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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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No. 6. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Guntershausen.
Von Claire von Glümer.



Ich weiß nicht und ich frag’ nicht,
Ob man Dich schuldig heißt;
Weiß nur, daß ich Dich liebe,
Wer Du auch immer sei’st.

(Thomas Moore)
I.

Im Schloßhofe zu Guntershausen waren eben die Diener und Kammerjungfern beschäftigt, einen Reisewagen zu bepacken, als Graf Lothar, der Schloßherr, von einer kleinen Geschäftsreise zurückkehrte. Verwundert sah er auf das geschäftige Treiben, sprang vom Pferde und ging dem alten Castellan entgegen, der das Sammtkäppchen abziehend mit betrübter Miene auf ihn zukam.

„Nun, Joseph, was hat das zu bedeuten?“ fragte der Graf, indem er auf den Wagen zeigte.

„Frau Generalin haben befohlen, Alles zur Abreise in Bereitschaft zu setzen,“ erwiderte der Alte in einem Tone, als ob er die größte Trauerbotschaft zu verkündigen hätte. „Die gnädige Frau wollen noch heute nach Eichberg zurückkehren und haben nur auf den Herrn Grafen gewartet.“

Lothar runzelte die Stirn.

„Was ist denn vorgefallen?“ fiel er dem Diener in’s Wort, aber ehe dieser antworten konnte, fügte er mit abwehrender Handbewegung hinzu: „Laß es gut sein, ich werde mit der gnädigen Tante sprechen.“ Mit diesen Worten eilte er die Freitreppe hinauf und verschwand im Innern des Schlosses, während Joseph seufzend und kopfschüttelnd zur Beaufsichtigung des Reisewagens zurückging, wobei er vor sich hinmurmelte: „Nun ist’s wieder die alte Geschichte – nun ist’s wieder aus und vorbei mit unsrer guten Zeit.“

Aehnlich waren Lothar’s Gedanken, während er die Treppe hinaufstieg und sich den Zimmern der Tante näherte. „Ich lasse sie nicht fort; sie muß meinen Bitten nachgeben,“ sagte er zu sich selbst, aber als er ihre Thür erreichte und sie mit der Kammerjungfer sprechen hörte, schien er plötzlich seinen Entschluß zu ändern. Er ging schnell vorüber, dem Ende des Ganges zu, wo er die Thür der Bibliothek geöffnet sah.

Geräuschlos trat er ein und blieb einen Augenblick tief athmend stehen, als er Eva, die Tochter der Generalin, in der Fensternische am Ende des Saales erblickte. Sie stand von ihm abgewendet und hatte die Stirn an die Scheiben gedrückt. Ihre hohe, anmuthige Gestalt, ihr zierlicher Kopf mit den reichen, braunen Flechten waren vom Purpur der Abendsonne übergossen, während die Tiefe des Saales schon im Dunkel lag.

Endlich hörte sie seinen Schritt, richtete sich auf und wandte den Kopf. Ihre Augen standen voll Thränen, ihr sanftes Gesicht war ungewöhnlich blaß und wurde noch blasser, als sie Lothar’s verstörte Miene bemerkte.

„Was ist Dir?“ fragte sie, indem sie hastig auf ihn zutrat.

„Ihr wollt fort!“ rief er und faßte ihre beiden Hände. „Eva, ist das möglich?“

„Wir müssen,“ flüsterte sie.

„Warum?“ fiel er ihr hastig in’s Wort. „Was wollt Ihr zwischen den Schutthaufen und geschwärzten Mauern? Habt Ihr nicht versprochen, hier zu bleiben, bis Eichberg vollständig restaurirt ist? Haben wir nicht für den ganzen Winter unsere Pläne gemacht, unsere Einrichtungen getroffen?“

„So höre doch nur,“ fuhr sie bittend fort, als er sie wieder zum Sprechen kommen ließ. „Unser Inspector, der Einzige, auf den wir uns verlassen konnten, hat das Bein gebrochen; nun muß Mama die Arbeiten selbst überwachen – wir müssen uns in Eichberg einrichten, so gut es geht.“

„Und ich?“ fragte Lothar in bitterm Tone, ließ Eva’s Hände los, trat an das Fenster und sah in den Park hinunter. Der Wind peitschte den Teich vor dem Schlosse in kurzen Wellen gegen die Ufer und jagte dichte Massen rothgelber Blätter über Wege und Rasenflächen. Lenau’s Herbstklage fiel ihm ein: „Treulich bringt ein jedes Jahr welkes Laub und welkes Hoffen;“ und er sagte sich selbst, daß es kindisch wäre, gegen dies Gesetz des Lebens zu murren. Der böse, finstre Zug, den Eva seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, zuckte wieder um seinen Mund; die schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen und die Augen starrten halb trotzig, halb verzweiflungsvoll darunter hervor. – Er war wieder der „schwermüthige Guntershausen“, der alle Menschen vermeidend, von Allen gemieden, jahrelang in tiefster Einsamkeit gelebt hatte.

Dieser Anblick that Eva weh. Sie trat an seine Seite, legte die Hand auf seinen Arm und sagte: „Mach Dir und uns den Abschied nicht so schwer. So oft Du uns sehen willst, kannst Du ja in zwei Stunden drüben in Eichberg sein.“ Aber als er vorwurfsvoll fragte, ob sie glaube, daß er dadurch für das verlorene Zusammenleben entschädigt werden könnte, war sie fast nicht mehr im Stande ihre Bewegung zu beherrschen. In ihrer Verwirrung [82] wollte sie zu einem scherzhaften Tone Zuflucht nehmen und sagte mit erzwungenem Lächeln: „Wir sollen doch nicht glauben, daß wir Dir unentbehrlich sind? Erinnere Dich, wie lange Du in unserer Nähe gelebt hast, ohne Dich im Geringsten um uns zu kümmern.“

„Aber was war das für ein Leben!“ fiel ihr Lothar in’s Wort. „Immer allein; von den düstersten Gedanken gefoltert; von traurigen, widerwärtigen, entsetzlichen Erinnerungen umgeben!“

Er schauderte und sah vor sich nieder. Als er den Kopf erhob, war sein Gesicht von jener tödtlichen Blässe bedeckt, die Eva in der ersten Zeit ihres Zusammenseins so oft erschreckt hatte, und seine Augen glühten in unheimlichem Feuer.

„Sieh, Eva,“ fuhr er fort, indem er ihre Hand zwischen seinen kalten Händen preßte, „so lange Guntershausen mein Eigenthum ist – und das sind nun bald neun Jahre – habe ich nicht eine glückliche Stunde gehabt, nicht eine, bis Du herkamst. Du hast meinem Herzen Frieden, meinem düstern Hause Sonnenschein gegeben, und Du wolltest mich verlassen? Nein, Eva, das kannst Du nicht!“ fuhr er in ganz verändertem Tone fort, indem er sie an sich preßte. „Du mußt bei mir bleiben, Du mußt! Mein Weib, mein Trost, mein Glück, willst Du das sein, willst Du?“

Sie zitterte so sehr, daß er sie mit beiden Armen stützen mußte, aber als sie nach einer Weile den Kopf erhob, leuchtete so viel Liebe und Glück aus ihren thränenvollen Augen, daß er nicht zweifeln konnte, wie gern sie wollte. Und doch sah er nicht glücklich aus, als er sie wieder an sich drückte und lange stumm in seinen Armen hielt. Plötzlich ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. „Es darf ja doch nicht sein,“ sagte er hastig und leise. „Es wäre ein unverzeihliches Unrecht, und Du würdest elend, wie ich es bin.“ Mit diesen Worten wollte er hinaus eilen, aber Eva vertrat ihm den Weg.

„Unrecht ist’s, wenn Du Dich immer wieder dem Trübsinne hingibst,“ sagte sie und sah ihm mit dem festen, klaren Blick in die Augen, der ihn immer zur Besinnung brachte. „Meinst Du,“ fuhr sie scherzend fort, obwohl ihre Stimme in verhaltnem Weinen bebte, „meinst Du denn, Du könntest mich so nach Belieben fassen und lassen? Oder denkst Du, meine Liebe wäre nur von heute, und ich könnte sie ohne Todespein aus meinem Herzen reißen?“

Aber diesmal wichen die bösen Geister nicht wie sonst. Lothar sah mit traurigem Kopfschütteln zu ihr nieder.

„Du kannst mich nicht lieben,“ sagte er. „Ich bin’s nicht werth!“ Dabei wandte er sich, als ob er hinausstürzen wollte, blieb aber wieder stehen, schrie laut auf: „Eva, ich kann nicht ohne Dich leben!“ warf sich auf die Steinbank in der Fensternische und schlug mit Verzweiflungsvoller Gebehrde die Hände vor’s Gesicht.

Eva setzte sich neben ihn und strich sanft über sein dunkles, lockiges Haar, in das sich hier und da schon ein Silberstreifen mischte.

„Wie Du Dich unnütz selber quälst!“ begann sie nach einer Pause mit mühsam erkämpfter Ruhe. „Ich bin Dir zum Leben unentbehrlich, Du bist es mir – so müssen wir mit einander gute und böse Stunden tragen, wie es eben kommt. Aber willst Du rechnen und wägen, wer dem Andern verschuldet ist – lieber, lieber Freund, erinnere Dich, daß ich ohne Deine muthige Hülfe nicht mehr am Leben wäre.“

Lothar fühlte, wie sie bei diesen Worten zusammenschauderte. „Sprich nicht davon; denke nicht daran,“ bat er, indem er sie umfaßte. Aber sie fühlte, daß jetzt nicht Zeit war, der eignen Schwäche nachzugeben.

„Laß mich immer davon sprechen,“ erwiderte sie, indem sie sich an ihn lehnte. „Ich bin ja in Sicherheit, da ist’s eine Art grausigen Entzückens, sich an die überstandene Gefahr zu erinnern. Sonderbar ist’s aber,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „wie Alles in der Erinnerung wieder lebendig werden kann. Indem ich jetzt lebhaft daran denke, fühle ich wieder das haarsträubende Entsetzen, womit mich der Feuerruf erfüllte. Ich hatte gerade im ersten Schlafe gelegen und war so verstört, daß ich gar nicht wußte, was ich that. Das Erste, worauf ich mich besinnen kann, ist, daß ich, die Mutter nach mir ziehend, in’s Freie stürzte. Die Flammen schlugen schon aus den Fenstern des Erdgeschosses und der ersten Etage und züngelten am Weinspalier hinauf, das sie prasselnd verzehrten. Plötzlich schrie die Mutter laut auf: „meine Cassette! wer holt mir die Cassette?“ Die Diener standen mit blassen, verstörten Mienen und keiner regte sich. Es wußte auch Niemand als Mama und ich, wo die kostbare Schatulle verwahrt war, die außer einer Menge Wertpapiere meines Vaters Testament enthielt und den Brautschmuck der Mutter, Kleinodien, an denen ihr ganzes Herz hängt. Das Alles schoß mir mit Blitzesschnelle durch den Kopf. War’s möglich den Schatz zu retten, so war ich die Einzige, die es konnte. Ohne zu bedenken, was ich wagte, lief ich in’s Haus zurück. In der allgemeinen Verwirrung schien Niemand auf mein Beginnen zu achten. Ich fand meinen Weg trotz Feuer und Rauch, erreichte das Cabinet der Mutter, riß den Secretair auf, nahm das Kofferchen aus seinem Versteck und eilte damit zurück. Aber als ich die Treppe erreichte, stand sie in vollen Flammen, und als ich mich durch den großen Saal in den Seitenflügel flüchten wollte, stürzte ein Theil seiner Decke fast unmittelbar vor meinen Füßen nieder. Minutenlang war’s als ob ich in Gluth und Qualm ersticken sollte – endlich raffte ich mich auf. Wäre ich nur an eins der vordern Fenster getreten, daß man mich von unten gesehen hätte, mir zu Hülfe gekommen wäre – aber Angst und Schrecken hatten mir den Kopf verwirrt. Ich stürzte die Treppe hinauf in’s obere Geschoß – auch hier brach die Flamme schon an verschiedenen Stellen hervor, und dicke Rauchwolken füllten Gänge und Zimmer. Ich eilte ein Fenster zu erreichen, riß es auf und lehnte mich hinaus, so weit ich konnte – aber Niemand achtete auf mich; Alles war in der größten Verwirrung; die Leute schrieen, das Vieh brüllte und blökte; ein paar Pferde, die sich losgerissen hatten, sprengten mit flatternden Mähnen hin und her. Dazu das Prasseln, Zischen und Heulen der Flammen, das Krachen stürzender Balken, das Rasseln der Spritzen – aber aus allem Getöse hörte ich jetzt die Stimme meiner Mutter, die in Todesangst meinen Namen rief. „Hier, hier!“ schrie ich hinunter. Jetzt sah Alles empor, und ein Wehgeschrei antwortete auf meinen Ruf, Gleich darauf sah ich die Mutter ohnmächtig forttragen. Die Männer liefen rathlos umher, die Frauen fielen auf die Kniee und verhüllten das Gesicht – ich gab mich verloren! Aber in demselben Augenblicke kam ein Reiter in den Hof gesprengt. Ich hatte ihn seit vielen Jahren nicht gesehen, und er war seitdem ein ganz Andrer geworden, aber ich erkannte ihn gleich und wußte, daß er mich retten würde, wenn überhaupt noch Rettung möglich war.“

„Es war ein entsetzlicher Augenblick,“ fiel ihr Lothar in’s Wort, „Dich da oben zu sehen, von Flammen umlodert, zu wissen, daß das Gebäude in den nächsten Minuten zusammenstürzen mußte. – Und dann strecktest Du die Arme aus und riefst meinen Namen, so gellend, so herzzerreißend – mein Haar sträubt sich noch bei dem bloßen Gedanken daran.“

„Und nun sah ich, wie Du Alles anordnetest,“ fuhr Eva fort. „Leitern wurden in großer Eile herbeigeschleppt, zusammengebunden, aufgerichtet – nun fanden sich auch Mehrere, die mir zu Hülfe kommen wollten, aber Du stießest Alle zurück und kamst selbst herauf – wie ist’s nur möglich, solche Angst zu ertragen? Von allen Seiten züngelten die Flammen zu Dir herauf, jetzt faßten sie Deine Kleider – Du wolltest rascher empor eilen, die Leiter schwankte – Herr des Himmels, wenn sie brach, wenn Du stürbest! – Mir vergingen die Sinne. – Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich auf feuchtem Rasen – mir gegenüber dampften die Trümmer meines Vaterhauses. Ich hörte, daß das Dach eingestürzt war, nachdem Du mich kaum in Sicherheit gebracht hattest. Die Mutter kniete, das Verlorene beweinend, neben mir – aber so lieb mir die Heimath gewesen war, ich konnte nicht um ihre Zerstörung trauern. Durch sie war ja erkauft, was ich so lange vergebens ersehnt hatte und worauf ich kaum noch zu hoffen wagte: Du warst wieder bei uns – es war wieder der alte, liebe, trauliche Ton. Und dann hieß es, wir würden mit Dir gehen. Wie habe ich damals Gott gedankt, und wie glücklich war ich, als ich mehr und mehr erkannte, daß ich Dir lieb war! Aber Du zweifelst! –“ Ihre Stimme versagte, sie wandte sich ab, um die Thränen zu verbergen, Lothar beugte sich über sie.

„Versteh’ ich Dich recht?“ fragte er in athemloser Erwartung. „Ist’s nicht Mitleid, nicht Dankbarkeit allein, was Dich in meine Arme führt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Jahrelange Sehnsucht!“ flüsterte, sie, indem sie das Gesicht an seiner Brust verbarg.

Er hielt sie lange an sich gedrückt. Endlich hob er ihren Kopf in die Höhe und küßte ihr die Thränen von den Augen. Aus seinen Zügen war jede Spur von Trübsinn gewichen und seine Stimme war fest und klar, wie in alter, guter Zeit, als er sagte: „Wohlan, Eva, so wollen wir’s wagen, in Gottes Namen!“

„In Gottes Namen!“ wiederholte sie.

[83] In diesem Augenblicke wurde die Thür geöffnet.

„Gnädiges Fräulein, sind Sie hier?“ fragte das Kammermädchen. „Die gnädige Frau wünscht Sie zu sprechen.“

„Ich komme,“ antwortete Eva, nahm Lothars Arm und ging mit ihm zur Mutter hinüber.




II.

Die Generalin von Hersenbrook war eine kleine, zierliche, blonde Frau, die mit sanften blauen Augen in’s Leben sah, im sanftesten Tone sprach und sich immer so auszudrücken pflegte, als wiederholte sie nur die Urtheile Anderer oder wäre doch jeden Augenblick bereit, sich selbst und ihre Meinungen besserer Einsicht unterzuordnen. Aber unter dieser weichen, schmiegsamen Außenseite verbarg sich viel Eigensinn, viel Herrschsucht und eine große Widerstandskraft. Während Frau von Hersenbrook dem Anschein nach jedem äußern Einflusse nachgab, verlor sie das, was sie erreichen wollte, keinen Moment aus den Augen, und während sie auf tausend Umwegen ihrem Ziele zusteuerte, wußte sie mit bewundernswürdiger Feinheit jeden Zusammenstoß mit fremden Interessen zu vermeiden. „Ich will nicht,“ sagte sie niemals, und wenn sie – was sehr häufig vorkam – die Wünsche und Erwartungen Anderer nicht erfüllte, war sie selbst so unglücklich über das „Nichtkönnen,“ daß der Zurückgewiesene sich noch Vorwürfe darüber machen mußte, der guten Hersenbrook diesen Schmerz bereitet zu haben.

Mit ihrer Tochter sympathisirte die Generalin nicht. Eva hatte des Vaters geraden Sinn, seine Wahrhaftigkeit und Güte geerbt, war aber viel scharfsichtiger als er und wenigstens eben so fest wie die Mutter. Wer zum ersten Male in ihr stilles Gesicht, in ihre klaren, hellbraunen Augen sah, hielt sie vielleicht für kalt oder gar für hochmüthig, aber sie war nur stolz und etwas scheu, bis sie Wärme und Verständniß gefunden hatte. Wo sie es fand, schloß sie sich innig und enthusiastisch an. Sie war überhaupt so entschieden in ihren Neigungen und Abneigungen, so unbeugsam in dem, was sie für Recht erkannte, und trotz aller Feinheit der Form so unfähig, sich zu verstellen, daß die Generalin ihren Intimsten seufzend vertraute: „Ich fürchte, sie hat etwas Unweibliches in ihrem Charakter.“

Diese Besorgniß wuchs, als Eva nicht allein für jede Schwärmerei unempfindlich blieb, die sie erweckte, sondern auch Partien ausschlug, nach denen Hunderte von Müttern für ihre Töchter seufzten. Ehrerbietig, wie immer, hatte sie bei solchen Gelegenheiten die Klagen und Vorstellungen der Generalin angehört, aber nichts war im Stande gewesen, sie umzustimmen. In ihrer ruhigen, festen Weise hatte sie immer und immer wieder erklärt, sie wäre zufrieden in ihren Verhältnissen und könnte sich zu einer Ehe ohne Liebe nicht entschließen.

