Die Gartenlaube (1860)/Heft 7
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No. 7. | 1860. |
„Eines Tages,“ fuhr Eva fort, „als ich wieder damit beschäftigt war, wurde die Thür heftig aufgerissen. Tante Ernestine trat ein, an ihrer Seite ein junger Mann mit glühendem Gesicht und auffallend stolzer Haltung. Es war Lothar, ich erkannte ihn auf den ersten Blick und war einen Moment vor Ueberraschung so gelähmt, daß ich nicht im Stande war, mich bemerklich zu machen. „Ich versichere Dich, Tante, daß ich nicht studire!“ rief Lothar im Hereintreten; „ich muß und will Soldat sein!“ Dabei blitzten seine Augen, wie ich’s nie bei einem andern Menschen gesehen habe. „Das wird sich finden, mein Junge,“ sagte die Tante in ihrem strengsten Tone und hätte vielleicht noch mehr gesagt, wäre ich nicht in diesem Augenblicke hinter den Bücherschränken hervorgetreten. Erst sah mich die Tante mit bösen Augen an, aber dann wurde ihre Miene freundlicher. „Gut, daß Du da bist, kleine Eva,“ sagte sie. „Ich übergebe Dir diesen Trotzkopf, sieh zu, daß Du ihn zur Raison bringst, ich habe jetzt nicht Zeit dazu.“ Mit diesen Worten wandte sie uns den Rücken und rauschte zur Thür hinaus.
„Auch Lothar hatte mir den Rücken gekehrt. Er stampfte mit dem Fuße, recht wie ein trotziges Kind, schüttelte die geballte Hand über seinem Kopfe und murmelte vor sich hin: „Und wenn sie mich einer Legion von Teufeln übergäbe, den Willen thu’ ich ihr doch nicht!“ – „Oho, seh’ ich denn aus wie der Teufel?“ rief ich empört. Lothar drehte sich um, starrte mich einen Augenblick an, brach dann in ein helles Lachen aus und erwiderte, indem er meine beiden Hände faßte: „Nein, kleine Eva, wahrhaftig nicht. – Aber Du solltest wissen, wie sie mich peinigt,“ fuhr er ernsthaft fort, und nun erzählte er mir ausführlich von seinen Kümmernissen. Statt ihn zur Raison zu bringen, wie Tante Ernestine befohlen hatte, schloß ich ein Schutz- und Trutzbündniß mit ihm, d. h. ich versprach zu thun, was ich könnte, um den Papa, der ja auch mit Leib und Seele Soldat war, für Lothars Pläne zu gewinnen – und so waren wir von Stund an die besten Freunde. Ich war damals fünfzehn Jahr alt, Lothar achtzehn. Du erinnerst Dich gewiß noch an die Zeit – erst gab’s heftige Kämpfe mit der Tante, aber Lothar blieb fest, Papa stand ihm bei, und so kam er bald darauf als Fähndrich in Vaters Regiment. Nicht wahr, Du erinnerst Dich jetzt?“
„O, nur zu deutlich,“ erwiderte Frau von Hersenbrook. „Ich wollte, liebe Eva, daß Deine Erinnerungen so klar wären, wie die meinigen; vielleicht stürztest Du Dich dann nicht so in Dein Unglück hinein. Je länger ich über Alles nachdenke,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „je unbegreiflicher ist’s mir, wie Du zu diesem Mann Vertrauen haben kannst. Was ihm versagt ist, will er besitzen; hat er’s erreicht, so wirft er’s weg. Erst will er Soldat sein – es ist sein Beruf, er will eher das Leben verlieren, als ihm entsagen; die ganze Familie kommt in Aufruhr, zum ersten Male im Leben gibt Tante Ernestine nach – und wenige Jahre später nimmt Lothar den Abschied. Als Du ihm bestimmt warst – ich nehme an, daß Tante Ernestine im Ernste gesprochen hätte – kümmerte er sich nicht um Dich. Seines Bruders Braut ist die Erwählte. Das Geschick ist ihm günstig. Die schöne Isidore wird sein Weib – und nun ist er der kälteste, gleichgültigste Ehemann. Wochen lang sollen die Beiden kein Wort mit einander gesprochen haben. Lothar ist am Spieltische oder auf der Jagd, während Isidore Gesellschaften und Bälle besucht. Aber nun stirbt Isidore, und plötzlich ist die alte Leidenschaft wieder da. Lothar lebt nur in der Erinnerung an sie; er kann die Räume, in denen sie gelebt hat, nicht mehr verlassen. Alle geselligen Beziehungen werden abgebrochen; einst der leidenschaftlichste Jäger, nimmt er jetzt kein Gewehr in die Hand. Nach dem Tode Deines Vaters ziehen wir wieder in seine Nähe, aber Graf Guntershausen, der in frühern Jahren täglich bei uns aus- und einging, kommt nicht über unsere Schwelle. Endlich führt uns der Zufall mit ihm zusammen – und weil ich Unselige so unvorsichtig bin, ihm zu sagen, daß ich seine Lebensweise ebenso unbehaglich als thöricht finde, faßt ihn das Verlangen, mein einziges Kind in diese düstere Umgebung hinein zu ziehen. Du wirst zugeben müssen, liebe Eva, daß ich berechtigt bin, Deiner Zukunft an der Seite dieses Mannes mit Entsetzen entgegen zu sehen.“
Frau von Hersenbrook hatte mit steigender Bitterkeit gesprochen. Die Erkenntniß, daß sie bis zu dieser Stunde dem Seelenleben ihres Kindes fremd geblieben war, that ihr weh – aber sie wollte noch immer nicht daran glauben, wollte sich einreden, daß Eva in einem Wahn befangen wäre, der ihr Vergangenheit wie Gegenwart in falschem Lichte zeigte, und daß es noch Mittel und Wege geben müßte, die Bethörte zum Bewußtsein zu bringen. Darum wollte sie jetzt keine Einwendungen hören, und als Eva den Versuch machen wollte, sie zu beruhigen, fiel sie ihr hastig in die Rede.
„Laß es gut sein!“ sagte sie. „Wir wollen heute nicht weiter davon sprechen, wir sind Beide zu aufgeregt und verwirrt, um Alles gehörig zu erwägen.“ Mit diesen Worten hüllte sie sich fester in ihren Shawl und lehnte sich seufzend in die Kissen.
[98] Auch Eva seufzte. Es war ihr bang und schwer zu Muthe. Wenn sie sich auch sagen durfte, daß die Mutter in ihrer Sorge übertrieben hatte, so mußte sie doch auch zugeben, daß viel Wahres in ihrer Schilderung der Verhältnisse lag. Die Schmerzen und Zweifel vieler Jahre, die in den letzten Wochen vor Lothars unverkennbaren Liebesbeweisen gewichen waren, kehrten wieder und erschütterten die Zuversicht, die Eva noch vor Kurzem erfüllte. Aber sie wollte dieser Schwäche nicht nachgeben. Sie hatte die Ueberzeugung gewonnen, daß sie Lothar wieder so unentbehrlich war, wie in alter lieber Zeit, vielleicht noch unentbehrlicher – wie durfte sie da zögern und zagen? Ob sie ihrer Aufgabe gewachsen war, – ob sie daran zu Grunde ging, das lag in Gottes Hand.
Wieder ermuthigt, richtete sie sich auf und lehnte sich aus dem Wagenfenster, um die brennende Stirn in der Nachtluft zu kühlen.
Der Mond war aufgegangen und hatte die Nebel besiegt. Wiesen und Felder schimmerten in seinem sanften Lichte, und in der Ferne, über dem Walde, zeichneten sich die Umrisse des alten Guntershausen gegen den blaugrauen Nachthimmel ab.
Wie viel hatte Eva in jenen Mauern erlebt – Heiteres und Trübes, Alles mit Lothar, oder doch um seinetwillen! Gleich beim ersten Zusammentreffen mit den verwaisten Kindern hatte er ihr am Besten gefallen. Werner, der Aelteste, war schon damals, als fünfzehnjähriger Knabe, still und ernst, saß den ganzen Tag über seinen Büchern und kam Eva, trotz seiner immer gleichen Freundlichkeit und Gefälligkeit, viel unnahbarer vor, als der um drei Jahr jüngere Lothar, obwohl dieser Eva so gut wie seine Schwestern bald mit äußerster Geringschätzung behandelte, bald mit Spott und Neckerei verfolgte. Wie oft hatte sich die sanfte Margaretha über seine Tyrannei beklagt! wie oft hatte die wilde Anna, die ihm sehr ähnlich war, mit blitzenden Augen erklärt: sie ließe sich den Uebermuth nicht länger gefallen! Die kleine Hedwig sogar, die noch auf dem Arme getragen wurde, hatte manche Thräne um den neckischen Bruder vergossen – nur Eva hatte sich immer geduldig mit einer Art von Märtyrerlust seinen Launen gefügt.
„Sein Gesicht gefällt mir so gut!“ hatte sie in kindischer Naivetät geantwortet, als Anna sie fragte, warum sie sich so viel von Lothar gefallen ließe, – und jeden Märchenprinzen, jeden Helden, von Siegfried bis Roland und von Karl dem Großen bis zum alten Blücher, die heiligen Erzväter sogar und die Weisen Griechenlands konnte sie sich nicht mehr anders denken, als mit Lothars schönen Zügen, seinen glänzenden Augen, seinem freimüthigen stolzen Wesen.
