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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[641]
Im Damenzimmer.
Skizze den Louise Ernesti.
(Schluß.)

Während aus dem nicht entfernt liegenden Bahnhofe um diese Zeit eine dichtgedrängte Menschenmasse die Leiche eines jungen schönen Mädchens umstand und in dem allgemeinen Entsetzen immer und wieder die Frage laut wurde: „wer mag es sein? wo kommt sie her?“ hatte der junge Mann an der Landstraße aus jener Tasche ein Papier gezogen, geöffnet und als einen Reisepaß erkannt, der auf den Namen „Ellinor Wood“ lautete.

Außer diesem Paß enthielt der Reisebeutel ein Packet Briefe, die alle jene Namensaufschrift trugen, alle mit den kurzen und doch so bedeutungsvollen Worten: „For ever Harry West“ unterzeichnet waren.

„Armer Harry!“ rief der junge Mann, als er flüchtig einzelne der Briefe durchflogen und bei seiner weitern Untersuchung der Tasche an ein kleines Bild gelangte, das einen jungen Officier in englischer Uniform darstellte.

„Armer Harry!“ rief er abermals, als er, ein Portefeuille öffnend, dort einen ungesiegelten Brief fand, der nächst der Adresse: „An Mr. Harry West“ die nähere Bezeichnung seines Aufenthalts trug. „In der Krim also! Nun, diesen Brief sollst Du noch haben, und wer weiß, ob es nicht so wie so der letzte gewesen wäre. Feindliche Kugeln nehmen ja ebenso wenig Rücksicht auf liebende Herzen, wie eifersüchtige Weiber. Eher, als Ihr Beide dann gedacht, seid Ihr vielleicht vereint, dort vereint, wo das „for ever“ nicht so fraglich ist, wie hier auf dieser jammervollen Erde.“

Der junge Mann packte Alles wieder in die kleine Tasche und trat den Weg zum Bahnhof an, wo er unter allen Verstörten den Wirth am verstörtesten fand.

„Ah, Herr Lieutenant, Sie!“ rief Jener aus, als er des jungen Mannes ansichtig wurde, „auch Sie kommen heut an diesen Ort des Unglücks?“

„Für mich ist’s in Wahrheit ein Unglücksort, denn ich höre, daß ich den Zug nach O… verpaßt habe. Aber was ist Euch, was habt Ihr, ist Eure Frau –“

„Ach nein, ach nein! kommen Sie, hören Sie das Entsetzliche!“

Als der Wirth berichtet, wen und was man vor kurzer Zeit in dem Damenzimmer entdeckt, bat der Officier, ihm die Todte zu zeigen, und als er an der Stätte des Verbrechens fragte: „Und Ihr wißt also eigentlich gar Nichts?“ betheuerte der Wirth laut: „Nein, Nichts!“ fügte aber leiser, in vertraulichem Tone das hinzu, was der Bahnhofwärter Grunewald ihm vor seinem Fortgehn von der Fremden gesagt.

„Werdet Ihr das bei Gericht angeben?“ fragte der Andere ernst.

„Bewahr’ mich Gott, Herr von H…dorf! wo werd’ ich als rechtlicher Mann Etwas auf das Geklatsch eines ehemaligen Bedienten geben und dadurch eine so hochstehende und achtungswerthe Familie, wie die des Grafen B****, in diesen Mord verflechten!“

„Ihr seid ein vernünftiger Mann, bester Schulz, – ein so vernünftiger, daß Ihr auch hoffentlich Nichts darin finden werdet, wenn ich mir von diesem reizenden Kopfe der Todten eine kleine Skizze mache und eine Locke dieses schönen Haares abschneide.“

Als Herr von H…dorf wenige Wochen später in einer vom Schauplatz des Verbrechens weit entfernten Stadt den Brief an Mr. Harry West zur Post gab und diesem Briefe ein kleines Packet beifügte, sagte er vor sich hin: „Mög es Dir Freude machen, Camerad! und ist’s Deine letzte auf Erden und kommst Du eher als ich dorthin, wohin die Kleinlichkeiten des Lebens nicht dringen, dann vergiebst Du mir auch wohl, daß ich jenes unglückliche Weib durch Verrath nicht noch elender gemacht habe!“

3.

Acht Jahre sind seit den in dem vorigen Abschnitt geschilderten Ereignissen vergangen. In anderem Lande, anderer Umgebung, in völlig verschiedener Stimmung und gänzlich veränderter Lage finden wir die schöne Gräfin Natalie wieder.

Sie durchschreitet am Arm ihres Gatten eine Reihe Prachtgemächer in einer der größern Residenzen Europa’s. Die Säle und Zimmer prangen alle im herrlichsten Festesschmuck, und von den herabhängenden Lüstres, den hoch aufsteigenden Candelabern, den Kerzenreihen über den breiten Flügelthüren strömt ein Meer von Licht und Glanz herab.

Zu den von Zufriedenheit, von innerem Glück leuchtenden Zügen des Mannes steht das ernste, fast düstere Antlitz der Frau, das eine beinahe geisterhafte Blässe deckt, in sonderbarem Contrast. Als sein Mann sie umschlingt, seine Lippen ihre Stirn berühren und seine weiche, klangvolle Stimme spricht: „Sei nur heiter, heiter, meine Natalie!“ da versuchen ihre Lippen zu lächeln, aber Thränen steigen in den tiefen ernsten Augen auf.

Er stellt sich vor sie hin, legt seine beiden Hände auf ihre Schultern und schaut sie voll Liebe, voll Bangen an. „Natalie, kannst Du nie den Schmerz vergessen,“ fragt er im Tone der Zärtlichkeit, „den ich Dir heut vor zehn Jahren durch meine Strenge zugefügt? Vergiß und vergieb endlich.“

[642] Das blasse Weib wandte sich ab. „Sprich nicht so!“ sagte sie dringend, „ach, Rudolf, martere mich nicht, indem Du Dich anklagst, wo ich allein die Schuldige bin – ich – ich – so furchtbar gesündigt habe.“

„Nenne es nicht so, Natalie, und wäre es selbst, wie Du sagst, so ist’s doch einzig aus übergroßer Liebe zu mir geschehen.“

„Das weiß der Allmächtige!“ flüstert sie mit erstickter Stimme; dann die Hände faltend, ruft sie mit ergreifenden Tone: „o könnt’ ich zurücknehmen, was ich damals gethan!“

„Liebes Weib, Du hast Alles tausendfach gut gemacht.“

„Und doch kann ich’s nie vergessen, und werde es ewig und ewig bereuen.“

„Doch – doch, Natalie. Du wirst endlich der traurigen Vorgänge jenes Tages nicht mehr gedenken, wenn sich eine so heitere, glückliche Erinnerung daran knüpft, wie die heutige ist, und darum wählte ich ihn, diesen Tag, auch als Verlobungstag unserer Tochter. Möchte sie stets ihrem Gatten das sein, was Du mir gewesen bist, Natalie.“

„So warst Du glücklich, Rudolf?“

„Weißt Du es nicht, Geliebte? –“ fragte er innig.

„Immer und wieder hör’ ich’s gern, denn immer zweifle ich von Neuem.“

Sie trocknete die Spuren der Thränen, welche einem so ganz andern Quell entsprangen, als er vermuthete, und zeigte wieder jenes Lächeln, hinter dem sie ihre Ruhe barg. Einen Moment leuchtete dies Lächeln hell auf, wie in vergangenen Tagen, die ernsten Züge verriethen ein reines Glück, – es war als ihr Auge auf eine liebliche, jugendliche Erscheinung fiel, – ihre älteste, glückliche Tochter. Rosig wie der junge Tag, leicht wie ein Zephyr, schwebte sie daher, gefolgt von einer schönen männlichen Gestalt, die sie zu erhaschen strebte.

„Ihr spielt ja wie die Kinder!“ rief der Vater lächelnd.

„Alexander will mir meinen alten Ring entreißen, lieber Papa.“

„Und hab’ ich nicht Recht, daß Olga nur einen, meinen Ring tragen soll, liebe Mama? Außerdem ist der Reif entzwei.“

„Er sprang vorhin erst, Alexander.“

„Was ist das für ein Ring?“ fragte der Graf.

„Der von Miß Ellen, lieber Vater! den sie mir gab, als sie von uns ging – ich bewahrte ihn, da ich es ihr versprochen, und trag ihn seit Jahren. Sag, Mama, wirst Du Miß Ellen schreiben, daß ich verlobt bin?“

Die Gräfin stand abgewendet neben einer Blumengruppe.

„Wie kann Mama ihr schreiben,“ sagte der Graf, „wir wissen ja über neun Jahre Nichts von Miß Wood.“

„So! – ach ja, wir sprachen schon davon! Wo sie wohl sein mag, Papa?“

„Was kümmert Dich jene Dame!“ rief der Verlobte.

„O Mama, Alexander ist auf Alle eifersüchtig, die ich lieb habe. Das ist aber schön von Dir, mein Alex; und zur Belohnung für Deine Liebe mag der Ring als Opfer fallen.“

Sie warf ihn lächelnd in den Kamin; er wollte sie jubelnd umschlingen, da erdröhnte ein schwerer Fall. Im Tanzsaale nebenan war einer der Kronleuchter zu Boden gestürzt.

Der Graf klingelte und eilte aus dem Zimmer, das junge Paar folgte ihm, die Zurückbleibende aber warf sich vor den Kamin hin, durchstöberte die glimmende Asche, fand das Gesuchte nicht, und auf den Knieen liegen bleibend, betete sie leise: „O Gott – o Gott, laß das kein böses Omen sein!“




Das glänzende Fest, das sich das junge Brautpaar zur öffentlichen Feier seiner Verlobung erbeten, ging froh und ungetrübt von Statten, und erst beim anbrechenden Morgen fuhren die Wagen mit den heiter angeregten Gästen heim.

Als der greise Thürsteher das Portal schließen wollte, trat ein Mann in schäbiger Kleidung hinter dem Pfeiler hervor, händigte dem Diener einen keinen Brief ein und bat, dem Herrn Grafen das Papier sogleich zu übergeben, da es von höchster Wichtigkeit für ihn sei.

Graf B**** las staunend die seltsamen Worte, welche ihm völlig unverständlich waren, ließ aber den Mann in sein Zimmer bescheiden, der in so mystischen Ausdrücken angedeutet, Mitwisser eines Verbrechens zu sein, das eine ihm nahestehende theure Person vor vielen Jahren begangen.

Stundenlang war dieser Mann schon wieder fort, mit dem das Elend die Schwelle dieses Hauses überschritten, hell und strahlend schien die Sonne in ein Gemach, wo dieses Elend einen Menschen zu Boden geworfen, der Zeit seines Lebens so stolz, so kühn und frei sein Haupt erhoben, und zu diesem freien Aufblick auch völlig so berechtigt war, da bisher kein Flecken seine Ehre getrübt, nicht ein Schatten auf seinen Thaten lag.

„Rudolf, ich sterbe vor Angst!“ wimmerte das Weib vor der verschlossenen Thüre ihres Gatten, der auf alle Bitten keine Antwort gegeben.

Endlich, endlich öffnete sich diese Thüre, eine eiskalte Hand erfaßte die ihre und zog sie in’s Gemach. Eine tonlose Stimme frug dann: „Beantworte einfach meine Frage: ermordetest Du vergangene Nacht vor acht Jahren Ellen Wood im Damenzimmer zu E*?“

Und ob sie seit jener Nacht lange, lange Jahre hindurch täglich, ja stündlich gefürchtet, diese Frage einst zu hören, schmetterte sie die Wirklichkeit doch nieder, und seine Kniee umklammernd, ächzte sie: „Gnade, Erbarmen!“

Mit Todesangst, mit Todespein schaute er auf sie – auf sie, die lang sein Stolz – lang sein Glück, fast seit er denken konnte, sein Ein und Alles gewesen! Sie eine Verbrecherin! eine Mörderin, welche nun die Hand der irdischen Gerechtigkeit ereilen – bestrafen sollte. – Fast undenkbar, und dennoch mußt’s durchdacht, immer und wieder klar gemacht werden.

Eine tiefe, furchtbare Stille herrschte unter den Gatten, endlich beugte er sich zu ihr nieder und hob sie auf. „Natalie,“ sagte er sanft, „Du mußt sterben, sterben – doch nicht allein – ich begleite Dich auf dem dunkeln Wege.“

„Nein! – nein!“ schrie sie laut, „wie könnte man Dich tödten!“

„Mich tödten? – Niemand!“ sprach er ernst und voll Würde. „Ich muß es selbst thun, Natalie! – ich könnte nicht gegen Dich zeugen, noch weniger könnt’ ich Dich mit Schmach bedeckt sehen, Dich in Gefangenschaft wissen. Sieh denn ein, mein noch immer heiß geliebtes Weib, daß es besser ist, ich – ich tödte Dich – dann mich, entreiße Dich dem Elend – mich der Qual! – Die Kraft habe ich mir in langem Gebete errungen – nun fasse auch Du Muth und sage mir, wann Du bereit bist. Mir bleibt nur noch wenig zu thun.“

Er fügte einem offen daliegenden langen Briefe noch Einiges hinzu, siegelte dann das Schreiben und berief den Portier in das Zimmer.

„Meiner Schwester! – Du übergiebst nur ihr selbst das Schreiben und sagst Niemand ein Wort davon.“

Er warf sich jetzt einen Moment mit verhülltem Antlitz in die Ecke des Divans; als er nach einer Weile ruhig, gefaßt aufblickte, sah er seine Frau vor sich auf den Knieen liegen. „Bleib’ leben, Rudolf!“ rief sie unter Händeringen, „laß auch mich leben, laß uns, was kommt, erwarten, vielleicht ist der Himmel gnädig mit mir und …“

Er zog sie zu sich empor, lehnte ihren Kopf an seine Brust und flüsterte mit halb erstickter Stimme: „Wir haben das Furchtbarste zu erwarten, Natalie. Er – er ist hier.“

„Wer?“ schrie sie entsetzt.

„Christian Grunewald! Er kehrte aus Amerika als Bettler, als Trunkenbold zurück und ist eine elende giftige Natur. In seiner Hand liegt unser Geschick, und er weiß, was das heißt! – Ich habe ihn gesprochen. Nachdem die Gäste fort waren, kam er zu mir – in diesem Augenblicke, Natalie, ist er vielleicht schon auf dem Gerichte – mindestens drohte er damit, weil ich mich weigerte, ihm eine Summe zu verschreiben, die weit über die Hälfte meines Vermögens beträgt, und jenes Gut, wo wir einst lebten.“

„Wollte er dann schweigen, Rudolf?“

„Vielleicht so lange, bis er es vergeudet, wie jene anderen Summen, die er von Dir seit jener Nacht erpreßte. Er sagte mir Alles, Natalie.“

Sie verbarg ihr Antlitz und weinte still. Der arme Mann legte seine Hände auf das Haupt der unglücklichen Frau. „Warst Du je ruhig, Natalie,“ frug er dann, „einen Tag ganz sicher?“

Nie eine Stunde, Rudolf! – o, es waren furchtbare Jahre, Jahre endloser Qualen!“

[643] „Und wie – wie würden diese Jahre jetzt sein, wenn er als Gutsbesitzer, wenn auch unter angenommenem Namen, in demselben Lande mit uns lebte?“

Sie schwieg, sie sah ein, er hatte das Beste erwählt. – Noch einmal blickte sie in’s Licht der Sonne, noch einmal auf die Bilder ihrer Kinder, und als die Arme des Gatten sie fest und fester – zum letzten Male – umschlangen, da fühlte sie, so tief, wie vielleicht noch nie, wie sie sich einst an diesem Herzen versündigt hatte, fühlte, wie endlos die Gnade des Allmächtigen, der ihr die volle Liebe dieses Herzens auch jetzt als Trost in so schwerer Stunde gelassen.

Hätten Beide dieser endlosen Gnade des Himmels nur fester vertraut – hätten sie nicht eingegriffen in das dem Menschen verhüllte Dunkel der fernen, der – nahen Zukuuft, hätten sie einen lebendigern Glauben an die wunderbaren Fügungen eines liebenden Gottes gehabt – wie bald, wie so sehr bald würden sie diese Fügungen als gänzlich unberechenbare erkannt haben!

In der Stunde, wo Christian Grunewald vor dem Polizeigebäude der Schlag auf offener Straße rührte, durchhallten zwei kurz aufeinanderfolgende Pistolenschüsse das Palais des Grafen B****, in dem wenige Stunden zuvor nur Festesklang und heitere Musik ertönt.