Nun war freilich die Liebe gekommen, aber nicht zur Freude der Generalin. Die Guntershausen waren ein stolzes, trotziges, wildes Geschlecht, das fast immer mit seinen Standesgenossen in Feindschaft lebte und sich sogar bei mehr als einer Gelegenheit gegen den Landesherrn aufgelehnt hatte. Darum standen sie ganz isolirt, hatten gar keinen Einfluß bei Hofe und hatten seit Menschengedenken in einer Art freiwilliger Verbannung auf ihren Gütern gelebt. Lothar, der letzte Repräsentant des alten Namens, hatte die einsiedlerischen Neigungen seiner Vorfahren im höchsten Maße geerbt. Die Menschenscheu war bei ihm fast zur Krankheit geworden, und so mußte Eva durch eine Verbindung mit ihm für die Gesellschaft ganz verloren gehen – das größte Unglück, das sich Frau von Hersenbrook denken konnte.

Darum dachte sie, seit sie den Herzenszustand der Tochter erkannt hatte, unablässig darüber nach, wie sie Lothar und Eva trennen könnte, ohne ihre Absicht zu verrathen. Daß sie im offenen Kampfe unterliegen würde, sah sie voraus, aber wenn sie vorsichtig zu Werke ging, war’s vielleicht möglich, das unheilvolle Band zu lösen. In dieser Hoffnung hatte sie schnell den Vorwand ergriffen, den ihr der Unfall des Inspectors bot, um die Rückkehr nach Eichberg zu beschleunigen. Dort hatte das tägliche Zusammensein mit Lothar ein Ende; Eva wurde durch neue Arbeiten und Interessen in Anspruch genommen; alte Gewohnheiten behaupteten ihre Rechte; der alte Kreis versammelte sich wieder um die Generalin, und gewiß hielt sich Guntershausen von diesem Leben und Treiben fern, das ihm eben so unbehaglich als thöricht erscheinen mußte.

Das Alles sagte sich Frau von Hersenbrook, während sie, auf die Rückkehr des Grafen wartend, im Zimmer auf- und abging. Dazwischen umgaukelten sie die Bilder langentbehrter Freuden und sie athmete erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie bald diesem düstern Hause, dieser einförmigen Lebensweise und den unerträglich ernsthaften, melancholischen Unterhaltungen ihres Wirthes entronnen sein würde, um in die heiteren Regionen der Diners, Soupers und Whistpartien zurückzukehren. Plötzlich wurde die Thüre aufgerissen und der Graf trat ein.

„Endlich, lieber Lothar!“ rief ihm die Generalin entgegen. „Ich stehe wie auf Kohlen.“ – Aber nun hörte sie das Rauschen eines seidenen Kleides, Eva trat mit dem Verlobten in den Kreis des Lichtes, und ihr glühendes Gesicht, ihre strahlenden Augen verriethen der Mutter, was geschehen war, noch ehe Lothar seine Bitten und Wünsche ausgesprochen hatte. So war denn Alles zu spät! Die Generalin war im höchsten Grade bestürzt und kaum im Stande, ihre Fassung zu behaupten. Als sie die Tochter mit den Worten: „der Himmel möge Alles zum Besten wenden!“ in die Arme schloß, lag mehr Sorge, als Hoffnung in ihrem Blicke, und trotz aller Bitten des Grafen bestand sie darauf, nach Eichberg zu fahren. Sie wollte Zeit gewinnen, ehe sie ein Versprechen gab; vielleicht fand sich noch ein Ausweg.

„Daß wir länger hier blieben, würde sich nun gar nicht schicken,“ sagte sie in ihrer ängstlichen Weise. „In Eichberg werden wir erwartet, der Wagen ist angespannt, es wäre also nur eine kurze Verzögerung des Abschiedes. Laßt uns fahren, Kinder; es ist für uns Alle gut, wenn wir in Ruhe über das Geschehene nachdenken. Also mach’ Dich fertig, Eva, und komm.“

Damit hatte sie auch Lothars Begleitung zurückgewiesen. Während Eva in’s Vorzimmer ging, um ihren Mantel zu holen, sagte der Graf: „Du bist unzufrieden, Tante; Du hast etwas gegen mich.“

Sie schlug die sanften, blauen Augen zu ihm auf. „Wie mißtrauisch Du nun wieder bist!“ klagte sie; „was soll ich gegen Dich haben, bester Lothar?“

„Hast Du unsere Verlobung etwa mit Freuden begrüßt?“ fiel er ihr in’s Wort. „Hast Du nun die erbetene Einwilligung gegeben?“

„Kann ich’s denn?“ fuhr sie in demselben klagenden Tone fort. „Du weißt doch, daß wir in allen Dingen Tante Ernestine um Rath fragen müssen. Oder hast Du etwa schon mit ihr gesprochen?“ fügte sie hinzu, indem sie ihn forschend ansah. „Ist sie mit Deiner Wahl zufrieden?“

Lothar schüttelte den Kopf. Er wurde sehr bleich, und die Generalin erschrak vor dem Ausdrucke seiner Mienen, als er ihre Frage verneinte.

„Mit meiner Wahl,“ fügte er nach einer Pause hinzu, „ist sie jedenfalls zufrieden, aber ich weiß nicht …“ Er verstummte und wendete sich ab.

In diesem Augenblicke kam Eva wieder. Ihr liebevoller Blick schien Lothar zu beruhigen, seine Hoffnungen zu beleben.

„Wann darf ich kommen?“ fragte er, indem er die Hand seiner Braut an die Lippen drückte.

„Morgen,“ erwiderte sie. „Nicht wahr, Mama, morgen Abend? Dann sind wir gewiß schon ganz in Ordnung.“

Aber die Generalin hörte die Frage nicht oder wollte sie nicht hören.

„Laßt uns gehen!“ sagte sie, zog den Shawl zusammen, nahm des Grafen Arm und ließ sich an den Wagen hinunter führen. Da standen die Diener mit Lichtern, der alte Joseph kam, um seinen unterthänigsten Abschiedsgruß zu sagen, die Mägde liefen geschäftig hin und her. Lothar fand kaum Zeit, seiner Eva ein flehendes „Bleib’ fest!“ zuzuflüstern, und sie konnte ihm nur die Hand drücken und ihm in die Augen sehen, die schon wieder so starr und düster blickten – dann zogen die Pferde an, und der Wagen rollte zum Schloßthore hinaus, weiter und weiter in den grauen Abendnebel hinein.

Eine Weile saßen Mutter und Tochter schweigend neben einander. Aber Eva war das Herz zum Ueberströmen voll, sie mußte sich aussprechen, rückte der Generalin näher, suchte ihre Hand zu fassen und fragte:

„Was denkst Du, Mütterchen? Du bist so still.“

Frau von Hersenbrook seufzte tief.

„Ich bin bekümmert,“ antwortete sie, „und mache mir Vorwürfe.“

[84] „Vorwürfe!“ wiederholte Eva, „ich verstehe Dich nicht. Liebe, beste Mutter, freue Dich doch, daß ich so glücklich bin.“ Mit diesen, Worten brach sie in Thränen aus.

„Aber, Eva, ich kenne Dich gar nicht mehr!“ klagte die Generalin. „Sei doch ruhig, Kind. Wie kann ich glauben, daß Du glücklich bist, wenn Du so alles Gleichgewicht verlierst? – Ueberhaupt, liebe Eva, kann ich in Deiner Verbindung mit Lothar kein Glück erkennen,“ fuhr sie nach einer Pause fort, während Eva die Augen trocknete und sich Mühe gab, ihre Bewegung zu beherrschen.

„Es ist freilich, was man eine glänzende Partie zu nennen pflegt, und ich höre schon, wie man mir von mehr als einer Seite den Vorwurf machen wird, daß ich das Glück meines Kindes für Rang und Reichthum verkauft habe.“

„Liebe Mutter, was liegt an solchem Gerede?“ fragte Eva in vorwurfsvollem Tone. „Du weißt doch, daß ich nur meinem Herzen gefolgt bin.“

„Das Herz täuscht sich,“ fiel die Generalin ein, „und besonders unter diesen Verhältnissen. Das ist kein Vorwurf für Dich! Ich kann mich ganz in Deine Lage denken und finde es so natürlich, daß Du Dich – vielleicht Dir selber unbewußt – zum Opfer bringst. Lothar hat Dich aus den Flammen gerettet; er hat uns, bis wir Eichberg wieder bewohnen können, sein Haus zum Aufenthalt angeboten; wir sind täglich, stündlich mit ihm zusammen; Du hast tausend Gelegenheiten, seinen Geist und Charakter schätzen zu lernen, während Du zugleich immer deutlicher siehst, wie furchtbar er durch seine Schwermuth leidet. Mitleid und Dankbarkeit nehmen Dich mehr und mehr gefangen, und so ist die Selbsttäuschung fertig geworden, denn lieben, Eva, lieben kannst Du diesen düstern, leidenschaftlichen Menschen nicht. Dir, liebes Kind, will ich, wie schon gesagt, durchaus keinen Vorwurf machen, aber ich mußte das Gefährliche Eures Zusammenlebens bedenken; daß ich’s nicht gethan habe, werde ich mir nie verzeihen!“

„O, darum mache Dir keine Sorge,“ bat Eva, und nach einer Pause fügte sie leise hinzu: „Weißt Du wirklich nicht – hast Du nie geahnt, daß ich Lothar schon lange, lange liebe?“

„Eva!“ rief die Generalin in einem Tone, der verrieth, daß auch sie in Gefahr kommen konnte, das Gleichgewicht zu verlieren.

„Eva, wie ist das möglich? Du hast ihn so selten gesehen!“

„Aber desto mehr an ihn gedacht und von ihm geträumt,“ antwortete Eva und drückte einen Kuß auf die Hand der Mutter. „Erinnerst Du Dich nicht,“ fuhr sie fort, „daß schon vor vielen Jahren – Lothars Eltern waren eben gestorben, und er war mit seinen Geschwistern nach Guntershausen zum Onkel Hans gekommen – erinnerst Du Dich nicht, daß schon damals die Rede davon war, Lothar und ich sollten ein Paar werden?“

„Scherze, wie man sie mit Kindern zu machen pflegt!“ warf die Generalin ein. Eva schüttelte den Kopf.

„Tante Ernestine scherzte nie,“ gab sie zur Antwort, „und Tante Ernestine war’s, die zuerst davon sprach. Ich werde den Augenblick nie vergessen. Wir saßen bei Tische, Onkel Hans erzählte in seiner traurigen Weise von der Seuche, die seinen Bruder und seine Schwägerin an einem Tage hingerafft hatte, und sprach dann von der Zukunft der verwaisten Kinder. Werner wäre Erbherr von Guntershausen, hieß es, und Lothar müßte in den Staatsdienst treten. Und nun sah die Tante zu uns herüber; ich fühlte den Blick der grauen Augen, und noch heute tönt es mir in die Ohren, wie sie mit ihrer scharfen Stimme sagte: „der Werner mag dann Isidore heirathen, und Eure Eva ist eine passende Partie für Lothar.“ Sieh Mütterchen, das ist ein Orakel gewesen.“

Frau von Hersenbrook seufzte tief. „Wie ist’s denn möglich, daß sich meine verständige Eva in solche Phantastereien verirrt?“ klagte sie. „Bedenke doch, Kind, daß nachher Alles ganz anders gekommen ist. Ich bin überzeugt, daß in den siebenzehn oder achtzehn Jahren, die seitdem verflossen sind, Lothar so wenig wie Du an dies sogenannte Orakel gedacht hat.“

„Ob er es gethan hat, weiß ich freilich nicht,“ erwiderte Eva, „aber ich um so mehr.“

„Rede Dir nur das nicht ein,“ fiel ihr die Generalin mit mühsam unterdrückter Ungeduld ins Wort. „Wir sind damals kaum acht Wochen in Guntershausen gewesen, dann wurde Dein Vater an die Grenze commandirt, Du hast Lothar in zehn, zwölf Jahren nicht mehr gesehen, und als ihr dann länger zusammen waret, ist’s ein ganz kühles Verhältniß geblieben.“

„Bitte, liebe Mutter,“ rief Eva eifrig; „kaum sechs Jahr später war’s, als wir uns wiedersahen. Onkel Hans war plötzlich gestorben; der Vater ging nach Guntershausen, um Tante Ernestine behilflich zu sein, und nahm mich mit. Es war im tiefsten Winter. Lothars Schwestern waren gleich nach dem Tode des Onkels in eine Pension gebracht, er und Werner waren längst auf dem Gymnasium; Papa und Tante waren den ganzen Tag in Geschäfte verlieft, an Spazierengehen konnte ich bei den anhaltenden Schneestürmen nicht denken, so saß ich Tage lang allein in der Bibliothek und durchstöberte die verstaubten Regale.“

(Fortsetzung folgt.)




Heldentod Florian Geyer’s und der schwarzen Schaar.[1]

Eine alte Volksweissagung, die seit längeren Jahren in Deutschland umlief, hieß: Wer im 1523sten Jahre nicht stirbt, im 1524sten nicht im Wasser verdirbt und 1525 nicht wird erschlagen, der mag wohl von Wundern sagen. – Und diese Weissagung erfüllte sich.

Allenthalb durch ganz Deutschland schlug im Frühjahr 1525 die Flamme der Empörung in die Höhe, und die tausendfach gedrückten Bauern griffen zu ihrer alten Wehr und Waffe, um „Adel und Pfaffen abzuthun“ und „die göttliche Gerechtigkeit zu handhaben“, d. h. „die Urrechte des Menschen und Christen, wie sie das neue Testament feststellt, mit Gewalt einzuführen und die Welt nach den Anforderungen und Einrichtungen des Christenthums zu verändern.“ In einzelnen Haufen, die oft vier- bis sechstausend Mann und noch mehr zählten, traten sie unter selbstgewählten Hauptleuten zusammen und begannen fast gleichzeitig, wahrscheinlich auf allgemeine Verabredung, den Kampf. Je nach ihren Standquartieren oder nach der Hauptmasse, welche die Haufen bildeten, führten sie ihre Namen; so der oberallgäuische Haufen, welcher alle Bauernschaften des obern Allgäus umfaßte, der Seehaufen am Bodensee, der unterallgäuer im untern Allgäu, der Baltringer Haufen im Ried bei Baltringen, der Gaildorfer Haufen, nach Gaildorf, der kleinen Residenz der Schenken von Limpurg benannt, der helle (ganze, vereinigte) Haufen Odenwalds und Neckarthals, der Altdorfer, Fuldaische, Orenbacher Haufen u. a. m. Der letztgenannte war, zweitausend Mann stark, Ende März 1525 aus dem Lager von Reichardsrode seitwärts nach dem Taubergrund gezogen, hatte sich hier mit den Odenwäldern vereinigt, verschiedene andere Haufen an sich gezogen, und führte fortan den Namen des „evangelischen Heeres“. –

„Als diese Orenbacher Bauernhaufen nach dem Schüpfer Grunde, einem Thale des Odenwalden, zogen“ – so berichtet Zimmermann, dem wir jetzt wörtlich folgen – „fanden sie unterwegs einen tüchtigen Anführer. Sie kamen nicht weit von der starken Burg Giebelstadt vorüber, die dem edlen Geschlechte der Geyer von Geyersberg gehörte. Einer dieses Geschlechts legte, wie einst Graf Rudolph von Werdenberg unter den Appenzellern, den Rittermantel ab

[85]

Florian Geyer.

und trat zu den Bauern, freiwillig, als ihr Bruder. Es war Florian Geyer, der schönste Held des ganzen Kampfes.

„Sein Schicksal hat nur wenige Züge von ihm in die Geschichte übergehen lassen; aber diese wenigen reichen zu, seine Gestalt zu beleuchten. Es war viel von dem Geiste des edlen Ulrich Hutten in ihm, die neue Zeit hatte ihn ergriffen mit ihren religiösen und politischen Trieben, er gehörte nicht mehr seinem Stand, er gehörte dem Volke, der Freiheit an. Was er vorher war und trieb, liegt im Dunkeln. Daß er in Kriegsdiensten seine Jugend verlebt hatte, erfahren wir daraus, daß er einer von denen war, welche Götz von Berlichingen in den Diensten des schwäbischen Bundes zu Möckmühl gefangen nahmen. War Florian eine Zeit lang vielleicht Hauptmann von Landsknechtsfähnlein? Sein Haufen unterscheidet sich wesentlich von den andern durch kriegerische Haltung und Uebung; man sieht, es ist eine Kriegsschaar, dieser „schwarze Haufe“ unter Florian, wie er sich selbst nannte, und Herr Florian war auch stolz auf seine schwarze Schaar und sprach von den Odenwäldern als zusammengelaufenem Gesindel. Daß er bei der Sickingen’schen Unternehmung war, und unter den geächteten fränkischen Rittern, ist fast gewiß. – –“

Der Graf von Helfenstein, Obervogt auf dem alten Welfenschlosse Weinsberg, hatte bekanntlich von Stuttgart und den Räthen des schwäbischen Bundes Auftrag und Mannschaften erhalten, dem Eindringen der Odenwälder Bauern sich entgegen zu stellen. Kaum auf Weinsberg wieder angekommen, schrieb er aber an die Regierung zurück, daß er mit seinen wenigen Leuten dem mit etwa sechstausend Mann eindringenden Bauernhaufen aus dem Odenwald und Hohenlohischen in die Länge nicht werde widerstehen können. – –

[86] „Schon als Graf von Helfenstein“ – fährt nun Zimmermann fort – „mit seinen anderen Rittern von Stuttgart nach Weinsberg hinabritt, hatten sie alle Bauern, die ihnen unterwegs begegneten, aufgegriffen und erwürgt. Bei seiner Ankunft im Weinsbergerthale fand der Graf, daß bereits, mit Ausnahme von Eberstadt, alle Dörfer des Amtes dem hellen Haufen zugefallen waren. Als die Bauern von Lichtenstern auf Neckarsulm zogen, am Charfreitag, 14. April (1525), forderten sie Weinsberg und die Ritter darin auf, in ihre christliche Brüderschaft zu treten. Während der Graf mit den Bauern unterhandelte, um Zeit zu gewinnen, bis die erwartete Hülfe von Stuttgart käme, unterließ er es dennoch nicht, mit seinen Reitern „den ganzen Tag über ob den Bauern zu halten, und ihnen Abbruch zu thun, so viel ihm immer möglich war.“ Er that sich aus Weinsberg, fiel hinten in den Haufen in den Nachtrab, erstach und beschädigte ihnen Viele, wodurch der Haufen der versammelten Bauernschaft erzürnt und bewegt wurde.