Das Verhältniß war ein ganz anderes geworden, als er sie sechs Jahre später zur Bundesgenossin gegen Tante Ernestine erkor. Das fünfzehnjährige Mädchen stand dem achtzehnjährigen Jüngling gleich – in geselliger Gewandtheit war sie ihm sogar überlegen. Er fühlte sich wie beschützt und gehalten, wenn er an ihrer Seite Gesellschaftszimmer oder Ballsaal betrat. Und wie theilte sie seine Interessen, wie wußte sie ihn zu trösten, als er die ersten Verweise im Dienst erhielt, über einen offenen Knopf, der geschlossen sein sollte, über einen nachlässigen Gruß oder ein unziemliches Wort dem Lieutenant gegenüber; und wie verstand sie es, ihn zu ermuthigen, als er schon nach den ersten Dienstjahren verzweifeln wollte, daß es „gar nichts Gescheidtes zu thun gab“! So lebten sie sich mehr und mehr in einander ein. Tante Ernestinens Worte schienen wirklich ein Orakel gewesen zu sein.
Aber sie wurden getrennt. Die Aerzte schickten den General nach Nizza, Frau und Tochter begleiteten ihn. Der Aufenthalt verlängerte sich von Monat zu Monat, endlich von Jahr zu Jahr. Zu Ende des dritten Sommers wurde Hersenbrook in fremder Erde bestattet; Eva kehrte mit der Mutter in die Heimath zurück und fand – was sie natürlich schon aus Briefen wußte – Lothar als Isidorens Gatten.
Als Eva die Nachricht bekommen hatte, lag ihr Vater auf dem Todtenbette. Der eine Schmerz half ihr den andern tragen und verbergen. Die Generalin ahnte nichts von dem Kampfe im Herzen der Tochter, und als sie in die Heimath zurückkamen, war Eva so weit gefaßt, daß sie dem Verlorenen, aber noch immer Geliebten äußerlich ruhig entgegen treten konnte. Aber sie sah ihn selten und niemals allein. Er schien ihr auszuweichen, und sie that nichts, seine Scheu zu besiegen, denn sie war zu stolz ihm zu zeigen, wie sie litt, und nicht stolz genug, um ihrer Kraft unter allen Verhältnissen sicher zu sein.
Sie war sehr arm und sehr einsam geworden, aber sie verzweifelte nicht und ging nicht an ihrem Schmerz zu Grunde. War auch die beste Lebensfreude dahin, so gab es doch für sie, wie für Jeden, der den rechten Willen hat, mancherlei zu thun, was ihre Tage ausfüllte und nach und nach ihr auch wieder eine Art von Befriedigung brachte. Glücklich war sie nicht, aber es war still und klar in ihr – sie glaubte auf immer überwunden zu haben.
Aber Isidorens Tod machte dem Frieden ihrer Seele ein Ende. Alle Hoffnungen, alle Wünsche, die sie auf ewig versunken glaubte, tauchten wieder auf, und mit ihnen die Qual der Erwartung. Sie hörte von Lothars Verzweiflung – wer konnte ihn besser trösten, als sie? Daß sie mehr für ihn zu sein begehrte, als Schwester oder Freundin, gestand sie sich selber nicht. Erst als mit der Erwartung die Sehnsucht wuchs, kam ihr zum Bewußtsein, daß es die alte, unsterbliche Jugendliebe war, die ihr Herz durchglühte.
Jahr auf Jahr verging, Lothar kam nicht. Er verkehrte überhaupt mit Niemand, als mit seinen Gutsangehörigen, die ihn lieb hatten, trotz seines finstern Wesens, denn er war in aller Noth ihr Berather und Helfer.
Eva’s Leben ging inzwischen im gewohnten Gleise fort. Jeden Winter verlebte sie in der Hauptstadt und jeden Sommer kam sie – zur Verzweiflung der Mutter – als Fräulein von Hersenbrook nach Eichberg zurück. Sie hatte resignirt, d. h. sie wünschte noch immer, aber sie hoffte nicht mehr – und nun war’s so plötzlich erfüllt, wonach sie sich so lange gesehnt hatte. Aber war es zum Heil – ob für sie selbst, danach fragte sie nicht – war es zum Heil für Lothar? War sie noch frisch und freudig genug, um, wie er es ausdrückte, seinem düstern Hause Sonnenschein zu geben? Und war’s Unglück oder Wankelmuth, was ihn bisher, wie die Generalin richtig geschildert hatte, von einem Extrem zum andern trieb? – Würde er sich je in irgend einem Verhältnisse bescheiden lernen, an irgend einem Wesen in treuer Liebe halten?
Diese Fragen drängten sich ihr immer und immer wieder auf, und sie war zu keiner Lösung gekommen, als der Wagen vor dem Verwalterhause von Eichberg hielt, das vorläufig zu ihrem Aufenthalte eingerichtet war.
Während Eva nach durchwachter Nacht im Morgenschlummer von ihren Sorgen ausruhte, ging ein Bote im Auftrage der Generalin nach dem zwei Stunden entfernten adeligen Fräulein-Stifte Fischbach, um Ihro Hochwürden Gnaden, der Frau Aebtissin Ernestine von Guntershausen einen Brief zu bringen, und es war noch nicht Mittag, als die fetten Mecklenburger der hochwürdigen Frau bereits die Auffahrt von Eichberg hinan keuchten.
Eva trat eben an’s Fenster; es war ja möglich, daß Lothar schon am Vormittag kam! aber statt des Ersehnten erblickte sie die alte blaue Stiftskutsche und erkannte die blau-weiße Livree der Tanle Ernestine. Eva ahnte, daß es nicht Zufall war, der die Aebtissin herführte, und obwohl sie sich der Hoffnung hingab, eine Bundesgenossin an ihr zu finden, scheute sie sich, in diesem Augenblicke, in dieser sehnsüchtig weichen Stimmung mit ihr zusammenzutreffen. Sie nahm ihren Hut und flüchtete durch Hof und Garten in’s Feld hinaus. Der Weg, den sie einschlug, zieht sich anfangs zwischen Wiesen im Thale hin, steigt dann jäh an der Bergwand empor, führt in den Wald hinein und endlich zu einer Rasenbank, die, von Buchen beschattet, von niedrigem Buschwerk umschlossen, nur nach einer Seite Aussicht gewährt, eine Aussicht über Baumwipfel und bewaldete Kuppen, zwischen denen sich in der Ferne eine schlanke Thurmspitze erhebt – die Spitze des Schloßthurmes von Guntershausen.
Wie oft hatte Eva auf diesem Plätzchen gesessen, in schwermüthige, hoffnungslose Träume versunken! Sie träumte auch heute, als sie so da saß, den Kopf an den Stamm der Buche gelehnt, die Hände im Schooß gefaltet, den Blick nach Guntershausen gewendet, aber sie hatte trotz aller Sorge um Lothar mehr süße, als bittere Gedanken, mehr lichte als trübe Phantasien, und ein innig glückliches Lächeln verklärte ihre sanften Züge. Plötzlich schreckte sie auf. Es rauschte etwas durch die Büsche. Jetzt wurden die Zweige ihr zur Seite auseinander gerissen, ein glühendes Gesicht sah daraus hervor, eine bekannte Stimme rief ihren Namen und im nächsten Augenblicke warf sich ein junges Mädchen mit Ungestüm an ihre Brust.
„Hedwig!“ rief Eva überrascht, „liebe Hedwig, wie bist Du [99] hergekommen?“ Mit diesen Worten zog sie die Athemlose an ihre Seite und strich ihr die langen verwirrten Locken aus der Stirn.
„Mit Tante Ernestine bin ich gekommen,“ antwortete das junge Mädchen. „Seit vorgestern bin ich bei ihr. Heute Nachmittag wollte ich Euch in Guntershausen besuchen, da kam der Brief von Deiner Mutter, und ich erfahre, daß Du … daß Lothar …“
„Daß wir verlobt sind,“ ergänzte Eva.
Hedwig fiel ihr mit einem Ausdrucke des Schreckens in’s Wort: „Sag’ das nicht, um Gotteswillen nicht!“ rief sie mit aufgehobenen Händen.
„Auch Du willst gegen uns sein?“ fragte Eva halb erstaunt, halb unwillig. Hedwig ließ sie wieder nicht ausreden.
„Ich gegen Euch?“ rief sie in Thränen ausbrechend. „O, Eva, wie kannst Du das sagen! Ich will nur nicht – es ist nur nicht möglich! …“ und wieder umschlang sie Eva’s Hals und preßte laut schluchzend den Kopf an ihre Brust.
Eva hielt sie eine Weile an sich gedrückt, hob dann den Kopf der Weinenden in die Höhe und fragte: „Hat Dich Tante Ernestine zu mir geschickt?“
„Gewiß nicht,“ betheuerte das junge Mädchen. „Tante Ernestine scheint mit Allem zufrieden zu sein.“
„Zufrieden!“ rief Eva erfreut.