Die entsetzte Dienerschaft, die auf der Straße erschreckten Leute, welche neugierig in’s Haus drangen – Alles, Alles eilte an’s Ende des Corridors, wo man im Zimmer des Grafen seine Leiche neben der seiner Gattin fand.

Um wie viel trostloser dieser entsetzliche Anblick, als ein junges, schönes Mädchen, die älteste Tochter der Unglücklichen, ohnmächtig über die entseelten Hüllen der so heiß geliebten Eltern stürzte, zwei Söhne, stumm in Schmerz versenkt, keine Thräne für diesen Schmerz hatten – drei kleinere Kinder aber immer lauter jammernd: „Vater! Mutter!“ riefen.

Die That war bis auf Weniges Allen ein Räthsel geblieben – ein unaufgelöstes Räthsel trotz alles Forschens der Behörden. Der Eine, der einen starken Anhalt in dem Labyrinthe der Vermuthungen hätte geben können, der alte Diener des Grafen – er schwieg. Er leugnete selbst, als er am nächsten Tage zur Klinik berufen wurde, den Todten, zu dem er geführt wurde, je zuvor gesehen zu haben, obgleich ein Lohnkutscher fest behauptete, diesen Mann, den er am Polizeigebäude vom Schlag gerührt angetroffen, wenige Stunden zuvor am Palais des Grafen B**** in Unterredung mit dem Portier bemerkt zu haben, und sich sogar entsinnen wollte, daß Jener einen Brief von ihm angenommen.

Die Aussagen des Portiers: „Es waren in der That zu Viele, die mich in diesen Tagen angeredet – auch zu Viele, die mir Briefe an den Herrn Grafen übergeben haben, als daß ich mich auf den Einzelnen besinnen könnte,“ – diese Aussagen waren zu wahr, zu natürlich in Anbetracht jenes Festgewühles und vieler Gratulationsschreiben zur Verlobung, als daß man hätte glauben können, der alte Diener gebe diese Antworten aus andern Gründen.

Nur als der greise Thürsteher der Gräfin Clara B**** den Brief ihres Bruders übergeben und im Antlitz seiner nunmehrigen Herrin oft einen Ausdruck banger Sorge entdeckte, wenn unvermuthet ein ungewöhnliches Geräusch im Hause war, beschloß er, sie von dem Tode eines Mannes in Kenntniß zu setzen, der, wie er ahnte, in nur zu nahem Zusammenhange mit dem Selbstmorde seines Herrn und der Tödtung von dessen Frau stand, und von dem die Gräfin sicherlich noch immer die Ruhe ihrer Familie gefährdet glaubte.

Ein Unglücksfall, der sich auf dem Gute ereignete, wohin sie sich zurückgezogen, gab ihm Veranlassung den Punkt zu berühren, denn um keinen Preis sollte sie wissen, daß Christian Grunewald schon damals gestorben – an dem Tage, wo nach seiner Unterredung mit dem Grafen dieser sein und seiner Gattin Leben geendet hatte!

So trat er denn eines Morgens zu Gräfin Clara ein, und nachdem Einiges besprochen war, was er ihr zu melden hatte, sagte er im ruhigsten Tone: „Wären in E* nicht lange die Untersuchungen über jene unglückliche Todte im Damenzimmer beendet, so würde ich jetzt der Behörde melden, daß ich die Leiche des ehemaligen Bahnhofwärters Christian Grunewald erkannt, der nach jener Nacht, wo man die Dame vergiftet gefunden, so spurlos verschwunden ist.“

Der Blick des Entsetzens aus dem ruhigen Auge der Gräfin bewies dem Diener, was sie Alles von dem Namen noch abhängig glaubte, und rascher fuhr er daher fort:

„Sie hörten, daß man vorgestern Abend eine halbverweste Leiche aus dem Weiher unten an der Schloßwiese gezogen; ich erkannte sogleich das Gesicht des Todten, wie ich’s sah.“

„Christian Grunewald todt!“ hauchte sie leise.

„Todt und begraben jetzt, gnädige Gräfin.“

„Hat irgend Jemand ihn in der Leiche erkannt?“

„Niemand – auch Keiner vermuthet, daß er es sein könnte – er ist verschollen und vergessen!“

„Mag er’s bleiben!“ sprach sie ernst.

„Ja – mag er nach den Thaten seines Lebens friedlich im Tode ruh’n.“

Der alte Diener wollte sich entfernen, nachdem er die Beruhigung gewonnen, der Gräfin die größte Last von der Seele genommen zu haben; sie hielt ihn noch einen Augenblick zurück durch die Frage: „Hat man wirklich in E* nie den Namen jener Todten erfahren?“

„Nein – alle Forschungen waren vergeblich, selbst der Koffer, der lange herrenlos in A** stand und den die Behörde von E* endlich als mutmaßliches Eigenthum der Verstorbenen reclamirte, ergab nichts Näheres über ihr dunkes Ende.“

„Hatte er keine Signatur?“

„Nur die Buchstaben E. W. Sie ergaben Nichts.“

Manche, die in Zeitungen die Geschichte dieser Buchstaben gelesen und nie wieder Etwas von Ellen Wood gehört hatten, knüpften wohl Vermuthungen an den schwachen Halt – Vermuthungen, die aber Nichts mit der wahren Sachlage zu thun hatten und nur dem üppigen Boden blühender Phantasie entsprossen waren.

Eine solche Vermuthung erreichte wenige Monate nach dem unglücklichen Ende des Grafen und der Gräfin B**** den ehemaligen Lieutenant von H…dorf. Galt ihm auch im Allgemeinen das Urtheil der Welt wenig, so ertrug sein Rechtlichkeitsgefühl doch nicht den Gedanken, jenes Opfer blinder Leidenschaft auch von denen im Tode verkannt zu sehen, die die heilige Verpflichtung hatten, sie zu achten.

Dies Gefühl trieb ihn nach dem Gute, wo Gräfin Clara in Zurückgezogenheit lebte, und veranlaßte ihn nach kurzer Einleitung die Frage an sie zu richten: „ob sie auch zu Denen gehöre, die da glaubten, daß Miß Ellen Wood den Grafen B**** geliebt habe.“

Als die Antwort nicht so befriedigend lautete, wie er wünschte, und ein Schatten von Verdacht an der Todten haftete, erzählte er, wann er zum ersten Mal von jenem Mädchen gehört, und als er mit möglichster Schonung die Scene jener Nacht in der Nähe des Bahnhofes geschildert, legte er ihr den Inhalt der gefundenen Reisetasche vor, und als sie nach dem Lesen einzelner Briefe tief erschüttert war, fuhr er fort:

„Hätte ich als Mann von Ehre – als Officier, nicht die heilige Verpflichtung gefühlt, über der Ehre der Braut eines Cameraden zu wachen – nie würde ich nach ihrer Vergangenheit geforscht, nie Sie durch so schmerzliche Eröffnungen betrübt haben. Aber ich mußte es thun. So setzte ich denn zuerst eine Freundin von den Schicksalen Ellen Wood’s in Kenntniß, die mir helfen konnte, Näheres über sie in England zu erfahren. – Ich erfuhr durch die Nachforschungen jener Dame, die Verbindungen in England hat, daß Ellen Wood die traurigste Kindheit bei ihrer Tante Mrs. West gehabt, der Sonnenschein ihres Lebens ist nur die Liebe zu ihrem Cousin Harry gewesen, dessen Herz auch warm für sie geschlagen hat. – Als Mädchen von 16 Jahren wurde sie in’s Ausland als Erzieherin geschickt – ihre Schicksale im Hause Ihrer Verwandten werden Sie besser als ich kennen. – Nachdem sie von ihrer Beschützerin, der Baronin F* auch entlassen worden, lebte sie eine Zeit lang von den Unterstützungen ihres Verlobten, Mr. West. Nach England zurück konnte sie nicht – seine Eltern waren gestorben – sie Beide die Letzten ihrer Familie. Zu Moskau bot sich ihr plötzlich ein neues Engagement; sie mußte durch diese Gegend – das Weitere wissen Sie! – Der Einzige, der Interesse an ihrem Leben hatte, konnte nicht nach ihr forschen, er starb in der Krim – sein Name steht auf den Todtenlisten der englischen Armee verzeichnet.“

„Und hat wohl der Arme noch Ihre Sendung erhalten?“ fragte Gräfin Clara voll Interesse.

[644] Herr von H…dorf zog ein altes Zeitungsblatt aus seiner Brieftasche. „Unter den erschütternden Berichten,“ las er, „wie die barmherzigen Schwestern oft Todte und Verwundete auf dem Schlachtfelde finden, nimmt folgende kleine Episode das Interesse Mancher vielleicht mehr in Anspruch, als die größte Schreckensscene des Krieges. Nach dem letzten blutigen Gefechte fand eine der thätigsten und aufopferndsten Diakonissinnen einen jungen sterbenden englischen Officier, dessen brechendes Auge an einem Medaillon hing, worin sich das Bild eines der lieblichsten Mädchenköpfe und eine Locke des schönsten blonden Frauenhaars befand. So lang seine Hand Kraft zum Halten hatte, so lang umklammerten die Finger auch dies Eine, was für ihn im Leben vielleicht sein Alles umschloß!“

„Und Sie glauben, daß jener Sterbende Harry West war?“

„Ich vermuthe, ich hoffe es!“

Nach langer Pause, als der Fremde sich Gräfin Clara empfehlen wollte, ergriff sie seine Hand und fragte unter Thränen: „Wie, mein Herr, wie kann ich Ihnen vergelten, was Sie gethan, wie Ihnen danken?“

„Mein Schweigen war mir kein Opfer,“ sagte der junge Mann, „ich that’s einfach aus Gründen der Menschlichkeit, und Dank verdiene ich deshalb nicht. Wollen Sie mir aber einen Gefallen erweisen, so geben Sie mir Aufschluß über die Ursache jenes entsetzlichen Doppelmordes und – sagen Sie mir, was aus den hinterbliebenen Kindern geworden ist.“

„Lassen Sie mich das Letzte zuerst beantworten! – Meine älteste Nichte ist nach Auflösung ihrer Verlobung in den Orden der frommen Schwestern zu ** getreten; die beiden erwachsenen Söhne haben beschlossen, im Auslande Dienste zu suchen; die drei jüngsten Kinder sind hier bei mir auf dem Gute. Werfen Sie einen Blick durch jenes Fenster, – sehen Sie sie spielen in der glücklichen Sorglosigkeit jenes Alters, in dem man noch Alles leicht vergißt, und hoffen Sie mit mir, daß die Jahre ihnen mehr und mehr die traurige Erinnerung an ein so furchtbares Ereigniß ihres Lebens nehmen werden.“

Gräfin Clara ging nach diesen Worten an ihren Schreibtisch, und Herrn von H…dorf den letzten Brief ihres Bruders und ein Tagebuch ihrer Schwägerin gebend, das sie in dem verborgenen Fache eines Büreaus gefunden, worin Jene wichtige Papiere aufzubewahren pflegte, sprach sie ernst. „Aus Beiden werden Sie Alles ersehen, was Sie zu wissen wünschen; das Tagebuch wird Ihnen völligen Aufschluß über eine That geben, die, im Dunkel der Nacht vollführt, durch Ihre Rücksicht mit im tiefsten Dunkel für die Welt geblieben ist; – dieser Brief aber wird Ihnen offenbaren, daß jene finstere That im Damenzimmer zu E* gesühnt worden, – furchtbar gesühnt ist und sich in entsetzlicher Weise gerächt hat.“




Im Lager von Chalons.
(Schluß.)

Um nicht Alles aus den Städten einführen zu müssen, sind hinter den Baracken des Lagers Gemüsegärten angelegt worden, welche von den Soldaten selbst bearbeitet werden. Das hat einen doppelten Vortheil: es verschafft den Truppen eine frische, angenehme Kost und nimmt einen Theil der freien Zeit in Anspruch, die sie jetzt nützlich hinbringen, während sie sonst auf Spiel und Müßiggang verwendet wurde.

Der praktische Sinn des französischen Soldaten, welcher sich ganz wunderbar in alle Lebenslagen zu schicken und den größten Vortheil daraus zu ziehen weiß, bewährt sich auch hier. Bei dem Mangel an Wald und Gesträuch fehlt es dem Lager und folglich auch den einzelnen Zelten an Schatten, was besonders im Sommer sehr unangenehm wird. Wer nun nicht so glücklich ist, seinen Zeltpfahl unter oder neben einem Baume aufschlagen zu können, der hilft durch Anpflanzung von schnell wachsendem Gesträuch, großen Blättern und Blumen nach. Ueberall, wo es nur zu machen ist, muß die hochstämmige Sonnenblume zugleich Zierde und Schatten verleihen.

Damit noch nicht zufrieden, haben sie auch noch für andern Schmuck gesorgt, indem sie an hervorragenden Stellen Bildsäulen aus Gyps aufrichteten, welche noch die besondere Bestimmung haben, durch allegorische Andeutungen die vielfachen Siege der französischen Nation in’s Gedächtniß zurückzfrufen.

Ein Musiker, der auch in plastischer Hinsicht ein wenig von den Musen angelächelt worden ist, hat alle diese Bildsäulen in freien Stunden geschaffen. Er heißt Lempereur, welchem Umstande wir eine nette Anekdote verdanken. Als nämlich der Kaiser zuerst darauf aufmerksam gemacht wurde, fragte er nach dem Künstler und seinem Namen. „Wer hat diese Statuetten angefertigt?“ „Lempereur,“ war die Antwort. Da der Kaiser sich nun sehr wohl bewußt war, niemals solche Sünden in Gyps begangen zu haben, so stutzte er und fragte noch einmal nach dem Verfertiger. Er erhielt immer von Neuem die Antwort: „C’est Lempereur!“ bis sich denn endlich herausstellte, daß der plastische Musikus Lempereur heiße. Der Kaiser lächelte, ließ sich den Künstler vorstellen, beschenkte ihn und ermunterte ihn, fortzufahren. Hoffentlich wird er es mit einem bessern Erfolge thun, als bisher.

So ist Alles hübsch und nett, selbst die Trinkstuben entbehren des Geschmackes nicht; man trifft keine einzige ohne ihren Pavillon vor derselben.

Das Hauptquartier, dem wir doch auch einige Worte widmen müssen, hat eine solche Lage, daß man aus demselben einen Ueberblick über das ganze Lager hat. Es besteht aus einer Anzahl kleiner, steinerner, fast zu zierlich erbauter Häuser. Der kaiserliche Palast, wenn wir das Gebäude so nennen dürfen, hat natürlich eine größere Ausdehnung und bedeutendere Verhältnisse, aber er ist ebenfalls in dem jetzt landläufigen, nichtssagenden Eisenbahnstyle erbaut. Er trägt eben die ephemere Dauer an der Stirne, welche bei einem Lagergebäude natürlich ist.

Dieses Hauptquartier, welches in der großen Zeltstadt ein Städtchen für sich bildet, enthält noch große Räume für Gäste, wo täglich an langen Tischreihen Table d’hôte gespeist wird. Die hübsche Militärmusik, welche hier bei jedem Mahle aufspielt, würzt die Speisen und erhebt den Gast eine Weile über den kriegerischen Lärm der volkreichen Soldatencolonie.

In der letzten Hälfte des Monats Juli hatte der Kaiser seinen in Düsseldorf residirenden Verwandten, den Fürsten Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, zum Besuche im Lager eingeladen, und dieser war mit seinem Sohne, dem Prinzen Anton, der Einladung gefolgt.

Nachdem Wettrennen und andere Festlichkeiten vorangegangen waren, fanden am 22. vor dem hohen Gaste Manöver statt, welche eine großartige Wirkung hervorbrachten. Es kann hier die Aufgabe nicht sein, auf dieselben näher einzugehen, doch können wir es uns nicht versagen, zu erwähnen, daß die Frontveränderungen in kolossalem Maßstabe von mehreren großen Truppenkörpern mit einer seltenen Präcision und Schnelligkeit ausgeführt wurden, wie denn überhaupt die Beweglichkeit der französischen Infanterietruppen die der deutschen bei Weitem übertrifft.

Die Bataillons- und Pelotonsfeuer geschahen mit einer solchen Ruhe und Genauigkeit, daß man in der That nur einen einzigen Schuß zu hören glaubte.

Den Glanzpunkt aber bildete eine Schwärmattaque der Spahis, die aus der Reserve plötzlich durch die Intervalle der übrigen Cavallerie hervorbrachen, sich in rasender Schnelligkeit ausbreiteten und nach Art der Kabylen in voller Carrière Feuer auf den Feind gaben.