„Zugleich kam Botschaft von der Donau, wie der Truchseß (Georg von Waldburg, oberster Hauptmann des schwäbischen Bundes) senge und brenne und gegen die gefangenen Bauern blutig verfahre, von der Hinrichtung des Bauernhauptmanns, Meister Jakob Wehe’s, zu Leipheim, von dem Blutbad, das er die Donau hinauf unter ihren Brüdern angerichtet habe, von dem übermüthigen Blutdurst, den er überall gegen die Bauern zeige. Nicht abschreckend, sondern zur Wuth reizend wirkte die Sage von den siebentausend bei Wurzach Ermordeten, welche die Herren mit absichtlicher Uebertreibung ausstreuten, als abschreckende Siegesbotschaft. Die Hauptleute der Bauern betrachteten ihre Sache als einen gerechten Krieg des Volkes gegen die Herren, sie wollten auf dem Kriegsfuß behandelt sein, nach Kriegsrecht und Art. Weder der Truchseß, noch der Graf von Helfenstein, der während der Unterhandlungen ihre Brüder niederstach, achteten das Kriegsrecht gegen sie, die Bauern. Es schien nöthig, die Herren dazu zu zwingen, zu zwingen durch Repressalien, die zugleich eine Blutrache für den frommen Wehe, für die hingerichteten Hauptleute ihrer Brüder zu Leipheim und Langenau, für die Hingeschlachteten zu Wurzach, für die so eben auf dem Zug durch’s Weinsbergerthal während des Unterhandelns Erstochenen wären.

„Es war Verhängniß, daß Graf Ludwig von Helfenstein und Dietrich von Weiler, der Obervogt von Bottwar, der mit ihm in Weinsberg befehligte, diese Blutrache selbst auf sich herbeiziehen sollten.“

Wir übergehen hier die Unterhandlungen zwischen den Führern der Bauernschaft und dem Obervogt und dem Bürgermeister von Weinsberg, welche letztere nur verächtliche Antworten ertheilten. Das Nähere hierüber lese man in Zimmermann’s Werke selbst nach, und nur das Eine mag hier noch bemerkt werden, daß auf Dietrich von Weiler’s Befehl auf die Abgesandten der Bauern, die vor dem Thorhause von Weinsberg wegen einer Unterhandlung erschienen waren, gefeuert und einer derselben schwer verwundet wurde.

„Die Bauern“ – fährt Zimmermann fort – „standen während dieser Verhandlung in drei Haufen ruhig, aber in Schlachtordnung. Voran Florian Geyer mit der schwarzen Schaar; hinter ihm ein zweiter Haufen; die große Zahl der Bauern hielt noch gegen Erlenbach und Biswangen hin. Die Schüsse von der Mauer und dem Thorhause, welche einen der Gesandten blutig niederwarfen, waren das Signal; Florian Geyer mit dem schwarzen Haufen bewegte sich vor die Burg; der Haufen hinter ihm eilte vor die Stadt hinab, und der ganze große Haufen, der noch gegen Erlenbach und Biswangen hin stand, eilte im Sturmschritt heran.

„Auf der Ebene von Erlenbach schon hatte ein „schwarzes Weib“ den Segen über das Bauernheer gesprochen.

„Als eine ganz eigenthümliche Gestalt im Bauernheere ragte die Böckingerin hervor, die man unter dem Namen der „schwarzen Hofmännin“ in der ganzen Gegend kannte. Der Volkskrieg dieser Zeit hatte auch seine Heldinnen; und klebt ihr auch Blut und Grausen an, und scheint sie der Menschlichkeit fast wie der Weiblichkeit entwachsen, den Ruhm der Heldin hat selbst die Parteileidenschaft durch treue Aufbewahrung der Acten der schwarzen Böckingerin eher gerettet, als geraubt.

„Der Glaube ihrer Zeit und ihrer Umgebungen schrieb ihr geheime Kräfte zu: Zauberkünste, Segens- und Bannsprüche, einen Wahrsagergeist. Sie war des Bauernführers Jakob Rohrbach’s Freundin, Rathgeberin, Helferin, sein Sporn und sein mahnender Geist; oft stärkte sie ihn, wenn er wankend werden wollte: „er solle seines Vernehmens nicht nachlassen, Gott wolle es!“

„Den Adel haßte sie furchtbar. Was diesen Haß, diesen Durst nach Rache in der Brust dieser gewaltigen, leidenschaftlichen Bäuerin veranlaßte, ist unbekannt; sie ruhte nicht, bis sie das Landvolk unter den Waffen sah. Auch die Städter haßte sie, und besonders die stolzen Städterinnen von Heilbronn. Man hörte sie sagen, sie wolle noch den gnädigen Frauen die Kleider vom Leibe abschneiden, daß sie gehen wie die berupften Gänse. Sie trug es schwer, daß die Heilbronner den schönen Wasen zwischen Böckingen und der Stadt sich zugeeignet hatten, der lange gemeinschaftlich gewesen war. Sie klagte laut, „die von Heilbronn haben ihr und einer armen Gemeinde zu Böckingen das Ihrige gewaltsam genommen; das müssen und wollen sie jetzt denselben wieder abnehmen.“

Die Eroberung von Weinsberg ist bekannt. Wenn wir die Einnahme durch die Bauernhaufen und die von ihnen daselbst verübten Blutthaten bei unsern Lesern voraussetzen müssen, wenn wir unser Auge mit Abscheu von den schrecklichen Scenen abwenden, welche die von bitterem Grimm erfüllten Bauern nach errungenem Siege aufführten, zu dem zunächst Florian Geyer mit seinem schwarzen Haufen durch Eroberung des Schlosses das Meiste beigetragen, wenn wir der Ermordung des Grafen von Helfenstein, der mit dreizehn seiner adligen Genossen von den Bauern durch die Spieße gejagt wurde, nicht ausführlicher gedenken und unsere Leser abermals auf Zimmermann’s treffliches Werk hinsichtlich der Einzelheiten verweisen: so geschieht es nur, weil diese Episode zunächst nur dem Wirken Florian Geyer’s im großen Bauernkriege gilt.

„Nach Eroberung der Stadt“ – erzählt Zimmermann weiter – „verbrachte der Haufen mit Plündern, mit Trinken und Essen die Vormittagsstunden, und dabei ging das alte Welfenschloß in Flammen auf. Die Obersten aber saßen zusammen und hielten Kriegsrath. Darin stellte Florian Geyer den Grundsatz auf, man solle alle festen Häuser ausbrennen, und ein Edelmann nicht mehr denn eine Thüre haben, wie ein Bauer. Die Andern hatten kurz zuvor den Satz angenommen, daß alle Klöster abgethan werden, die Mönche backen und reuten müssen, wie die Bauern. Jetzt wollen sie zuerst auf Heilbronn ziehen und die Stadt in ihre Verbrüderung bringen, damit der Haufe vom Neckarthal von dieser Seite gesichert wäre; dann wollten sie durch das Mainzische auf Würzburg losgehen und, sei dieses gewonnen, alle Domherren, Pfaffen und den geistlichen Fürsten hinausjagen. Florian Geyer sah darin der Sache noch kein Genüge. Er glaubte, wenn das Volk frei werden sollte, müsse der Adel wie die Pfaffen den Bauern gleich gemacht werden, daß nur ein Stand würde auf deutschem Boden, der Stand der Gemeinfreien. Er erkannte es als eine Halbheit, nur die geistlichen Herren beseitigen zu wollen. Zwei Bäume waren es in seinen Augen, vor denen die junge Pflanze der Volksfreiheit nicht aufkommen konnte; er wollte beide zugleich umgehauen wissen, und nicht blos umgehauen, sondern entwurzelt, daß keiner ein Schoß mehr triebe. Darum drang er auf Zerstörung aller Herrensitze, der weltlichen wie der geistlichen. Florian Geyer war einer von den Wenigen, die im Bauernheere wußten, was sie wollten; und als er den Rittermantel ablegte und sein Schwert in die Schale des Volkes warf, wußte er, daß es ein Trauerspiel sein müsse, worin er jetzt mitzuspielen sich entschlossen hatte; aber er wollte nicht nur einen Act, sondern das ganze Trauerspiel, den Sturz nicht nur einer Seite der Herrschaft, sondern des, ganzen Herrenthums. Nur für die Freiheit des Ganzen war er, das Glied eines freien Standes, von diesem, der Ritter von der Ritterschaft, abgefallen. – –

„Nach der Blutthat von Weinsberg wird Florian Geyer’s Name nicht mehr im Bauernrathe genannt, und er trennt sich mit seiner schwarzen Schaar von dem hellen Haufen, an dessen Spitze einer der Schreckensmänner im Bauernheere, Jäcklein Rohrbach, stand.

„Florian Geyer hatte bisher, er hatte zuletzt bei der Erstürmung des Weinsberger Schlosses seine Tüchtigkeit bewährt, er war die eigentliche militairische Intelligenz im Haufen; in seiner schwarzen Schaar verlor der helle Haufen seine besten Kriegsleute, in Florian Geyer selbst nicht blos das einzige kriegsverständige Haupt, sondern den tüchtigsten, treuesten und redlichsten Führer, wie sie nie mehr einen bekommen konnten. Mit seinem Abgang war der Riß eröffnet, der sich von nun an zwischen den Unternehmungen des hellen Haufens und des großen fränkischen Heeres zum unberechenbaren Nachtheile der Volkssache zeigt.“

[87] Wir finden unsern Helden mit seiner schwarzen Schaar nach einem Zuge an die Tauber am Abend des 6. Mai zu Heidingsfeld, hart am Mainufer, im Angesicht des Frauenbergs, wieder, wohin am nächsten Tage in allerlei bunten Farben die zahlreichen Fähnlein des „hellen lichten Haufens vom Odenwald und Neckarthal“ unter Götz von Berlichingen und Georg Metzler zogen, um an der von Florian Geyer warm empfohlenen Eroberung des vor Würzburg gelegenen Frauenbergs Theil zu nehmen. Wir übergehen die Belagerung dieses wichtigen Punktes und wenden unsere Blicke auf den letzten Act der großen Tragödie, in welcher Florian Geyer und seine schwarze Schaar den Heldentod fanden.

„Wie mögen“ – spricht Zimmermann in seinem klassischen Werke über den großen Bauernkrieg – „die Bauern vom Odenwald und Neckarthal auf dem Wartberg bei Königshofen, das Heer des schwäbischen Bundes und die nahe Schlacht vor Augen, wie mögen die in den bedrohten Städten und Flecken umgeschaut haben nach der erwarteten, nach der verheißenen, nach der eilends herbeigerufenen Hülfe, nach den Fähnlein von Würzburg, nach Florian Geyer und seiner schwarzen Schaar! Aber dieser edle Geist, durch Tugend und Wort und militairische Kenntniß überlegen, hatte bei dem Bauernrath in Würzburg genirt, und sie hatten ihn ausgeschickt auf diplomatische Reisen und ihm das Schwert aus der Hand gewunden.“

Florian Geyer war auf einer Gesandtschaft an Markgraf Casimir von Ansbach-Bayreuth, um die Unterhandlung zur Verbrüderung zu beendigen und den Frieden zwischen ihm und seiner Bauernschaft im Aischgrund wieder herzustellen; am Samstag vor Pfingsten, den 3. Juni, kam Florian Abends zu Rotenburg an der Tauber an, wo er auf das Geleit des Markgrafen von Ansbach-Bayreuth warten wollte. Da riß ihn die Botschaft von der Nähe des Truchseß mit dem Heere des schwäbischen Bundes wieder auf’s Pferd. Er ritt die ganze Nacht hindurch und war vor Tagesanbruch des vierten Juni im Lager zu Heidingsfeld bei Würzburg.

Sowohl er, als die von Schweinfurt zurückreitenden Landtagsabgeordneten der Bauern sahen unterwegs mit Schrecken Abends den Himmel geröthet von einem Feuermeer gegen Schwaben zu: es waren die von dem Fürstenheer angezündeten Dörfer um Königshofen. Aber sie wußten noch nichts von der dasigen Schlacht und ihrer Brüder Untergang.

Je näher das Fürstenheer rückte, desto mehr verfiel Alles in Würzburg, sowohl unter der Bürgerschaft in der Stadt, als in dem großen vereinigten Bauernheer, das nun schon in die vierte Woche den Frauenberg belagerte.

Viele Bürger in der Stadt waren ganz kleinmüthig, so sehr sie bisher vorn dran gewesen waren. Andere, die bisher lautlos gewesen, gackerten und schnatterten jetzt: „Hab’ ich nicht vor dieser Zeit gesagt, man solle das Ende beachten? Wollte Gott, daß sich fromme, redliche Leute unser annähmen, daß wir zu Frieden kämen; wir sind sonst Alle verdorben, ermordet, verbrannt, vertilgt, Weib und Kind.“ Die Stiftsgeistlichen, deren viele in Würzburg zurückgeblieben waren, und welche die Spione und Verräther für die Belagerten auf dem Schloß gemacht hatten, schüchterten jetzt heimlich die Menge ein, machten sie mißtrauisch gegen die Obersten, beredeten die Einzelnen im Stillen, auf Unterwerfung unter den Bischof und den schwäbischen Bund zu dringen.

Die Mehrheit in der Stadt und draußen im Lager war so zaghaft und ungewiß, daß Viele meinten, der Zug gegen den schwäbischen Bund, ihren Brüdern am Neckar zu Hülfe, sei nicht zu wagen. Doch zogen die Hauptleute zu Anfang der Nacht vom 2. zum 3. Juni mit dem Heer aus. Zu Heidingsfeld sahen sie den Bauernhans aus Mergentheim athemlos daher reiten; er kam flüchtig von Königshofen und erzählte den Hauptleuten allein die Niederlage, so daß ihnen graute und sie schnell das Heer nach Würzburg zurückführten. Die zu Randesacker warfen die Ersten, die von Königshofen ankamen, in Fesseln und schickten sie als Lügner, als Ausreißer in’s Hauptquartier. Aber ihr Zeugniß stimmte mit dem des Bauernhans nur zu sehr überein. Da stahl sich dieser und jener davon, der bisher vorn daran gewesen war, und Bürgermeister und Rath zu Würzburg schrieben heimlich ein unterwürfiges Schreiben an den Truchseß. Nachmittags am 3. Juni ritt Einer ein, der sagte aus, es sei nichts, daß ihre Brüder vernichtet seien, sie lagern beisammen und harren auf Zuzug und Hülfe der Würzburger; und zu gleicher Zeit zog Gregor von Bernheim, der ebenso kriegskundige als tapfere Hauptmann, mit seinem Fähnlein vom Aischgrunde ein, die erzählten, wie der Markgraf vor ihnen geflohen sei. Das elektrisirte wieder etwas. Um 9 Uhr Abends zogen die beordneten Fähnlein wieder aus, Bruder Ambrosius gab ihnen den Segen, wie sie vor ihm vorüberzogen, und feuerte sie an, für Gottes Wort tapfer zu streiten. Zu Heidingsfeld ruhten sie die Nacht, aber in dieser Nacht entwichen wieder viele der Hauptleute und derer, die in Aemtern waren. Es war die höchste, es war die äußerste Zeit, daß der kühnste Heerführer der Franken, daß Florian Geyer mit dem grauenden Morgen daher jagte, und ehe die Sonne des Pfingstfestes heraufstieg, stiegen Gregor’s entschlossene Männer, eine Zahl Fähnlein des Heeres, darunter die der Würzburger und der Kitzinger Bürgerschaft unter Jakob Köhl und die Trümmer der schwarzen Schaar unter Florian Geyer, den Wald über Heidingsfeld hinauf, die Straße nach Röttingen zu. Dieser vereinigte Heerhaufe zählte jedoch nicht viel über 4000 Mann. Die andern Fähnlein waren vor dem Frauenberg zurückgeblieben. Sie hatten viel leichtes Feldgeschütz bei sich.“

(Schluß folgt.)




Das Haus der Büßerinnnen.
Von Gustav Rasch.

Es war ein heller, heitrer Wintertag, ein Tag voll Sonnenschein, blauen Himmels und milder Luft, wie ihn der Januar Norddeutschland selten zum Geschenk macht. Ich fuhr, wie ich es häufig thue, mit einem mir befreundeten Arzte in den Straßen Berlins umher, und ließ mir von ihm Freude und Weh in der praktischen Ausübung seiner Wissenschaft erzählen.

„Haben Sie denn schon einmal,“ fragte er mich, indem eine Krankheitsgeschichte voll Jammer und Elend ihn unwillkürlich auf den Gegenstand führte, „von dem Magdalenenstift gehört?“

„Gehört wohl,“ erwiderte ich, „aber wenn ich nicht irre, ist auch dieser neue Versuch der Humanitätsprincipien unseres Jahrhunderts eingegangen, er hat keine Erfolge gehabt. In Deutschland gibt es, außer dem hiesigen, nur noch ein solches Asyl, es heißt Bethesda und liegt bei Boppard am Rhein.“

„Nein, eingegangen ist es nicht, doch weiß ich auch nichts Näheres darüber. Johann, nach Magdalenenstift!“

Der Kutscher trieb die starken, braunen Mecklenburger an, der Wagen rollte im starken Tempo durch die Straßen und bald befanden wir uns am Unterbaum, passirten dort zu Fuß die starke Eisdecke der Spree und standen am andern Ufer. Vor uns dehnte sich das freie Feld aus, rechts erhoben sich in der Ferne die Zinnen und Thürme des pennsylvanischen Gefängnisses, links, mitten auf dem Felde, sahen wir einen von Bretern und Pfählen gebildeten Zaun, der, hier und da von Buschwerk umgeben und verborgen, einen ziemlich großen Raum in Quadratform umschloß. Es blieb uns nichts anderes übrig, als unseren Weg nach dem Zaun zu nehmen, um uns dann weiter zu orientiren. Wir waren richtig am Ziel unserer Wanderung angekommen. Eine kleine Melallplatte, im Sommer ganz im Gebüsch verborgen, trug die Aufschrift: „Eingang zum Magdalenenstift“, eine Klingelschnur hing daneben. Wir standen vor dem Hause der Büßerinnen.

Ich zog die Klingel. Ein lang verhallender Ton antwortete, und bald öffnete sich die schmale, unscheinbare Holzthüre, und in derselben erschien ein junges Mädchen mit blühendem, hübschem Gesicht, in einem einfachen Kattunkleide und weißem Brusttuche, und fragte, was wir wünschten.