„Mir schien es so,“ fuhr Hedwig fort. „Als sie den Brief Deiner Mutter las, hat sie freilich oft den Kopf geschüttelt, aber als sie ihn auf den Tisch legte und mir mittheilte, was geschehen war, blickte sie so herausfordernd umher, wie sie zu thun pflegt, wenn sie sagen will: „nun soll mir Einer kommen, der dagegen ist.“ Und dann ließ sie anspannen: sie müßte Deine Mutter zur Raison bringen, sagte sie – und ich bin mitgefahren und da ich Dich im Hause nicht fand, bin ich Dir nachgelaufen, um Dir zu sagen … um Dich zu bitten .. O, Eva, liebe Eva, wenn Du mir nur glauben wolltest.“
„Was soll ich denn glauben?“ fragte Eva, und nach einer Pause fügte sie lächelnd hinzu: „Ich bin Dir wohl nicht jung und schön genug für Deinen Bruder?“
Hedwig schüttelte den Kopf. „Laß die Scherze,“ bat sie trübe. „Mir ist’s nicht zum Lachen. Daß Du mir die Liebste und Schönste bist, weißt Du ja, und so bist Du’s natürlich auch für Lothar. Aber je lieber er Dich hat, um so weniger darf er Dich so unglücklich machen.“
Eva’s Geduld war zu Ende. „Erkläre Dich deutlicher,“ sagte sie streng, „oder peinige mich nicht länger.“
Hedwig rang die Hände. „Erklären!“ rief sie, „erklären! O, Gott das kann ich nicht.“ Dann sah sie eine Weile vor sich nieder, fuhr plötzlich empor und faßte Eva’s Hände, ganz in derselben Weise, wie es Lothar zu thun pflegte, wenn er sehr erregt war. „Eva,“ begann sie dann mit stockendem Athem, „hast Du denn nie gehört, daß ein Fluch auf Guntershausen liegt? Von zwei Eheleuten, die diesen Namen führen und dies Haus besitzen, wird immer der eine gewaltsam um’s Leben kommen.“
„Aber Hedwig, wie kannst Du Dich und mich um ein Märchen quälen!“ rief Eva vorwurfsvoll.
„Es ist kein Märchen,“ betheuerte Hedwig. „Der Großvater ist durch einen Sturz vom Pferde um’s Leben gekommen. – Seine Mutter, sie soll ganz so gewesen sein, wie Tante Ernestine, hat ein Knecht erschlagen, der durch ihre Härte zur Verzweiflung getrieben war. Von einem Guntershausen weiß man, daß er im Zweikampfe gegen den eigenen Bruder gefallen ist; von einem Andern, daß er auf Befehl des Königs vergiftet wurde – und die Gräfin Hildegunde, die noch heutigen Tages im Schlosse spuken soll, hat, um sich für die Untreue ihres Gatten zu rächen, erst die eigenen Kinder und dann sich selber getödtet. So geht es fort, von Geschlecht zu Geschlecht, bis in die fernsten Zeiten.“
„Zeiten voll Sagen und Aberglauben,“ warf Eva ein. „Ich glaube nicht an solchen Fluch.“
„Aber er ist noch immer wirksam; Du kannst ihn nicht leugnen,“ fuhr Hedwig fort. „Onkel Hans soll am Schlagflusse gestorben sein – der alte Joseph, der Alles weiß, hat mir gestanden, daß er sich in einem Anfalle von Schwermuth ertränkt hat – und frag’ ihn mal auf’s Gewissen, wie Isidore gestorben ist, er weiß es so gut wie ich.“
„Isidore? – Lothar’s Frau?“ wiederholte Eva, die sich eines leisen Schauders nicht erwehren konnte. „Isidore, Kind, ist am Nervenfieber gestorben.“
Hedwig lachte. Es war ein häßliches, unheimliches Lachen, das die schönen Züge des jungen Mädchens verzerrte. „So sagt man,“ erwiderte sie; „und so glauben’s die Leute, aber ich kann es Dir besser sagen. Sie ist erschossen – dort drüben in Guntershausen, in ihren eignen Zimmern. – Sieh mich nicht so zweifelnd an,“ fuhr sie nach einer Pause fort. „Ich bin bei vollem Verstande und sage Dir nur was ich gesehen habe. Ja, Eva, diese Hand hat auf der Wunde der armen, jungen Frau gelegen, und ich habe Alles mit eigenen Augen gesehen.“
Eva war tief erschüttert. „Weißt Du auch,“ fragte sie nach einer Pause, „weißt Du auch, wer der Mörder war?“
„Lothar!“ erwiderte Hedwig kaum hörbar, mit bebenden Lippen.
„Lothar!“ wiederholte Eva, indem sie die Sprechende voll Entsetzen anstarrte. „Lothar!“ sagte sie noch einmal und nach langer Pause fügte sie schaudernd hinzu: „Ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben!“ Aber dann kam die Erinnerung an Lothars Schwermuth, an manches räthselhafte Wort, das sie in seinen bösen Stunden von ihm gehört und nicht verstanden hatte, an tausend scheinbar geringfügige Dinge, die jetzt, in diesem Lichte gesehen, eine schreckliche Bedeutung gewannen. „Kannst Du mir erzählen, was Du gesehen hast?“ fragte sie endlich.
„Ich will’s versuchen,“ antwortete Hedwig. „Sieh, Eva,“ fuhr sie nach kurzem Besinnen fort; „ich habe nie mit einem Menschen davon gesprochen, habe gethan, was ich konnte, um es zu vergessen, es hat auch Zeiten gegeben, wo ich nicht daran dachte, aber so oft ich Guntershausen wiedersehe, steht mir der schreckliche Moment mit aller Lebendigkeit wieder vor den Augen, und zu denken, daß Du auf immer dort leben sollst –! Aber ich wollte Dir erzählen, was damals geschah,“ unterbrach sie sich selbst, gleichsam als Antwort auf Eva’s ungeduldige Gebehrde.
„Du weißt,“ fuhr sie fort, „daß Tante Ernestine, sobald Onkel Hans gestorben war, oder vielmehr, sobald sie Ordnung in die Geschäfte gebracht hatte, von Guntershausen nach Fischbach übersiedelte, wo sie bald darauf zur Aebtissin gewählt wurde. Meine Schwestern und mich ließ sie in der Pension, aber bald mußte die Eine, bald die Andere von uns monatelang bei ihr in Fischbach sein. Meine Schwestern fürchteten sich sehr vor diesen sogenannten Erholungsreisen, aber ich wurde ziemlich gut mit der Tante fertig, d. h. ich war ein ungezogenes Ding, das sich aus Befehlen und Verweisen wenig machte und immer nur that, was ihm gefiel.
„Nun muß ich Dir noch sagen, daß im Sommer vor fünf Jahren in Fischbach und der Umgegend das Nervenfieber grassirte, sodaß alle Damen flüchteten und auch wir nicht dort bleiben konnten – ich war nämlich zu jener Zeit bei der Tante. So kam’s, daß wir auf einige Wochen nach Guntershausen gingen. Aber wir wohnten nicht im Schlosse. Der alte Joseph behauptete, Onkel Hans wäre der Tante erschienen und deshalb möchte sie nicht dort sein – vielleicht war’s aber auch nur der Grund, den sie selber angab, nämlich daß sie weder genirt sein, noch geniren wollte, der sie dazu brachte, in das neue Gartenhaus unten im Park zu ziehen. Jedenfalls war’s da bequemer, sonniger, freundlicher, als im Schlosse – nur für meinen Flügel fand sich kein Platz, und so wurde ich täglich in’s Schloß hinaufgeschickt, um mich zu üben. Mir war das ganz recht und ich blieb oft stundenlang aus, aber nicht um langweilige Etüden zu spielen – ich saß statt dessen in der Bibliothek und verschlang allerhand verbotene Lectüre.
„Eines Nachmittags saß ich wieder einmal auf meiner Bücherleiter – herunterzusteigen nahm ich mir gar nicht die Mühe – und las den Siegwart. Tante Ernestine hatte gerade dies Buch auf’s Strengste verboten und so war’s natürlich, daß ich es mit Wonne genoß.
„Plötzlich höre ich Schritte auf dem Gange – so viel ich wußte, war doch nur Joseph zu Haus, denn Isidore sowohl, wie alle Domestiken waren zum Erntefest nach Berndorf hinunter gegangen, und Lothar war schon seit Wochen abwesend. Aber die Schritte nähern sich, und kaum habe ich Zeit gehabt, mich in eins der obern leeren Regale zu verstecken und die Vorhänge zusammen zu ziehen, als zu meiner großen Ueberraschung Isidore hereintritt. Sie sah erhitzt und ärgerlich aus, warf Hut und Sonnenschirm auf den nächsten Stuhl, trat an den großen Tisch, der in der Mitte des Saales steht, schloß auf, zog mit großer Anstrengung den schweren Schubkasten heraus, öffnete ein geheimes Fach, das dahinter angebracht war, und nahm ein Etui heraus, das wie ein Schmuckkästchen aussah. Dann brachte sie Alles in großer Hast wieder in Ordnung; wahrscheinlich hatte sie so gut wie ich gehört, daß sich abermals Jemand dem Saale näherte. Gleich darauf erschien der alte Joseph in der Thür. Auch er sah verstört und verlegen aus. [100] „Gnädige Gräfin –“ fing er an. „Schon gut!“ fiel sie ihm in’s Wort; „führe ihn nebenan in’s blaue Zimmer und sorge, daß wir nicht gestört werden.“ Dann blieb sie einen Augenblick stehen – es sah aus, als ob sie sich besinnen müßte oder Muth fassen wollte – und ging endlich langsam, wie mit Widerstreben, in’s blaue Zimmer hinüber.
