dem Uebertritt von etlichen tausend Rheinbündlern zu den Verbündeten, dem vorzeitigen Sprengen einer Brücke u. dgl. m., zugeschrieben haben. Der Sturm auf Leipzig am 19. October war nur noch der blutige Epilog der furchtbaren Schlachtentrilogie. Vormittags entwich der besiegte Empereur aus der Stadt, und um 1 Uhr Mittags begrüßten sich die siegreichen Fürsten und Feldherrn auf dem Marktplatz, wo bekanntlich Gneisenau zuerst die Losung ausgegeben hat: der Krieg darf nur in Paris und mit dem Sturze Napoleon’s enden! Wäre die Verfolgung der Franzosen durch Schwarzenberg so rasch und zweckdienlich angeordnet und so thatkräftig betrieben worden, wie Blücher sie nach dem Tag von Belle Alliance betreiben ließ: kaum noch ein Mann würde über den Rhein entkommen sein.

An hunderttausend Menschen deckten todt oder verstümmelt die blutstarrende Wüste, auf welcher die Völkerschlacht getobt hatte und aus welcher die Brandruinen von mehr als zwanzig in Feuer aufgegangenen Dörfern schwarz in die Lüfte starrten. Einen furchtbaren Preis hatten die Verbündeten für ihren Sieg bezahlt. Denn die Russen büßten in den Leipziger Schlachten an Todten ein 12 Generale, 864 Officiere, 21,740 Soldaten; die Preußen 2 Generale, 520 Officiere, 14,950 Soldaten; die Oesterreicher 7 Generale 399 Officiere, 8000(?) Soldaten; die Schweden 10 Officiere und 300 Soldaten: – Summa 21 Generale, 1793 Officiere, 44,990 Soldaten, in welcher Berechnung aber der Verlust der Oesterreicher entschieden zu niedrig angesetzt ist, denn sicherlich verloren sie 14,000 Mann. „Mit welchen Strömen von Blut“ schrieb Gneisenau am 22. October an die Prinzessin Louise von Preußen „die Freiheit der Welt erkauft ist, davon mag man anderwärts keinen Begriff haben. Vier Tage hat sich die Blücher’sche Armee geschlagen. Von den 103,000 Mann, die sie beim Anfang des Feldzuges zählle, ist sie auf 40,000 Mann geschmolzen. Zwischen 40- und 50.000 Mann haben gewiß die [672] vier Tage bei Leipzig den verbündeten Armeen gekostet. Auf Meilen weit sind die Felder mit Todten, Verstümmelten und Verwundeten bedeckt, und rings um Leipzig her ist die Erde mit Blut getränkt – ein jammervolles Schauspiel des höchsten menschlichen Elends!“

Aber war mit all diesem unermeßlichen Jammer „die Freiheit der Welt“ wirklich erkauft? Nein, dafür aber die Heilige-Allianz-Politik, d. h. nach der ruchlosen napoleonisch-thatensüchtigen, aber auch Thaten zeugenden Tyrannei die nicht minder ruchlose Tyrannei der Impotenz, aus „christlich-germanischer“ Heuchelei, muckerischem Gesüßel und mühlsteinharter Grausamkeit abscheulich gemischt.

Und so hätten die Tausende von deutschen Jünglingen und Männern, die auf alle den Walstätten von Lützen bis Leipzig ihr Blut vergossen, es vergeblich gethan? Abermals nein! Denn aus dieser kostbaren Blutsaat ist die Idee der Einheit Deutschlands hervorgewachsen und zur Vollreife einer sittlichen Macht, zu einer deutschen, ja zu einer europäischen Lebensmacht emporgereift. Und darum, „wenn heut’ ein Geist herniederstiege,“ würde er, über alles das Untröstliche der Gegenwart hinweg den Blick in die Zukunft wendend, trotz alledem und allediesem sprechen können, sprechen müssen: – Tödtet diese sittliche Macht, wenn ihr könnt! Thut euer Schlimmstes, Germania lebt doch in den Herzen von Millionen ihrer Söhne und wird Kämpfer finden, nicht weniger brave als die, welche bei Leipzig gestritten und gestorben – Kämpfer, die weder ihre Losung in der Eschenheimer Gasse, noch ihre Schwerter in den Kyffhäusern einer abgestandenen Romantik holen werden. Ja, thut immerhin euer Schlimmstes, zettelt Ränke mit äußeren Feinden und inneren Verräthern an, ersinnt noch tausend elende Listen, zappelt euch ab in ohnmächtiger Wuth: trotz alledem und allediesem „einst wird kommen der Tag“ – der Siegestag, denn sein Vater ist ein unsterblicher Gedanke und seine Mutter die allmächtige Zeit!