„Wir wünschen die Frau Oberin zu sprechen, melden Sie uns an, mein Kind,“ erwiderte der Geheimerath und nannte seinen Namen. „Ist die Frau Oberin zu Hause?“

„Die Frau Oberin geht niemals aus,“ sagte das Mädchen und ging voraus. Wir standen im Innern der Umzäunung und hatten, bis sie zurückkam, Zeit genug, uns umzusehen. Vor uns [88] lag ein, wie es schien, wohlgepflegter Küchengarten, der sich nach allen Seiten hin bis an die Grenzen des etwa acht Fuß hohen Zaunes ausdehnte und eine Reihe theils einstöckiger, theils zweistöckiger Gebäude umgab. Das Ganze machte den Eindruck eines einfachen Landhauses mit einigen Wirthschaftsgebäuden. Eine friedliche Stille lag über dem ganzen Raume ausgebreitet, durch nichts als durch das Brüllen einer Kuh unterbrochen; Alles machte den Eindruck von großer Ordnung, Wirthschaftlichkeit und Sauberkeit. „Wenn der hohe Zaun nicht wäre,“ sagte ich zu meinem Begleiter, „glaubte ich mich in das Landhaus eines meiner Freunde versetzt, den ich einmal in der Nähe von London besuchte. Ich lernte ihn auf einer meiner italienischen Reisen in Venedig kennen.“

Ich hatte kaum ausgesprochen, so trat eine große Frauengestalt aus dem Hause. Sie war noch jung, noch nicht über die Mitte der Dreißig hinaus, ihre Gesichtszüge verriethen viel Intelligenz und Gutmüthigkeit, ihre schönen braunen Augen hatten einen seelischen Ausdruck. Ich mußte sie schon einmal irgendwo gesehen haben, in anderen Verhältnissen, in anderer Umgebung, vor zehn, fünfzehn Jahren, vergebens rieth ich hin und her, ich konnte den Platz für diese Gestalt in meinen Erinnerungen nicht wieder finden. Meine Gedanken irrten hin und her, immer blieben sie an der Schwelle eines glänzend erleuchteten Ballsaales stehen. Aber es war nicht möglich! Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet, ein schmaler, weißer Streif umschloß ihren Hals, ihr Kopf war mit einer weißen, kleinen, enganliegenden Haube bedeckt. „Ich bin die Oberin dieses Hauses,“ redete sie uns an, „die Herren wünschten mich zu sprechen?“

Der Geheimerath stellte sich und mich der Dame vor, und sprach ihr unsern Wunsch aus, das Stift und seine Bewohnerinnen zu sehen.

„Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, den Wunsch der Herren zu erfüllen,“ erwiderte die Frau, „wollen Sie erst in meine Wohnung kommen, damit ich Ihnen einige nähere Aufschlüsse gebe!“

Wir stiegen eine Treppe hinauf. Die eine Thür des Treppenflurs führte in die Wohnung der Oberin. Es waren zwei einfache Zimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. An das Schlafzimmer stieß ein zweites Schlafzimmer. Es standen drei einfach, aber sehr reinlich bezogene Betten darin. „Hier schlafen drei junge Mädchen aus diesem Hause,“ sagte die Oberin, „die ich ganz in meiner Nähe habe, da sie erst seit Kurzem hier verweilen und den Weg zur Besserung erst kürzlich betreten haben.“ Das Wohnzimmer war sehr einfach eingerichtet, ohne jeden Luxus; aber doch sah man an der Ordnung, Zierlichkeit und an einem gewissen Comfort, der sogar in dieser Einfachheit wieder zu erkennen war, daß hier eine Dame von Stande wohnte, welche ehemals in der Welt in ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte. Ich dachte wiederholentlich an den Ballsaal, ohne sie doch darin in einer bestimmten Gestalt wieder erkennen zu können. An der Wand hing ein gekreuzigter Christus, gegenüber über dem Sopha ein Kupferstich, ein Bild der Magdalena als Büßerin, nach der das Haus seinen Namen führte. „Wollen die Herren nicht Platz nehmen?“ sagte die Oberin und setzte sich mit dem Anstande einer Dame von Welt auf das Sopha. Der Geheimerath und ich ließen uns auf zwei am Tische stehende Rohrsessel nieder. „Ich werde Ihnen nun Einiges von diesem Hause und den hier befindlichen Mädchen erzählen,“ fuhr die Oberin fort.

„Das Haus ist von Ihrer Majestät der Königin gegründet worden, und steht auch noch heute unter ihrer besonderen Protection, sowie unter Protection der Frau Prinzessin von Preußen. Die meisten Mittel erhält die Anstalt aus Staatsfonds, welche der König dazu anweist. Die Beiträge, welche uns aus der Stadt zufließen, sind leider nicht von Bedeutung. Der Erwerb des Hauses für Wäsche und Handarbeiten, welche uns aus der Stadt zugeschickt und hier besorgt werden, beträgt durchschnittlich jährlich wenig über dreihundert Thaler. Für einige von den Mädchen, welche im Hause sind, werden von Freunden, Verwandten oder wohlthätigen Herzen Kostgelder bezahlt. Das Kostgeld beträgt sechzig Thaler jährlich. Jedoch übersteigt die Summe der Kostgelder auch kaum dreihundert Thaler alle Jahre. Der Ertrag der mit dem Hause verbundenen Feld- und Viehwirthschaft wird zur Ernährung der Mädchen verwandt und liefert zur Unterhaltung des Hauses bedeutende Beiträge. Unsere Einnahmen betragen an 4000 Thaler, unsere Ausgaben einige hundert Thaler weniger. Die Zahl der hier befindlichen Mädchen beträgt durchschnittlich 33–36, und die Unterhaltungskosten für jedes Mädchen schlagen wir jährlich zu 83 Thaler an. Sie sehen, meine Herren,“ schloß die Oberin lächelnd ihren kurzen Finanzbericht, „unsere Einnahmen übersteigen immer noch unsere Ausgaben, und der Fond, den wir haben, hat sich von fünfhundert schon auf anderthalbtausend Thaler erhöht. Leider erlauben uns unsere nicht bedeutenden Mittel nicht, soviel Plätze einzurichten, wie wir wohl einrichten möchten. Die Zahl der unglücklichen Mädchen, welche hier Aufnahme erbitten, oder für welche Andere dieselbe suchen, ist so groß, daß mindestens drei bis vier neue Asyle eingerichtet werden müßten.“

„Wie ist denn nun die Einrichtung dieses Hauses, Frau Oberin?“ fragte der Geheimerath. „Sie können doch unmöglich dieser großen Einrichtung allein vorstehen?“

„Nein, das wäre nicht möglich,“ erwiderte die Oberin des Magdalenenstiftes. „Ich werde in meinem Wirken von einem hier angestellten Prediger und vier Mithelferinnen unterstützt. Das Erbarmen mit einzelnen Unglücklichen, die uns nahe traten, und das Verlangen, dieselben zu retten, hat unser Magdalenenstift hervorgerufen, und auf dem Grunde dieses Erbarmens hat es sich weiter ausgebreitet. Es bietet gefallenen und sittlich verderbten Mädchen, die den Weg des Lasters verlassen wollen, eine Zuflucht. Die Mädchen werden hier fleißig zur Religion, zur Arbeit und Ordnung angehalten, so daß sie nach etwa ein bis zwei Jahren als brauchbare Dienstboten entlassen werden können. Wie ich Ihnen schon mittheilte, ist ein Prediger an der Stiftung angestellt, der außer dem sonntäglichen Gottesdienste im Betsaal des Hauses alle Tage Morgen- und Abendandacht hält. Ich selbst leite die ganze Oekonomie, die Beschäftigung und Erziehung der Mädchen und die Krankenpflege. Die Fürsorge für die Gesundheit hat ein hiesiger Arzt freiwillig übernommen. Die Mädchen werden durch die sechs Mithelferinnen, von denen Eine die Wirthschaft und eine Andere die Küche besorgt, fortwährend beaufsichtigt und zur Arbeit angewiesen. Die Arbeiten bestehen in Nähen, Waschen, Stricken, in Haus-, Garten- und Feldarbeiten. Um die Mädchen auch durch schwerere Arbeiten zu kräftigen, ist nämlich außer dem geräumigen Garten noch ein Stück Landes in der Nähe des Hauses gemiethet, welches unter Anleitung des Gärtners der Anstalt von ihnen bearbeitet wird. Dadurch wird zugleich der Bedarf an Gemüse und Kartoffeln, sowie die Erhaltung des kleinen Viehstandes der Anstalt bedeutend billiger erlangt. Da die meisten Mädchen bei ihrem Eintritt körperlich, wie geistig verkommen sind und nichts ordentlich verstehen, ist der baare Ertrag der Arbeiten verhaltnißmäßig ziemlich unbedeutend. Das Meiste wird noch durch Nähen erworben, worin Manche eine ziemliche Geschicklichkeit erlangen. Für geistige Förderung und Unterhaltung ist eine kleine Bibliothek guter christlicher Volksschriften vorhanden, woraus die Aufseherinnen bisweilen bei der Arbeit vorlesen und womit sich die Mädchen an Sonntagen und Festtagen, an welchen sie sich auch im Schreiben üben, beschäftigen. Auch wird der Gesang fleißig getrieben und in zwei Stunden wöchentlich darin besonderer Unterricht ertheilt. Im Sommer wird um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr aufgestanden, alsdann wird ein Spruch aus der heiligen Schrift vorgelesen und die aufgegebenen Schriftstellen oder Liederverse gelernt; darnach werden häusliche Arbeiten besorgt, und im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr gefrühstückt; eine Viertelstunde nachher versammeln sich Alle zur gemeinsamen Morgenandacht. Nach der Andacht beginnt der Unterricht, und nach diesem die Arbeit, die bis zwölf Uhr dauert. Alsdann findet das Mittagessen statt, worauf um ein Uhr wiederum die Arbeit beginnt, die um vier Uhr durch den Kaffee eine Viertelstunde unterbrochen wird, dann bis zum Abendessen um acht Uhr fortdauert und nach diesem noch bis neun Uhr fortgesetzt wird, worauf um halb zehn Uhr mit einer Abendandacht geschlossen wird. Nicht wahr, Herr Geheimerath, nun haben Sie auch ein Bild von unserer Hausordnung?“

„Ich habe neulich von einer anderen Hausordnung gelesen, Frau Oberin, auch in einem Zufluchts- und Besserungshause – es ist in Berlin am Alexanderplatz; aller Schmutz der Menschenseelen und der Armuth wird dort aufeinander geworfen, wie ein großer Kehrichthaufen, um für einige Zeit von der Straße zu verschwinden und dann in anderer Weise wieder zu erscheinen. Diese Anstalt könnte sich Ihre Hausordnung als Muster nehmen.“

„Alle, die in der Anstalt aufgenommen werden,“ fuhr die Oberin fort, „müssen sich derselben Ordnung unterwerfen und die [89] vorgeschriebene einfache Kleidung tragen. Auf Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit wird sorgfältig gehalten, und jeder Ungehorsam, sowie jede Lüge ernstlich gerügt und unter Umständen angemessen bestraft. Als das einzige rechte Mittel, von Sünden frei zu werden, sehen wir aber immer die wahre Herzensbekehrung an, und obwohl eine strenge Zucht für solche Personen, die nie an Zucht und Ordnung gewöhnt wurden, durchaus nothwendig ist, suchen wir doch bei aller Strenge überall die Liebe hervortreten zu lassen und uns vor gesetzlichem Methodismus zu hüten.“

„Sie haben von strengen Strafen gesprochen, Frau Oberin,“ unterbrach ich ihre Rede, „worin bestehen denn diese? Wenden Sie hier auch Schläge an, wie in allen Zuchthäusern und Besserungsanstalten? Gehen Sie auch von der Idee aus, daß das Menschenherz ohne Stockschläge keiner Besserung fähig ist?“

„O nein,“ gab die Frau mit lächelnder Miene zur Antwcrt; „hier waltet die Liebe in ihrer Barmherzigkeit, und nicht der Stock. Geschlagen wird hier nie. Wir haben oben im Hause eine Bodenstube – Sie sollen sie sehen, mancher Proletarier wohnt mit Frau und Kindern sein Lebelang in einer solchen Stube, – das ist unser Gefängniß, und die Gefängnißstrafe besteht darin, daß ein Mädchen, bei der alle Ermahnung und alle Liebe nichts hilft, dort oben einige Tage allein wohnt und allein schläft. Ich selbst bringe ihr dann Morgens, Mittags und Abends das Essen und nehme sie dann zu mir in das kleine Zimmer neben meinem Schlafzimmer, das Sie so eben gesehen haben.“

„Wann werden denn die Mädchen entlassen, und bleiben Sie mit ihnen auch nach ihrer Entlassung in einer Verbindung, um sie weiter zu beaufsichtigen und auf sie zu wirken?“

„Allerdings. Die Mädchen werden gewöhnlich nach zwei Jahren entlassen. Sie müssen sich aber nicht denken, daß sie gezwungen sind, zwei Jahre hier zu bleiben. O nein, gehen kann Jede, wenn sie will. Sie kommen freiwillig und gehen freiwillig. Das Haus der Büßerinnen ist keine Gefangenenanstalt. Auch beweisen fast Alle, die als gebessert entlassen sind, noch fortwährend Anhänglichkeit und Liebe zur Anstalt. Wir verschaffen ihnen dann durch unsere Verbindungen einen Dienst, bei Bekannten in der Stadt, aber am liebsten auf dem Lande, bei Predigern und Gutsbesitzern. Sie werden aber nur in solche Häuser gegeben, wo wir sie sorgfältig beobachtet und unter dem Einflüsse einer strengen Moralität wissen. Sie erhalten ihre Kleidung und ihre ganze Ausstattung für den Dienst von der Anstalt, und da ihr Lohn an dieselbe ausgezahlt und ihnen bewahrt wird, verdienen sie auch ihre Ausrüstung bald ab, und haben nach Ablauf der Zeit noch etwas erspart. Wir haben ein Mädchen hier im Stift gehabt, die sich hernach in ihrem Dienst über zweihundert Thaler erspart hat. Jetzt ist sie gut und glücklich verheirathet. Auch sind sie verpflichtet, wenn sie in unserer Nähe bleiben, wenigstens alle vierzehn Tage zum Gottesdienst in die Anstalt zu kommen. Zur Abendmahlsfeier kommen sie aus der Ferne halbjährlich. Wenn sie aber während der ersten Jahre erkranken, oder sich etwas zu Schulden kommen lassen, werden sie vorläufig wieder in die Anstalt zurückgenommen. Hier, lesen Sie die Bedingungen für die Herrschaften, welche Mädchen aus dem Magdalenenstift in Dienst nehmen.“

Mit diesen Worten überreichte die Frau Oberin mir ein gedrucktes Blatt, und ich las:

„Die Herrschaften verpflichten sich, die Mädchen vor sittlichen Gefahren möglichst zu behüten. Zu dem Ende ist den Mädchen alle Theilnahme an öffentlichen Vergnügungen und jeder andere Verkehr, als der mit der Anstalt selbst oder ein von derselben erlaubter, zu untersagen.

„Die Herrschaften zahlen den Lohn und etwaige Geldgeschenke der Mädchen vierteljährlich an die Anstalt. Die Mädchen dürfen durchaus kein Geld in Händen haben, und müssen auch das als Geschenk empfangene der Herrschaft übergeben. Ebensowenig dürfen sie ohne Wissen der Herrschaft Briefe absenden oder annehmen.

„Die in Berlin und der Umgebung wohnenden Herrschaften schicken die Mädchen mindestens alle vierzehn Tage zu dem Vormittagsgottesdienst, und wenigstens zweimal im Jahre zur Beichte und zum heiligen Abendmahl, wenn irgend möglich, für einen ganzen Tag, in die Anstalt; außerdem einmal in jedem Monat Sonntags Nachmittags und Abends und zweimal im Jahre an Festtagen der Anstalt. Die entfernter wohnenden Herrschaften lassen die Mädchen möglichst oft, mindestens jeden zweiten Sonntag, zur Kirche gehen, und geben ihnen zweimal im Jahre, um das heilige Abendmahl in der Anstalt zu feiern, zwei freie Tage.