„Sie hatte die Saalthüre offen gelassen, und so hörte ich bald, daß sehr laut und heftig gesprochen wurde. Ich konnte unterscheiden, daß es die Stimme eines Mannes war, die ihr antwortete, aber verstehen konnte ich nichts. Ich fing an mich zu fürchten und dachte darüber nach, ob ich’s wagen könnte, an der blauen Stube vorbei zu schlüpfen – da höre ich, daß Isidore laut, wie im Zorne aufschreit, gleich darauf wird heftig die Klingel gezogen, in demselben Momente fällt aber auch ein Schuß … und nun halt’ ich mich nicht länger; ich will hinunterspringen, gleite aus, falle mit dem Kopfe an eine scharfe Kante; es braust mir vor den Ohren, meine Sinne vergehen – und so habe ich, wer weiß wie lange, in tiefer Ohnmacht gelegen.
„Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich noch an derselben Stelle. Ich raffte mich auf und suchte es mir klar zu machen, wie viel in den Erinnerungen, die jetzt auf mich einstürmten, Wahrheit wäre, oder Traum. Eben war ich im Begriff über die Schwelle zu treten, da sah ich, daß Joseph den Gang herauf kam. Zu gleicher Zeit wurde die Thür der blauen Stube geöffnet, mein Bruder trat heraus. Trotz der Dämmerung, die im Gange herrschte, sah ich deutlich, wie blaß und verzerrt sein Antlitz war, und mit einem Tone, den ich nie, nie vergesse, rief er dem Alten zu: „Es ist keine Hoffnung, sie ist todt.“
„Darauf gingen sie beide in’s Zimmer zurück, und ich wankte hinaus. Wie ich das Schloß verlassen habe, wie ich durch den Garten gekommen bin – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich vergebens darüber nachsann, wie ich mein Ausbleiben und meinen Zustand erklären sollte. Ich ängstigte mich vergebens; noch ehe ich heimkam, war Joseph gekommen und hatte Tante Ernestine geholt. Sie kam erst am nächsten Morgen wieder. Isidore, hieß es, hätte das Nervenfieber und außer dem Arzte dürfe Niemand zu ihr, als Tante Ernestine, Lothar und Joseph. Am Abend des zweiten Tages sollte sie gestorben sein – auch jetzt sollte der Ansteckung wegen Niemand sie sehen, und die Beerdigung sollte aus demselben Grunde schon am nächsten Tage stattfinden.
„Aber ich mußte sie sehen! Als die Dienerschaft beim Essen war, schlich ich hinauf – ich begreife nicht, wie ich den Muth dazu hatte. Aber es war ein unüberwindliches Verlangen in mir, die Wahrheit zu wissen. Mein Unternehmen gelang. Es war Niemand bei der Leiche. Die Läden waren geschlossen, die dunkeln Vorhänge zugezogen. Ein Ruhebett stand mitten im Zimmer, und darauf lag Isidore, von brennenden Kerzen umgeben. Wie schön sah sie aus! Die schweren, blonden Flechten lagen wie ein Kranz über der weißen Stirn; die Augen waren geschlossen, wie zum Schlummer. Die feinen Züge sahen in dieser ernsten Ruhe viel edler aus, als sonst, und doch war das bezaubernde Lächeln geblieben, das ihrem Munde einen so eigenthümlichen Reiz gab.
„Aber ich war nicht gekommen, um sie zu bewundern. Ihre Hände lagen gekreuzt über der Brust, ich hob sie auf. Die eisige Kälte durchschauerte mich bis in’s Innerste des Herzens. Ich ließ mich nicht irren; ich hob auch das Gewand … unter der Brust an der linken Seite war die Haut zerrissen; das Fleisch quoll blutig roth aus der Wunde hervor … Mein Gott, mein Gott, wie hat mich das Bild verfolgt!“
Hedwig hatte schon eine Weile zu sprechen aufgehört, und noch immer saß Eva in sich zusammengesunken da. Endlich erhob sie den Kopf.
„Und Lothar?“ fragte sie, „hast Du niemals Aufklärung von ihm verlangt?“
Hedwig schüttelte den Kopf.
„So will ich ihn fragen,“ sagte Eva. „Und sieh, wer da kommt,“ fuhr sie fort, auf den gegenüberliegenden Bergabhang deutend, wo eben eine hohe Männergestalt zwischen den Bäumen sichtbar wurde. „Da ist er! – er hat uns gesehen, er kommt hierher.“
Hedwig sprang auf. „Laß mich, laß mich,“ sagte sie ängstlich bittend. „Ich kann nicht mit Lothar darüber sprechen, ich kann es nicht.“ Aber Eva legte die Hand auf ihren Arm.
„Du bleibst,“ sagte sie streng. „Es ist genug, daß Du ihn jahrelang schweigend beschuldigt hast; jetzt sollst Du die Wahrheit hören … Es ist ja nicht möglich, daß er ihr Mörder ist!“
Zitternd setzte sich Hedwig wieder und lehnte den Kopf an Eva’s Schulter, während diese traurig, aber vertrauensvoll dem Kommenden entgegensah.
Der 29. Februar, dieser Sonderling unter den Tagen des gegenwärtigen Jahres, erinnert an einen deutschen Schulmann, der leider durch die brutale Gewalt unserer heutigen Dunkelmänner in den Hintergrund gedrängt ist – an den hochverdienten Pädagogen Gustav Friedrich Dinter, welcher an diesem Tage vor gerade 100 Jahren, den 29. Febr. 1760, in der Stadt Borna bei Leipzig geboren ward. Dinter gehört zu den Begründern des heutigen deutschen Volksschulwesens, denn nicht allein sein Heimathland Sachsen, sowie sein zweites Vaterland Ostpreußen konnte sich seiner langjährigen, directen Wirksamkeit als Schulmann und Leiter der Schulen erfreuen: die gesammte deutsche Schule blickt auf ihn als leuchtenden Stern, dessen Strahlen manches dunkle Lehrzimmer Leben erweckend und befruchtend erhellten. Doch nicht der Schulmann allein ist es, welchen die dankbare Menschheit in Dinter zu verehren hat, so bedeutungsvoll und segensreich seine Stellung als solcher auch immer gewesen sein mag: der Geistliche in des Wortes edelster Bedeutung, der Gelehrte, der Menschen- und Wahrheitsfreund, der rastlos wirkende Beamte verdienen unsere Hochachtung und Verehrung nicht minder, da er in allen diesen Beziehungen sich über viele seiner Zeitgenossen glänzend erhebt, also Grund genug, von dem Gezücht der Dunkelmänner, der Servilen und Faulen wie im Leben, so auch nach seinem Tode gehaßt, angefeindet und verfolgt zu werden. Es hieße den Glauben an die Menschheit aufgeben, wollte man meinen, daß ihm die Nachwelt nicht gerecht werde, denn sein Wahlspruch: Menschenbildung, Menschenveredlung, Menschenwohl war der Ziel- und Angelpunkt seines langen, in rastloser Thätigkeit vollbrachten opferreichen Lebens. Wer für solche Aufgabe gelebr und gestrebt hat, kann, ja darf nicht vergessen werden. Möge das Nachstehende einen Blick in Dinter’s Leben und Wirken gestatten.