Die äußere Erscheinung der afrikanischen Truppen ist in einem hohen Grade interessant. Wenn man diese wilden Söhne einer fernen, glühenden Zone einzeln und in Schwärmen daherfliegen sieht, so wird die Phantasie auch des nüchternen Schauers thätig. Unwillkürlich glaubt man sich nach Afrika versetzt, man sieht im Geiste die Palmen und hört über dem Haupte ihr Rauschen. Die Gestalten dunkelbärtiger Emirs steigen vor unsern Augen auf, wie sie mit flatternden Gewändern und blitzenden Augen in rasendem Galopp über die sandigen Flächen jagen oder in stiller, träumender Beschaulichkeit vor ihren Zelten sitzen, dem fernen Hufschlage lauschend oder über kriegerischen Unternehmungen brütend.

Die Einbildungskraft durchbricht dann alle Schranken der Wirklichkeit und schwingt sich mit einem kühnen Rucke über alle [645] Wälle und Palissaden des praktischen Lebens, um in wasserlosen Wüsten und auf quellenreichen Oasen umherzuschwärmen, die Dattel mit eigener Hand zu pflücken und mit stillem Entzücken den schwarzäugigen Töchtern des Propheten zu folgen.

Nach beendigtem Dienste, am Abende nach heißem Tage, kann man die Söhne Afrikas in ihren Kaffeehäusern zusammen finden, wo sie nach der Gewohnheit ihres Landes mit untergeschlagenen Beinen kauern und ihren Kaffee schlürfen. Da ist jeder Typus des Südens vertreten; herrliche, classische Gestalten sieht man da, würdige Gegenstände für den Pinsel des Malers, aber

Afrikanische Truppen im Lager von Chalons.
Nach der Natur aufgenommen von Fikentscher.

auch Figuren, welche es auf den ersten Blick fraglich erscheinen lassen, ob sie zu den civilisirten Menschen zu rechnen sind.

Die Turcos, Spahis und welche Namen sie sonst noch tragen mögen, haben ihre eigene Musik. Obschon dieselbe nach unsern Begriffen und Gewohnheiten keineswegs conservatoirmäßig ist, so halten die Afrikaner sie doch für ganz vorzüglich und können einem von ihren Musikanten veranstalteten Concerte stundenlang, fast bewegungslos, mit übereinandergeschlagenen Armen und leuchtenden Augen zuhören. Damit die Leser ebenfalls einen Begriff von der Vortrefflichkeit derselben erhalten, mögen sie sich merken, daß die Hauptinstrumente aus zwei dicken Trommeln, einer Schalmei und einer Kette von vier zusammenhängenden kleinen Pauken bestehen, welche letztere auch mit auf das Pferd genommen werden.

Wenn die musikalische Unterhaltung mit ihrem ohrenzerreißenden Lärme losgeht, so stäubt Alles hinweg, was nicht zu den Eingebornen zählt; desto fester aber haften diese am Platze, und sie können ein mitleidiges Lächeln über den verbildeten Geschmack der Franzosen nicht unterdrücken.

Einen wahrhaft komischen Anblick gewährt die Instandsetzung der Morgentoilette dieser Söhne des „gluthströmenden Afrika“. Da nur der Haarbüschel in Mitten des Kopfes ein Recht auf dauernden Verbleib hat, die übrigen Schädelstellen aber glatt sein müssen, so ist an jedem neuen Morgen eine neue Scheererei nothwendig; doch wird man schon ohne einen modernen Friseur fertig. Irgend ein Camerad, der sich besser als die übrigen auf die Kunst des Scheermessers versteht, verrichtet ihnen den Liebesdienst ohne irgend einen kingenden Entgelt.

Der zu Rasirende läßt sich auf einen Kessel oder irgend ein anderes augenblicklich nicht gebrauchtes Geräthe nieder und bietet vertrauensvoll seinen Kopf dem Messer dar. Der Scheermeister streicht nun in langen Zügen aus, die fast eine Aehnlichkeit mit den weitgreifenden Bewegungen einer Sichel haben und die einen Europäer sicher in Grauen und Todesfurcht versetzen würden. Der Afrikaner aber hält mit einem stoischen Gleichmuth aus und verzieht weder eine Miene zum Lachen, noch zu ernsten oder zweifelhaften Bedenklichkeiten. Der Mann ist eben abgehärtet und kann etwas vertragen. Er gleicht darin seinem edlen Rosse. Es liegt Tag und Nacht ohne Stroh und Streu auf dem harten Boden, aber es wird davon nicht ruinirt, sondern ebenfalls abgehärtet, und es lernt Strapazen ausdauern und ertragen, worunter unsere deutschen Pferde erliegen würden.

An den Sonntagen findet ein großes Hochamt, eine feierliche Feldmesse im Lager statt, welcher die ganze Generalität und, wenn der Kaiser zugegen ist, auch dieser beiwohnt. Auch der Fürst von Hohenzollern war mit dem Prinzen Anton bei demselben zugegen.

Schließlich haben wir noch des kaiserlichen Prinzen zu erwähnen, [646] auf welchem die Hoffnung der Napoleonischen Dynastie beruht. Obschon noch Kind, so ist ihm doch schon in dem großen Lagerleben eine Rolle übertragen. Sie besteht hauptsächlich darin, sich beliebt zu machen, Capital für die Zukunft zu sammeln. Und wahrlich, das Kind versteht seine Aufgabe; sie muß ihm gut einstudirt sein. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes Lächeln ist ein Minutenstein auf der großen Rue Napoleon, welche mitten durch das Lager und von da zu dem Throne von Frankreich führt.

Wo eine Schildwacht auf Posten steht, taucht er plötzlich auf, stellt sich der Wache mit gewinnendem Lächeln vor und überreicht dem Soldaten ein Loos zu der Lotterie, welche am Abende im Hauptquartiere gezogen wird. Der Glückliche gewinnt, er muß gewinnen, denn das verhängnißvolle Loos ist ihm durch die Hand des kaiserlichen Prinzen zugegangen.

Bei dem erwähnten Manöver waren außer dem Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen auch noch der Herzog von Tetuan, General Hamilton und andere hervorragende Persönlichkeiten zugegen; aber Alles drehte sich doch um den Fürsten. Er ritt beständig an des Kaisers Seite und war fortwährend in lebhafter Unterhaltung mit demselben begriffen.

Hieraus haben die Politiker den Schluß ziehen wollen, als sei der Fürst mit einer hohen Mission beauftragt gewesen. Wo hohe Personen zusammenkommen, will man immer nach tiefen Motiven suchen. Für diese Zusammenkunft möchte das ein vergebliches Beginnen sein; denn der Kaiser und der Fürst haben sich nur als Verwandte und Soldaten gesehen.

H.



Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 9. Die Schrecken oder Geradflügler.
Die Schrecken – Eine Gottesanbeterin – Die Wanderheuschrecke – Die Maulwurfsgrille und deren Fang – Die Liebe der Werren.

     Meine Herren!

Während wir bisher nur mit Insectenordnungen zu thun hatten, welche eine vollkommene Verwandlung besitzen und wenigstens während einiger Zeit einen ruhenden Puppenzustand durchmachen, so gehören die Schrecken und Wanzen, welche wir in der Folge betrachten werden, im Gegentheil zu denjenigen Insecten, die niemals der Ruhe genießen, stets fressen und nur eine unvollkommene Verwandlung durchmachen, indem sie in mehreren aufeinander folgenden Häutungen nach und nach sich Flügel anschaffen. Die Schrecken aber insbesondere zeichnen sich vor den übrigen Insecten durch ihre vier großen häutigen Flügel aus, von welchen die vorderen niemals gefaltet, sondern deckenförmig in der Ruhe über den Leib geschlagen werden, während die hinteren einem Fächer gleich in der Ruhe strahlenförmig sich zusammenfalten. Der Kopf dieser Thiere ist meist mit sehr langen, fadenförmigen Fühlern und außerordentlich kräftigen Kinnbacken und Kinnladen ausgestattet, die Hinterbeine häufig sehr verlängert, die Schenkel verdickt, so daß sie bedeutende Sprünge machen können. Auch in dieser Ordnung finden wir nur Feinde, und da sie mit einziger Ausnahme der Fangheuschrecken nur von pflanzlichen Stoffen sich nähren und häufig in ungeheuren Schwärmen auftreten, welche im wahren Sinne des Wortes gewaltthätig über die menschlichen Pflanzungen herfallen, so ist es nicht mehr als billig, ihnen in jeder Weise nachdrücklich den Krieg zu erklären. Auch hat sich in dieser Beziehung der Volksglaube niemals getäuscht, und nur hinsichtlich der erwähnten Fangheuschrecken sind fromme Naturforscher, namentlich Franz von Paula-Schrenk, der specifisch katholische Zoologe Baierns, auf höchst absonderliche Gedanken gekommen. Wir besitzen im südlichen Deutschland, wenn auch selten, eine Art Heuschrecken, welche auch das Weinhähnel oder die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) genannt wird und sich durch den äußerst beweglichen Kopf und die höchst eigenthümlichen vorderen Fangfüße von allen übrigen Insecten auf den ersten Blick unterscheidet. Diese Fangfüße sind nämlich mit einer innen scharfgezähnten, schneidenden Klinge als äußerstem Gliede versehen, die ganz wie ein Taschenmesser gegen das Mittelglied, das ebenfalls auf der Innenseite scharf ist, eingeschlagen werden kann. Den schlanken Vorderleib mit diesen Fangfüßen trägt das Thier stets in die Höhe gerichtet, sodaß es gleichsam die Stellung eines Betenden zeigt, der seine Hände nach dem Himmel ausstreckt. Natürlich mußte denn auch die Bestie als Beispiel für alle jene seltsamen frommen Nutzanwendungen und gottseligen Gedanken dienen, welche man an diese Stellung knüpfte. Der Schöpfer habe sie dem Menschen selbst zur Mahnung erschaffen, um ihn beständig an das Beten zu erinnern; das magere Thier nähre sich nur vom Thau, der ihm zur Belohnung seines gottseligen Lebenswandels vom Himmel direct zugesandt werde, freilich aber auch nur gerade genüge, um es nothdürftig zu ernähren. Durch seinen magern, klapperdürren Leib soll es die sündige Menschheit mahnen, zu dem Gebet noch Fasten und Kasteiungen hinzuzufügen, und auf diese Weise durch Beispiel und Exempel auf den Pfad zur Tugend leiten. In der That aber ist die Fangheuschrecke ein grimmiges Raubthier, welches anderen Insecten auflauert, sie mit den klammerförmigen Fangfüßen packt und zerschneidet und sich vorzugsweise gern von Fliegen und Heuschrecken nährt, ja sogar und namentlich in der Gefangenschaft seines Gleichen nicht verschont.

Unter den eigentlichen Heuschrecken ist es namentlich die Wanderheuschrecke (Gryllus migratorius), welche sich durch die Verheerungen, die sie anrichtet, in unliebsamer Weise berüchtigt gemacht hat. Ihr eigentliches Vaterland ist der Orient, die flachen Steppen Südrußlands, die grasreichen Ebenen der Tatarei und des Inneren Asiens und Afrikas. Von dorther kommen jene ungeheuren Schwärme, welche zuweilen gleich den Heerzügen der Mongolen in schrecklich zerstörender Weise über ganze Länder herfallen, die Sonne bei ihrem Zuge verfinstern und nicht nur alles Grüne bis auf die Wurzel zerstören, sondern auch durch ihre modernden Leiber verpestende Dünste erzeugen. Vor einigen Jahren erst zeigte sich in den Gouvernements Cherson und Bessarabien ein solch ungeheurer Schwarm, der einen Strich Landes von 60 Werst Länge (etwa 17 Stunden) und 20 Werst Breite einnahm. Der Schwarm passirte den Dniester, Alles auf seinem Zuge verheerend, und näherte sich dem schwarzen Meere. Man versammelte eine wahre Armee von etwa zwanzigtausend Bauern mit einigen Kosakencompagnien, welche während drei Wochen Millionen von Heuschrecken tödteten und den Ueberrest in die See trieben. Aus dieser einzigen Angabe kann man sich etwa ein Bild der ungeheuren Schwärme machen, welche jene Gegenden vermüsten.

Man hätte indessen Unrecht, zu glauben, daß die Wanderheuschrecke einzig auf den Osten beschränkt sei und nur auf einer irren Wanderung zuwelien in Deutschland und der Schweiz einbreche. Sowohl in der Mark Brandenburg, als auch namentlich in dem durch seine zoologischen Eigenthümlichkeiten so merkwürdigen Wallis findet sich die Heuschrecke ziemlich häufig, und ohne Zweifel könnten bei geringer Cultur und genügender Rückkehr zu den gepriesenen mittelalterlichen Zuständen auch größere Schwärme in günstigen Jahren entstehen. In dem schmalen Rhonethale, welches die Sohle des Wallis bildet, ist die Wanderheuschrecke schon eine ganz gewöhnliche Plage, und nicht selten kommen kleinere Schwärme über den See bis nach Genf herüber, wie ich denn seit meinem achtjährigen Aufenthalte schon zwei Mal häufige Exemplare auf der Ebene von Plainpalais gefunden habe. Am leichtesten gelingt die Zerstörung dieser Heuschrecken zu der Zeit, wo ihre Flügel noch nicht gehörig ausgebildet sind, da man sie dann mit Leichtigkeit todtschlagen kann; während später, wenn sie einmal vollkommen fliegen, die Treibjagden, welche man anstellen könnte, nur sehr geringen Erfolg haben. Das Weibchen legt die Eier, in schaumigen Schleim gehüllt, in Gruppen von etwa hundert Stück in zolltiefe Erdlöcher, zu deren Anlegung es besonders gerne leichten, sandigen Boden wählt, welcher der Sonnenwärme recht ausgesetzt ist.

Alle übrigen Heuschrecken sind ähnlich in ihrer Lebensweise und würden nicht minder zerstörend auftreten, wenn sie in eben so

[647] großen Schwärmen vorkämen. Gewöhnlich aber lassen sie den Schaden, welchen sie verursachen, ihrer geringen Zahl wegen eben so wenig bemerkbar werden, als die Haus- und Feldgrillen (Acheta domestica und camptestris)[1], welche durch ihren unangenehmen, schrillenden Gesang weit mehr lästig fallen, als durch ihre Gefräßigkeit.

Ein höchst unangenehmer, zerstörender Gast ist aber in unseren Feldern und Gärten die Maulwurfsgrille (Gryllotalpa vulgaris), deren vielfache populäre Namen schon darauf hindeuten, wie zerstörend das Thier in unseren Pflanzungen haust. Rind-, Raub,- oder Schrotwurm, Werre und Werbel oder Ackerwerbel, Erdkrebs, Erdwolf oder Moldworf heißt das häßliche Thier mit dem dicken Leibe, den es auf der Erde schleift, den breiten schaufelförmigen Grabfüßen, dem langen, panzerähnlichen Brustschilde und dem kleinen Kopfe mit listigen Augen und einer Menge von Anhängseln, Freßspitzen, Tastern, Fühlern, Kinnbacken und Kinnladen. Dem Maulwurfe ähnlich lebt die Werre in der Erde, wo sie vielfach hin – und hergewundene Gänge nahe an der Oberfläche gräbt, die ein wenig aufgeworfen erscheinen und sich besonders nach Regen leicht erkennen lassen, weil sie früher trocknen als die umgebende Erde. Man kann leicht in einen solchen Gang den Finger einbringen. Fährt man ihm nun mit den Finger nach, so dauert es selten lange, bis man den Gang in die Tiefe sich senken sieht und mit dem Finger nicht weiter folgen kann. Hier ist nun der Eingang zu der unter9rdischen Wohnung, die aus glätteren, geräumigen Gängen mit kesselartigen Erweiterungen besteht, während die Jagdgänge, die auf der Oberfläche sich finden, nur leichthin aufgeworfen werden und häufig zusammenfallen, auch keine geglätteten Wände zeigen. Will man eine Werre fangen, so braucht man nur den Eingang ein wenig mit dem Finger festzudrücken, damit er nicht einfällt, und dann mittelst eines dutenförmig zusammengerollten Blattes, oder noch besser, mittelst eines Papiertrichters erst einige Tropfen Oel und nachher Wasser in den Gang zu gießen. Es braucht oft viel Wasser – drei bis vier Gießkannen voll – ehe sich sämmtliche verzweigte Gänge so gefüllt haben, daß kein Wasser mehr eindringt. Nun aber krabbelt es auch aus dem Boden hervor – oft an dem Loche selbst, in welches man Wasser goß, oft auch an einer ganz anderen Stelle. Die Werre kriecht heraus, klebrig, ekelhaft fett, halb erstickt. Oft besitzt sie nicht einmal die Kraft mehr herauszukriechen – oft auch gelangt sie nur gerade an die Oberfläche und stirbt unter Zuckungen. Das fette Oel hat sich an ihren Leib gehängt, die Luftlöcher verstopft und die Bestie eben so gut erstickt, als wenn man einem Säugethiere den Hals zugeschnürt hätte.