„Wegen der Kündigung und Entlassung der Mädchen haben die Herrschaften sich nur an die Anstalt zu wenden. Wenn die Entlassung vor Ablauf der Wiederzugsfrist nothwendig ist, müssen die Mädchen der Anstalt überliefert werden. Bei Abwesenheit der Herrschaften oder in Krankheitsfällen können dieselben der Anstalt gegen eine billige Vergütigung übergeben werden.“

„Welche Resultate haben denn Ihre Bemühungen?“ fragte ich und gab der Oberin des Büßerinnenhauses das Blatt zurück. „Sind sie Ihren Wünschen entsprechend?“

„Meinen Wünschen entsprechend? Nein. Aber befriedigt würde ich sein, wenn ich jährlich nur ein einziges dieser elenden und verkommenen Geschöpfe retten könnte. Nach den Erfahrungen, welche ich hier gemacht habe, würden unsere Anstrengungen bei einem Drittel der Mädchen Früchte tragen, wenn Alle zwei Jahre hier blieben. Leider ist dies nicht der Fall, und so kann ich auch als Durchschnittszahl nicht ein Drittel annehmen. Wir erhalten hier die verwahrlostesten und elendesten Geschöpfe von der Welt, körperlich gänzlich ruinirt, moralisch auf’s Tiefste gesunken. In ihrer Seele toben alle schlechten Leidenschaften. Nur eine Eigenschaft haben sie nicht, die Demuth und den Gehorsam. Eitel, neidisch, zänkisch, unbändig, roh bis zum höchsten Grade, sind sie zuerst allen Ermahnungen und Bitten abhold. Ihre Seele muß erst durch die Liebe und durch die Religion gezähmt werden, bis wir bei ihr Eingang finden. Der Standpunkt der geistigen Bildung der Mädchen ist meistens gleich Null. Wir müssen alle Keime erst pflanzen und wecken, um darauf irgend eine Besserung zu gründen. Es werden uns oft Mädchen von dreizehn bis funfzehn Jahren gebracht, die von ihren Eltern und Vormündern schon gänzlich aufgegeben sind. Das Krankenhaus und das Gefängniß schickt uns die verworfenstes Geschöpfe, welche jede Stufe der geistigen und körperlichen Schande hinabgestiegen sind, und doch tragen unsere Bemühungen gerade bei ihnen oft die besten Früchte. In der That hat mancher dieser Unglücklichen niemals Jemand sich in rechter Liebe angenommen. Viele von ihnen sind von rohen und verkommenen Eltern, häufig von Stief- und Pflegeeltern, – manche haben wenigstens einen Vater niemals gekannt – von Kindheit an verdorben und ohne Erziehung, ohne alle Anweisung zur Arbeit und Ordnung im Elende aufgewachsen und schon früh zu der Sünde angeleitet worden. Soll es mir da nicht eine große Freude machen, wenn ich ein solches unseliges Geschöpf einem reinen und sittlichen Leben wieder zuführe, wenn ich ihre tiefgesunkene Seele aus dem Sumpf dieses Lebens errette? O, ich erlebe oft große Freude mit diesen Mädchen. Noch gestern erhielt ich einen Brief von Einer, welche jetzt schon mehrere Jahre von hier entlassen und bei einer befreundeten Gutsbesitzerfamilie im Dienst ist. Wie habe ich mich über diesen Brief gefreut! Sie war ein schönes, reizendes Geschöpf, tief gesunken, unbändig, voll schlechter Leidenschaften, und doch ist sie so brav, so vortrefflich geworden. Zu meinem großen Schmerze muß ich Ihnen freilich gestehen, daß oft alle Bitten und Bemühungen vergeblich sind. Niemand ist hier unfreiwillig. Jedes Mädchen kann gehen, sobald sie will. Die Thüre, durch welche Sie in unser stilles Haus getreten sind, steht Jeder offen. Ist sie gegen alle Vorstellungen des Predigers taub, setzt sie allen meinen Ermahnungen und Bitten Widerstand entgegen, so halten wir sie keine Stunde mehr fest. Nur die christliche Liebe soll die Mädchen mit diesem Hause verbinden, niemals der Zwang.“

So sprach die Oberin des Hauses der Büßerinnen und erhob sich. Die innere Erregung, mit der sie von den Freuden und Leiden ihres Hauses sprach, hatte ihr blasses Gesicht leicht geröthet. „Wollen Sie jetzt unser Haus und die Mädchen sehen, meine Herren?“ sagte sie, und bejahend standen wir auf. Von dem Treppenflur führte eine andere Thüre in ein Arbeitszimmer der Mädchen. Es war freundlich, warm und hell. Die Aussicht ging auf den Garten und das Feld. Um einen Tisch saßen sechs junge Mädchen, alle, wie es schien in dem Anfang der zwanziger Jahre, alle gesund, frisch und heiter aussehend, mehrere von sehr hübschen Gesichtszügen. Als wir eintraten, standen sie alle auf. Zerschnittene Kleiderstoffe lagen auf dem Tische, vor dem Tische saß eine junge Dame, in die Tracht der Helferinnen des Hauses gekleidet; sie trug ein schwarzes wollenes Kleid und eine weiße Schürze mit Brustlatz. Sie hatte ein Buch in der Hand, aus dem sie den Mädchen vorgelesen hatte. „Es gehen nächstens zwei von meinen [90] Zöglingen fort,“ sagte die Oberin, „und ziehen in einen Dienst; da besorgen wir nun die Ausstattung und nähen ihnen die Kleider, welche sie mitnehmen, und während der Arbeit liest Fräulein von ** vor.“ Dann sprach mein ärztlicher Freund mit einigen von den Mädchen, sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigend. Ich machte vor kurzem einen Besuch in dem Hause des Elends am Alexanderplatz, welches in der Acten- und Geschäftssprache der preußischen Büreaukratie sehr uneigentlich „das Arbeitshaus“ heißt. Als ich durch die Säle ging, in denen die liederlichen Mädchen detinirt werden, lachten sie mich an, kicherten mit einander und machten sich gegenseitig freche Bemerkungen. Die Mädchen, welche hier im Hause der Büßerinnen die Kleider ihrer scheidenden Genossinnen nähten, standen bei ihrem Eintritt wahrscheinlich auf einer weit tieferen Stufe der Verdorbenheit und Gesunkenheit. Und sie hatten die Schamlosigkeit und Frechheit auf ihren Gesichtern und in ihrem Wesen alle abgelegt. Niemand, der sie nicht kannte, wäre im Stande gewesen, die Geschichte ihrer Vergangenheit in ihren Zügen zu lesen. Es waren die Gesichter der reuigen Magdalena, nach der das Haus seinen Namen führt. Nichts, keine Bemerkung, keine Bewegung, erinnerte an ihre schreckliche Vergangenheit, Alle hatten das Aussehen fleißiger, sittsamer Arbeiterinnen. „Sind Sie zufrieden mit Ihren Zöglingen?“ fragte die Oberin Fräulein von **. „Ich habe nicht Ursache zu irgend einer Klage,“ erwiderte die Vorsteherin.

Dann gingen wir durch die Schlafzimmer, welche an das Arbeitszimmer stießen. Ueberall die größte Einfachheit, Ordnung und Reinlichkeit. Einige Mädchen gingen an uns vorüber, welche mit häuslichen Geschäften beauftragt waren. In ihrem Wesen war derselbe Ausdruck unverkennbar, wie bei den Mädchen in dem Arbeitszimmer, welche wir soeben gesehen hatten. Ueberall hätte man glauben sollen, man befinde sich in einer Pensions- oder Erziehungsanstalt für arme Mädchen. Es wurde dort unter Aufsicht und Mitwirkung einer Helferin die Wäsche gewaschen, welche der Anstalt aus der Stadt zur Besorgung zugeschickt wird. Welch ein Unterschied zwischen diesem Waschhause und dem Waschkeller des Arbeitshauses, dessen ich schon mehrmals erwähnt habe! Dort hatte ich die gemeinsten Schimpfreden und die frechsten Scherze gehört, welche mein Ohr jemals vernommen hat. Hier herrschte ein freundliches, ruhiges Wesen, ein gesittetes Benehmen; jede war mit ihrer Arbeit beschäftigt. Und doch waren es dieselben verwahrlosten Geschöpfe, welche ich in dem schrecklichen Waschkeller gesehen hatte. Die Milde und Erziehung, welche in den Räumen dieses Hauses herrschte, hatte ihre Herzen umgewandelt und veredelt. Eine Uhr schlug halb Eins. „Es wird gleich gegessen,“ sagte die Oberin; „wenn Sie wollen, können Sie bei unserem Mittagsessen gegenwärtig sein. Aber vorher, da Sie darnach gefragt haben, will ich Ihnen doch unser sogenanntes Gefängniß zeigen; Sie könnten sonst von hier scheiden und den Gedanken mitnehmen, daß wir unsere Erziehung mit strengen Strafen machten.“ Wir stiegen dann wieder die Treppe hinauf und kamen auf den Boden des Hauses. An der einen Seite desselben war eine kleine Bodenkammer abgetheilt. Es war ein kleines Stübchen mit der Aussicht in’s Freie. In demselben standen ein Tisch, ein Paar Stühle und ein sehr einfach bezogenes Bett. „Sehen Sie, dies ist unser sogenanntes Gefängniß, wenn Sie es so ansehen wollen,“ sagte die Oberin. Das Gefängniß sah aus wie die Stube eines armen Mannes, aber reinlich und hell.

Unten im Hause hatte das Mittagsessen bereits begonnen. Als wir den großen und freundlichen Saal betraten, fanden wir alle Mädchen an zwei weiß gedeckten, langen Tischen sitzend. Oben an dem Tische saßen die Vorsteherinnen des Hauses. Die Speisen bestanden aus Brühkartoffeln und Rindfleisch. Jedes Mädchen hatte einige Schnitte gutgebackenes Brod neben ihrem Teller liegen. Es schien Allen vortrefflich zu schmecken. Jede war nur mit ihrem Mittagessen und im leisen Gespräch mit ihrer Nachbarin beschäftigt. Keine Einzige richtete ihre Aufmerksamkeit auf uns, als wir in den Saal traten und mit der Oberin langsam zwischen den Tiscken durchgingen. Wenn ein Blick uns traf, so dauerte er nur eine Secunde. Wer in diesen Eßsaal trat, hätte, ohne es zu wissen, nie errathen, in welcher Gesellschaft er sich befand. Wir verabschiedeten uns von der Oberin und den Vorsteherinnen, und Erstere begleitete uns durch den Garten bis zu der kleinen Thüre, an der wir vor kurzem mit so großer Neugierde die Klingel gezogen hatten. Ich konnte nicht umhin, bevor wir den Garten verließen, der Oberin des Hauses meine Bewunderung auszudrücken über das, was ich gesehen und gehört hatte, und insbesondere meine Bewunderung über ihre eigene Aufopferung und Seelengröße, ihr Leben mit der Erfüllung einer so schwierigen Aufgabe hinzubringen, wie die war, welche sie hier übernommen hatte. „Darf ich wohl fragen,“ sagte ich, „wen ich die Ehre gehabt habe, heute kennen zu lernen, und jetzt meine ganze Bewunderung auszusprechen?“

Sie lächelte und sagte: „Ach, Sie wollen meinen Namen wissen, den ich einst in der Welt, jenseits der Mauern dieses stillen Hauses führte? Ich heiße von **.“

Verwundert sah ich sie an. Ich erkannte sie sofort wieder. „War Ihr Herr Vater nicht der Präsident von **, gnädige Frau?“ sagte ich.

„Ja wohl, mein seliger Vater war der Präsident von **. Kannten Sie ihn?“

„Ich hatte die Ehre, Ihren Herrn Vater zu kennen,“ erwiderte ich, nahm den Hut ab und verbeugte mich tief zum Abschiede. Fräulein von ** erkannte mich nicht mehr. Ich hatte sie oft früher in den glänzenden Gesellschaften der Residenz gesehen.

Die Thüre schloß sich hinter uns, und hinter uns lag das Haus der Büßerinnen, der stille Zufluchtsort für die elendesten und beklagenswerthesten Geschöpfe, welche auf Gottes schöner Erde leben. Wir gingen wieder zu dem Ufer des Flusses, und überschritten vorsichtig zum zweiten Male die ächzende Eisdecke. Drüben hielt unser Wagen. Dem Kutscher und den Pferden mochte die Zeit lang genug geworden sein. – – „Wissen Sie, Doctor,“ sagte ich zu meinem ärztlichen Freunde, als wir im gestreckten Trabe nach der Stadt zurückfuhren, „ich habe heute wieoer einen großen Menschen gesehen. Wie Sie wissen, durchstreifte ich im vorigen Jahre die östlichen Alpen und Ober- und Mittelitalien. Ich hörte in den Alpen von Geistlichen sprechen, welche an den Grenzen der Welt des Erstarrtseins wohnen, welche mitten in Eis und Schnee ein ganzes langes Leben der Seelsorge armer Bauern widmen. Ich dachte an die Säulenheiligen des Mittelalters, an jene unsterblichen Mönche und Einsiedler, welche in den ersten Zeiten des Christenthums ihr Leben für jene großen culturhistorischen Zwecke opferten. Ich stieg die Querthäler der Alpen hinauf bis zu den äußersten Grenzen der Vegetation, wo der erstarrende Tod nach den letzten Gräsern seine kalten Arme ausstreckt. Und was fand ich? Stupide Priester, welche ohne irgend eine hohe Idee ihrer großen Pflicht ihr Amt verwalteten, weil sie an dieser einsamen Stelle ihr kärgliches Brod aßen. Nur einmal fand ich in Italien einen Geistlichen, welcher, von dem Gedanken seines hohen Berufes begeistert, eine halbe Stunde von einer prächtigen, mit allem Luxus und allem Sinnenreiz geschmückten Stadt entfernt, einen schwierigen und mühevollen Beruf mit der ganzen Aufopferung eines begeisterten Menschen verwaltete. Es war der Pater Arzt in einem Irrenhause auf der kleinen Insel San Servolo in der Nähe von Venedig. Er gehörte zu dem Orden der Barmherzigen Brüder, und er hatte sich den Wahlspruch: „Fate bene fratella“ zu seinem Lebensprincip gewählt. Heute habe ich in der Oberin jenes stillen Hauses, welches wir soeben besucht haben, sein Ebenbild gefunden.“




Orthopädische Mittheilungen.
Von Dr. Paul Niemeyer.
(Zweiter Artikel.)

Es ist ein erfreulicher Fortschritt des Zeitgeistes, die Kenntniß der Krankheiten wenigstens in ihren äußersten Umrissen zu popularisiren, und die Gartenlaube hat diesen Fortschritt nicht am wenigsten gefördert. Möchte doch endlich auch in das noch so dunkle Gebiet der Orthopädie der Blitzstrahl der Aufklärung leuchten! dann würde manche Familie vor langjähriger Kümmerniß [91] bewahrt, manchem jugendlichen Gemüthe eine Reihe ungedeihlicher Jahre der körperlichen Folter und der geistigen Langeweile erspart, manche Summe Geldes zweckmäßiger verwendet werden; aber leider schwebt auch die gebildete Welt noch in einem Irrsale von Curansichten, welche sammt und sonders dazu angethan sind, ein gefürchtetes Leiden nicht nur nicht zu heilen, sondern sogar zu verschlimmern. In Nr. 26 der Gartenlaube von 1858 gaben wir bereits eine mehr systematische Darstellung der hohen Schulter (Skoliose) und legten besonderes Gewicht auf die Ansichten von der Entstehungsweise derselben; da dieser Punkt für die Behandlung fast allein maßgebend ist, so kommen wir hier sogleich wieder darauf zurück. Da heißt es noch immer, wenn an einem Kinde die rechte Schulter hervortritt: das liegt an dem übermäßigen Gebrauche des rechten Armes, wodurch das Rückgrat nach rechts herübergezogen wird; der rechte Arm darf gar nicht mehr in Thätigkeit gesetzt werden; das Kind muß fortan alles in der linken Hand tragen, mit der linken Hand schreiben, essen u. s. w. Welche Qual, zu der das arme Kind verdammt wird! welche Qual für die gewissenhafte Mutter, welche auf die strenge Ausführung dieses Gebotes zu halten hat! und dabei begünstigt dieselbe geradezu den Fortschritt der Rückgratverkrümmung!

Man gebe nur einmal dem skoliotischen Patienten ein mäßiges Gewicht, z. B. die gefüllte Schulmappe, abwechselnd in jeder Hand zu halten und überzeuge sich nun durch Besichtigung des bloßen Rückens, daß bei sothaner „Uebung“ des linken Arms die Krümmung nach rechts sogar bedeutender wird, während sie bei gleicher Belastung des rechten Armes weit geringer erscheint. Jene vielverbreitete Heilmaxime ist also so falsch, daß das Gegentheil derselben, die gefürchtete Mehrübung des rechten Armes, noch heilsam dagegen erscheint. Noch viele weitere Verkehrtheiten entspringen aus dieser Schultertheorie, namentlich die verschiedenen gymnastischen Uebungen, wie das so gebräuchliche Hängen an einem schwebenden Recke; die methodisirte Gymnastik hat überdies ein langes Recept von Arm- und Schulterübungen, welche die Skoliose heilen sollen – vergebens! die Schultern haben direct mit der seitlichen Rückgratverkrümmung gar nichts zu thun, und jede Cur, welche diesen Weg einschlägt, ist schon allein deshalb verwerflich, weil mit ihr die Zeit verthan wird, innerhalb deren etwas Positives, die Krümmung wirklich Beseitigendes geschehen könnte. Dieser Umstand macht aber auch die meisten an und für sich ganz wohlgemeinten und unschuldigen Maßregeln so verwerflich. Wer es erlebt hat, daß eine ganz geringe Rückgratabweichung binnen wenigen Monaten trotz hausärzlicher Fürsorge zu einer mächtigen Sförmigen Krümmung ausartet, der wird nicht mehr sprechen: „hilft es nichts, so schadet’s nichts,“ sondern er wird mit uns sagen: „hilft es nichts, so schadet es doppelt!“

Mit jener Phrase beruhigen sich aber viele Eltern, wenn sie, einer beiläufigen hausärztlichen Verordnung folgend, zu jenen Einreibungen greifen, welche kaum mehr als eine oberflächliche Reizung der Haut bewirken, während die Krümmung dabei ihren ungestörten Fortgang nimmt. Alle acht Tage besieht der Hausarzt den Rücken und findet ihn stets „entschieden gebessert“, während gegentheils der Familie und den besuchenden Verwandten die schiefe Haltung immer mehr auffällt. So erschreckt, beschließt man endlich, noch eine ärztliche – gewöhnlich eine chirurgische – Autorität zu Rathe zu ziehen, und durch diese gelangt man dann in den Besitz einer Maschine; diese ist entweder ein Stützapparat für den Tag, oder ein nächtlicher Streckapparat, oder beides zugleich – und kostet sehr viel Geld; möchte sie nur auch recht viel helfen! Anfangs zwar hat der Apparat etwas sehr Bestechendes, indem er die Schultern mehr heraushebt und die einseitige Haltung des Oberleibes der Außenwelt verbirgt; aber sollte sich der menschliche Leib, dieser lebendige Organismus, wirklich ganz den Beschränkungen einer vielleicht auf todte Mechanismen anwendbaren Vorrichtung fügen? Man befühle nur einmal den bloßen Rückgrat selbst, nachdem ihm die Maschine – es sei, welche es wolle – angelegt worden; ist die Krümmung darin um ein Haar geringer? – Wenn sich der Schiefe nicht eigenwillig hält, die Maschine allein macht ihn nicht gerade, und ihr ganzer Nutzen besteht etwa darin, daß sie durch ihren Federdruck den Schiefen an die gerade Haltung erinnert und ihm hierbei eine geringe mechanische Nachhülfe gewährt. Insofern wird sie bei verständigen Schiefen zur Unterstützung der Cur einigen Vortheil bringen, aber mit der Maschinenbehandlung einzig und allein wird keine Radiralcur erzielt.

Die Radicalcur der Skoliose entspringt aus ganz anderen Gesichtspunkten, als sie den so eben besprochenen Curmethoden zu Grunde liegen. Die hohe Schulter ist eben kein körperliches, sondern ein moralisches Uebel, wie wir in dem vorigen Artikel ausgeführt haben; sie wird erst secundär zu einem körperlichen Gebrechen, aber die herkömmliche Behandlung nimmt immer gleich dieses in Angriff und läßt die Ursache unberücksichtigt; sie glaubt einen Baum auszurotten, indem sie die Wurzeln stecken läßt; sie kennt den alten Satz: sublata causa tollitur effectus nicht. Darum sehen wir im Contrast mit den immer mehr sich ausbreitenden orthopädischen und gymnastischen Anstalten die Buckligen an Zahl eher zu- als abnehmen; in großen Städten sehen wir täglich, ja stündlich, Menschenkinder an uns vorübergehen, welche, mit gesunden Anlagen geboren, durch bloße Versäumniß zu Krüppeln geworden sind. Jedem nachdenkenden Beobachter muß es auffallen, daß die Skoliose in ihrer Verbreitung nicht die Norm der körperlichen Krankheiten befolgt, daß ihre Statistik mit den Culturzuständen der Menschheit zusammenfällt. Unsere naturwüchsigen Vorfahren kannten die Krankheit nicht und die Naturvölker der Gegenwart sind ebenfalls davon verschont; erst mit der „Civilisation“ ist sie in’s Land gekommen; sie existirt nur in den Städten, und auf dem Lande höchstens bei den städtisch erzogenen Kindern des „Grundbesitzes“. Zu ihrer gänzlichen Verhütung muß der gesammte Erziehungsplan, sowohl der öffentliche, als der private, mitwirken, oder aber der Arzt muß den Zögling beständig im Auge behalten, und von diesem Gesichtspunkte aus ist die Existenz orthopädischer Institute wohl motivirt. Auf dieses Capitel zurückzukommen, behalten wir uns für ein anderes Mal vor.