Die Volksschule des 18. Jahrhunderts, besondern der ersten zwei Drittel, war in einen elenden, geisttötenden Mechanismus versunken. Ein allen geistigen Aufschwung niederhaltendes Gedächtnißunwesen war die einzige Lebensäußerung in den Schulen des Volkes, während die Gelehrtenschule ihre Aufgabe in die Bildung tüchtiger Lateiner und Griechen setzte, denen allerdings nur zu oft die Fähigkeit abging, einen nur leidlichen Aufsatz in reinem Deutsch schreiben zu können. Die meisten Lehrer des Volkes waren für ihren hochwichtigen Beruf nicht vorbereitet worden, sondern gehörten vor dem Eintritte in denselben einem ganz andern Stande an, ja selbst noch in der Zeit, in welcher sie bereits das Lehramt verwalteten. Alte, ausgediente Unterofficiere, kaum fähig ihren Namen zu schreiben; im Herrendienste ergraute Bediente, welche sich in einer vieljährigen Dienstzeit einen äußeren Takt angeeignet, doch in derselben allen freien Menschensinn verloren hatten; Handwerker, deren Berufsthätigkeit sie auf die Stube beschränkte, und deshalb nach den Begriffen jener Zeit geeignet zur Aufsicht und Unterweisung der Jugend; endlich einige junge Leute, welche entweder bis Tertia oder Secunda eines Gymnasiums gekommen, oder von einem Pfarrer in einigen Elementarkenntnissen unterrichtet worden waren: das waren die Lehrer des Volkes. Wie die Arbeiter, so das Werk. Ein elender, geisttödtender Mechanismus herrschte in den Schulen und unterdrückte jede geistige Regung, der Bakel ward mit kräftiger Hand geschwungen und statt naturgemäßer Entwicklung ward „eingebläut“. Nur der Unverwüstlichkeit der Menschennatur ist es zu danken, daß es mit der Volksbildung nicht noch weit schlimmer stand, ja noch steht, da die Bildung des Volkes der Gegenwart auf der des vorhergehenden Geschlechtes ruht. Die Erkenntniß jenes traurigen Zustandes blieb [101] nicht aus, die geistige Erstarrung, der Rückschritt des Volkes nach der lebensvollen Zeit der Reformation war zu augenfällig. Die deutsche Literatur trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts allmählich in ihre Blüthenzeit; die Philosophie griff kräftig ein, und J. J. Rousseau erweckte durch seinen Emil den sehnlichen Wunsch nach Verbesserung des völlig vernachlässigten Schulwesens. Edle Fürsten und andere hochherzige Männer wurden für die Verwirklichung dieses hohen Zieles erwärmt, und nicht lange nachher traten Basedow und v. Rochow auf Rekahn auf und wendeten ihre ganze Aufmerksamkeit der Verbesserung des schlechten Volksunterrichts zu. Basedow schrieb das Elementarwerk, Rochow gründete seine Musterschule und gab den Kinderfreund, ein für jene Zeit recht treffliches Schullese- und Unterrichtsbuch, heraus. Beider Wirken fand Nachahmer, welche die neuen Ideen fortführten und die gemachten Fehler verbesserten. Campe und Salzmann gründeten ihre Erziehungsanstalten, und obwohl dieselben nur den Reicheren im Volke zugänglich waren, so wirkten doch die in denselben zur Anwendung gebrachten und in Volks- und andern Schriften veröffentlichten Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts auf die Strebsamen unter den Lehrern des Volkes. Felix Weiße arbeitete durch den Kinderfreund für die Verbesserung der häuslichen Erziehung unter den gebildeten Classen, Zacharias Becker dagegen durch sein weit verbreitetes Mildheimisches Noth- und Hülfsbuch für die Masse des Volkes, namentlich den Bauern- und niederen Bürgerstand. Pestalozzi, preiswürdigen Andenkens, verbesserte besonders die Lehrweise, und sein Streben, selbst den Unterricht in technischen Fertigkeiten auf geistbildende Weise zu betreiben, verdiente und erwarb alle Anerkennung.
In dieser Zeit allgemeiner Begeisterung für Verbesserung des Unterrichts und Hebung der sittlichen Zustände des Volkes trat auch Dinter auf, und Vieles ist durch sein Wort und Beispiel in Ausführung gekommen, was jene Männer vorbereiteten.
Derselbe, Glied einer zahlreichen Familie, erhielt eine dem Geiste jener Zeit nach recht tüchtige Erziehung, welche darauf berechnet war, ihn möglichst bald dem Gymnasium zuführen zu können. Für die Ausbildung des Gedächtnisses ward Alles gethan, lateinische theologische Compendien auswendig gelernt, zu denen die biblischen Belegstellen gar griechisch memorirt werden mußten. Dagegen geschah für Kopf und Herz äußerst wenig und dieses Wenige nur durch die vom Sohne innig verehrte Mutter, eine Frau von echter Religiosität, berechnender Klugheit und einiger Eitelkeit. Der Vater, ein vielbeschäftigter Rechtsgelehrter, war ein äußerst heiterer, fröhlicher Mann und trug durch seine Lebensanschauung nicht wenig bei, daß der Sohn das Leben mehr von der Lichtseite auffaßte und dem Murrsinne feind ward. Strenger Gehorsam und Furchtlosigkeit waren Forderungen, welche er an seine fünf Söhne stellte.
Dinter ward nach kaum vollendetem 13. Lebensjahre in die Landesschule zu Grimma aufgenommen, in welcher bereits sein Vater den Gymnasialunterricht empfangen hatte. Der Rector Krebs leitete mit Treue, Einsicht und Takt die Anstalt, doch hatte der Conrector Mücke auf das Gemüth des jungen Dinter besondern Einfluß. Er war es, der den von der Mutter eingepflanzten religiösen Sinn in den Jahren der erwachenden Kraft und Lebendigkeit im Jünglinge wach erhielt, und in Verbindung mit einem Geistlichen Grimma’s absichtslos bei seinem Schüler den Entschluß zur Reife brachte, das vom Vater gewünschte Studium der Rechte aufzugeben und sich der Theologie zuzuwenden. Die Freude am Unterrichten erwachte in ihm bereits in dieser Anstalt, und da der Erfolg seine Unternehmungen begünstigte, so ward er nach dortiger Einrichtung bald einer der beliebtesten Obergesellen, dessen Pflicht es war, die mit ihm in einer Stube Wohnenden in ihren Studien zu leiten und zu beaufsichtigen. Im Jahre 1779 verließ er als Erster der ganzen Schule Grimma, um die Universität Leipzig zu besuchen. Der kurz vor seinem Schulabgange erfolgte Tod der Mutter gab seinem ganzen akademischen Leben eine ernste Richtung und bewahrte ihn vor vielfachen Gefahren und Verirrungen. Ein reger, wissenschaftlicher Eifer veranlaßte ihn, in den ersten zwei Universitätsjahren sich mit Collegien zu überladen, so daß er sich späterhin als gereifter Mann über diesen auch noch heute nicht seltenen Mißgriff der akademischen Jugend in folgenden goldenen Worten ausspricht: „Es ist nicht nothwendig, daß dem Menschen Alles, was er wissen soll, in besonderen Lectionen vorgetragen werde. Reget nur die Lust und Kraft in ihm an und zeigt ihm die Hülfsquellen, dann wird er durch sich selbst mehr werden, als [102] alle Lectionen und Collegia aus ihm zu machen im Stande sind.“ Menschenbeobachtung war ihm Lieblingsbeschäftigung, ihr verdankte er jenen praktischen Sinn, welcher ihn als Prediger wie Lehrer allezeit auszeichnete und seine Wirksamkeit vermittelte. Das Theater liebte er leidenschaftlich: „Für junge Theologen ist das Schauspiel sehr nützlich, sie bekommen ein deklamatorisches Gewissen. Sie sollen zwar auf der Kanzel nicht theatralisch agiren, aber sie bekommen ein Gefühl für Wechsel der Stimme, für Stärke und Schwäche des Ausdrucks; sie nehmen eine gewisse Lebendigkeit der Darstellung an. Junge Theologen, besucht das Theater fleißig, wenn es gut ist. Ihr seid da wahrlich besser aufgehoben, als am Spieltische. Aber freilich die Stücke müsset ihr wählen!“
In Dinter’s Studentenzeit fällt ein Ereigniß, welches seinem Leben eine andere Richtung gab und seinen ganzen Lebensplan änderte. Nach dem Wunsche seines Vaters sollte die akademische Laufbahn Ziel seiner Studien, die Kirchengeschichte sein besonderes Fach werden. Seine Bibliothek ward nach dieser Seite vervollständigt, die ansehnlichsten Werke befanden sich bereits in derselben. Da lernte er auf einer Ferienreise in der erzgebirgischen Stadt Schwarzenberg eine vaterlose Waise, Friederike Peck, Tochter eines verstorbenen Pfarrers zu Raschau, kennen. Sein Herz war am ersten Tage ganz ihr. Nicht ihre Schönheit, wohl aber ihre unbefangene Gutmüthigkeit, ihre sich unverkennbar darlegende Unschuld fesselte ihn an sie. Schon am dritten Tage seiner Bekanntschaft war er mit seinem Herzen einig: Sie und keine Andere. Zwar kam es zu keiner besonderen Erklärung, es bedurfte derselben nicht. Er besuchte die Geliebte in Raschau in einer armseligen Hütte und freute sich des stolzen Gedanken: „Sie soll durch mich im Aeußern ebenso glücklich werden, wie ich durch sie im Innern.“ Beide wechselten Briefe mit einander, doch stand kein Wort von Liebe in denselben und nur einem seiner liebsten Freunde vertraute er: versprechen werde ich ihr meine Hand nicht, aber sie kann auf mich rechnen. Auch Friederike gab dem beiderseitigen Freunde das Wort, Dinter ohne eigentliches Versprechen unverbrüchlich treu zu bleiben. – Doch für Leipzig paßte die schlichte Erzgebirgerin, die keine andere Stadt als Schwarzenberg und Annaberg gesehen hatte, nicht, daher Dinter’s Entschluß Landgeistlicher zu werden. Seine Studien gingen von nun an nach dieser Richtung, der Eintritt in ein Amt konnte ihm bei der Bekanntschaft seines Vaters nicht schwerwerden, und doch kam es schon in seinen Candidatenjahren anders. Lassen wir ihn selbst erzählen.