Thun wir aber nicht vielleicht Unrecht, indem wir die Maulwurfsgrille verfolgen? Hat der Maulwurf nicht Jahrhunderte lang unter dem allgemeinen Vorurtheil des Volkes gelitten, bis die neuere Zeit versuchte, ihm sein Recht angedeihen zu lassen?

Wir können gewiß nicht leugnen, daß die Werre mit Wohllust auch über thierische Nahrung herfällt und einen Engerling oder Regenwurm, den sie auf ihren dunkeln Wegen trifft, nicht verschont. Ihre ungemein große Gefräßigkeit läßt sie sogar die Jungen und Larven ihrer eigenen Art tödten und aufzehren. In Gefangenschaft schneiden sie sich unter einander an und fressen sich, wie die Löwen in der Fabel, gegenseitig auf, so daß nur die Schwanzspitzen übrig bleiben. „Ueber alle Begriffe geht,“ so erzählt Nördlinger, „was in dieser Beziehung mein Vater mit ansah. Er hatte bei Bearbeitung eines Blumenbeetes im Garten eine Werre mit dem Spaten auf den Weg ausgeworfen und durch die Mitte entzwei gestoßen, in der irrigen Meinung, das Thier dadurch getödtet zu haben. Als nach einer Viertelstunde seine Augen wieder auf die Werre fielen, war ihr Vordertheil beschäftigt (wer weiß ob nicht in dem Gefühle der Leere ihres Bauchs) heißhungrig den weichen Hinterleib aufzuzehren. Das gräuliche Schauspiel wurde schnell durch einige weitere Spatenstiche unterbrochen.“ Die Geschichte klingt fast wie aus dem Münchhausen, dessen durch das Fallgitter geteiltes Roß fortfährt Wasser zu saufen, und dennoch ist sie vollkommen wahr, denn ich habe selbst Gelegenheit gehabt, Aehnliches zu beobachten. Thierische Nahrung verschmäht also die Werre keineswegs, und manche ihrer Gänge mögen zur Aufsuchung derselben getrieben werden. Wenigstens bemerkte ich häufig in meinem Garten, daß die Werren ihre Gänge um die Zuckererbsen herum trieben und diese ungestört fortkeimen und wachsen ließen, während man hätte erwarten sollen, daß sie die Erbsen anfressen würden. Wahrscheinlich jagten sie da die Schneckchen, welche die Erbsen fressen.

Aber diese Fähigkeit oder Lust, Alles zu verzehren, hindert durchaus nicht, daß die Werre auch Pflanzen angreift und gründlich zerstört. Man braucht nur ihren Mageninhalt zu untersuchen, um sich zu überzeugen, daß er theilweise aus Pflanzenstoff gebildet ist. Ferner lassen sich die Zerstörungen in den Pflanzungen durchaus nicht wegleugnen, und wenn man früh Morgens oder gegen Sonnenuntergang aufmerksam und still beobachtet, wird man leicht mit dem Spaten in der Hand constatiren können, daß eine Salatpflanze ihr Haupt neigt, weil die Werre eben ihre Wurzel zernagt. So ausgiebige Verheerungen wie der Engerling mag sie in Wiese und Feld wohl nicht erzeugen, da auch trotz ihrer Größe ihre Kiefer schwächer zu sein scheinen und sie also Baum- und Rebwurzeln nicht oder nur in der höchsten Noth angreift – aber im Garten ist sie eben so verderblich, wenn nicht verderblicher als der Engerling, welcher doch nur von unten her die Wurzeln frißt, während auf den zahlreichen Gängen der Werre auch die noch jungen Sämlinge und Setzlinge in Folge der mechanischen Lockerung ihrer Wurzeln verdorren.

Auch eine Werre kann lieben. Im Juni und Juli kommt eine eigene Bewegungslust über sie, in welcher sie häufig sogar bei Tage ihre Löcher verlassen, auf dem Boden herumlaufen oder schwerfällig schnurrend umherfliegen. Auch setzt sich das Männchen gern vor die Eingangslöcher und geigt mit den Hinterbeinen an den Flügelrändern, was einen leise zirpenden Ton hervorbringt, der demjenigen der Feldgrillen ähnlich, aber weit gedämpfter ist.

Das Weibchen legt in der Erde, meist in der Tiefe eines halben Fußes, ein Nest an, welches in einem faustgroßen Erdballen besteht, der in der Mitte eine nußgroße geglättete Höhle enthält. Der Gang, welcher von der Oberfläche in dieses Nest führt, zeigt eine spiralige Krümmung mit allmählicher Senkung und läßt sich von dem geübten Auge leicht erkennen, so daß es vortheilhaft ist, an solchen Orten, wo die Werren große Verwüstungen anrichten, die Arbeiter zum Erkennen und Aufsuchen der Nester anzulernen. In die sorgfältig geglättete innere Höhlung legt das Weibchen zuweilen über zweihundert Eier und hält sich dann in der Nähe, wie wenn es über dem Neste wachte. Die nach einem Monat ausgekrochenen Jungen gleichen fast großen Ameisen, halten sich noch in Schaaren zusammen und verwüsten besonders gern die Grasplätze, auf denen sich ihre Gegenwart durch gelb werdende, abdorrende Flecken erkennen läßt. Im Winter gehen sie in die Tiefe – im Sommer kommen sie mehr an die Oberfläche – mit jeder Häutung nimmt die Länge ihrer Flügel zu, die erst nach der fünften Häutung vollständig werden. Sie durchlaufen so, wenn auch mit verhältnismäßig weit geringerer Mühe, etwa alle Stadien, welche die Bekleidung der schweizerischen Armee durch unzählige Commissionen, Berichte und Beratungen der eidgenössischen Räthe durchlaufen hat – von der flügellosen Aermelweste zum Halbfrack, zum Schwalbenschwanz und endlich zum Waffenrocke, der doch die nach Jahn wichtigsten Theile des Kriegers deckt, nämlich Kreuz und Bauch.

Das Ausnehmen der Nester und das Fangen mittelst Eingießen von Oel und Wasser mögen wohl die einzigen nachhaltigen Vertilgungsmittel der Werren sein. Durch das letztere Mittel habe ich wenigstens in meinem Garten, der durch leichten humusreichen Sandboden dem Raubzeuge aller Art unendlichen Vorschub leistet, ihre Verwüstungen ziemlich beschränkt. Man räth auch Eingraben von Pferdemist im Herbste in einer Tiefe von etwa 1–2 Fuß an, indem die Werren sich der Wärme wegen dorthin zögen, in das Misthäufchen einwühlten und dann nach eingetretenem Froste leicht herausgenommen und vertilgt werden könnten. – Es hat mir aber scheinen wollen, als sei das Mittel übler als der Nutzen, den es bringen soll, indem die Werren sich auch nur in die Nähe der erwärmten Stelle ziehen, dort leichter überwintern und so sicherer im Frühjahre Schaden zufügen.

(Schluß folgt.)


[648]
Eine alltägliche Geschichte.
Von Fr. Gerstäcker.

Es war auf einem Balle in der Erholung, daß Dr. Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmer kennen lernte – oder vielmehr zum ersten Male sah, und sich sterblich in sie verliebte.

Bertha Wollmer trug ein einfach weißes Kleid, einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haare und sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immer ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine Hausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte der letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Licht gehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo er gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen auf dem rechten Flecke haben müßte.

Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl nicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht allein ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zu kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav, ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte, vortreffliche Wirthschafterin. – Der Doctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtin finden können.

Gegen ihn selber ließ sich ebenso wenig einwenden. Er war etwa 34 Jahre alt, Advocat mit einer recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galt in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen Mann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig, und als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt, sagte das Mädchen nicht nein, und Vater und Mutter sagten ja, worauf dann noch in der nächsten Woche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden. Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.

So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich miteinander, und Dr. Brethammer sah mit jedem Tage mehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahl getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von Herzen, aber – wie das so oft im Leben geht – das, was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm – durch Nichts gestört – endlich zur Gewohnheit, und er vernachlässigte, was er hätte hegen und pflegen sollen.

Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb nie geringer wurde, aber er vernachlässigte auch die Form, die in einem gewissen Grade in allen Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit seiner Frau, ja heftig, und wenn er auch dabei nicht die Grenzen überschritt, die jeder gebildete Mensch inne halten wird, that er ihr doch oft – gewiß unabsichtlich – recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein heftiges Wort entfahren war, hätte er es von Herzen gern widerrufen mögen, aber – das ging leider nicht an, denn – er durfte sich an seiner Autorität nichts vergeben.

Nur zu einer Entschuldigung ließ er sich herbei: „Du weißt, ich bin jähzornig,“ sagte er, „wenn’s aber auch oft ein Bischen rauh herauskommt, so ist es ja doch nicht so schlimm gemeint und eben so rasch vergessen.“

Ja, das war allerdings der Fall; er hatte es eben so rasch vergessen, aber sie nicht, und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht zeigte, wenn sie ihn immer bei sich entschuldigte und sein oft mürrisches Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er außer dem Hause gehabt – ein kleiner Stachel blieb von jeder dieser Scenen in ihrem Herzen zurück, so viel Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung daran zu bannen; einen kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei es noch so schnell, vorübergezogen, und in einsamen Stunden konnte sie oft recht traurig darüber werden.

Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der Vater mit großer und wirklich inniger Liebe hing – und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen ab! Es ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und mußte sich oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur zum Mittagessen zu kommen, aber Abends um sechs Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt, und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben bei Frau und Kindern zu sitzen, um sich seines häuslichen Glückes zu freuen, aber – „er mußte dann doch ein wenig Zerstreuung haben“ – wie er sich selbst vorlog – er mußte den Geschäftsstaub abschütteln und mit einem „Glas Bier“ hinunterspülen, und das geschah am besten im Wirthshaus, wo man nicht gezwungen war zu reden – wenn man nicht reden wollte – wo man einmal eine Partie Scat oder Billard spielte, um die ärgerlichen Geschäftsgedanken aus dem Kopf zu bringen – und wie die Ausreden alle hießen, mit denen er allein sich selber betrog, denn seine Frau fühlte besser den wahren Grund.

Er amüsirte sich nicht zu Haus. Er hatte seine Frau und Kinder unendlich lieb und würde Alles für sie gethan, jedes wirklich große Opfer für sie gebracht haben, aber – er verstand nicht, sich mit ihnen zu beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei Karten und Billard.

Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau dabei! Er mochte noch so spät Abends zum Essen kommen, nie zeigte sie ihm ein unfreundliches Gesicht, nie frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder – wenigstens das jüngste – waren dann schon meist zu Bett gebracht; er konnte ihnen nicht einmal mehr „gute Nacht“ sagen, und ärgerlich über sich selber – so sehr er auch vermied, es sich selber einzugestehn – verzehrte er schweigend sein Abendbrod.

Das waren die Momente, wo ihm der älteste Knabe ängstlich aus dem Wege ging, denn hatte er irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es in einer solchen Stunde, dann konnte er sehr böse und sehr heftig werden – und die arme Mutter litt besonders schwer darunter.

Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner Familie, bei den Seinen zuzubringen, und er wußte ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben würde. So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so sorgsam sie auf Alles achtete, was dem Gatten eine Freude machen oder zu seiner Bequemlichkeit dienen konnte, so verständig war sie in jeder andern Hinsicht, und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte mit ihr unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im Stande gewesen wäre, einen vernünftigen Rath zu ertheilen. Er kannte und schätzte diese Eigenschaften an ihr – er liebte sie dafür nur desto mehr, aber – wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte, daß sich die Spieltische besetzten, oder die gewöhnliche quatre tour am Abende zusammenkam, dann ließ es ihn nicht länger zu Hause ruhen.

Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden, da sie aber nie gegen ihn klagte und ein häufiger wiederkehrendes Unwohlsein stets so viel als möglich vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte, achtete er selber nicht viel darauf, oder hielt es doch keineswegs für gefährlich. Er hatte in der That sehr viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug – nur seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten lassen. Sobald er das aber ja einmal fühlte, wollte er es auch stets gern wieder gut machen, und überhäufte sie mit Geschenken – ja, wo er einen Wunsch an ihren Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn – soweit er eben mit Geld erfüllt werden konnte – nur seine Abende widmete er ihr nicht. – Er wollte auch eine Erholung haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit gegen die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.

„Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,“ sagte er in einer halben Abwehr, in halber Entschuldigung; „Ihr wißt, wie’s gemeint ist,“ und damit war die Sache für ihn abgemacht, aber nicht für die Frau.

Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder, heftig gegen sie, und fuhr sie rauh an. Er meinte es wirklich nicht so bös, wie die Worte klangen, aber es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen, so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen, wie weh er ihr gethan.

So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft in X. gegründet worden und Brethammer Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt, ja er kaufte ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid und that wirklich Alles, um sie zu überreden, ihm die Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie unwohl sei, aber er wollte es nicht glauben, und erst als sie ihm mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten, und wie große Mühe sie sich gegeben, es nicht zu zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm auch ihr bleicheres Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen auf. Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon oft unwohl gewesen und hatte sich immer wieder erholt, auch diesmal würde es sicher vorübergehen, wenn sie [649] sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen jedenfalls das Vernünftigste, daß sie nicht auf den Ball ging.

Der Winter verging, Bertha wurde in der That nicht kränker, aber sie blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte sich zuletzt an diesen Zustand. Er hatte anfangs seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan – und ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! – auf die Länge der Zeit aber vergaß er das wieder – es war ja nicht mehr nöthig. Seine quatre tour und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte sich ganz vortrefflich dabei. Kam er dann Abends nach Haus – ob er sich auch einmal um eine halbe oder ganze Stunde verspätet hatte – fand er den Tisch gedeckt, und war es so spät geworden, daß die Kinder zu Bett geschickt werden mußten, so setzte sich sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.

Im Frühjahr schienen Bertha’s Leiden heftiger wiederzukehren, und der Arzt kam fast täglich, aber auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte selber nicht, daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich war, oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie hätte thun sollen, aber sie fürchtete, dem Gatten das Haus dadurch noch ungemüthlicher zu machen, und trug deshalb lieber Alles allein.

Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer wieder am Kartentisch und zwar in einem Garten, etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin die keine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich auswanderte, als ein Bote hereingestürzt kam und ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es standen nur wenige Worte darauf:

„Komm zu mir. – Bertha.“ Aber die Worte waren mit zitternder Hand geschrieben, und den Mann überkam, als er sie gelesen, eine ganz sonderbare Angst.

Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha krank geworden? – daß sie fortwährend krank gewesen, wollte er sich gar nicht gestehen, aber der Bote wußte weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen und gut bezahlt, damit er so schnell wie möglich diesen Brief übergeben sollte. – Mitten im Spiel hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte er in die Stadt zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt – unten im Hause traf er sein Mädchen, die eben aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.

„Was um Gottes willen ist vorgefallen – meine Frau?“

„O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!“ rief das Mädchen. „Sie hat so danach verlangt, Sie noch einmal zu sehen.“

Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf kam. Der Arzt stand neben dem Bett, streckte ihm die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ das Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche, die kalte Hand seines treuen Weibes mit Küssen und Thränen bedeckend.

„Mein Kuno,“ flüsterte die zitternde Stimme, „o wie lieb das von Dir ist, daß Du noch einmal gekommen bist – mir ist nur so kurze Zeit geblieben – das Alles brach so schnell herein.“

„Bertha, Bertha, Du kannst – Du darfst mich nicht verlassen,“ schluchzte der Mann und schlang seinen Arm krampfhaft um sie.

„Du thust mir weh,“ bat sie leise, „fasse Dich, Kuno, es muß sein – ich muß fort von Dir und den Kindern – o sei gut mit ihnen, Kuno – sei nicht so rauh und heftig mehr – sie sind ja lieb und brav, und Du – hast sie ja auch so lieb.“

Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen, mit bebender Stimme gesprochenen Bitte lag ein so furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen Gefühlen, seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte geben konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die Sterbende auf das Bett, und ihre Hand lag auf seinem Haupt und drückte es leise an sich.