Die Schlummerstätte der Gräfin Rossi (Henriette Sontag).
Von Louise Ernesti.

Bereits im Jahre 1855, als ich in den Zeitungen las, daß die Leiche der in Mexiko am 17. Juni 1854 verstorbenen Gräfin Rossi, gebornen Henriette Sontag, nach Europa geschafft und in dem Kloster Marienthal beigesetzt worden sei, wo ihre einzige Schwester als Nonne lebt, hegte ich den Wunsch, diesen stillen Ruheplatz der berühmten, einst so gefeierten Sängerin kennen zu lernen. Zu jener Zeit dem Kloster Marienthal, das zwei Meilen von Görlitz liegt, zu fern, brachte erst der Herbst 1859, als ich auf einem nur wenige Stunden von Görlitz entfernten Gute zum Besuch war, die Erfüllung meines damaligen Wunsches.

In Begleitung einer ebenso muntern, wie geistvollen Reisegefährtin trat ich in der Frühe eines klaren Octobermorgens die Fahrt nach Marienthal an. Daß diese Reisegefährtin eine Verwandte meines alten Lieblings, des Feldmarschall „Vorwärts“ war, wußte ich; doch daß das Blücher’sche Blut so vorherrschend in ihren Adern sei, wie ich fand, hatte ich nicht gefürchtet. Wie ihr kühner Verwandter in der Schlacht mit Todesverachtung vorwärts eilte, so Fräulein Thekla auf dieser Reise! – – ich hatte gehofft, in Görlitz jene berühmte Wallfahrtsstätte früherer Zeiten, die von dem Bürgermeister Georg Emmerich im Jahre 1480 nach einem genauen Grundrisse des heiligen Grabes zu Jerusalem angelegte Nachbildung besuchen zu können; doch – ich sah dieses Görlitzer heilige Grab ebenso wenig wie die andere in der Stadt berühmte Ruhestätte des durch seine theosophisch-theologischen Schriften bekannt gewordenen Jakob Böhme. Die Parole des Tages lautete bei meiner Reisegefährtin nur auf „Marienthal“, und dahin eilten wir ohne Rast vorwärts, vorbei an der so wundersam geformten hohen Landskrone bei Görlitz, auf deren höchster Spitze noch der letzte Wartthurm von der einst so stolzen Burg der Herrn von Uechtritz emporragt; – vorbei an jenem altaristokratischen Fräuleinstift „Radmeritz“, dessen schönes Portal und stattliche Fronte ich nur durch die Gruppen der alten mächtigen Linden [92] schimmern sah, die das schöne schloßähnliche Gebäude umgeben. Von Radmeritz, dem Grenzorte Preußens und Sachsens, fuhren wir über Ostritz nach Marienthal. Der Weg ist hübsch und anmuthig, die Gegend überaus freundlich, doch wenig belebt. Je tiefer man in das von Bergen eng umschlossene, reizende Neißethal eindringt, in dem das Cistercienserkloster St. Marienthal liegt, desto stiller und einsamer wird es rings umher. Wir sahen auf der ganzen letzten Strecke nach Ostritz weder einen Menschen, noch ein anderes lebendes Wesen; wir vernahmen kein anderes Geräusch, als das Rollen unseres eigenen Wagens. Vergeblich lauschte ich dem Tone eines Vogels; vergeblich wünschte ich, um wenigstens etwas Leben und Bewegung zu haben, daß ein Windstoß die dunkeln, düstern, tannenbewaldeten Berge durchrauschen oder das goldige Laub von den schlanken Birken schütteln möchte, deren weiße Stämme hier und da zu Seiten des Weges auf dem grünen Rasen aufstiegen. Es sang und pfiff aber kein Vogel, es rauschte und regte sich nirgends ein Blatt. Am weiten Horizont zog keine Wolke; sondern licht, rein und klar wölbte sich der blaue Aether über dem einsamen, todtenstillen Thale. Die Natur stand im passendsten Einklang mit der friedlichen Lage des Klosters, dessen Mauern wir erst sahen, als wir an der Thür der Klosterschenke ausstiegen, welche fast dicht an die Klosterpforte stößt.

Kloster Marienthal.

Marienthal – Mariae vallis – eins der wenigen noch übrig gebliebenen Denkmale mittelalterlicher Frömmigkeit, liegt, genau bezeichnet, im königlich sächsischen Markgrafenthume Oberlausitz, am linken Flußufer der Neiße, die das Kloster im Süden und Osten umfließt. Von drei Seiten wird es dicht und enge von Bergen umschlossen, und malerischer und hübscher, aber zugleich abgeschiedener und einsamer kann so leicht kein Kloster liegen. Es macht einen friedlichen, tief poetischen, jedoch grenzenlos melancholischen Eindruck.

Gestiftet wurde das Kloster im Jahre 1234 durch die Königin Kunigunde von Böhmen, Tochter des römisch-deutschen Königs Philipp von Schwaben. Sie war dem Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach durch ihren Vater verlobt worden, zum Lohn und Dank fur viele wichtige Dienste, die Jener ihm geleistet; doch als sich König Philipp eine vortheilhaftere Verbindung eröffnete, brach er sein gegebenes Wort und vermählte 1206 seine Tochter dem Böhmenfürsten Wenceslaus, Sohn des Königs Przimislaus Ottokar.

Der verschmähte Pfalzgraf rächte sich an dem wortbrüchigen Könige. Zwei Jahre später ermordete er ihn in Bamberg, und seine Tochter Kunigunde hielt sich der Sitte jener Zeit gemäß verpflichtet, dieser blutigen That ein Sühnopfer zu bringen. Sie errichtete das Kloster Marienthal. Die übrigen Schicksale desselben darf ich wohl, als nicht zur Sache gehörig, hier übergehen.

Der Klosterhof ist von Mauern umschlossen, mit großen Rasenplätzen bedeckt, auf welchen einzelne Kugelakazien und wenige kleinere Gebüsche stehen. Ein Brunnen mit hoher Säule, die oben eine vergoldete Gestalt trägt, befindet sich in der Mitte des Hofes. Das leise Plätschern eines in das Bassin fallenden Wasserstrahls und das Klappern eines Mühlrades überbieten sich an eintönigem Geräusch. Außer einigen zerlumpten Bettlern zeigte sich kein lebendes Wesen auf dem großen freien Platze. Hell und glänzend beschien die Sonne Rasen und Bäume; ihre lichten Strahlen tanzten glitzernd auf dem sanft bewegten Wasserspiegel des Bassins und umleuchteten zum Theil freundlich die hellgrauen Mauern des Klosters und die weißgetünchten Wände der Gebäude.

Die stattlichsten Gebäude des Klosters bestehen in dem eigentlichen Kloster mit zwei Flügeln, der Wohnung der Aebtissin, der schönen Kirche mit Thurm, der Wohnung des Propstes und den großen weitläufigen Wirthschaftsgebäuden, die sich im länglichen Halbrund um das Kloster herumziehen. Die Kapelle im linken Flügel des Klosters, Kreuzkapelle genannt, enthält die Gruft, in der Henriette Sontag beigesetzt ist.

Machen die Baulichkeiten des Klosters schon vom Hofe aus gesehen einen großartigen Eindruck, so wird derselbe noch um ein Bedeutendes erhöht, wenn man von dem dicht an der Klostermauer aufsteigenden Stations- oder Calvarienberg auf Marienthal herabblickt. Von da aus gesehen, zeigt sich das Kloster in seiner ganzen weiten Ausdehnung; dort werden all die Gebäude sichtbar, [93] welche die Häuser auf dem von mir entworfenen Bilde zum Theil verdecken. Vom Calvarienberge aus zeigen sich auch die Marienthal umschließenden Berge in ihrer ganzen Schönheit. Man hat da nicht allein eine volle Ansicht des im tiefsten Thale unendlich poetisch liegenden Klosters, sondern man sieht hinaus über die dunkle romantische Bergschlucht mit der sie durchströmenden Neiße, weit hinab in die flache Ebene, hin zu der im blauen Aether verschwimmenden Ferne.

Marienthal vervollständigt auf diesem mit den herrlichsten Bäumen bepflanzten Calvarienberge den Eindruck, den man auf der Fahrt dahin empfängt. Es bietet ein Bild des tiefsten heiligsten Friedens, einer Ruhe und Abgeschlossenheit, wie man sie vielleicht an wenig Orten der Erde in erhöhterem Maße finden kann – aber zugleich ein Bild so tiefer, so grenzenloser Melancholie, wie ich es noch in meinem Leben nicht durch die Natur ampfangen habe. – Es liegt dort in Allem die namenloseste Trauer, die unaussprechlichste Wehmuth, und das auf der Rheininsel so einsam liegende, von Fels und Berg umschlossene, von Wellen rings umrauschte Kloster Nonnenwerth, es scheint mir gegen Marienthal ein Sitz heiterer Freude, lachender Lust zu sein!

An dieser stillen, von der Welt abgeschiedenen Stätte begraben zu sein, ist der Wunsch der Gräfin Rossi gewesen – und er ist erfüllt!

Sie ruht in der Gruft der Kreuzkapelle, die klein und etwas düster ist. Das Hauptlicht dringt durch die außerordentlich schön gearbeitete Eingangsthüre von Gußeisen ein, die sich zur linken Seite der Kapelle zeigt. Die an der rechten Wand der Kapelle befindliche Thüre, wie auch die Fenster, sind dem Lichte und der Luft unzugänglich. Im Innern der Kapelle befindet sich an dieser rechten Seite ein Altar. Ueber ihm erhebt sich ein mächtiges, von großer goldener Sonne umgebenes Kreuz. Zu beiden Seiten tiefe Nischen mit lebensgroßen Statuen. Die Eine, in Nonnentracht, schaut mit selig verklärtem Antlitz zum Himmel auf, die Andere, in weltlichem Gewande, ringt mit Gebehrden der Trauer und Verzweiflung die Hände. Beide Statuen geben auf vortreffliche Weise ihren innern Seelenzustand zu erkennen, und es ist, als erzählten sie dem Beschauer in gedrängter Kürze ihre friedlichen und stürmischen Lebensschicksale.

Dem Altar gegenüber ist der Eingang in die Kapelle vom Kloster aus. Er führt in die Sakristei, und dort sah es wüst und schauerlich aus. Ueber der Sakristei ist eine vergitterte Loge, die wiederum mit den obern Räumen des Klosters in Verbindung steht. Von dieser Loge aus hat die Nonne Juliane, einstmalige Nina Sontag, die Beisetzung ihrer Schwester in die Gruft mit ansehen dürfen. Die Beisetzung hat am 4. Mai 1855 stattgefunden, nachdem es endlich den Freunden des Grafen Rossi in Mexiko gelungen, den Sarg mit der Leiche einer an der Cholera Verstorbenen an Bord eines Schiffes zu schmuggeln.

Welche Schwierigkeiten es gemacht, des Grafen Rossi Wunsch zu erfüllen, die irdischen Ueberreste seiner Frau in deutscher Erde begraben zu sehen, – das mag man wohl ermessen, wenn man bedenkt, wie abergläubisch alle Schiffer sind, wie sie nie eine Leiche an Bord haben mögen, die, wie sie fürchten, Verderben auf sie herabzieht. Nun noch gar die Leiche einer an der Cholera Gestorbenen, vor welcher Krankheit man jenseits des Meeres eine noch größere Furcht empfindet, als in Europa! Die Schwierigkeiten wurden endlich überwunden. Im stillen Kloster fand Henriette Sontag die letzte Ruhestatt, und im Beisein der ihr theuersten Personen auf Erden verschwand der Sarg, der ihre sterbliche Hülle barg, in dem Dunkel des Propstgewölbes von Marienthal.

Der Sarg von Henriette Sontag, welcher den Bleisarg umschließt, in den sie nach ihrem Ableben in Mexiko gebettet worden, – ist außerordentlich schön. Auf dem Deckel liegt zu Häupten ein Kreuz mit der Gestalt des Erlösers, tiefer unten über einer Tafel mit Inschrift ein goldener Lorbeerkranz.

Die Inschrift lautet:

Hier ruhet in Gott

Henriette Sontag.
Vermählte Gräfin Rossi.
geboren zu Coblenz, den 3. Januar 1806.
gestorben zu Mexiko, den 17. Juni 1854.

R. I. P.

Dir war das reinste Erdenglück beschieden,
Kunst, Anmuth, Liebe wanden Dir den Kranz.
Nun ruhest Du in Gottes heil’gem Frieden
Umstrahlet von des Paradieses Glanz.
Für Deine Lieben hast Du Dich dem Tod geweiht.
Des Lebens Kron’ ist Dein, Dein ew’ge Seligkeit.

Zu Füßen des Sarges ist am Deckel in erhabener Arbeit das gräflich Rossi’sche Wappen angebracht und unter demselben, etwas tiefer, eine goldene, von Lorbeerzweigen umgebene Lyra. Der Sarg selbst trägt außer den christlichen und auf den Tod bezüglichen Emblemen noch einige auf der Künstlerin Ruhm, dann eine Inschrift, welche auf das liebenswürdige, engelhafte Wesen, das in ihm ruht, wohl nicht leicht besser hätte gewählt werden können. Sie lautet:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der
Liebe nicht, so wär’ ich ein tönend Erz. Die Liebe hört nimmer auf.“


Den goldenen Lorbeerkranz, den der Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz auf das Grab von Henriette Sontag gesandt, haben die Worte begleitet:

Der besten Gattin und Mutter.
Der treuesten Freundin.
Der schönsten und liebenswürdigsten Frau.
Der größten Sängerin.


Mit einem seltsamen Gefühle schaut man auf diese einsame Ruhestätte jener von Tausenden so hoch gefeierten Künstlerin, die von frühester Jugend auf das bewegteste Leben geführt, Städte und Länder durchzogen und zuletzt jenseits des Meeres im fernen, fremden Lande starb, nachdem noch einmal die wundersamen Laute ihrer Stimme in zwei Welten erklungen waren, sie noch einmal im Tempel des Ruhmes sich unvervelkliche Lorbeeren gepflückt hatte.

Ein günstiges Geschick hat sie immer begleitet, ein seltenes Geschick ist ihr dadurch im Leben und Tode zu Theil geworden, daß sie stets ein geliebtes, theures Wesen zur Seite hatte. In ihrer frühesten Jugend war das sie schützende und leitende Wesen ihre Mutter, dann wandelte sie weiter an der Hand der Liebe und Treue, starb selbst im Arm des Gatten und im Tode ruht sie nun unter dem sie bewachenden Auge der einzigen Schwester, die vermöge ihres Gelübdes nie die stille Friedensstatt des Marienthaler Klosters verläßt.

Eine poetischere, friedlichere Grabstätte, in Bezug zur Lage des Ortes, kann man schwerlich finden. Des Klosters Lage läßt nichts zu wünschen übrig, – der Begräbnißplatz von Henriette Sontag – nach meinem Gefühle – Vieles! Ich kann nicht sagen, daß mir die Gruft in der Kreuzkapelle einen angenehmen oder wohlthuenden Eindruck gemacht hätte. Der Ort hat etwas zu Düsteres – nichts feierlich Erhebendes. Vielleicht muß man, um dieses Gefühl dort zu empfinden, Katholikin sein oder eine Vorliebe für Beisetzung in Grabgewölben haben. Ich bin nicht Katholikin, und eine Todtengruft ist mir etwas Entsetzliches! – Auf mich machte also die hölzerne, mit Eisengriffen versehene Doppelthüre am Fußboden der Kreuzkapelle einen unangenehmen Eindruck. Das verlassene, verödete Aussehen der Kapelle, die bestäubten Betstühle, die verblichenen Altardecken, die welken Blumen, vor Allem die Luft, der Mangel an Licht erhöhten diesen Eindruck.

Wie schön ist dagegen ein grüner Rasenhügel unter Gottes freiem Himmel, den die frische Luft umweht, die Sonne bescheint und auf den Mond und Sterne herableuchten!

Während ich, die Grabstätte von Henriette Sontag zeichnend, auf dem Klosterhofe saß, Sonnenschein Berge, Bäume, Rasen und Häuser umleuchtete, und ich die reine Herbstluft einathmete: da erschien mir die düstere Todtengruft doppelt schauerlich, doppelt unangenehm. – Immer mußte ich denken, warum man Henriette Sontag, die so froh und heiter gewesen, die so leicht und glücklich durch’s dunkle Leben gegangen, nicht ein Grab unter Gottes freiem Himmel gegeben! – Ihre Erscheinung soll licht und sonnig, wie der junge Tag gewesen sein, – ihre Stimme den schmelzend weichen Klang der Nachtigall mit dem klaren reinen Jubellaut der Lerche auf wunderbar schöne Weise vereinigt haben! – Warum begrub man sie also wohl nicht, wo der erste Lichtstrahl des Tages ihr Grab küssen konnte, wo Nachtigall und Lerche, denen sie Klang und Ton abgelauscht hatte, über ihrem Grabe ihr Lied erschallen lassen konnten? – – –

Meine Fragen müssen verstummen, wenn ich daran denke, daß [94] die eigenen Verwandten diese Ruhestatt ausgewählt haben, und meine Trauer, das lebensfrohe Wesen in dem düstern Gewölbe zu wissen, verwandelt sich in Wehmuth, wenn ich daran denke, daß die strengen Ordensregeln die Nonnen fest an’s Kloster binden und ihnen nie einen alleinigen Spaziergang in Gottes freier Natur erlauben. Allein in die Loge der Kreuzkapelle darf aber wohl eine Nonne gehn, und somit kann Nina Sontag ungestört das Grab der Schwester besuchen. Für sie wird sich gewiß die düstere Stätte des Todes mit dem sonnighellen Lichte der Erinnerung umgeben und aus dem tiefen Schatten des Gewölbes eine so freundliche Gestalt aufsteigen, daß sie über diese die finstere Schattenseite der Umgebung vergißt.