„Die Erinnerung ist mir nach vierzig Jahren noch schmerzlich. Ich saß als Hauslehrer ruhig an meinem Tische, mein Zögling bei mir. Da trat der Bruder meiner Geliebten herein. Ich frage nach ihr. Er antwortet ernst und fest: „Sie befindet sich sehr wohl. Wir wollen aber davon erst reden, wenn Dein Zögling fort ist.“ Ich sende diesen zur Mutter, und nun fällt Freund Peck mir um den Hals mit den Worten: „Meine Schwester ist todt. Nicht eine Viertelstunde hat sie ihren Tod vorausgesehen. Ihr ist etwas unwohl. Sie bittet die Mutter um Thee. Diese bereitet ihn, und da sie ihn bringt, liegt die Tochter entseelt auf dem Bette.“ Dinter, der von der schwärmerischen, innig verehrten Mutter zu empfindsam erzogene Jüngling, mit Werther und Siegwart im Herzen, war untröstlich, seine Vernunft siegte nicht, wohl aber reifte der Gedanke in ihm: „Da es diese nicht ist, soll es auch keine Andere sein.“ Er beschloß unverheirathet zu bleiben und – blieb es. Der Greis urtheilt über den Entschluß des Jünglingn anders: „Jetzt fühle ich es selbst, daß dieser Entschluß Thorheit war, und ich rathe es keinem Jünglinge, mir darin nachzufolgen. Ich hätte der Erde und dem Himmel die geistigen Wesen geben sollen, die ich beiden schuldig war. Aber – der Jüngling denkt anders als der Greis, der Greis anders als der Jüngling.“ Er nahm sich später, wie wir im Fortgange sehen werden, einer ziemlichen Anzahl strebsamer Jünglinge an, opferte denselben einen beträchtlichen Theil seiner Einnahme, adoptirte den Königsberger Arzt Dr. Dinter, den Sohn eines seiner Gehülfen im Lehrfache, und erklärte in jovialer Weise: „Es sei dies Junggesellensteuer!“ Nur einmal reiste er nach Raschau, um an dem Grabe der Verewigten zu weinen, welcher die treue Liebe und Anhänglichkeit seiner Freunde und Schüler, meist Lehrer im obern Erzgebirge, in einem schlichten eisernen Kreuze ein Denkmal errichtete, mit der Aufschrift: „Zu Dinter’s Andenken, den 23. Juli 1831“ und auf der Rückseite „Friederike Peck 1786.“
Wir erzählten diese Episode ausführlicher, sie charakterisirt den Mann und ist für seinen künftigen Lebensgang nicht ohne Bedeutung. Dinter verweilte fast vier Jahre auf der Universität, erwarb sich im Examen die erste Censur und trat im Jahre 1782 als Hauslehrer in eine adelige Familie in der Nähe seiner Vaterstadt. Fünf Jahre verweilte er in diesem Hause, wo er mit vieler Liebe und Vertrauen behandelt ward, obgleich er später selbst bekennt, er habe nicht gewirkt, was er konnte und sollte, namentlich habe seine oft leidenschaftliche Hitze die angestrebten Erfolge nicht selten getrübt.
Im Herbst des Jahres 1787 ward Dinter Pfarr-Substitut zu Kitscher bei Borna, einer der besten Pfarrstellen jener Gegend. Er bekam sie, ohne darum nachgesucht zu haben, indem der Senior sich ihn vom Patron erbat und erhielt. So lernen wir ihn zuvörderst als Geistlichen kennen. Schon früher hatte Dinter Religion und Theologie wohl von einander unterschieden, und darum mied er alle theologischen Untersuchungen auf der Kanzel, predigte seinen Gemeinden das einfache Bibelwort mit Kraft und Wärme, war dabei, wie die von ihm herausgegebene Predigtsammlung für Landgemeinden beweist, rein praktisch und paßte seine Vorträge den Kräften und Bedürfnissen seiner Zuhörer an. Diese Popularität lernte Dinter von seiner – Magd. Hören wir ihn selbst. „Als mein Senior todt war, diente bei mir die 42jährige „Bauers Christine“. Kenntnisse besaß sie nicht, das Lesen ausgenommen – aber sie hatte gesunden Menschenverstand. Ihr las ich zuweilen Freitag Abends ganze Stellen aus meiner Predigt vor, und ließ mir dann von ihr sagen, was ihr deutlich und was ihr undeutlich gewesen war. Was die einzelnen Ausdrücke betrifft, so mischte ich sie nicht selten in das Gespräch mit meinen Bauern ein, das ich immer im Tone der Gebildeten hielt, wobei ich bald bemerkte, was sie verstanden und was sie nicht verstanden hatten. Dadurch gewöhnte ich sie auch an den Ton der Predigten und der Bücher.“ Er selbst spricht sich über seine Predigten also aus: „Ich habe immer gern gepredigt. Von meiner ersten Predigt an bis auf die, welche ich achtundvierzig Jahre später in Königsberg hielt, habe ich jede mit Freuden gehalten. Mir schwebt immer der Gedanke vor Augen: der Handwerker und der Landmann, sie haben wöchentlich nur diese einzige Stunde, in der etwas für die Fortbildung ihres Verstandes, ihres Willens, ihres Gefühls absichtlich gethan wird. Pfarrer, wenn du ihnen diese entziehst, ist es grausam. Wenn du nicht Alles thust, um sie ihnen so nützlich als möglich zu machen, so ist es gewissenlos.“ Jesu Bergpredigt und Paulus’ Rede in Athen waren von jeher Dinter’s Ideal. Beide Männer philosophiren da nicht über das Unbegreifliche, sie winseln nicht im Meere der Gefühle schwimmend, sondern vereinigen Licht, Kraft, Innigkeit. Nie betrat er die Kanzel ohne gründliche Vorbereitung, jede in den ersten zehn Jahren seines Pfarramtes gehaltene Predigt ward nach reiflicher, mehrtägiger Ueberlegung am Freitag wörtlich niedergeschrieben und wörtlich gelernt. Da ist es freilich nicht zu verwundern, daß er stets in einer vollen Kirche zu predigen hatte, und daß, besonders auf seinem zweiten Pfarramte (Görnitz bei Borna, von 1807–16), die Zuhörer oft drei bis vier Stunden weit herbei kamen, um den gewaltigen Mann zu hören, ja daß man die Kirche vor ihrer Oeffnung belagerte und an ihrer Außenseite nicht selten Leitern anlegte. Dabei vermied Dinter nie, sich mit seinen Gemeindegliedern über die gehörte Predigt zu unterhalten, und erfuhr auf solche Weise, was er richtig und falsch gemacht hatte. So hatte er früher die Gewohnheit, die Ideen streng auf einander zu bauen, sodaß nur die gebundenste Aufmerksamkeit ihm zu folgen vermochte. Ein Schuhmacher in seiner Gemeinde machte ihn auf diesen Fehler aufmerksam. Dinter besuchte ihn am Sonntag Abend. „Nun, Meister, er hat heute meine Predigt recht aufmerksam angehört.“ Er: „das war eine meschante Predigt.“ „Warum das?“ Er: „Ja, sehen Sie nur, wie mir’s ging. Ich hatte einmal ein paar Minuten nicht Acht gegeben, dann wußte ich gleich in der ganzen Predigt nicht mehr, woran ich war.“ – Dies führt uns auf Dinter’s Umgang mit seinen Gemeinden.
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Der Magen verlangt, als das wichtigste Organ der Verdauung (s. Gartenlaube 1853, Nr. 22), durch welche unserm ganzen Körper neues Ernährungs-, also Lebens-Material zugeführt wird, eine sehr sorgsame Pflege (s. Gartenlaube 1855, Nr. 31). Störungen seines Wohlbefindens, – besonders durch unzweckmäßiges Verhalten (zumal bei schwachem Magen) in Bezug auf Speise, Trank und Medicin, sowie in Folge von Zusammendrücken desselben durch Kleidung und Krummsitzen, – wenn sie auch nicht immer sofort und bedeutende Beschwerden veranlassen, ziehen aber doch, sobald sie sich öfters wiederholen, ganz unheilbare, sehr beschwerliche und das Allgemeinbefinden bedeutend störende Magenübel nach sich. Die Folgen langdauernder Magenleiden zeigen sich dann auch am Aeußern des Körpers als Abzehrung, Mattigkeit, Bleich- oder Fahlsehen des Kranken.
Magenbeschwerden, die entweder beim vollen oder leeren Magen, gleich oder erst einige Zeit nach dem Essen, nach dieser oder jener Speise wahrgenommen werden können, sind: Gefühl von Vollsein oder Leere, von Drücken, Brennen, Stechen oder von heftigern, krampfenden Schmerzen (Magenkrampf) in der Herz- (oder richtiger: Magen-) Grube; Auftreibung und Gespanntsein, sowie Empfindlichsein beim Eindrücken der obern Bauchgegend; Störung der Eßlust, Appetitlosigkeit, Heißhunger, Neigung zum Ekel und Brechen, Aufstoßen, Schlucksen, Sodbrennen, Erbrechen. Durch letzteres kann das Genossene halb oder noch gar nicht verdaut, es kann Schleim, Galle oder Blut entleert werden. Ob dabei die Zunge belegt ist und wie, darauf kommt gar nichts an.