Blätter und Blüthen.

Die ersten Erstürmer von Leipzig. Allgemein hat es bis jetzt als feststehend gegolten, daß Major Friccius, welcher am 19. Oct. 1813 mit seinem Bataillon als stürmender Sieger durch das äußere Grimmaische Thor in die Stadt Leipzig eindrang, zugleich der Erste gewesen sei, der von den Freundesheeren die innere Stadt betrat. Eine Mittheilung, die der Gartenlaube soeben zugeht, macht jener tapfern Schaar wenigstens diese Ehre streitig. Der jetzige preußische Hauptmann a. D. Herr Mayer, zu Dortmund in Westphalen, damals freiwilliger Jäger im Jägerdetachement des Fusilirbataillons des 1. pommerischen, gegenwärtig 2. preußischen Infanterieregimentes „König von Preußen“, erzählt nach der „Tagesgeschichte“ der genannten Truppenabtheilung den Hergang an jenem Sturmtage wörtlich wie folgt und steht mit seinem Namen für die Wahrheit des Berichtes ein:

„Das Füsilierbataillon des 1. pommerischen Regimentes und sein Jägerdetachement waren vom Geschick vorzugsweise ersehen, den Schlußstein dem ewig denkwürdigen Heldenwerke hinzuzufügen, welches Preußens Krieger an diesem Schreckenstage durch die Erstürmung Leipzigs vollbrachten. – Der Feind war auf dem Rückzuge nach dem Naustädter Thore, als etwa 20 Füsiliere und 10 freiwillige Jäger unter Leitung der Lieutenants von Hohendorff und von Sommerfeld die Esplanade erreichten und nachzügelnde Feinde, welche bei dem daselbst aufgefahrenen Wagen-Train sich aufhielten, verjagten. Sie erbrachen eine kleine, in der Stadtmauer angebrachte Pforte und wurden auf solche Weise die ersten, welche von den vielen tausend Stürmenden die Stadt Leipzig betraten. Mit Hurrah schritt dies Häuflein auf einer langen zum Markte führenden Straße vorwärts; mit tausendfachem Hurrah wurde seine Siegeslust von Leipzigs Bewohnern erwidert, welche aus allen Fenstern mit Tüchern ihren Befreiern ein herzliches Willkommen entgegen jubelten. Doch stutzen mußten die Braven, als links beim Einbiegen auf dem Markte Hunderte von Bärenmützen in Reih und Glied sichtbar wurden; aber an diesem Tage wurden vor dem Angriffe die Feinde nicht gezählt, und deshalb machte die kleine Schaar sich fertig die Feuerröhre auf die Menge zu richten. Da indeß die vermeintlichen Feinde in ruhiger Haltung blieben, die Gewehrkolben zum Zeichen friedlicher Absicht nach oben richteten und ein Adjutant mit weißem Tuche winkend näher kam und die Träger der Bärenmützen als die Garde des in Leipzig gebliebenen Königs von Sachsen bezeichnete: so wurde der Marsch unter der Führung eines jungen Leipziger Bürgers in Begleitung einer jetzt schon ziemlich großen Schaar von Einwohnern nach dem Commandanten-Hause fortgesetzt, vor welchem der Gouverneur der Stadt, der General Bertrand, nebst sieben französischen und polnischen Generalen und mehreren hundert Stabs- und Subaltern-Officieren und Gemeinen sich versammelt hatten. Der Gouverneur ging dem Lieutenant von Hohendorff entgegen, übergab demselben seinen Degen und erklärte sich und die ihn umgebenden Officiere kriegsgefangen mit dem Ersuchen, daß es ihm vergönnt bleiben möge, in dem seither bewohnten Commandanten-Hause bis auf weitere höhere Entscheidung bleiben zu dürfen, welches demselben auch sofort gestattet wurde.“

Wir theilen diese interessante Notiz mit, indem wir dazu ausdrücklich bemerken, daß sie der Ehre und dem Verdienst des Majors Friccius und seiner tapfern Landwehrmänner nicht den geringsten Eintrag thun soll und kann, da ihre That ein Heldenwerk bleibt, ob sie nun die Ersten oder die Zweiten in dem siegjubelnden Leipzig gewesen sein mögen.


Erinnerungen an die Leipziger Völkerschlacht und ihre Jubelfeier. Dem jetzt lebenden deutschen Geschlechte wird die Erinnerung an diese Feier eine unverlöschliche sein, es wird also keines Denkzeichens bedürfen, das jene auffrischt; dennoch aber wird sich Jeder gern auch ein äußeres Andenken an die nationale Feier, den großen deutschen Städtetag aneignen, welches noch späteren Generationen vom 18. und 19. October des Jahres 1863 Kunde bringen könne.