Welche Vorliebe Henriette Sontag selbst für das Marienthaler Kloster gehabt, beweisen am besten ihre Besuche, die sie dort zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens gemacht. So oft sie konnte, entriß sie sich dem Trouble der großen Welt, dem stets vielfach an sie Anspruch machenden Leben, um in dieses stille, einsame Thal zu eilen. Freudig verließ sie Ehre, Glanz, Ruhm, das in der Welt ihr Theil war, gern brachte sie Glück, Freude, irdische Seligkeit zum Opfer, das sie im häuslichen Kreise aufgab, um einige Zeit im Kloster zu verleben. Dort harrte ihrer nie eine laut jubelnde Menge, dort erwartete sie kein Lorbeerkranz, keine Huldigung! Da fand sie von all den Herzen, die warm für sie schlugen, nur eins, das ihrer einzigen Schwester! – Was muß das Herz ihr gewesen sein, daß sie es zu Zeiten für Alles hingab! – Sie, die so Vieles besaß, die Alles hatte, was das Leben reich, schön und werthvoll macht, sie vermißte dennoch unter all den Gaben, mit denen das Glück sie überschüttet, jenes eine Herz, das sich Gott geweiht und dem Himmel ergeben. Darum eilte denn die in der Welt so hoch geachtete Dame, die von ihrem Gatten und ihren Kindern geliebte Frau, die von Allen gefeierte Künstlerin fort aus der lichten glänzenden Sphäre ihres Lebens, hin in die engen Mauern eines abgeschiedenen Klosters.

Dort war sie weder die Frau des Gesandten, noch die berühmte Künstlerin, sondern einzig und allein Schwester, Schwester der Nonne! In stiller Zelle sang sie mit dieser geliebten Schwester die Lieder, die sie einst als fröhliche harmlose Kinder im Hause der Eltern gesungen; dort sangen sie zusammen die Duette, die sie einst vereint auf der Bühne gesungen, und dort besprachen sie auch die Ereignisse ihres Lebens, den Gang ihrer Laufbahn, die Wendungen ihres Geschickes, – ihre Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft.

Verschieden sind die Geschicke der Menschen, verschieden waren es die der Schwestern Sontag, wie auch stets ihre Neigungen und Ansichten verschieden gewesen sind. – Henriette Sontag hing mit ganzer Seele an Leben, Welt und Bühne, froh und freudig erfüllte sie die Pflichten ihres Berufes, ihre Laufbahn war eine helle, rosige, und Kränze des Ruhms wurden ihr gewunden, wo ihre Stimme erklang, die Herzen flogen ihr entgegen, wo ihre liebliche Erscheinung sich zeigte. Aus der Bahn des Ruhmes zog sie im Zenith ihres Glanzes sich zurück, wählte den Pfad der Liebe, und das Glück blieb auch dort ihr Begleiter! – Nina Sontag sehnte sich dagegen immer fort aus dem Leben der Bühne und dem Geräusche der Welt. Ihr Ziel war ein ernstes, – für sie entfaltete die Welt umsonst ihre heitern Reize, und ihr Herz fand erst Befriedigung, als der Nonnenschleier ihre Gestalt umhüllte und ihre Seele die göttliche Weihe empfangen hatte.

Wohl den Menschen, die ihr Ziel auf Erden erreichen und mit der Wendung ihres Geschickes zufrieden sind! – Beide Schwestern Sontag waren zufrieden. Liefen auch in ihrer frühesten Jugend ihre Wünsche nach entgegengesetzten Richtungen, – in der Liebe zu einander begegneten sich ihre Herzen immer; – mochten auch in spätern Jahren ihre Wünsche und Hoffnungen ein verschiedenes Ziel haben, sie einigten sich in dem einen Wunsche, in der einen Hoffnung, eine vereinte Ruhestätte in Marienthal zu haben.

Für die Erfüllung dieses Wunsches wirkte Gräfin Rossi durch ihre Liebenswürdigkeit. Sie entzückte und bezauberte die Nonnen im Kloster ebenso, wie sie es in der Welt mit allen Menschen gethan. Sie sang sich in die frommen Herzen, wie in die weltlichen. Nicht allein standen die Nonnen lauschend in den Gängen des Klosters, wenn die zauberisch schönen Stimmen der Schwestern in der kleinen Zelle erklangen, sondern sie hörten sie auch in dem großen Saale singen, wo die Aebtissin musikalische Abende arrangirt hatte und Gräfin Rossi bereitwillig sang, was man zu hören verlangte.

Zu jener Zeit ahnte Gräfin Rossi wohl nicht, daß sie noch einmal wieder aus dem stillen Kreise des häuslichen Lebens heraus und in die Oeffentlichkeit treten würde. Im Jahre 1849 geschah, was sie und Niemand geahnt und geglaubt hatte! – Ihren Kindern zur Liebe brachte sie das Opfer, um sich und ihrem Mann ein sorgenfreies Alter zu verschaffen, betrat sie von Neuem die Bühne, die ihr ein Vermögen in Aussicht stellte, das sie verloren.

Vor ihrer Reise nach Amerika 1852 war Gräfin Rosst zum letzten Male in Marienthal. Da hörten die Nonnen auch das letzte Mal den schönen Gesang der beiden Schwestern. Am Schlusse des Duetts aus der Norma sagte die Gräfin zu der Nonne, die so wunderbar schön gesungen hatte, daß nicht allein die Schwester, sondern Alle bezaubert waren: „Wenn Du mir doch Deine wundervolle Stimme geben könntest, Nina!“ Die von der Nonne gegebene Antwort lautete: „Wie gern thäte ich es, da Du etwas aus ihr machen könntest, was mir nie gelungen ist!“

Der Grund, daß Nina Sontag mit ihrer schönen Stimme keinen der Erfolge erzielt hat, wie ihre Schwester, soll ihre nicht zu besiegende Befangenheit und Aengstlichkeit gewesen sein – ihre Unlust zum Bühnenleben! – Jetzt, wo sie ihre Stimme nur zur Ehre Gottes, zum Lobe des Höchsten erhebt, ist jede Spur von Scheu und Angst von ihr gewichen. Der wahrhaft himmlische Klang ihrer Stimme entzückt jetzt noch oft die Hörer. Athemlos lauschend soll stets beim Gesange der Nonnen in der Kirche die Menge dasitzen, und Viele glauben, wenn sie die Töne von Schwester Julianens Stimme vernehmen, daß ein Engel auf dem Chore singe und sein Lied mit dem der frommen Nonnen vereine.

Auch ohne die Stimme der Schwester mit in die Ferne zu nehmen, errang sich Gräfin Rossi, als sie nach beinahe zwanzigjähriger Pause abermals die Bühne betreten, Triumphe, wie sie sie in gleicher Weise als Henriette Sontag gefeiert hatte.

Mit dem Vorsatze, jedem ihrer vier Kinder ein Vermögen von 100,000 Thalern, und für sich und ihren Gemahl die Summe einer halben Million zu ersingen, soll sie zum zweiten Male öffentlich aufgetreten sein. Die unerhörten Anerbietungen der Londoner Direction der italienischen Oper haben diesen Entschluß in ihr erregt.

Nachdem sie 1849 in London, später in Paris, dann außer in Wien und Berlin in allen Hauptstädten Deutschlands mit dem größten Erfolge gesungen, schiffte sie sich, um die sich gestellte Aufgabe zu lösen, am 25. August 1852 in Begleitung ihres Gatten mach Amerika ein. Die Aufnahme, welche sie dort fand, ließ den glühenden Enthusiasmus der Europäer noch hinter sich zurück. – Man empfing sie bei ihrer Landung in New York wie eine Fürstin, und jede mögliche Huldigung wurde der talentvollen deutschen Künstlerin von den Amerikanern zu Theil.

Sie trat außer in New-York in Philadelphia, Boston und mehreren andern bedeutenden Städten Amerika’s auf. Im April 1854 kam sie nach Mexiko, wo sie den Beschluß ihrer theatralischen Laufbahn machen wollte. Im Sommer beabsichtigte sie zu ihren Kindern zurückzukehren, die sie in Europa zurückgelassen hatte. Der Tod setzte dort im fernen Lande ihren Plänen, Wünschen und Erwartungen ein Ziel. Während ihrer Anwesenheit in Mexiko gestaltete sich die Cholera, die seit 1850 dort von Zeit zu Zeit epidemisch wüthete, furchtbarer, als sie seit lange gewesen. Sie forderte viele Opfer und ergriff am 11. Juni auch die Gräfin Rossi, die Tags zuvor noch blühend und gesund gewesen und in der Probe zur Lucretia Borgia gesungen hatte. Schon am 17. starb sie in den Armen ihres verzweifelnden Gatten.

Am Tage nach dem Tode der Gräfin Rossi erschienen in Mexiko sämmtliche Zeitungen mit einem Trauerrande, und der „Heraldo“ brachte eine Vignette, die einen weinenden Engel darstellte, der ein Grabkreuz mit einem Lorbeerkranze schmückte. Die Todesanzeige war in spanischer Sprache abgefaßt, und zugleich versuchten einige Worte den Schmerz zu schildern, den man allgemein über den Verlust der berühmten Künstlerin empfand.

Von der Art und Weise, wie Gräfin Rossi im fernen Lande verehrt und betrauert worden ist, gibt folgender Artikel aus einer mexikanischen Zeitung Zeugniß:

„Mit Thränen im Auge und Trauer im Herzen schreiben wir unsern zweiten und letzten Bericht über die von zwei Welten bewunderte Künstlerin, die wie ein glänzendes Meteor am europäischen Himmel aufging, dort Jahre lang als Stern erster Größe leuchtete [95] und noch in vollem Glanz sich gegen Abend wendend, am tropischen Himmel Amerika’s entschwand. Henriette Sontag, Gräfin Rossi, die unvergeßliche große Künstlerin, die anspruchslose liebenswürdige Frau, die, wo sie sich nur zeigte, Alles durch den Zauber der Kunst und ihrer Persönlichkeit beherrschte, schläft den tiefen Schlaf des Todes. Mexiko, der letzte Schauplatz ihrer Triumphe, ward ihr Grab. Uns fehlen die Worte, die Bestürzung, den Schmerz und die tiefe Trauer zu schildern, welche die ganze Bevölkerung ohne Ausnahme an den Tag gelegt; in allen Familien fließen Thränen, als ob jede eine ihr theure Verwandte verloren. Wo zwei Welten trauern, scheint uns jeder Trost unmöglich, kleinlich, ja verletzend. Wie eine Heilige haben wir die würdigste aller Priesterinnen der Kunst verehrt, so wollen wir auch ihr Andenken wahren und ehren wie das einer Heiligen.“

Die deutsche Liedertafel in Mexiko übernahm die Anordnung des Begräbnisses. Den Zug eröffnete der mit vier Pferden bespannte Trauerwagen. Ihm folgte der Musikverein der Franzosen, dann die Mitglieder der deutschen Liedertafel, welche den mit Blumen geschmückten Sarg trugen. Der vom Sarge ausgehende Trauerflor wurde von vier Künstlern der Oper gehalten. Im unabsehbaren Zuge folgten die übrigen Leidtragenden, das ganze Opernpersonal, sämmtliche Mitglieder des deutschen Clubs, viele angesehene Fremde und die Mexikaner. Mehrere hundert Equipagen beschlossen den Zug, wie er so zahlreich noch nie in Mexiko vertreten gewesen, noch nimmer so feierlich gesehen worden. In der Kirche San Fernando ist der Sarg von der anwesenden Geistlichkeit und dem Opernorchester empfangen worden. Nach dem abgehaltenen Todtenamt stimmte die deutsche Liedertafel das Lied „O Sanctissima“ an, und unter diesen Klängen wurde die Leiche in der Kapelle beigesetzt, wo sie so lange bleiben sollte, bis sich ein Schiff fand, das den Transport nach Europa übenehmen wollte.

Einen seltsamen Contrast zu diesem prachtvollen Leichenbegängniß in Amerika bildet die auf deutschem Boden im Marienthaler Kloster veranstaltete kleine Feierlichkeit bei der Beisetzung Gräfin Rossi’s.

An einem klaren, sonnenhellen Maimorgen wurde der mit Kreuz und Lorbeerkranz geschmückte Sarg über den stillen einsamen Klosterhof in die Kapelle getragen und in die dunkle Gruft nieder gelassen! – – Anstatt jener Tausende von Fremden, anstatt alles Luxus und Glanzes, anstatt der ganzen mexikanischen Geistlichkeit in der prachtvollen Kirche zu San Fernando, eine kleine düstere Kapelle eines abgelegenen Klosters, am verwitterten Altare ein das Todtenamt verrichtender Geistlicher, in den dunklen Betstühlen aber eine Mutter, der Gatte, die Kinder und Brüder der Verstorbenen, und über dieser kleinen Welt von unnennbarem Weh und unsagbarem Schmerze, hinter den vergitterten Fenstern einer Loge in der Höhe der Kapelle, die einzige Schwester im Nonnenschleier! –

Welches Begräbniß ergreifender gewesen, wo die Trauer erschütternder – ich glaube nicht nöthig zu haben, es anzudeuten.

Die Sängerin, die Künstlerin wurde in Mexiko, – die Frau, Tochter, Mutter, Schwester in Marienthal begraben! – Ob sie nun auch in dunkler Gruft eines entlegenen Klosters den ewigen Schlaf des Todes schläft, – gestorben ist sie darum nicht, denn Henriette Sontag lebt in all den Herzen, die sie gekannt haben, und als leuchtender Stern wird ihr Name für ewig am Horizonte der Kunst strahlen.




Blätter und Blüthen.


Ein „echter Bürger“. In das kleine Stückchen Weimarische Erde, wo im Tode vereint der große Karl August, Schiller und Goethe ruhen, dicht neben seinem fürstlichen Herrn und Freunde, ist vor Kurzem ein Mann eingesenkt worden, der es wohl verdient, daß wir einen Kranz auf sein enges Bett legen. War er auch nur ein einfacher Mann, dessen Verdienste kein Geschichtsbuch einst aufzählen wird, – die „Gartenlaube“ richtet ja nicht nach Orden, die eine Brust bedecken, sondern nach den Thaten, die von dem Menschen und seinem Herzen Zeugniß geben.

Als wir vor einigen Monaten das Schillerfest feierten und mit Sorgsamkeit alle Personen und Schriftstücke aufsuchten, die uns ein Bild jener großen Zeit des kleinen Weimars geben konnten, fanden sich nur Wenige noch, die aus eigner Anschauung von dem geistigen Glanze jener Epoche erzählen konnten. Der alte Hoffmann, wie man in Weimar allgemein den Besitzer der Hofbuchhandlung nannte, war einer der Letzten, die jene Glanzperiode fast von Anfang an bis zu Ende mit durchlebt und in ihr thätig mitgewirkt hatten. Bereits 1802 an der Spitze seines Geschäfts, das er nur auf ausdrücklichen Wunsch des Herzogs Karl August und dessen Mutter, der bekannten Herzogin Amalia, übernahm, war er mit allen Herren der damaligen Zeit: Schiller, Goethe, Wieland, Schopenhauer, Kanzler Müller, Bertuch, Einsiedel, St. Schütze etc., theils befreundet, theils in täglicher geschäftllicher Verbindung. Sein Fürst, der große Karl August, beehrte ihn mit einem so unbedingten Vertrauen, daß er ausdrücklich den Befehl erließ: „den Hoffmann unangemeldet in sein Arbeitscabinet eintreten zu lassen,“ eine Erlaubniß, von der dieser fünfundzwanzig Jahre bis zum Tode des Großherzogs Gebrauch machte, und zwar, wie er mit Stolz hinzusetzte: „nicht in Frack und Schuhen, sondern im langen Rock und Stiefeln“ – In den Jahren 1806 bis 1812 benutzte der deutschgesinnte Fürst, der fortwährend gegen Napoleon conspirirte, den gewissenhaften Mann oft zur Besorgung der geheimsten, aber auch gefährlichsten Correspondenzen und Aufträge, deren Entdeckung demselben unbedingt das Schicksal seines Collegen Palm bereitet haben würde. Wir kennen einige Episoden aus jener Zeit, die ein so herzerquickendes und seltenes Bild eines schönen Verhältnisses zwischen Fürst und Unterthan abgeben, daß uns nur Rücksichten der Pietät veranlassen können, sie nicht zu veröffentlichen. Die Liebe zu diesem großen Fürsten war lange nach dessen Tode in dem zweiundachtzigjährigen Greise noch so lebendig, daß er keine größere Freude kannte, als von dem „alten Herrn“ zu erzählen, mit dem er so viele schöne Stunden verlebt hatte. Und diese Liebe trug sich auch in der Folge auf den genialen Sohn des alten Herrn über, den noch jetzt lebenden Herzog Bernhard von Weimar, mit dem er in späteren Jahren oft bis tief in die Nacht zusammen auf den Holzstühlen seinen Geschäfts saß und von alten vergangenen Zeiten plauderte, die für Beide eine reiche Quelle schöner Erinnerungen boten. Karl August belohnte seine Anhänglichkeit mit dem Rathstitel und der goldenen Verdienst-Medaille.

Was er als Buchhändler leistete, gehört nicht hierher, obwohl seine Firma lange Zeit zu den hervorragendsten den deutschen Buchhandels gehörte. Die „Reise des Herzogs Bernhard von Weimar nach Amerika“, Kotzebue’s literarisches Wochenblatt (jetzt Blätter für literarische Unterhaltung), Kotzebue’s Reisen um die Welt, Herder’s Briefe über das Studium der Theologie, mehrere Predigten desselben Verfassers, des bekannten Rationalisten Röhr Schriften und noch viele andere verdienstliche Werke gingen aus seinem Verlage hervor. In den zwanziger Jahren hatte er in Verbindung mit den Gebrüdern Hahn in Hannover den Ankauf der Goethe’schen Gesammtwerke für 100,000 Thaler contrahirt, welches Abkommen indeß durch die Machinationen eines bekannten Weimarischen Herrn wieder vereitelt wurde. Interessant ist, daß sein Geschäft bereits seit 1725, mithin jetzt 135 Jahre in den Händen der Hoffmann’schen Familie ist, die dasselbe stets in demselben Locale, dem Hause des Malers Lucas Kranach, dessen Arbeitsstübchen jetzt noch zu sehen ist, betrieben hat. Bereits 1852 feierte der „alte Hoffmann“ sein fünfzigjähriges Jubiläum als Chef seiner Handlung.