Diese Magenbeschwerden, die sehr verschiedenartigen Magenübeln zukommen und bei ein und demselben Uebel bei verschiedenen Personen von ganz verschiedener Beschaffenheit sein können, treten nun aber auch nicht selten ohne ein besonderes Magenleiden auf, wie z. B. bei Affectionen der Magennerven und des Gehirns (Migräne), bei Blutstauungen am Magen in Folge von Leber-, Herz- oder Lungenleiden, sogar bei bloßer Blutarmuth (Bleichsucht) und Gemüthsstörung. Kommen sie plötzlich und in sehr heftigem Grade zum Vorschein, dann muß stets sofort an eine Vergiftung und an einen Bruchschaden, in manchen Fällen auch an Schwangerschaft gedacht werden. Sind sie nun aber allmählich entstanden, langsam gewachsen und schon einige Zeit vorhanden, ist sonach ein Magenleiden (welcher Art, ist ganz egal) zu vermuthen, dann beobachte man Folgendes
- Rec. Gehöriger Raum 1) für die Ausdehnung und Bewegung des Magens, zumal bei und nach dem Essen.
- Warmhalten des Magens 2) von außen und innen.
- Kleinere Portionen 3) von Speisen auf einmal.
- Leichtverdauliche 4) flüssige oder breiige Kost.
- Reizlose 5) Nahrungs-, Genuß- und Arzneimittel.
- S. Diese Magendiät muß streng und längere Zeit consequent befolgt werden, zumal wenn der Magen schon länger krankt.
Ad 1) Beengung des Magens, wodurch seine Ausdehnung und Bewegung gestört wird, kommt am häufigsten durch enge Kleidungsstücke zu Stande. Beim weiblichen Geschlechte, was dafür aber auch weit häufiger als das männliche an Magenbeschwerden leidet, sind es hauptsächlich die Unterrocksbänder, sowie das Schnürleib, welche den Magen nebst der Leber maltraitiren. Sodann übt aber auch das Gebücktsitzen, zumal gleich nach dem Essen und wenn es anhaltend stattfindet, einen hindernden Druck auf den Magen aus. – Also sorge man für gehörig lockere Bekleidung der Magengegend und für möglichst aufrechtes Sitzen.
Ad 2) Wärme thut dem leidenden Magen fast immer gut; nur bei starkem Blutbrechen muß Kälte (sogar Eis) innerlich und äußerlich angewendet werden. Zur Erwärmung des Innern des Magens reicht einfaches warmes (nicht laues) Wasser aus, was in nicht zu großen Portionen, aber öfters getrunken werden muß. Aeußerlich dient zum Warmhalten der Magengegend eine Leibbinde oder ein Magenpflaster; bisweilen ist’s aber auch von Vortheil, höhere Wärmegrade auf die Magengrube mittels warmer Umschläge (von Hafergrütze oder Leinsamen) oder warmer Steine, Tücher und Flaschen anzuwenden.
Ad 3) Der leidende Magen darf durch größere Massen von Nahrungsmitteln nicht belästigt werden. Deshalb sind nur kleinere Portionen von Nahrungsstoffen auf einmal zu genießen, jedoch, um die Ernährung des Körpers aufrecht zu erhalten, zu öfteren Malen. Gänzliches Entziehen der Nahrung macht natürlich den Körper blutarm, matt und mager.
Ad 4) Die Nahrung muß eine sehr leicht verdauliche sein, zumal diejenige Nahrung, welche vorzugsweise vom Magen verdaut wird, nämlich die eiweißstoffige, wie: Fleisch, Eiweiß, Käse, die kleberhaltigen Getreidesamen und Hülsenfrüchte. Am leichtesten zu verdauen ist diese Nahrung aber, wenn sie in flüssiger oder dünnbreiiger Form und nicht mit zu viel Fett gemischt, genossen wird; deshalb ist kräftige, niäßig fette Fleischbrühe (schleimige Suppen, Saucen), sowie weiches Ei am allermeisten zu empfehlen. Milch, weil der Käsestoff derselben im Magen gerinnt, wird schon weniger gut vertragen und darf niemals in größerer Quantität auf einmal, am besten etwas verdünnt, getrunken werden. Fleisch (aller Art, aber recht gut und weich gekocht oder gebraten, ja nicht gepökelt und geräuchert) ist nur dann unschädlich, wenn es sehr klein zerschnitten und sehr lange, bis zur Breiform zerkaut wird. Ueberhaupt muß alles Feste, was genossen wird, durch tüchtiges Zerkauen im Munde schon butterweich gemacht werden. Fern vom kranken Magen bleibe: Schwarzbrod, hartes Ei, Kartoffeln, Salat und jedes Gemüse, Käse, Schinken und Gepökeltes, Wurst, fetter und harter Fisch, fettes Backwerk, Eingemachtes und Obst.
Ad 5) Mit reizenden Stoffen ist der Magen ängstlich zu verschonen. Es ist deshalb vorzugsweise zu warnen: vor kaltem Trunke (verschlagenes Bier und Wasser ist erlaubt), scharfem Gewürze (besonders Pfeffer und Senf), starken spirituösen Getränken und Säuren. Da beim Cigarrenrauchen sich der Speichel mit scharfer Cigarrensauce mischen und verschluckt werden kann, so ist das Rauchen auszusetzen oder vermag der Patient dies nicht, so muß es mittels einer Pfeife oder Cigarrenspitze geschehen. Arzneistoffe sollten eigentlich aus dem kranken Magen ganz und gar verbannt sein.
Die homöopathische Heilkünstelei besitzt natürlich, wie bei jedem Uebel, auch gegen die Magenübel eine Menge der ausgezeichnetsten Heilmittel d. h. nichtsnutzige Nichtse. So empfiehlt z. B. Herr Dr. Clotar Müller in seinem homöopathischen Haus- und Familienarzte bei Magenschwäche (Katarrh): Nux vomica (bei Wein- und Kaffeetrinkern, Stubensitzern, mürrischer, zänkischer Laune), Phosphor (bei leerem, versagenden Aufstoßen, Aufschwulken), Pulsatilla (besonders nach Magenverderbniß mit fetten und blähenden Speisen), Bryonia (bei gelblich belegter Zunge oder Bläschen an derselben), Schwefelleber (bei Verlangen nach Saurem und Pikantem und bei häufiger Magenverderbniß trotz regelmäßiger Diät), Calcarea (bei Widerwillen gegen Fleisch und gekochte Speisen, Heißhunger), Brechweinstein (bei Aufschwulken saurer oder scharfer Flüssigkeit, bei leerem oder garstigem Aufstoßen), China (bei fortwährendem Gefühl von Sattsein, Verlangen auf Saures und Herzhaftes, Verlangen zu Liegen nach jedem Essen, Verdrießlichkeit), Ipecacuanha (bei Ekel gegen alle Speisen und gegen Tabakrauchen, bei reiner Zunge trotz Uebelkeit), Chamomilla (bei fortwährend bitterm Mundgeschmack). – Bei Magenverderbniß kommt’s bei der Wahl des Heilmittels darauf an, was den Magen verdorben hat. Bei Verderbniß durch Ueberladung mit Speisen ist das Hauptmittel Ipecacuanha; durch übermäßiges Trinken (Katzenjammer): Nux und später Kohle; durch fette Speisen: Pulsatilla und Arsen; durch Süßigkeiten: Aconit; durch Salziges: Kohle; durch Saures: Aconit oder Arsen; durch Blähendes (Kohl, Kraut): Bryonia; durch Obst: Pulsatilla, China; durch Gegohrnes und Fauliges: China; durch Kaltes und Eis: Arsen oder Pulsatilla; durch Wasser: Cocculus, China, Eisen; durch Milch: Nux, Bryonia oder Calcarea; durch Bier: Bellad., Arsen oder Eisen; durch Branntwein: Nux, Bellad., Opium; durch Wein: Nux, Kohle; durch Kaffee: Nux, Chamomilla; durch Thee: Coflea oder China; durch Tabak: Nux, Cocculus, Veratrum. –
Eine eben so nette Auswahl von Mitteln hat man beim Aufstoßen, wo es sich darum handelt, ob dieses bitter, sauer, faulig, gewaltsam, laut u. s. w. Ferner beim Erbrechen: von Speisen, [104] Galle, Schleim, Wasser, sauren oder dunklen Stoffen, Blut; nach Magenüberladung, übermäßigem Trinken, Aerger, Schreck, Schlag oder Fall auf den Kopf, im Fahren oder Schaukeln, in Folge von Husten, von Würmern, Schwangerschaft, Tabakraucher, u. s. f. – Aus diesen wenigen Angaben wird Jeder, der denken kann, sich denken können, welchen Werth die homöopathische Heilkünstelei für denkende Menschen haben kann.
Das Leben kann uns nur dann erhalten werden, wenn unserm Körper fortwährend solche Stoffe zugeführt werden, aus welchen er selbst aufgebaut ist, also: Wasser, Eiweißsubstanzen (mit Kalk, Schwefel, Phosphor), Fette oder fettähnliche Stoffe (Zucker, Stärke), Salze und Eisen. Alle solche Stoffe enthaltende Nahrungsmittel müssen nun aber nach ihrem Genusse, bevor sie in unsere Körpersubstanz übergehen können, erst in den Blutstrom eintreten und deshalb vorher noch für diesen Eintritt vorbereitet, geschickt gemacht werden. Der Proceß, durch welchen dies geschieht, heißt der „Verdauungsproceß“ und die dabei thätigen Theile die „Verdauungsorgane“.