„Kuno,“ hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.

„Bertha, meine Bertha!“ rief der Mann, sein Antlitz zu ihr hebend, „fühlst Du Dich besser?“

„Leb wohl!“

„Bertha!“ stöhnte der Unglückliche, „Bertha!“

„Mach mir den Abschied nicht schwer,“ bat die Frau, „die Kinder habe ich schon geküßt, ehe Du kamst – ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß mich ausreden,“ flehte sie, „mir bleibt nicht mehr viel Zeit und das Sprechen wird mir schwer – leb wohl, Kuno – habe noch Dank – tausend Dank für all das Liebe und Gute, das Du mir gethan – sei mir nicht bös, wenn ich vielleicht –“

„Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das Herz –“

„Es ist gut – es ist vorbei – es wird Licht um mich – leb’ wohl Kuno – sei gut mit den Kindern – auf Wiedersehen!“

„Bertha!“ – – es war vorbei. Der Mann knieete neben der Leiche seiner Frau, und es war ihm, als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein und trostlos in einer Wüste stände.

Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein Traum. Fremde Leute kamen und gingen ein und aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht, und selbst als sie die Leiche in den Sarg legten, blieb er still und theilnahmlos. Die Kinder kamen über Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er preßte sie fest an sich und küßte sie und blieb dann wieder allein bei der Geschiedenen.

Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft werden mußte, und jetzt war es, als ob er sich dem widersetzen wolle. Aber es traten eine Masse Leute in’s Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit ihm sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall nicht so schwer zu Herzen nehmen solle. Er hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er fühlte, daß – was hier geschah – eben geschehen mußte, und duldete Alles.

Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern nach Haus zurück, schloß sich hier in sein Zimmer ein und weinte sich recht von Herzen aus. Danach wurde ihm etwas leichter – und es ist ein altes und wahres Sprüchwort – die Zeit mildert jeden Schmerz, denn das Menschenherz wäre sonst nicht im Stande zu tragen, was nach und nach ihm aufgehoben bleibt. Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber – die Zeit mildert und sühnt keine Schuld.

Den Verlust der Gattin hätte er ertragen – mit bitterem Weh wohl, es ist wahr, denn er hatte sie treu und innig geliebt, aber mit Jahr und Tag wäre die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie mehr ihr treues Auge wieder schauen zu können, mehr in den Hintergrund getreten, und ihm nur die Erinnerung an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt aber nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht allein das Gefühl der Schuld, nein auch die Reue über vergangene Zeit mit dem Bewußtesein, diese nie zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen oder ungeschehen machen zu können, und das bohrte sich ihm in’s Herz, nicht mit der Zeit weichend, nein mit den wachsenden Jahren fester und fester und unzerstörbarer.

Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war immer ernst und abgeschlossen für sich gewesen, und daß er sich jetzt vielleicht noch etwas zurückgezogen hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim in seiner jetzt verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die Geschiedene mahnend vor ihm empor, und je weniger Vorwürfe sie ihm je im Leben gemacht hatte, desto mehr machte er sich jetzt selber. Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus, die er mit vollkommen gleichgültigen Menschen draußen bei den Karten oder hinter dem Wirthstische verbracht, während seine Bertha daheim mit einer wahren Engelsgeduld auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte. Wieder und wieder malte er sich die einzelnen Fälle aus, wo er rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie ein rauhes und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt, und vor Scham und Reue hätte er in die Erde sinken mögen, wenn er sich jetzt überlegte, wie er damals immer – immer Unrecht gehabt, und das nur, wenn er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte eingestehen mögen.

Aber das Alles kam jetzt zu spät – zu spät für ihn wenigstens. Er hatte einen Schatz gehalten und mißachtet, bis er von ihm genommen wurde – keine Reue brachte ihn je zurück, und daß er jetzt sich elend und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine begangene Sünde.

Für ihn war es zu spät – aber noch nicht für Viele, die diese Zeilen lesen. Viele, viele halten in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz – und vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war der Zweck dieser Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt, da es noch für sie Zeit ist, ausmalen möchten, wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde, und die Reue des Mannes dann zu spät kam, und nie, nie wieder gut gemacht werden konnte.



[650]
Eine Boxerfahrt.

Wie noch vor fünfzig Jahren in schottischen Dorfschulen ein Schulbuch in Gebrauch gewesen, welches die interessante Mittheilung enthielt, daß die Leute in Deutschland in Felle gekleidete Barbaren seien, so giebt es noch heute deutsche Landsleute, die allen Ernstes sich einen Engländer nicht ohne gelben Nankinganzug, Fidibusse von Fünfpfundnoten und einen Bulldog als Spiritus familiaris denken können, vor Allem aber die edle Kunst des Boxens als ein populäres Vergnügen vom Lord bis auf den Straßenjungen herab erklären. Ob der Nanking aus der Mode, müssen die Schneider am besten wissen, aber daß Banknoten nicht mehr zum Anzünden von Pfeifen verwendet werden, ist eben so gewiß, wie die Seltenheit der Bulldoggen in London und die Unmöglichkeit, einen Lord in Hemdsärmeln zu entdecken, der wie ehedem einen Matrosen zu einem „Gang“ herausfordert.

Indessen ist die alte liebe Gewohnheit nicht völlig ausgestorben, alljährlich finden Preisfaustkämpfe statt, zu welchen die Helden wie edle Pferde lange vorher „trainirt“ werden, bis ein Platz in sicherer Entfernung von polizeilicher Störung ausfindig gemacht ist und die Höhe der Wetten das Risico von Leib und Leben „verlohnt“.

So war es am ersten September unseres erleuchteten Jahres. Die Sportzeitungen hatten die Erwartung und Ungeduld jenes Theils der Bevölkerung, dem die Times ein „wölfisches Gemüth“ zuschreibt, bis zum Siedepunkt erhitzt. Auf Mace, den Zigeuner und Preisboxer, Englands Champion, waren bald 600 Pfd. St., auf seinen Gegner Goß 400 Pfd. St. gewettet. Der Sieger sollte beide Summen in die Tasche stecken.

Es war Mitternacht in Whitechapel, einem düsteren östlichen Districte Londons, und zwar dem ärmsten. Die Bierhäuser waren aber noch gedrängt voll, und sehr gemischte Gesellschaft wogte ein und aus. Hier war das Stelldichein Aller, welche für zwei Sovereigns das Geheimniß erkaufen wollten, wo der Boxkampf vor sich gehen sollte. Wer mit Ellenbogen und Rippenstößen sich den Weg zum Ohre des grinsenden Bierwirths erzwingen und ihm zwei Goldstücke in die Faust drücken konnte, erhielt ein Eisenbahnbillet „gültig von der Paddington-Station nach W. B. und zurück.“ Wer nun keine verdächtige Polizeinase besaß, konnte mit Leichtigkeit unter so liebenswürdigen Sportsmännern auskundschaften, daß W. B. eine kleine Stadt in der entlegenen Grafschaft Wiltshire, Namens Wootton-Bassett sei, von ehrwürdigem Alter, fast so alt, wie der Kalkboden, auf dem sie erbaut worden. Um halb vier Uhr Morgens sollte der Bahnzug abgehen, und in dichten Gruppen wanderten die Billetinhaber von allen Bezirken der Millionenstadt nach der Station Paddington im fernen West-End.

Eine Fluth von Menschenköpfen drängte sich in dieser Frühe durch das Bahnhofgebäude, durch Fenster und Thüren; – die Beamten gaben jede Ordnung als hoffnungslos auf, und Ex-Champions verschiedenster Gattung bildeten eine Amateur-Polizei und hielten die Reiselustigen mit Knotenstöcken und Faustpüffen in Reih’ und Glied, bis die in Bereitschaft gehaltenen Waggons mit dieser lärmenden, fluchenden und jauchzenden Völkerwanderung gerüttelt und geschüttelt voll waren. Die Policemen glänzten durch kluge Abwesenheit, augenscheinlich hatten sie ihre besonderen Pläne, wie den Fang sich in flagranti nicht entgehen zu lassen.

Der Zug schien von ungeheurer Länge. Dichter Nebel verhüllte die Aussicht noch nach allen Seiten, und man entdeckte nur ein Irrlichtheer von glimmenden Cigarren in dem Düster des Perrons und der Coupés, bis mit einem schrillen Pfiff die ganze ungefüge Masse in Bewegung kam. Die Heroen des Tages, Mace und Goß, die zuletzt eingestiegen, wurden mit einem brausenden Hurrahruf empfangen, das noch weithin hallte, als schon das Rasseln der Räder und Ketten und das Geknatter der Schienen jede menschliche Rede unhörbar machte. Ein gellendes Geschrei antwortete vom Eisenbahnhof, wo späte Nachzügler ihr Geschick verwünschten und gern auf einen Höllenwagen gestiegen wären, wenn solcher für hundert Guineen zu haben gewesen, um die Davonfliegenden noch einzuholen.

Und doch war dies kein „gemeiner Pöbel“ – nein – gut zwei Fünftheile waren Leute aus der sogenannten „guten Gesellschaft“, durchstreut mit hochadligen Namen, einzelnen Parlamentsmännern, hin und wieder einem jugendlichen Kleriker, freilich ohne die sonst kenntliche weiße Halsbinde, Beamten, die den Sport lieben, und Leuten, die bei Tatterfall täglich hohe Wetten auf Pferdefleisch buchen und bezahlen können. Der große Rest besteht immer aus Gesindel, dessen gute Geschäfte in London ihm an solchen „Ehrentagen“ die Ausgabe von einigen Guineen gestatten. Die „wölfische Gemüthlichkeit“, wie die Times sagt, verbrüdert schnell in solchen Fällen.

Hinaus in die Morgenfrühe, in das offene Land! Vorwärts laufen die Fünfhundert nach einem entlegenen Platze, wo sie in Verborgenheit einem Schauspiel beiwohnen wollen, das möglichenfalls mit einem Brudermorde endet! Sie sorgen sich um solche Gedanken nicht; sie rühmen das Ding als nobel und heroisch; denn es sei etwas „Besonderes um die heutige Probe“, weil „beide Männer Erfahrene seien“ und in „excellenter Condition“ sich befänden. Namentlich Mace, der erklärte Champion von England, sei ein würdiger „Professor einer äußerst nützlichen Kunst“, nothwendig „für die nationale Existenz Britanniens“; Beide auch „Wetteiferer“ für ein anständiges „Preisgeld“, das mehr als ein „Ehrensold“ denn als „gemeiner Mammon“ angesehen werden müsse. Sie gäben ein Beispiel, „bis zu welcher Vollkommenheit ein Mann trainirt werden könne, wenn nur sein Geist mit Ernst sich auf die Sache werfe“ etc. Hin und her gingen die Wetten, die sorgfältig gebucht wurden. Es macht nicht viel aus, sich als zweideutiger Bankerotteur vor Gericht weiß zu waschen, aber es ist Ehrensache, solche Wetten auf Menschenblut zu bezahlen.

Weiter! Weiter! Sonnenschein überall! Man ist achtzig englische Meilen von London entfernt und hat die Fahrt in kaum zwei Stunden zurückgelegt. Zauberischer Sommermorgen! Grün funkelt der Sammet der weiten Hirtenlandschaft fern und nah. Ungesehen – hier ungefühlt! „Welch schönes Wetter! Wir werden einen „Modellkampf“ sehen.“

Wootton-Bassett ist erreicht. „Endlich!“ – Sofort schlüpfen aus dem vordersten Waggon ein Dutzend Gestalten, Ex-Champions, die ihren Ruhm überlebt, beladen mit den Utensilien der Kampfequipage, d. h. den Feldstühlen für die Boxer, wenn erschöpft oder blutend, riesigen Bündeln von Wasch-Schwämmen, Essig- und Wasserflaschen, Flacons mit Portwein gefüllt. Bandagen u. s. w. In allen diesen Dingen verräth ein gewisser patentirter Luxus das vorgeschrittene Zeitalter. Nur das mitgebrachte Strohbündel sieht häßlich-ominös aus. Ich blickte mich unwillkürlich nach einem Todtengräber um und nach einem Sarge! – Weichliche Sentimentalität! Andere „von der Kunst“ schließen sich an, welche die Pfosten und Seile tragen, mit denen der Kampfplatz – oder vielmehr der „Ring“ – eingezäunt werden soll. Dann folgt Mace, der Champion von England, von Kopf bis zu Fuß in einen phantastisch-weißen Flanellanzug gekleidet, an den Säumen mit schwarzen Streifen verziert, eine weiße Mütze auf dem verwegenen Zigeunerkopfe. – Verehrung spricht aus allen Gesichtern – denn Viele warten schon dort, die von Bristol, Manchester, Liverpool, von allen Ecken und Enden Englands herbeigekommen, zu Roß und zu Wagen oder mit Dampf, und theilweise im Freien über Nacht bivouakirt haben. – Goß, sein Rival, ist dunkelfarbig von Antlitz und Kleidung, sieht weniger kunstreiterhaft aus und könnte für einen harmlosen Hufschmied gelten.

In langer, schweigender Procession – die Spannung macht alle Gespräche verstummen – schreitet die schwellende Menge über den weißen, weichen Mergel der Felder, mitunter durch Hohlwege, von dunklem tauigem Laube überwölbt, durch welches das Sonnenlicht schimmert auf alle die wandernden, unheimlichen, oft scandalösen Gesichter, fast quer über auf eine Wiese zu, auf der ein Schäfer friedlich seine Heerde weidet, denn der seltsame Besuch kommt dem Landstädtchen in Wiltshire ganz unerwartet. Er will sich anfangs dem Einbruche auf sein Gebiet widersetzen, aber ein einziger voller Händedruck macht alle Scrupel schwinden.

Nun wird der „Ring“ errichtet – es ist eigentlich mehr ein verkümmertes Viereck. – Ein äußerer Ring für bevorzugte Honoratioren folgt in gleicher Schnelle, wofür die Schauplätze zum Besten der „Faustkämpfer-Wohlthätigkeits-Gesellschaft“ sich mit rapider Bereitwilligkeit verkaufen. Gold regnet in die schmutzigsten Hände – denn es sind zwölf breitbrustige Burschen nöthig, um den ersten Rang gegen den Andrang der Uebrigen mit frischgeschälten Weißdornstäben und Guttaperchapeitschen zu vertheidigen. [651] Seine Gnaden der Marquis ** setzt sich platt auf die Erde; Mylord – in verschiedenen Exemplaren – macht es sich bequem auf einem Feldstuhl. Bruder „Stromer“ in zweideutigem Costüme nimmt neben ihm Platz; hinter ihm lagert Einer, dessen Gesicht halb verschämt sich hinter einem feinen Taschentuche versteckt. Ist es nicht derselbe Kopf, der am vergangenen Sonntage in London auf einer Kanzel erschien und den Segen über die friedliche Gemeinde sprach? Hier ein Banquier, dort ein Rudel geschwätziger Clerks, wiederum ein wohlbekannter Squire des Unterhauses, ein Member of Parliament in feinstem Schwarz, hier und da wohl andere größere und kleinere Büreaukraten für Großbritannien und Ostindien, mit sultanisch-verschränkten Beinen auf dem Rasen hockend oder über die straffgespannten Seile des Ringplatzes lehnend. Roués und junge Verschwender, „junge Väter“ und „ältere Söhne“, Officiere in Civil, hier und da auch elegante Taschendiebe – denn die Ernte ist oft reich und leicht, wenn Aller Augen auf quellendes Blut geheftet sind. Am zahlreichsten aber ist die Classe der „Turfiten“, oder der „Quäker des Turfs“ vertreten, Spottnamen für Sportsmen. Diese Classe ist sogleich herauszuerkennen. Sie rekrutirt sich an der Pferde- und Wettrennenbörse am Tattersall an der Ecke von Hydepark täglich um vier Uhr Nachmittags. Wie verschieden auch an Bildungsgraden, sie sind durchweg – lateral, horizontal, vertical und diagonal – Pferdeliebhaber oder solche, die von den Interessen des Pferdefleisches leben. Weiße oder gelbe Halstücher mit absonderlichen Knoten, schwarze, graue, grüne Röcke mit absonderlichem Schnitt, hartblickende Gesichter, ernsthafte Mienen, meist mager, und von der Neigung, beide Hände in die Seitentaschen zu stecken, knappe Pantalons und Hüte mit sehr breiter oder sehr schmaler Krempe, Stulpstiefeln oder leichte, weite Schuhe. – Da giebt es keine Mißverständnisse, das sind „Turfiten“. Mit dem geschäftsmäßigen Enthusiasmus für Pferdefleisch verbinden sie eine fixe Idee, daß das britische Reich nicht ohne Preisboxkämpfe bestehen könne, wie sie sagen, von einem „christlich-muskulösen“ Gesichtspunkte aus betrachtet. Boxkampf und Constitution! Boxkampf und alte Institutionen! Boxkampf und Freiheit! Vor dem „Ring“ sind Alle gleich, Aristokraten und Demokraten. So lange beide Parteien ihre Wetten bezahlen, begegnen Herzoge und Lumpensammler, Pfandleiher und Jockeys sich auf dem gemüthlichen Fuße von „Mann gegen Mann“ auf dieser echt nationalen Grundlage.