Die Gartenlaube glaubt demnach nur auf den Dank ihrer Leser rechnen zu dürfen, wenn sie dieselben auf die von Herrn E. Wengler in Leipzig veröffentlichte Denkmünze zum Jubiläum der Leipziger Völkerschlacht vorzugsweise aufmerksam macht. Die Medaille ist durch Idee und Ausführung gleich empfehlenswert und in vier verschiedenen Arten von Material: in Brit. Metall zu 10 Ngr., in Bronze zu 22½ Ngr., in Silber zu 2 Thlr. 10 Ngr, und in Gold zu 35 Thlr. – entweder direct von Herrn Wengler selbst oder im Wege des Buchhandels zu beziehen.

Wer sich mit einem Andenken an die Jubelfeier zugleich einen wirklichen Zimmerschmuck verschaffen will, der ihm eine der ruhmvollsten Episoden aus der gewaltigen Schlacht begeisternd vor die Augen führt, der kaufe sich die nach Bleibtreu’s bekanntem Gemälde „Die Erstürmung des Grimmaischen Thores durch die Königsberger Landwehr unter Anführung des Majors Friccius am 19. October 1818“ meisterhaft auf Stein gezeichnete Nachbildung von J. Engelbach, die soeben bei Wilh. Korn in Berlin erschienen ist.


Gärtnerantwort. Wir sind zufällig in den Besitz eines Originalmanuscripts aus dem Jahre 1813 gekommen, welches unter andern Zeitgedichten auch folgende sehr hübsche Persiflage enthält. Napoleon verlangt von seinem Hofgärtner ein Bouquet, und dieser antwortet:

Erhabner, mächtig großer Herr,
Ich habe keine Blumen mehr,
Denn die Granaten sind verloren,
Die alten Lorbeern sind erfroren,
Die Immortellen sind geraubt,
Die Palmen hat der Wind entlaubt,
Die Kaiserkrone will verdorren,
Verwelkt sind auch die Rittersporen,
Die Königsblum’ und Löwenmaul
Sind längst schon in der Wurzel faul,
Der Rebenblumen Eisenhut
Zerstörte jüngst des Nordwinds Wuth,
Und Wunderblumen giebt’s nicht mehr,
Nur Tollkraut wuchert noch umher,
Und Kreuzdorn treibet einzig Blüthen,
Drum kann ich Dir nichts Bessres bieten.


Erklärung. Das unter dem Namen Fluid-Ozon durch eines der ehrenhaftesten Handelshäuser Münchens in den Handel gebrachte Waschwasser ist in England unter dem Namen Condy’s Fluid allgemein im Gebrauch, und Condy hat, indem er dessen Wirkungen denen des Ozon’s gleichstellt, damit eine seiner wesentlichen Eigenschaften hervorgehoben.

Der in Nummer 36 unter dem Titel: „Reclame überall“ erschienene Artikel sagt ganz richtig, daß jeder Chemiker (man kann hinzufügen jeder Apotheker) auf den ersten Blick erkennt, daß dieses Waschmittel eine Lösung von übermangansaurem Alkali ist, und dies schließt es in der That aus der Reihe verdächtiger Geheimmittel völlig aus. Da über die Nützlichkeit dieses Waschmittels für die hervorgehobenen Zwecke bei allen Aerzten, die es kennen und anwenden, kein Zweifel besteht, so kann nur der Preis beanstandet werden. Dieser muß natürlich nach dessen Gehalt und Reinheit bemessen werden, und da 2¼ Unzen mit Glas und Verpackung nur 24 kr. kosten und diese Quantität bei seiner Concentration für eine Person auf Monate hinaus reicht, so kann der Preis wohl schwerlich auf die Ausbeutung des Publicums berechnet sein. Der Debit dieses Waschwassers ist bis jetzt ausschließlich nur Apothekern übergeben worden. Um überhaupt die Erlaubniß zu dessen Betrieb in Baiern zu erhalten, mußte den Vorschriften gemäß die Zusammensetzung desselben dem königl. Ministerium des Innern mitgetheilt und von den Sachverständigen festgestellt werden, daß das Mittel dem bezeichneten Zwecke entspreche und dessen Preis im angemessenen Verhältniß stehe.

Man darf wohl voraussetzen, daß ich meinen Namen zur Uebervortheilung des Publicums nicht herleihe, und wenn ich dieses Waschwasser ausnahmsweise empfohlen habe, so geschah dies im Interesse der Verbreitung einer guten und für viele Menschen wohlthätigen Sache; daß ich in keiner andern Weise daran betheiligt bin, bedarf wohl keiner besondern Versicherung.

München, den 26. September 1863. Justus von Liebig.     


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. WS: fehlendes s ergänzt