Wir haben es indeß hier weniger mit dem Buchhändler, sondern mehr mit dem Menschen und Bürger zu thun. Der alte Hoffmann war einer jener Männer, die in dem Munde des Volkes sehr bezeichnend als „echte Bürger“ leben und gelobt werden. Witzig, derb und stets schlagfertig, wenn es galt, seine Meinung zu vertheidigen oder im Rathe der Gemeinde sein Votum abzugeben, verbarg er unter der Maske des Humors und des Scherzes ein so warmes Herz für die Leiden seiner Mitmenschen, daß er keine Gelegenheit vorübergehen ließ, wo es Noth that, mit Rath und That beizuspringen. Ein rastloser Helfer der Bedrängten, ein treuer Freund der Armen, wie und wo er sie fand, gab er oft mehr, als seine Mittel erlaubten, und Schreiber dieser Zeilen kennt manchen Bauer, dessen abgebrannte Ställe und Scheuer mit der Unterstützung dieses Ehrenmannes aufgebaut sind. Als im Jahre 1810 eine Pulverexplosion einen großen Theil von Eisenach zerstörte, war es der alte Hoffmann, der, mit der Büchse in der Hand, allein an 6000 Thaler für die Beschädigten sammelte und ihnen außerdem noch Kleider, Brod und Betten sandte. Das war damals, wo es keine Zeitungen gab, oder das einzige dort existirende Blättchen doch nur in 120–150 Exemplaren gelesen ward, nicht so leicht, als jetzt, wo durch einen warm geschriebenen Aufruf einer vielgelesenen Zeitung mit Leichtigkeit und ohne persönliche Bemühungen Tausende gesammelt werden. Die „grüne Büchse“ des alten Hoffmann, wenn sie bei Gelegenheit einer Wassers- oder Feuersnoth in der Stadt umherging, oder in der Buchhandlung aufgestellt war, war bekannt im ganzen Lande, und von allen Seiten flossen ihr reichliche Gaben zu. So gelang es dem einzelnen Manne, in dem Jahre 1814 bedeutende Summen für die Familien der Kämpfer des Vaterlandes zu sammeln; er war es, der zuerst in Weimar einen „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ anzündete, und an ihn wendeten sich die Gemeinden, die von Feuer oder Wasser heimgesucht waren und ihrer Noth kein Ende wußten. So oft auch seine Hülfe in Anspruch genommen wurde, er ward nicht müde und ließ nicht nach im Betteln für die Armen und Bedrängten und legte schließlich selbst aus eigenen Mitteln bei, so viel oder so wenig er eben entbehren konnte, wenn die Sammlung zur Deckung der vielen Ansprüche nicht ausreichen wollte. Wie viele Thränen verschämter Armen er getrocknet, wissen nur die, welche ihm ganz nahe standen.

Als vor einigen Wochen der 82jahrige Greis in den Armen seines einzigen geliebten Sohnes starb, waren es die Thränen der Armen, die seinen Sarg benetzten, und ein Leidtragender hatte sehr Recht, als er weinend sagte:

„Er war einer von den Bravsten der Braven und hinterläßt keinen Feind! Wir haben ihn nie in der Kirche gesehen, aber er war ein Mensch in der schönsten und edelsten Bedeutung des Wortes!“



[96] Trappen-Jagd in Klein-Asien. In der kleinasiatischen Türkei, wo so viele kleine Staaten und einst blühende Kulturvölker begraben übereinander liegen, gibt’s wenigstens noch ein üppiges Naturleben. Gräser und Blumen, Gesträuch und Wald, nicht abgeweidet, kaum betreten während eines ganzen Jahres, sprießen im Frühlinge immer wieder mächtig und üppig aus der von Wind, Wetter und Winter niedergedrückten Schicht des vorigen Jahres hervor. Es fehlt oft Tage lang an Menschen, desto lauter und bunter freut sich das ungestörte Gethier des Waldes und Feldes seiner Freiheit und seiner Fittige. Das Wild mit Flügeln ist ersten Ranges. Die Trappe (große und kleine Art) bildet in den großen Ebenen das herrschende Geschlecht. Hinter wild verwachsenen Teichen und Flüssen schlagen wilde Gänse und Enten, Kreuzschnäbel, rothhalsige Speckenten, kleine, listige Kriechenten, Wald- und Feldschnepfen, Kibitze und unzählige andere Sumpf- und Wasservögel oft den tollsten Lärm großer Städte in der menschenlosesten Einsamkeit. Auf dem Felde machen Hasen ihre „Mätzchen“ im Mondschein, bewundert von Hamstern, Wieseln und anderm friedlichen Wild ihrer Art, die nicht solche Kunststücke machen können, wie Herr Lampe, der Hase, in seiner ungestörten Mondscheinlust.

Die wenigen Türken, die zwischen den kleinasiatischen Städten das Land bewohnen, aber nicht bebauen, schießen sich, was sie von diesem Wild brauchen, aber auch nicht mehr. Es wird ihnen sauer mit ihren krummen Beinen und den alten schlechten Flinten mit Feuerstein, die hier von verschiedenen europäischen Soldaten her ihr Ende finden. Nur Wenige haben doppelläufige, deutsche oder französische Percussions-Jagdfiinten.

Nur wenn Engländer oder sonstige Europäer zum Jagen kommen, wird der Türke manchmal zu ungewöhnlicher Anstrengung und Waidmannnlust aufgeregt und ist dann wenigstens in der Theorie oft sehr nützlich. Das wilde Geflügel ist ungeheuer pfiffig und vorsichtig, und es gibt keine größere und feinere Kunst, als die Pfiffigste und scheueste aller feinen Bratensorten, die Trappe, zu belauschen und ihr auf Schußweite nahe zu kommen.

Die große Trappe bevölkert im Sommer ungeheuere wilde Steppen Rußlands und zieht im Winter südwärts bis zu den Gestaden der Dardanellen. Der Sicherheit wegen lassen sie sich – stets in geordneten Stämmen und geschlossenen Gesellschaften, wie es scheint – mitten in größeren Ebenen nieder, und halten nach allen Seiten Wache, um sich bei Annäherung der geringsten Gefahr sofort auf die Flügel zu machen. Trappen von sechzehn bis zwanzig Pfund sind nichts Seltenes und eine Delicatesse. Deshalb hat man längst Mittel und Künste aufgefunden und scheut keine Strapazen, sie doch zu überlisten und sich den Braten herunter zu holen.

Der Engländer Sagah schildert eine solche Trappen-Jagd vom vorigen Winter. Der Tag war hell und kalt, mit einem leichten Nordostwinde, Grund und Boden hart und mit Schneewellen geweißt. Ich, ein Freund und Hafiz Bey, ein junger Türke, brachen gut vorbereitet auf. Mein Gewehr war ausgezeichnet, Hafiz hatte ein altes Feuergewehr, das nach meiner Meinung ihm selbst gefährlicher war, als den Trappen. Kaum zwei Meilen von dem Hause unseres Consuls fangen die großen Ebenen von Arisha an, auf denen König Xerxes sein berühmtes Heer (auf das er sich verließ) paradiren ließ, ehe er auf der Schiffbrücke nach Griechenland übersetzte, um sich dort sehr schlagen zu lassen. Wir gingen bis zu einer leichten Anhöhe in die Ebene hinein und beschatteten unsere Augen, um ringsherum in die weiße Weite hinein zu spähen. Der junge Türke machte die erste Entdeckung: „Dort seh’ ich sie,“ rief er. „Eine ganze Gesellschaft. Ich glaube, sie merken uns. Nieder, nieder! Geschwind!“ Und wir warfen uns nieder und krochen auf Schnee und Eis zu den nächsten Sträuchen und Büschen. Unser Bursche saß zu Pferde und blieb sitzen, ohne daß die Trappen, etwa anderthalb englische Meilen von uns auffliegend, Furcht vor ihm zeigten. Sie geniren sich nicht so leicht vor Thieren, sagte er. Auch vor ganzen Schaaren Menschen, die im Felde arbeiten, fliehen sie nicht. Nur den einzelnen, vorsichtig und mit mörderischen Gedanken aufschauenden Jäger scheinen sie überall sofort auf große Entfernung zu erkennen und seine Absicht zu wittern.

Nichts interessanter, als so eine Trappengesellschaft auf dem Boden zu beobachten, wie ich’s jetzt konnte. Den Wachen vertrauend, die sie auf zwei entgegengesetzten Seiten aufstellen, laufen und weiden die andern ganz sorglos umher, bis plötzlich, offenbar auf ein uns unbemerkbares Zeichen der Wache, alle zugleich zu laufen und zu fressen aufhören, ihre Köpfe, wie auf Commando eines Unterofficiers, emporstrecken und alle in derselben Richtung halten. Dies ist der Moment ihrer Flucht. Aber sie steigen nicht mit einem Male empor, sondern nach einer unbeweglichen Stille von höchstens zwei Sekunden zu je Zweien oder Dreien, und dies mit keiner Ueberstürzung.

Wie überlegen zeigen sie sich dem Menschen! Großen Gefahren gegenüber auf Schiffen und bei einem Feuer, z. B. im Theater, werden Tausende intelligenter Menschen wie wahnsinnig und zerquetschen und erdrücken sich, oder hindern wenigstens jeden mit Geistesgegenwart und Umsicht versuchten wirklichen Rettungsplan. Die Trappenheerde war uns näher geflogen und hatte sich etwa 500 Yards vor uns niedergelassen. Hier beobachtete ich sie, hinter Gestrüpp verborgen. Zugleich führten wir unsern Angriffsplan aus. Wir krochen auf dem Bauche nach verschiedenen Seiten ab, versteckt durch eine kleine Erhebung, die zwischen uns und den Trappen lag, um sie zu umzingeln. Der Bursche ritt in einem großen Halbcirkel um sie herum, um sie von der entgegengesetzten Seite her nach uns hin aufzuscheuchen. Er ritt mitten in sie hinein. Dies war die Spitze unserer Waidmannslust und Aufregung. Mein linker Flügel (ich war in der Mitte) feuerte seine beiden Schüsse zuerst ab. Dies brachte den Schwarm in andere Richtung, zu meiner höchsten Freude nach mir her. Ich lag mit pochendem Herren, bis ich den ersten Vogel just über mir sah. Jetzt sprang ich auf, zielte kaltblütig nach dem größten und dann nach einem zweiten. Mit schwerem Schlage, von welchem der Schnee aufstob, klatschten zwei Trappen nieder, ganz todt. Nur ein Jäger versteht meinen Stolz und meine Freude. Beide ganz todt. Nur zwei Schüsse und jeder von vollkommenster Wirkung. Kein Gezappel, kein Todeskampf. Auch mein Freund brachte eine Frucht seiner Arbeit, aber nur eine, der junge Türke kam nur mit einer geschwollenen Backe, aber mit leeren Händen.

Wir wiederholten unsere Manoeuvres den ganzen Lag, aber ohne weiteren Erfolg, nur daß wir einige Trappen verwundeten. Es ist nicht leicht, sie todt zu treffen. Ihr Gefieder ist ungeheuer dick und kugelfest, so daß schwache und fern gehende Ladungen oft ganz wirkungslos abprallen. Auch an späteren Tagen wiederholten wir unsere List und Kunst, oft gegen 4–5 Gesellschaften von 100 bis 300, und im Durchschnitte mit erfreulicher Ernte; aber das Kriechen und Liegen im Schnee ist auf die Dauer kein Spaß und ganz und gar unthunlich, wenn die Sonne während des Tages etwas erweichend gegen Schnee und Boden wirkt.

Deshalb gingen wir bald auf eine weniger waidmännische, listigere Methode über. Wir stopften mehrere der geschossenen Trappen kunstgerecht aus und stellten sie in bequemer Schußweite von bedeckten Gruben auf, in welchen wir lauerten und lauschten, bis bald diese, bald jene lebendige Gesellschaft herankam, offenbar neugierig, was diese einzelnen, ruhigen Collegen mit ihrer steifen, vereinsamten Position und Gebehrde bedeuten sollten. Ich hatte diese leichte und sehr erfolgreiche Methode schon in den Umgegenden von Samsun und Trebisond kennen gelernt. Beide Arten von Trappen, die große und die kleine, werden auf diese Weise angelockt und geschossen. Letztere sind von der Größe eines Huhns und weit feiner im Geschmack und Aroma, als erstere, aber beide gehören zu dem Besten, was geflügeltes Wild für Tisch und Gaumen zu liefern vermag. Wie mehrere der geflügelten Schaaren Kleinasiens, besonders Kriech-Enten, Kreuzschnäbel etc., während des Winters in „geheimnißvollen englischen Lockteichen“ überlistet und abgethan werden, das haben wir in einem früheren Jahrgange zum Besten gegeben.




Ein Lebenslauf. Am 9. Jan. starb in Wien der letzte directe Sprößling des freiherrlichen Stammes v. d. Trenk, preußischer Linie, die Nichte des unglücklichen Abenteurers, der im Beginne der greßen französischen Revolution unter der Guillotine sein Leben verlor, und somit auch eine Verwandte des österreichischen Pandurenführers, der aus dem Spielberg starb – Frau Edle v. Kuschieke, geborene Freiin v. d. Trenk, im 87. Lebensjahre und in solch’ tiefer Armuth, daß ihr Leichnam von der protestantischen Gemeinde A. C., deren Pfründnerin die Verstorbene auch gewesen, gratis zur Erde bestattet werden mußte. Ihre Lebensgeschichte ist eines der ergreifendsten Beispiele von den Wandlungen menschlichen Geschickes, von der Vergänglichkeit stolzester Geschlechter.

Karoline Freiin v. d. Trenk war in der Lausitz geboren, vermählte sich zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit dem preußischen Schiffscapitain v. Kuschieke, der aber im Jahre 1807 von den Franzosen zu Stettin wegen patriotischer Widersetzlichkeit verhaftet und von ihnen an einen Ort geschafft wurde, wo er gänzlich verscholl, ohne daß seine Gattin je wieder etwas von ihm gehört hätte. Sie zog sich nach Breslau zurück, begab sich später nach Prag und ließ sich endlich 1809 in Wien nieder, wo sie sich durch Spitzenverfertigung auf maschinenmäßigem Wege ihren Unterhalt zu erwerben suchte. Im Jahre 1830 verlor sie durch die Ueberschwemmung den größten Theil ihrer Habe und das ganze Repositorium ihrer Familienpapiere. Sie versank bald darauf in Noth und mußte ihre Existenz auf Gnadengaben stützen. Im Jahre 1848, wo diese Quelle plötzlich versiechte, sah man die 75jährige Freiin v. d. Trenk mit dem Schubkarren auf den öffentlichen Arbeitsplätzen tagwerken, um sich, gleich den Aermsten der Armen, einige Groschen für den Unterhalt ihres Lebenn zu erwerben. Einige Jahre später gerieth sie ganz in die Kategorie der Unterstützungsbedürftigsten der Residenz. Die protestantische Gemeinde gewährte ihr eine Pfründe von jährlich zwölf Gulden. Die Pfarre der Leopoldstadt bemühte sich, die alte Frau in den Genuß wohlthätiger Stiftungen zu versetzen, und erwirkte ihr den Mitgenuß der Aspremont’schen Stiftung mit 61/2 Kr. WW., der Mareut’schen mit 151/2 Kr. östr. W. und – der Trenk’schen mit 41/2 Kr. östr. W. täglicher Alimente, so daß sie monatlich gegen 10 Gulden aus Wohlthätigkeitsanstalten und nebenbei auch noch von Zeit zu Zeit Gnadengaben der Kaiserin-Mutter und anderer Mitglieder des kaiserl. Hofes erhielt – bis sie endlich nach sechswöchentlicher Krankheit an Altersschwäche in den Armen ihrer Pflegetochter mit dem tiefen Seufzer verschied: „Wir haben keinen Kreuzer im Hause, was wirst Du machen, wenn ich nun sterben sollte?“

Merkwürdig ist, daß sofort nach dem Tode dieser Frau ein historischer Roman: „Friedrich von der Trenk“ angekündigt wird, dessen Herausgeber nach bis jetzt unbekannten Quellen gearbeitet haben und über viele Momente des Trenk’schen Lebens Aufschluß geben will, über die Trenk aus Rücksichten gegen lebende Personen in seinen Memoiren zu schweigen genöthigt war. Wahrscheinlich ist damit die Prinzessin Amalie, Schwester Friedrich des Großen gemeint, die bekanntlich ihrer Liebe zu Trenk das größte Opfer brachte, dessen ein Weib fähig ist: das ihrer Schönheit. Sie zerstörte dieselbe freiwillig, als sie noch in schönster Blüthe stand, um sich dadurch einem verhaßten Ehebündnisse zu entziehen.




Brave Familie. Als der König Friedrich Wilhelm III. sich mit der jetzt noch lebenden Fürstin von Liegnitz geb. Gräfin von Harrach verheirathete, reiste kurz zuvor der Graf Harrach durch H., einem kleinen Städtchen in der Provinz Sachsen. Der dortige Wirth zur Sonne hatte kaum erfahren, daß der Einkehrende der Graf Harrach sei, als er sich demselben näherte und ihn vertraulich auf die Schulter klopfte: „Herr Graf,“ sagte er unter höflichen Verbeugungen, „ich gratulire bestens, Sie können sehr froh sein, Ihre liebe Tochter macht eine gute Partie, sie kommt in eine sehr brave Familie.“





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. So gewaltig der Eindruck war, welchen Wilhelm Zimmermann’s Geschichte des großen Bauernkriegs bei ihrem ersten Erscheinen zu Anfang der vierziger Jahre in weiten Kreisen hinterließ, so tief und noch viel weiter greifend scheint die Wirkung zu sein, welche die neueste Umarbeitung dieses Werkes hervorrief. Sie zeichnet sich durch eine genaue, sorgfältig gesichtete Zusammenstellung der Thatsachen, durch ein reiches historisches Material und besonders durch eine künstlerische, lebendig spannende Anordnung und Darstellung so sehr aus, daß dieses Geschichtswerk in der ganzen bändereichen historischen Literatur Deutschlands fast ohne Gleichen dasteht. – In dem großen historischen Rahmen dieses Werkes finden wir eine Menge einzelner lebensvoller Bilder. Die geschichtlichen Personen treten mit einer dramatischen Gegenständlichkeit auf. Ihre Charakteristiken sind mit Meisterhand entworfen, wie denn überhaupt das Buch trotz seiner objectiven geschichtlichen Haltung spannender und unterhaltender als ein Roman zu lesen ist.

    Gern führt auch die Gartenlaube ihren Lesern ein Paar Scenen aus diesem Geschichtswerke vor. Wir greifen sie aus dem Zusammenhang heraus, in welchem Alles in diesem Buche innigst verflochten steht, Eins das Andere beleuchtend und erklärend. Aber auch außer dem Zusammenhange werden diese Scenen die Eigenthümlichkeit dieses Geschichtschreibers und seines Buches, aus welchem wir meist wörtlich mittheilen, vor Augen stellen.

    Wir wählen zunächst aus dem zweiten Bande den Heldentod Florian Geyer’s und seiner schwarzen Schaar.