„Platz! Platz! Ruhe!“

Mace erscheint auf der einen Seite des Rings, Goß auf der anderen. Beide werfen herausfordernd ihre Flanellkappen in die Mitte. Donnernde Cheers ringsum. Jetzt werfen Beide eine Münze empor, „Kopf oder Schwanz!“ um den besten Platz. Mace gewinnt, d. h. diejenige Ecke, wo er dem störenden Sonnenlicht den Rücken zukehrt. Mit feierlicher Langsamkeit geht nun die Entkleidung durch die Secundanten vor sich. Jeder hat zwei Gentlemen dieser Art zur Hand, von denen je einer sein gebogenes Knie dem Kämpfer als Sitz bietet. Die Stiefel werden gegen weiche Schuhe vertauscht, Rock und Weste, Alles bis auf festgeschnürte Beinkleider abgelegt. Der ganze Oberkörper bleibt nackt. Mit welchem „Kunstsinn“ die athemlos Zuschauenden die kräftigen Gestalten kritisiren!

„Beide sind zu fast gleichem Gewicht trainirt!“ – „Ihr Fleisch ist so weiß wie Bienenwachs, ihre Haut dünn wie Seide!“ – „Herrliche Politur der Gliedmaßen!“ – „Aber Mace hat den kräftigsten Schädel!“ – „Wie sie einander messen, Auge um Auge!“ – „Goß hat mehr tierische Ausdauer in seiner Gestalt ausgeprägt!“

Dies die Conversation, wie sie von Mund zu Munde geht. Die Speculanten machen Wetten über Wetten – fast anderthalb Stunden währen die mit pedantischer Genauigkeit vorgenommenen Rüstungen, – die Ungeduld steht auf den Zehen – Furcht blickt rechts und links nach der Richtung des Bahnhofes von Swindon, wo der verdächtige Polizeimann sichtbar gewesen!

Jetzt!

Mace steht mit gekreuzten Armen in der Mitte des Ringes. Goß tänzelt um ihn herum mit Finten und Scheinangriffen. Jeder sucht den ersten dröhnenden Hieb zu ertheilen oder zu vermeiden. Bald wieder senken sie die Arme und lächeln einander an mit convulsivischer Mundverzerrung. Die Zuschauer hetzen sie aufeinander, wie zwei knurrende Hausdoggen. Jeder hat seine Capuletti und Montecchi unter der Versammlung, die im rohesten Englisch sich gegenseitig „aufbieten“ und die Champions preisen oder verhöhnen. Lärm, Gelächter, Fluchen und Schwören ringsum, Händeklatschen und Fersenstampfen. Noch immer drehen sich die Kämpfer mit wachsamem Lauern in Ringe hin und her. So vergehen zehn Minuten. Tiefste Spannung überall. Noch fiel kein Schlag. Da – ein Schrei!

„Die Coppers!“

Verwirrung überall. Coppers ist ein Spottname für Polizeiconstabler, von Yankee-Ursprung vermuthlich.

Der blanke Hut des Polizei-Inspectors, den man in Swindon erblickte, erschien in der Ferne, und vor ihm her stürmten drei Wächter der öffentlichen Sicherheit, um durch die festgerammte Menge zu brechen. Einige Londoner Rowdies riefen, man solle die Viere gefangen nehmen, bis der „Modellkampf“ ausgefochten, indessen die Loyalität überstimmte. Langsam löste sich der dichte Kreis in Gruppen auf, und während einige berittene Gentlemen die lachenden Policemen in eine merkwürdig lange Unterredung verwickelten, wurde den halbnackten Champions ein Ueberrock übergeworfen, und wie auf Commando trabten die gespannten Zuschauer – achthundert nunmehr – zur Eisenbahn zurück. Man glaube nicht, daß die Sache damit zu Ende. Eine lustige Meute ruht nicht eher, als bis sie Blut gesehen!

In der That! Die gesammte Menge stieg wieder in die wartenden Waggons, rasselte achtzig Meilen entlang nach London, stürmte dort über den Bahnhof, – Hunderte in Cabs und in Omnibus, andere Hunderte überrumpelten die sich dort anschließende unterirdische Eisenbahn – und passirten Alle, was Pferde und Dampf leisten konnte, sieben englische Meilen quer durch London, überall mit Cheers begleitet, nach dem südöstlichen Bahnhof in Fenchurch-Street. Alles folgte einem geheimen Losungsworte. Diesmal in ganz entgegengesetzter Richtung – achtzig Meilen ostwärts nach der Küste von Essex! Die Scene vor dieser zweiten Abfahrt war unbeschreiblich. Hülferufe überall aus dem summenden Gedränge! In fünf Minuten wurden nicht weniger als sieben gewaltsame Ausplünderungen mit Hülfe von Boxerhieben verübt. Ich sah einen Dandy von Sechsen umzingelt, halb ohnmächtig geknufft und vergeblich protestiren, als Uhr, Kette, Börse, Busennadel ihm unter vielseitigem Hohngelächter abgenommen wurden. Es gelang einem Trupp Policemen, sich zu ihm Bahn zu brechen, aber der Geplünderte rief:

„Laßt die Burschen in Ruhe! Ich habe keine Zeit zum Denunciren und will nicht den Bahnzug versäumen!“

Und Diebe und Bestohlener stiegen in ihre Coupés. Wer sollte es heute mit practical jokes zu genau nehmen!

Es war vier Uhr Nachmittags, als der Zug in der Kentischen Marsch anlangte. Aber, o Mißgeschick, ein Fluß war zu überfahren – und nur drei Boote vorhanden! Dies war Alles zum Transport von nunmehr tausend aufgeregten, erhitzten, enttäuschten Sportsmännern, die auf der Fahrt durch London allerlei verdächtige Verstärkungen erhalten. Wieder hatten nur die Stärkeren Recht! Jeder Platz in den Booten wurde erkämpft. Manche sprangen in das Wasser und wateten hinter den ersten sich entfernenden Fahrzeugen her, die bis zum Sinken überladen waren. Dort angelangt, klammerten sie sich an den Rand und erzwangen sich einen Platz oder ließen sich halbschwimmend nach dem jenseitigen Ufer hinüberschleppen. Andere boten zwei Guineen (14 Thaler) für einen Sitz und erhielten doch nur Ruderschläge als verächtliche Antwort. Hin und her gingen die Boote – es währte volle zwei Stunden, ehe nur die Hälfte der Truppen übergesetzt war. Die Boote waren halbzermalmt und zeigten unrettbare Lecks; somit blieb die Hälfte in ohnmächtiger Erbitterung zurück, ein Geheul ausstoßend, das einer Indianerhorde Ehre gemacht hätte. Daß nicht Einer ein nasses Grab gefunden, nicht ein Boot seine wüste Bürde ausgeschüttet – erscheint demjenigen ein Wunder, der die Geschicklichkeit englischer Ruderer nicht kennt. Etwa ein Dutzend vertraute sich sogar schwimmend den Wellen an und erreichte das gegenüberliegende Ufer unter brausendem Hurrah der vor ihnen Angelangten. Nun lag Wasser zwischen den Landfriedenbrechern und der Polizei, wenn solche ja es wagen sollte, ihnen ein zweites Fiasco zuzugedenken.

Dieses Mal gingen die Vorrüstungen zum Ehrenkampf für tausend Pfund Sterling mit größter Eile von Statten. Der Ring war in fünf Minuten gesteckt, auf ödem Seesand, halbversteckt hinter alten Dünen und Rohrgebüschen, über sich den bleifarbenen Wolkenhimmel. Daß der Faustkampf begonnen, bewies den am [652] andern Ufer Gebliebenen bald das Echo des gellenden Geschreis aus hundert und aber hundert Kehlen, das weit hinüberschallte und wiederhallte.

Begleitet von einigen Wenigen gelang es mir auf weitem Umwege in einem Weiler ein Boot uns dienstbar zu machen, und wir langten nach Verlauf von anderthalb Stunden auf dem Kampfplatze an, wo die Aufregung der Zuschauer sich bereits zu völliger Raserei erhitzt hatte. Dumpf fielen die Faustschläge der Combattanten – aber nur in langen Pausen, denn Jeder überbot den Andern im Pariren, Ausweichen und in Finten jeder Art. Die umringende Masse, ungeduldig darauf, Blut zu sehen, überhäufte Goß mit unbeschreiblichen Schimpfwörtern, „weil er davon laufe“ – „keine Courage zeige“ – alles in der Absicht, ihn an eine Stelle zu locken, wo ihn möglichenfalls ein tödtlicher Schlag treffen könne. Vierzehn Stunden der Aufregung und – noch kein Blut. Das war unerhört in der „Kunstgeschichte!“ Und soviel dürstende T– in Menschengestalt harrend – schwörend – höhnend! Mace’s rechtes Auge war bereits fast geschlossen und auf Goß’s breiter Brust brannten die rothen Fingerspuren seines Rivalen, während auf seiner Stirn ein dunkler Blutstropfen sichtbar wurde.

„Erstes Carmin für Mace!“ rief der Schiedsrichter, der auf einer Schütte Stroh saß, mit eintöniger Stimme.

Oft rangen die Kämpfer mit einander bis zur Erschöpfung, und nicht weniger als fünf Mal mußten sie zu den Feldstühlen getragen werden, bis jedes Mal der „Unparteiische“ sie wieder aufrief mit seinem monotonen Geschäftston: „Zeit ist um, Gentlemen!“

Mace, die Arme kreuzend, verfolgte mit dem Ausdruck diabolischer Verachtung alle die tänzelnden Rundgänge, mit welchen sein Rival ihn zu einer Bloßstellung verlocken wollte. Das währte Viertelstunde um Viertelstunde. Dämmerung erschien schon auf den westlichen Hügeln. Die Wuth der Ungeduld unter den Zuschauern überstieg alle Grenzen. Die Sorge, daß eintretende Dunkelheit das grausame Schauspiel unterbrechen werde, malte sich auf allen Gesichtern, in den blutunterlaufenen glotzenden Augen, in den Ausbrüchen drohenden Grimmes. „Geht drauf! Geht drauf!“ gellte, brüllte, keuchte, dröhnte und zischte es in hundertfacher Modulation. Noch immer drehten sich die Kämpfer im Kreise.

„Jetzt!“

„Geht drauf!“

Goß holte aus zu einem vernichtenden Schlage, aber wurde in demselben Momente mit Blitzesschnelle durch einen krachenden Faustschlag unter der Kinnlade besinnungslos zu Boden geschmettert. Er fiel vornüber und – „er ist todt!“ brauste es ringsum unter unermeßlichem Jubel. Vergeblich schienen alle Wiederbelebungsversuche. Noch konnte er „die Ehre des Tages“ retten, wenn er sich aus der Ohnmacht erholte.

„Zeit ist um!“ tönte es dumpf von dem Munde des Schiedsrichters.

„Ich gebe ihm fünf Minuten Ueberzeit,“ erwiderte der Sieger, unbeweglich auf die Scene blickend.

Wiederum eine schauerliche Pause. Der Getroffene schlug die Augen auf, versuchte zu stammeln und sich aufzurichten, doch vergebens!

„Zeit ist um, Gentlemen!“

Hurrah für Mace! Drei Cheers für den Champion von England. Aber nicht höllisches Jauchzen allein, nicht dröhnendes Beifallklatschen nur belohnte Mace, den Sieger, der soeben tausend Pfund Sterling gewonnen, sondern man umarmte ihn, man bedeckte ihm Gesicht und Schultern mit Küssen, wie einem enthusiastisch geliebten Halbgott. Und das Alles, während auf der anderen Seite ein Mensch, der nur um Haaresbreite dem Tode entgangen, betäubt und blutend davongeführt wurde.

Man trug den Champion von England auf den Schultern aus dem Ring, in jubelnder singender Procession – Gentlemen von Rang, ja richterliche Beamte darunter, vermischt mit Rowdies und Vagabunden, Alt und Jung, der elegante Rock vom feinsten Tuch neben der Jacke des Stallknechts. Allgemeine Verbrüderung!

Und in London erwarteten zehntausend Neugierige die Heimkehrenden mit donnerndem Beifallsruf. Das Portrait des Siegers – der Bericht in den Zeitungen ging am nächsten Tage von Hand zu Hand, und die edle Boxkunst hatte einen neuen Triumph gewonnen.[2] F. B.




Die Geschichte des Hussensteins in Constanz.

Wenn vor Zeiten ein Wanderer in die alte Conciliumsstadt Constanz kam und nach dem Platze fragte, wo „Huß“ und „Hieronymus“ verbrannt wurden, und wenn er dann endlich auf eine unbestimmte Angabe hin, nach langem Suchen und Fragen auf die muthmaßliche Stätte gelangt war, so mußte ihn ein Gefühl tiefer Wehmuth bei dem Gedanken erfassen, daß noch nicht einmal ein einfacher Denkstein die Stelle bezeichnet, auf welcher ein Huß und Hieronymus, um der Wahrheit willen, sich einem qualvollen Flammentod freiwillig unterzogen haben. Zunächst mußte ihn ein schmerzliches Gefühl gegen die Bewohner von Constanz selbst einnehmen; denn wenn es gleich Sache der ganzen Menschheit war, durch die Errichtung eines großartigen Monumentes auf dem Grabe dieser Märtyrer darzuthun, daß ein milderer Geist in ihr lebe, daß jene Zeiten einer unbeschränkten Priesterherrschaft vorüber seien, in welcher eine brutale Geistesknechtung jeden Aufschwung der Seele mit Feuer und Schwert vertilgte, so war es nach seiner Meinung doch zunächst an der Stadt Constanz, kund zu geben, wie tief es die Enkel beklagen, daß ein so schreckliches Ereigniß in ihren Mauern und zugleich unter der thätigen Mitwirkung ihrer Voreltern geschehen konnte. Schon Mancher mag daher, wenn er Hussens Grab vergeblich gesucht hatte, mit stillem Groll im Herzen den Staub von den Füßen geschüttelt haben, sobald er die Thore der alten Stadt im Rücken hatte. Er that ihr gewiß Unrecht; denn erstlich konnte er sie nicht dafür verantwortlich machen wollen, daß das Concilium in ihr gehalten wurde, dann war ihm aber wahrscheinlich auch unbekannt, daß schon vor vielen Jahren einzelne Bürger, darunter der unvergeßliche Bürgermeister „Hüetlin“, durch die beabsichtigte Errichtung eines würdigen Denkmales die alte Schuld zu sühnen gedachten, wenn etwa eine auf der Stadt ruhen sollte, daß sie aber in der Ausführung ihres edlen Unternehmens durch höhere Weisung verhindert wurden. Zur Ehrenrettung der Stadt Constanz und ihrer Bewohner, zum rühmlichen Andenken ihres hochherzigen verstorbenen Bürgermeisters Hüetlin, sowie zur Geschichte des Hussendenkmales sollen daher diese durch fremden Druck vereitelten Bestrebungen hier ihre Darstellung finden.

Im Anfange des Jahres 1834 traten sieben der angesehensten Bürger von Constanz, darunter drei Gemeinderäthe und der damalige Bürgermeister Hüetlin, zu einem provisorischen Comité zusammen und erließen nachstehende drei Schreiben, deren Inhalt zugleich zur Aufnahme in öffentliche Blätter von Deutschland, Frankreich, England und der Schweiz bestimmt war:

„An die wohllöblichen Magistrate von Prag, Hussinecz und Tabor.

Vier Jahrhunderte und die weltumgestaltenden Erfolge der Kirchenreformation Luther’s haben über Johann Huß und Hieronymus von Prag, sowie auch über Sigismund und sein gebrochenes Geleite gerechter gerichtet, als das Concilium zu Constanz in den Jahren 1415 und 1416.

Die Flammen der Verketzerungswuth haben in unsäglichen Qualen die Leiber dieser beiden Männer verzehrt, und vieljährige Stürme des Krieges und Ströme von Blut haben bald darauf die Nationen gegeißelt; aber die Nachwelt und die Geschichte, leidenschaftslos und gerecht, verehren diese starken Geister als erste Vertheidiger der Gewissensfreiheit und als Vorkämpfer der großen kirchlichen Reformation.

Kriegshelden, Staatsmänner, Gelehrte und Künstler aller Arten, Napoleon, Luther, Canning, Schiller, Goethe, Guttenberg, Dürer und Keppler haben ihre Denkmale, welche der Nachwelt wichtige Momente ihres Lebens und Wirkens bezeichnen, oder den Ort, wo ihre Asche ruht.

Aber kein Denkstein bezeichnet bis heute die Stelle, wo Huß

[653]

Der Hussenstein bei Constanz.

[654] und Hieronymus von Prag für ihren Glauben den schrecklichsten Tod im Feuer fanden!

Aufmerksame Forschung setzte uns in den Stand, mit Zuverlässigkeit diesen merkwürdigen Ort in der Gemarkung unserer Stadt bestimmen zu können.

Der unterzeichnete Bürgermeister von Constanz und mehrere Bürger dieser Stadt, die, gestützt auf das höchste Gebot der Liebe und Versöhnung, in der katholischen Kirche, zu der sie ohne Ausnahme gehören, kein Hinderniß der Sache finden können, haben sich daher vereinigt, um in Deutschland und Frankreich, vornehmlich aber in England, wo Hussens Lehrer Wiklef lebte, und in Böhmen, dem Heimathslande des Huß und Hieronymus von Prag, mittelst einer Subscription Beiträge zur Errichtung eines großartigen Denkmals zu sammeln, welches die Stelle bezeichnen soll, wo beide in den Flammen starben.

Indem wir die Ehre haben, dieses vorläufig dem verehrlichen Magistrate im Geburtsorte des Johannes Huß anzuzeigen, bitten wir Wohldenselben um gefällige Erklärung der dortigen Ansicht über den wahrscheinlichen Erfolg, den dieses Unternehmen, welches kein locales, sondern ein allgemeines und eben deswegen nur großartiges ist und sein soll, in Hussens Geburtsorte und bei seinen Vaterlandsgenossen überhaupt haben werde, namentlich bitten wir ergebenst um Auskunft, ob gehofft werden darf, daß die Magistrate der Städte in Böhmen, an welche das hiesige Comité sich wenden wird, zu diesem Unternehmen hülfreiche Hand bieten werden.

Mit Hochachtung etc.“

Diese nach Böhmen an die genannten Magistrate zur Post gegebenen Rundschreiben scheinen die Orte ihrer wirklichen Bestimmung nie erreicht zu haben, wohl aber erfolgte darauf eine Vorladung des Bürgermeisters Hüetlin vor die badische Regierung des Seekreises, von welcher ihm ein auf die Errichtung eines Hussendenkmals bezügliches Rescript des großh. Ministeriums des Innern mit der ernstgemessenen Auflage bekannt gemacht wurde, bis auf nähere Verfügung mit allem Verfahren einzuhalten. Zugleich wurden ihm die vier folgenden Punkte mitgetheilt, über welche er sich zu verantworten hätte:

Ob der Gemeinderath zu Constanz über die Errichtung dieses Denkmals vernommen worden sei? Ob derselbe dazu seine Zustimmung gegeben habe? Wer ihn (Bürgermeister) zu den obgedachten Einladungen ermächtigt habe? Wie er sich habe unterstehen können, diese Einladungen, ohne hierzu die Erlaubniß der betreffenden k. k. österreichischen Behörde eingeholt zu haben, zu erlassen, zumal da ihm nicht unbekannt sein müsse, daß dergleichen Sammlungen schon nach den diesseitigen bestehenden Verordnungen verboten seien?

Darauf erwiderte der Bürgermeister in einer schriftlichen Zusendung:

„Zur Beantwortung dieser vier Fragen und zur Darstellung des eigentlichen Sachverhalts erlaube ich mir in Ehrerbietigkeit folgenden Vortrag:

Unstreitig sind die Glaubenshelden Johannes Huß und Hieronymus von Prag größer als alle spätern und heutigen Märtyrer ihres Glaubens; – denn sie lehrten, litten und starben zu einer Zeit der allgemeinen Geistesnacht, welche nur vorübergehend durch das Licht ihrer Scheiterhaufen erhellt wurde. Sie hatten nicht den Trost, daß unter den tausend und abertausend Menschen, welche sie zur Todesstelle begleiteten, so viele wären, daß ihre Lehre einer künftigen Stütze sich erfreuen könnte; – nicht die Hoffnung hatte sie zum Scheiterhaufen geleitet, daß ihr Tod eine fruchtbare Saat werde; sie mußten fürchten, daß mit ihnen auch ihre Lehre wieder unterginge, denn sie waren die Ersten, welche der Gewissensfreiheit Bahn brachen.

Ihre unbeugsame Seelenkraft, und das Bewußtsein der Reinheit und Wahrheit ihrer Lehre allein war es, was sie standhaft und stark erhielt selbst im schrecklichen Feuertode.

Als Hieronymus, nach Besag der Originalurkunden unserer Archive, entblößt, mit einigen elenden Fetzen, die man ihm auf den Leib geworfen, bis an den Mund in Stroh, Holz und Pech stand, und der Henker aus Mitleiden die Brandfackel in seinem Rücken in den Scheiterhaufen stoßen wollte, so rief er freudig: „gang herfür, und zünd vornen an! Hätt’ ich das fiur gefürchtet, warlich so stünde ich jezo nicht hie!

Huß und Hieronymus, welche die Kirche von ihren Schlacken reinigen wollten, wurden ohne vollständiges gerichtliches Gehör zum Tode verdammt. Das Concilium übergab sie dem Kaiser, der Kaiser dem Herzoge von Baiern, dieser dem Stadtvogte zu Constanz, welcher durch seine Rathsknechte die schreckliche That vollzog.

Die Geschichte hat längst über Huß und Hieronymus, aber sie hat auch über das Concilium von Constanz und seinen Urtheilsspruch und über Sigismund und sein gebrochenes Geleit gerichtet.

Aber zunächst auf der alten, sonst so ehrwürdigen Stadt Constanz ruht noch eine nichtgetilgte Schmach, denn in ihren Mauern ging die Schreckenshandlung vor sich, und sie selbst lieferte die Henker dazu.

Alle denkenden Reisenden, welche die hiesige Stadt berühren, erkundigen sich nach dem Verbrennungsplatze des Huß und Hieronymus; mit vorzüglichem Eifer haben dieses aber bisher immer die Engländer und Böhmen gethan. Namentlich die unablässigen Nachfragen der Fremden, welche den Conclave-Saal besuchen, mochten den Wärter desselben zu seiner Bitte an den Gemeinderath veranlaßt haben, den Platz, wo Huß und Hieronymus verbrannt wurden, mit einem Denksteine zu bezeichnen. Die Bitte wurde abschlägig beschieden, indem man den Weg der Subscription als den hier allein zweckmäßigen ansah. Diese zufällige Anregung erweckte sofort in dem in Ehrerbietung Unterzeichneten die früher schon gedachte Idee, diesen so merkwürdigen Ort durch ein Denkmal aus freiwilligen Beiträgen zu bezeichnen und auf diese Weise die alte Schuld der Stadt Constanz zu sühnen. Er glaubte dies als Bürgermeister und Bürger seiner Vaterstadt, als Mensch der Menschheit schuldig zu sein. Jedoch sollte nach Maßgabe des obigen Gemeinderathsbeschlusses, zu welchem er selbst wesentlich mitgewirkt hatte, seine Wirksamkeit nur als die eines Bürgers, nicht aber des Bürgermeisters eintreten.

Um diese Sache nicht zu übereilen und möglichst sicher vorzuschreiten, beschloß das errichtete Comité, vorläufig bei den Magistraten jener böhmischen Städte, von welchen wegen historischer Erinnerungen das meiste Interesse zu gewärtigen war, nach der dortigen Ansicht und dem wahrscheinlichen Erfolge dieses Unternehmens sich zu erkundigen. Es waren dies Hussinecz, der Geburtsort Hussens; – Prag, der Geburtsort des Hieronymus, und Tabor, das Feldlager des gewaltigen Hussitenführers Ziska. Jedenfalls glaubte der Unterzeichnete diesen Städten von unserm Vorhaben vorläufige Anzeige machen zu müssen, weil sie gleichsam eine geschichtliche Befugniß besitzen, dieses ansprechen zu dürfen.

Deshalb erließen wir im Anbeginn dieses Jahres an die Magistrate dieser drei Orte mutatis mutandis das obige gleichlautende Schreiben. Vergebens wartet der ehrerbietigst Unterzeichnete bis heute auf ein Antwortschreiben. Statt dessen aber kam ihm die Eingangs bezeichnete Eröffnung des hohen Ministerial-Erlasses mit der Aufforderung zur Verantwortung zu.

Außer der Ausfertigung oben erwähnter drei Briefe nach Prag, Tabor und Hussinecz ist zur Erreichung des vorgesetzten Zweckes zur Stunde noch lediglich nichts geschehen.

Dieses ist der Stand der Sache.

Ueber die Befugniß zu diesem Unternehmen erlaube ich mir zur Zeit keine Ausführung, da sie anticipirt wäre – bemerke blos, daß die Mächte, welche Ehrendenkmale für Luther, Melanchthon und Zwingli gestatteten und selbst dem hingerichteten Sandwirth Hofer in Tirol heute eine ehrende Urne bauen – auch dulden werden, daß man mit Achtung der größten Glaubenshelden des 15. Jahrhunderts gedenke, daß man auch dem edlen Johannes Huß und Hieronymus von Prag einen Denkstein setze.

(Nachdem Hüetlin die obigen vier Fragen gründlich beantwortet und die Einmischung der österreichischen Behörden gehörig beleuchtet, schließt er sein Vertheidigungsschreiben mit „der getrosten Zuversicht, daß die aufgeklärte hohe Landesregierung diesem rein menschlichen Unternehmen ferner nicht hemmend entgegentreten werde.“)

Constanz, am 6. Mai 1834.

Carl Hüetlin.“

Auf diese Darlegung hin kam folgender Beschluß des großh. bad. Ministeriums des Innern: „Bürgermeister Hüetlin in Constanz wird angewiesen, vor der Hand Alles zu unterlassen, was auf diesen Gegenstand Bezug hat.“

So wurde also durch ein kurzes Verbot, welches sicherlich seine Entstehung einer Weisung von einer deutschen Großmacht verdankte, das edle Unternehmen schon in seinen ersten Anfängen unterdrückt, und die ehrenwerthen Bürger von Constanz, an ihrer Spitze der hochachtbare Hüetlin, hatten nur das befriedigende Bewußtsein, [655] daß sie einer heiligen Pflicht Genüge leisten wollten, aber nicht durften. Daß ihrem Unternehmen ein glänzender Erfolg gesichert war, wenn es dem damals herrschenden Vergewaltigungssystem gefallen hätte, seine Genehmigung zu erteilen, daran ist gewiß kein Zweifel; denn wo auch dieses Vorhaben bekannt wurde, nahm man es mit Begeisterung auf. Davon zeugt unter Anderm ein Brief des berühmten Geschichtschreibers von von Rotteck, welchen derselbe nach erhaltener Kunde dem Bürgermeister von Constanz zusandte. Als ein Denkmal seines freien und für alles menschlich Edle empfänglichen Sinnes möge er hier folgen:


„Freiburg im Breisgau, den 10. April 1834.

Verehrter Herr und Freund!

Ihre Idee wegen eines Denkmals für Johannes Huß und Hieronymus von Prag finde ich ganz vortrefflich. Das Ehrendenkmal für die Märtyrer ist zugleich eine Schandsäule für ihre Henker, und das Zeitalter, welches sie errichtet, spricht eben dadurch auch das Verdammungsurtheil aus über alle von gleicher Henkersgesinnung erfüllten Machthaber der Gegenwart und aller Zukunft. Wer sich für Hussens Denkmal unterschreibt, der erklärt sich zugleich gegen die heutigen Henker der politischen Ketzer; er verdammt die Richter Riego’s und Volkhart’s und die Gewaltsdictate der Congresse und Ministerversammlungen in Wien, Frankfurt und überall sonst; die Einladung und Unterschrift aber ist zugleich eine mächtige Anregung des Rechts- und Freiheitseifers bei allen Empfänglichen und Guten.

Daß ich mit Eifer und Liebe das Unternehmen unterstützen werde, versteht sich von selbst.

Mit alter, unverbrüchlicher Hochachtung und Liebe Ihr treuest ergebener

von Rotteck.“

So dachten und denken freilich noch nicht Alle; so dachten auch nicht die Männer, welche von ängstlicher Rücksicht geleitet es sogar verboten, daß ein im Jahre 1840 in Constanz gebautes Dampfboot bei der Taufe den Namen Huß erhalte. Helvetia durfte das badische Schiff heißen, den Namen eines republikanischen Landes durfte es führen, aber nach einem freien Manne, einem der größten, den die Weltgeschichte kennt, benannt zu werden, das konnte und durfte man nicht gestatten.

So hatte man es also glücklich dahin gebracht, daß auch fernerhin jede äußere Erinnerung an den edlen Glaubenshelden und seinen großen Schüler aus den Augen der Menschen entrückt war. Gern hätte man diese standhaften Kämpfer für Wahrheit und Licht auch aus dem Andenken entfernt; gerne würden heute noch Viele bereitwillig die Hand dazu bieten; aber sie haften tief, diese Namen, im Herzen aller Bessern, und keine Macht der Welt ist im Stande, das Gedächtniß an die Flammengluth zu verwischen, in welcher die Glaubens- und Gewissensfreiheit für ewige Zeiten begraben werden sollte. Es gelang daher auch in Constanz nicht, den Eifer für diese edle Sache zu unterdrücken und das Gefühl abzuschwächen, als habe die Stadt eine besondere Verpflichtung, die alte Schuld in angemessener Weise zu sühnen. Das Unternehmen war nur zurückgedrängt; denn 20 Jahre nach dem vergeblichen Versuche einzelner Bürger beschloß die Stadtgemeinde, absehend von der Errichtnug eines großartigen Denkmals, die Stelle, auf welcher Huß und Hieronymus verbrannt wurden, durch einen einfachen Denkstein zu bezeichnen. Da sich aber die Ausführung dieses Beschlusses verzögerte, so traten im Jahre 1861, nach dem glorreichen Umschwung der Dinge in Baden, mehrere Privaten, sowohl katholischer wie evangelischer Confession, zusammen, um durch Sammlung freiwilliger Beiträge die Kosten zur Herstellung eines solchen Denksteines aufzubringen. Nachdem daher der Gemeinderath von diesem Vorhaben in Kenntniß gesetzt worden und seine tätige Mitwirkung bereitwilligst versprochen hatte, nachdem auch bald darauf unter der erleuchteten Regierung des Großherzogs Friedrich von Baden die Staatsgenehmigung ertheilt war, wurde die Subscription sofort eröffnet und hatte bei Hoch und Niedrig, bei Reich und Arm, unter Leuten, welche den verschiedensten Confessionen angehörten, einen so günstigen Fortgang, daß in kürzester Frist die veranschlagte Summe überstiegen war.

Obgleich sich die Sammlung nach dem Wunsche des Comité’s nur auf die Stadt beschränken sollte, weil man für das beabsichtigte einfache Denkmal schon auf diesem Wege die erforderlichen Mittel zusammenzubringen hoffte, obgleich man daher auch keinen Aufruf zur Theilnahme in den Blättern erließ, so liefen doch von nah und fern Beiträge ein, oft von der Bitte begleitet, die Gabe nicht zurückzuweisen, ja mit dem Zusatze, daß man noch mehr geben wolle, wenn es nöthig sei. So kam unter Anderm ganz unerwartet ein reicher Beitrag von New-York (150 fl.), meistens von ehemaligen Constanzern zusammengebracht; so ließen es sich auch die benachbarten Schweizer nicht nehmen, ihr Scherflein beizutragen. Viele Begleitschreiben gaben so recht Zeugniß davon, daß trotz aller Lehren von der Verwerflichkeit und Verdammungswürdigkeit der Ketzerei das Gefühl für Licht und Wahrheit nicht erstickt werden kann.

Man glaube aber ja nicht, daß die Zionswächter mit ihrem Anhange diesem Unternehmen so gleichgültig zusahen. Zuerst wollte man die Bedeutung des zu setzenden Denksteins abschwächen, indem man in dem Constanzer Localblättchen eine angebliche Kundgebung mehrerer Beisteurer veranlaßte, „daß dieselben wohl beigetragen haben zur Herbeischaffung eines Steines (keines Denkmals), um den Platz dieses für die Vor- und Nachwelt geschichtlichen Ortes genauer bezeichnen zu können, also um damit der Stadt Constanz, oder vielmehr den hier durchreisenden Fremden einen Dienst zu erweisen, aber weit entfernt, dem hier befindlichen Radicalismus als blindes Werkzeug zu dienen.“

Und als die Glaubenshüter einsahen, daß das größere Publicum mit seiner Ansicht auch auf Seiten des Comité’s stand, so suchten sie in ihrem Blatte theils mit der stumpfen Waffe eines albernen Spotts (man sprach von den neuen Hussiten in Constanz), theils mit der schon gefährlichern der politischen Verdächtigung gegen das Unternehmen aufzutreten. Aber auch dies half ihnen Nichts.

Als die nöthige Summe beisammen war, kaufte das Comité einen für das einfache Denkmal geeignet scheinenden Stein an. Es war dieses ein erratischer Block, circa 350 Centner schwer, ein Findling von schwärzlichem Kalkstein, welcher beim Ausgraben eines Eisenbahneinschnittes in der Nähe von Constanz zum Vorschein gekommen.

Nachdem die Eisenbahnarbeiten zwischen dem Fundorte des erratischen Blockes und Constanz soweit hergestellt waren, daß an eine Ueberführung gedacht werden konnte, ersuchte das Comité den Gemeinderath der Stadt um die Anweisung des Platzes, auf welchem der Denkstein ruhen sollte. Durch die eifrigen Bemühungen und Untersuchungen des verstorbenen, auch durch seine germanischen Studien bekannten Professor Josua Eiselein hatte man nämlich denselben mit ziemlicher Sicherheit aufgefunden. Die im städtischen Archiv aufbewahrte Chronik des Ulrich von Richental, der Augenzeuge des ganzen schrecklichen Vorganges war, giebt sowohl über die Ausführung des Urtheils, wie über den Platz selbst genauen und zuverlässigen Bericht. Wenn man die Stadt vom See aus der Breite nach durchschritten und das ehemalige Paradieser-Thor hinter sich hat, wenn man dann auf der Straße nach Gottlieber (Huß saß in einem Thurme daselbst gefangen) weiter geht: so ist der denkwürdige Ort links vom Wege auf dem südlichen Brühl zu suchen, unweit der jetzt in der Nähe errichteten Gasfabrik. Diese Stelle wurde dem Comité von der Stadt bereitwilligst zur Verfügung gestellt, und nun ging’s im Monat September 1862 an die Herbeiführung des Steines. Es war dieses bei einem so großen Gewichte keine Kleinigkeit und bedurfte großer Umsicht. Vom Fundorte bis zum Conciliums-Gebäude wurde der Stein auf der Eisenbahn mit der ersten hierhergekommenen Locomotive „James Watt“ transportirt, wobei ganz in der Nähe des Bahnhofes zwei Achsen brachen. Von dem Platze beim Concilium bis an die Wiese, auf welcher der Denkstein gesetzt werden sollte, mußte die Ueberführung auf der Achse mittelst Zugviehes bewerkstelligt werden. Den hierzu erforderlichen Wagen, dessen Tragkraft auf 700 Centner berechnet war, lieferten die Herren Escher und Wiß in Zürich, das Zugvieh Constanzer Bürger unentgeltlich.

Weil man aber zwei Tage hintereinander 12 und 14 Pferde verwendet hatte, ohne mehr als ca. 30 Schritte weit vom Platze wegzukommen, ging unter dem Volke schon die Rede: „der Teufel sitzt darauf und hat ihn verhext, man sollte die Sache bleiben lassen.“ Das Comitémitglied, Herr Zogelmann, war anderer Ansicht; den Teufel ließ er sitzen, machte aber den Versuch, ob Ochsen nicht Meister über ihn würden. Am dritten Tage wurden daher 4 Pferde und 10 Ochsen angespannt, welche alsbald den Stein ohne Beschwerde bis an den Brühl fortführten. Von da geschah der Transport mittelst Schlitten, durch Winden und Krahnen gehoben. Hierauf wurde am 6. October 1862 in Anwesenheit einer dieses Ereignisses würdigen Gesellschaft der Grundstein gelegt. In denselben verwahrte man einzelne auf das Concilium von Constanz, besonders [656] aber auf Huß und Hieronymus bezügliche Schriften, sowie ein Actenstück über den Hussenstein selbst, und das Verzeichniß der Comitémitglieder. Auf den Grundstein wurde der Block, so wie er war, gebracht, nur schliff man die nördliche und südliche Seite desselben auf einer kleinen Fläche, um die Inschriften „Johannes Huß“ und „Hieronymus von Prag“, sammt dem Todestage beider Märtyrer anzubringen. Der Platz wurde eingefriedigt, und bald werden zwei kräftige Linden das denkwürdige Fleckchen Erde überschatten.

So ist endlich den beiden Männern auf der Stelle, wo sie für Licht und Wahrheit ihren letzten Kampf gegen Finsterniß und Barbarei mit ungebeugtem Heldenmuth kämpften, ein einfaches Denkmal gesetzt, genannt „Hussenstein“. Es ist nicht kostbar, es ist nicht großartig, aber es ist umstrahlt von dem Märtyrerglanze eines Huß und Hieronymus, es ruht so sicher und fest auf der Flammenstätte, als die Namen Huß und Hieronymus in den Herzen der Menschen leben.





Blätter und Blüthen


Das letzte Autodafé. In der Restaurationszeit der zwanziger Jahre wurde auf Betrieb des Pater Cyrillo, welcher den größten Einfluß auf den König Ferdinand ausübte, im Staatsrathe ein Gesetzentwurf zur Wiederherstellung der Inquisition in Spanien beschlossen, um, wie es in der Adresse an den König hieß, den Umtrieben der Liberalen einen undurchdringlichen Damm entgegenzusetzen. Die Stadt Valencia ward zum Hauptsitze dieses furchtbaren Glaubensgerichts bestimmt, welches, durch keinen einzigen ordentlichen Richter besetzt, nur aus Priestern bestand, einem Präsidenten, dem Generalvicar Torranzo, einem Fiscal, einem Secretair und sieben Räthen. Kaum war dasselbe in Kraft getreten, so füllten sich auch schon die schaurigen Räume des Gefängnisses, welches im Innern des bischöflichen Palastes sich befand. Das Verfahren des Gerichts war ziemlich genau nach dem Vorbilde des alten Inquisitionsgerichts unter Philipp II. eingerichtet. Der Unglückliche, welcher den Harpyien desselben in die Krallen fiel, wußte nicht, wer sein Ankläger war, durfte zum Beweise seiner Unschuld keinen Zeugen herbeibringen und war für immer von der Außenwelt abgeschlossen. Das Verhör wurde in verfängliche Fragen eingekleidet, verbunden mit Versprechungen und Drohungen, und der Vertheidiger wurde dem Beklagten von den Unholden selbst bestimmt. Bei gefällter Todesstrafe übergab man das Urtheil und den Verurtheilten dem weltlichen Criminalgerichte, welches die Execution zu vollziehen hatte.

Ein solches Todesurtheil wurde im Jahre des Heils 1826 an einem Catalonier Namens Ripoll, wahrscheinlich dem aufgeklärtesten Manne in Spanien, vollzogen. Der Unglückliche war Vorstand einer von ihm selbst errichteten Privatschule, und hatte die unvorsichtige Behauptung ausgesprochen, daß Christus kein Gott, sondern nur ein Mensch gewesen sei. Nach dem Bekanntwerden dieser Aeußerung wurde Ripoll der allerärgsten Ketzerei, der Gotteslästerung angeklagt und in die Gefängnisse der Inquisition gesteckt. Dort ließ man ihn über ein Jahr zwischen feuchten Kerkerwänden schmachten, bis er, von Ungeziefer zerfressen, in stillen Wahnsinn verfiel.

In diesem Zustande kam er in’s Verhör.

Torranzo, der Präsident, legte ihm verschiedene Kreuz- und Querfragen vor und forderte ihn auf, seine Meinung über Christus zu äußern. Der arme geistesschwache Mensch wußte nicht zu heucheln. Er sprach, wie es ihm um’s Herz war, und seine Antwort fiel so ketzerisch wie möglich aus. Da stürzte der feiste Pfaffe mit Tigerwuth auf den ausgehungerten Gefangenen los, schlug ihn zu Boden, trat ihn mit Füßen und rief wie einst der Hohepriester: „Er hat Gott gelästert, was brauchen wir weiter Zeugniß!“

Einstimmig wurde das Todesurtheil über Ripoll ausgesprochen, der nun, mit Ketten belastet, dem nicht minder glaubenswüthigen weltlichen Gerichte überliefert wurde.

Nun folgte das Autodafé, ein Schauspiel, würdig eines Philipp’schen Zeitalters, ein Schauspiel, welches nur den verthiertesten Pöbelschaaren und dem verkommensten Pfaffengezücht einen Kitzel bereiten und Genugthuung verschaffen kann. Bis zur Stätte der Hinrichtung waren alle an den Wegen und Stegen befindlichen Heiligenbilder mit Schleiern verhüllt. Die Brüderschaft der Büßenden von der Mutter Gottes schritt dem Zuge voran, in dessen Mitte sich das unglückliche Opfer, auf einem Esel reitend, befand. Neben ihm trug man eine Tonne, die mit Flammen und Teufeln bemalt war. Die Büßenden von der Mutter Gottes, so wie die andern Heere von Mönchen ließen es sich angelegen sein, die an und für sich schon aufgeregte ungeheure Menschenmenge, die zum Richtplatz hinausströmte, zum wildesten Fanatismus aufzustacheln.

Zwischen zwei Kreuzen stand auf dem Schaffot der Galgen. Doch die Kreuze durften durch die Gegenwart des Gottesleugners noch weniger entweiht werden, als die Heiligenbilder an den Wegen; sie wurden deshalb bei seiner Ankunft fortgenommen. Das Volk, dessen Glaubenswuth, angestachelt durch die siegestrunkenen Mönche, zur wildesten Raserei ausartete, brüllte ohne Aufhören: „Verbrennt ihn! verbrennt ihn!“ – Wer erinnert sich dabei nicht sofort an das „Kreuzige! kreuzige ihn!“?

Betäubt und fast bewußtlos langte der arme Wahnsinnige auf dem Schaffot an, und er wird es, wenn sein Denkvermögen noch so weit reichte, als eine große Wohlthat betrachtet haben, als der Henker ihm die Schlinge um den Hals legte und ihm dann auf den Nacken sprang.

Während dies geschah, sah man rechts und links Feuerflammen emporzischen, damit es den Auschein haben sollte, als würde er in Wahrheit verbrannt. Die Leiche warf man sodann in das Faß und wälzte es in die Fluthen des Guadalaviar, wo man dieselbe einige Male untertauchte und darauf der Brüderschaft der Büßenden übergab, die den Leichnam in ungeweihte Erde begrub. – Solches geschah im „schönen Land des Weins und der Gesänge“ im Jahre 1826.

Dr. W. A. 





Geizhälse unter den Ameisen. Daß viele Thiere eine große Vorliebe für mancherlei buntfarbige oder glänzende Gegenstände haben, und dieselben lediglich zu ihrem Vergnügen in ihre Wohnungen und Nester zusammentragen, ist bekannt, und wir haben in den Elstern, Dohlen und Raben ganz in unserer Nähe sprechende Beispiele davon. Einige Ameisenarten gehören auch dazu, und zwar wissen gerade sie ihr Augenmerk auf diejenigen Körper zu lenken, welche auch von den Menschen ihrer Seltenheit und Schönheit wegen für besonders kostbar gehalten werden. Schon das classische Alterthum und die alte indische Literatur kennt die Sage von goldhütenden Ameisen, und dieselbe hat, wie aus den Beobachtungen neuerer Reisenden hervorgeht, einen wirklichen Grund. Der bekannte Reisende Möllhausen fand bei den Zuñi-Indianern sehr schöne Granaten als Schmuckgegenstände, und er berichtet, daß sich dieselben in Erdhügeln fänden, die von einer großen Ameisenart zusammengetragen werden. Bei großer Kälte ziehen sich die Thiere tiefer in die Erde zurück, und man kann dann durch Zerstörung jener Haufen die bunten Edelsteine in der Sonne glänzen sehen. Auch Humboldt bestätigt, daß er in den basaltreichen Gegenden des mexicanischen Hochlandes glänzende Körner von Hyalith, einem weißen, durchsichtigen Steine, die von Ameisen in ihren Nestern gesammelt worden waren, aus den Ameisenhaufen aufgelesen habe. Fragt man, zu welchem Zwecke die emsigen Thierchen das für sie doch schwer zu bewältigende Material mühevoll in ihren Kammern bergen, so müssen wir die Antwort schuldig bleiben. Farbe und Glanz der bunten Steine und der glitzernden Goldblättchen können sie ja nicht erfreuen, denn es gehört der Strahl der Sonne dazu, im Finstern erscheint ein Edelstein nicht anders als ein gewöhnlicher Kiesel. Sollten sich die Ameisen als echte Geizhälse am Besitz erfreuen, daß sie dasjenige immer um sich zu haben wünschen, was ihnen Gefallen verursachte, als es ihnen zuerst im Lichte entgegenglänzte? Das würde auf eine Seelenthätigkeit, auf ein Urtheil, auf eine Vorstellung von der Zeit schließen lassen, die uns höchst merkwürdig erscheinen müßte, und die den Versen Goethes eine gewisse wirkliche Bedeutung unterlegen würde, wenn er im Faust den Chor der Ameisen auftreten läßt:

Ihr Zappelfüßigen,
Geschwind nach oben!
Behendest aus und ein!
In solchen Ritzen
Ist jedes Bröselein
Werth zu besitzen.
Das Allermindeste
Müßt ihr entdecken
Auf das Geschwindeste
In allen Ecken.
Allemsig müßt ihr sein,
Ihr Wimmelschaaren;
Nur mit dem Gold herein!
Den Berg laßt fahren.





Friesischer Gesetzspruch. Wenn wir unsere jetzigen juristischen Bücher durchlesen, so finden wir Alles, nur keine schöne oder gar poetische Form. Wie hoch dichterisch klingt dagegen ein Spruch des friesischen Rechtsbuches: eine Formel der drei Hauptnöthen, in denen die Mutter des unmündigen Kindes Erbe verkaufen darf, um dessen Leben zu fristen. Es heißt dort: „Dies ist die erste Noth: So ein Kind gefangen und gefesselt wird nach Norden über das Meer oder nach Süden über den Berg, so soll die Mutter des Kindes Erbe versetzen und verkaufen, damit sie ihr Kind löse und ihm das Leben friste. Die andere Noth ist: Wenn ein böses Jahr wird und der heiße Hunger über das Land fährt und das Kind Hungers sterben will, so soll die Mutter ihres Kindes Erbe versetzen und verkaufen und ihm davon kaufen Kuh und Korn und die Dinge, womit sie sein Leben friste. Die dritte Noth ist: Wenn das Kind stocknackend ist oder hauslos und die nebeldüstre Nacht und der nordkalte Winter über den Zaun steigt, wenn der Menschen jeglicher in seinen Hof und sein Haus fährt, und das wilde Thier den hohlen Baum und der Berge Obdach sucht, allda es sein Leben behalte; so weint das unmündige Kind und wehklagt über seine nackten Glieder und über seine Hauslosigkeit und über seinen Vater, der es schützen sollte gegen den kalten Winter und den heißen Hunger, daß er so tief und so dunkel unter der Eiche und unter der Erde umschlossen und bedeckt liegt. Dann soll die Mutter des Kindes Erbe versetzen und verkaufen, dessen Pflege und Pflicht sie hat, so lange das Kind unmündig ist.“

W. K.



  1. WS: fehlende Klammer ergänzt
  2. Zu der Empfehlung einiger Zeitschriften, das Boxen in die deutschen Turnvereine einzuführen, giebt der vorstehende Artikel eine sehr angenehme Illustration. D. R.