Die einzelnen Theile des Verdauungsapparates, dessen Eingang der Mund, der Ausgang der After ist, reihen sich von oben nach unten in folgender Ordnung an einander: die Mund- und Rachenhöhle mit ihren Gebilden (a. b.), die Speiseröhre (f.), der Magen (k.), der Dünndarm (mit dem Zwölffinger- und Gekrösdarme, n. t.) und der Dickdarm (mit dem Blind-, dem aufsteigenden, queren und absteigenden Grimm- und dem Mastdarme, v. x. y. z. tz.). Die Leber (o) und Bauchspeicheldrüse (r.) befinden sich, erstere über, letztere hinter dem Magen.
Die Verdauung beginnt mit der Vorverdauung, deren erster Act, nach Aufnahme der Speisen in die Mundhöhle, im Zerkauen und Einspeicheln (d. h. Vermischen mit Speichel) der festen Nahrungsmittel und sodann, nach Bildung des Bissens, im Hinabschlucken desselben in die Speiseröhre (f) und bis zum Magen hinab besteht. Beim Hinterschlucken des Bissens aus dem Munde über die Zungenwurzel in die Rachenhöhle, rutscht derselbe über den Kehldeckel (c.) hinweg, welcher den Eingang in den Athmungsapparat (Kehlkopf) verschließt und so das Eindringen von Speisepartikelchen in die sogen, falsche Kehle (Luftröhre e.) verhindert. – Im Magen (k.) findet nun die „Magenverdauung, Speisebreibildung oder Chymification“ statt. Während des Verweilens der Speisen im Magen nämlich, welches nach der Löslichkeit des Genossenen längere oder kürzere Zeit (etwa 2 bis 6 Stunden) dauert, wird ein Theil des Flüssigen (Wasser, flüssiges Eiweiß, aufgelöste Salze, Zucker u. s. f.) von den Saugadern und Blutgefäßen der Magenwand aufgesogen und sofort in das Blut geschafft. Das Feste wird dagegen zum Speisebrei (Chymus) umgewandelt und hierbei löst der saure (Milchsäure und Pepsin enthaltende) Magensaft nur die genossenen Eiweißsubstanzen und Leimstoffe, so wie die im Munde noch nicht gelösten Salze und den Zucker auf, während ein Theil der in pflanzlichen Nahrungsmitteln enthaltenen Stärke durch den mitverschluckten Mundspeichel in Zucker umgesetzt wird, das Fett aber noch unverändert bleibt oder höchstens durch die Wärme des Magens flüssiger gemacht wird. Die Luft im Magen besteht hauptsächlich aus atmosphärischer Luft, die mit dem Mundspeichel verschluckt wurde, sodann aus einer geringen Menge von Kohlensäure (aus dem Blute) und von Wasserstoff. – Ist der Speisebrei fertig und das Flüssige desselben zum Theil von Gefäßen der Magenwand aufgesogen, so wird der Rest mit Hülfe wurmförmiger Zusammenziehungen (peristaltischer Bewegung) der Magenwand in den Darmcanal und zwar zunächst in den Zwölffingerdarm (des Dünndarms) geschafft, wo nun die „Dünndarmverdauung“ beginnt.
Im Dünndarme (n. t.) wird der durch den Pförtner (d. i. der Ausgang des Magens, m.) aus dem Magen gedrückte saure Speisebrei, welcher noch ungelöste Eiweißstoffe, unveränderte Stärke und Fette enthält, mit Galle (aus der Leber, o.), Bauchspeichel (aus der Bauchspeicheldrüse, r.) und Darmsaft durchzogen. Der Darmsaft löst nun die noch festen Eiweißstoffe auf, der Bauchspeichel und ebenfalls der Darmsaft verwandeln die Stärke in Zucker (der nach und nach in Milch- und Buttersäure übergeht), während die Fette durch alle drei Verdauungssäfte milchähnlich fein zertheilt und dadurch zur Aufsaugung geschickt gemacht werden. Mittels der wurmförmigen, von oben nach unten fortschreitenden Zusammenziehungen der Darmwand rückt der Speisebrei allmählich durch den Gekrös-(Leer- und Krumm-) Darm (t.) herab und wird, da das Flüssige immer mehr herausgesogen wird, nach und nach trockner und gelangt nun in den Dickdarm, um hier der „Dickdarm- oder Nachverdauung“ zu unterliegen, bei welcher der Rest des Speisebreies allmählich die Beschaffenheit des Kothes annimmt. Die Gase im Dünndarm (Kohlensäure und Wasserstoff) sind größtentheils Producte der chemischen Umsetzung der Nahrungsmittel.
Der Dickdarm (v. x. y. z. tz.) empfängt vom Dünndarme einen Speisebrei, der allerdings noch unverdaute Nahrungsstoffe enthält, aber, da das aufgelöste Gute zum allergrößten Theile schon herausgesogen [105] aufgesogen wurde, doch sehr arm daran ist. Im Blinddarme, an welchem sich ein regenwurmähnliches Anhängsel, der Wurmfortsatz (w.), befindet, scheinen hauptsächlich pflanzliche Nahrungsmittel längere Zeit zu verweilen, um noch weiter verdaut und aufgesogen zu werden. Während des Durchrückens des Speisebreies durch den Dickdarm gehen einige Speisereste eine faulige Zersetzung ein, und dabei entwickeln sich außer Kohlensäure und Wasserstoff auch noch übelriechende Gase (wie Kohlen-, Schwefel- und Phosphorwasserstoff). Im untersten Theile des Grimmdarmes und im Mastdarme sammeln sich schließlich die Speisereste an, um als Excremente durch den After nach außen geschafft zu werden.
Der Rest des Speisebreies, welcher den Dickdarm passirt und endlich durch den Stuhlgang entfernt wird, besteht fast nur aus unlöslichen und nicht nahrhaften Bestandtheilen der genossenen Nahrungsmittel, so wie aus Darmschleim und zersetzter Galle. Je mehr also Jemand unlösliche Stoffe mit der Nahrung genießt, um so mehr Reste derselben muß er wieder ausleeren, während beim Genusse leicht löslicher und zum größten Theile aufsaugungsfähiger Stoffe der Stuhlgang nur sehr sparsam sein kann. Der eigenthümliche Geruch des Kothes, so wie die Luftentwickelung im Dickdarme rührt von der Zersetzung (Fäulniß) der Galle und der Nahrungsreste her. Sollte sich in dem Dickdarminhalte noch etwas Nahrhaftes befinden, so wird es durch den Dickdarmsaft aufgelöst und von den Saugadern weggesogen, um auch noch in das Blut geführt zu werden.
Hiernach ist die Einrichtung bei der Verdauung unserer Nahrungsmittel so getroffen, daß die eiweißartigen Substanzen durch den Magen- und Darmsaft, die fetten Materien durch die Galle und den Darmsaft, die stärkehaltigen Stoffe durch den Mund- und Bauchspeichel, so wie auch durch den Darmsaft aufgelöst und umgeändert (verdaut) und dadurch zur Aufsaugung geschickt gemacht werden. Alle übrigen löslichen Bestandtheile der Speisen werden nur schlechtweg aufgelöst und aufgesogen, ohne vorher eine weitere Veränderung zu erleiden; die unlöslichen Reste der Nahrungsstoffe bilden zuletzt den Koth. Die Verdauung der drei hauptsächlichsten festen Ernährungsmaterien besteht aber darin, daß die festen eiweißartigen Substanzen in eine Art flüssigen Eiweißes (Pepton), die Stärke in Zuckerlösung, die Fette in eine Art Mandelmilch verwandelt und dann mit den übrigen aufgelösten Stoffen (Zucker, Salze), von den Saugadern als Speisesaft aufgesogen werden. Ein guter, das Blut und durch dieses den Körper gehörig ernährender Speisesaft, dessen Bereitung eben Zweck der Verdauung ist, kann demnach nur aus solchen Nahrungsmitteln gebildet werden, welche die Stoffe in sich enthalten, aus denen unser Körper zusammengesetzt ist.
Die Häuser haben ihre Schicksale. Räume, in denen das achtzehnte Jahrhundert tanzte, jubelte und spielte, sind jetzt Krankenhäuser; in Palästen, an deren Wänden Gobelins hingen und die mit Gemälden von Watteau und Rubens geschmückt waren, stehen jetzt Schränke mit Todtenschädeln und anatomischen Präparaten. So der Palast des Herzogs von Kurland in Dresden. Wer das schöne Haus gesehen hat, wird es nicht vergessen; selbst in seiner jetzigen Unzierde prägt sich die Größe und der Schmuck der Seele des Beschauers ein. Eine Gallerie ist darin, die von sechs hohen Fenstern zu beiden Seiten ihr Licht empfängt, und an deren Wänden die hohen lebensgroßen Gemälde August des Starken, seiner Gemahlin und seines Sohnes hängen. Sie ist der Schauplatz der folgenden Geschichte. Doch wollen wir hinzufügen, wie sie jetzt aussieht, und von welch einem Volke sie bewohnt wird. Es sind Frauen und Männer, auch Kinder, völlig entkleidet, aber so entkleidet, daß sie dennoch den Regeln des größten Anstands gemäß erscheinen, – nämlich als Gerippe, in den verschiedenartigsten Stellungen, von der Stellung wie der Mensch sie im Grabe annimmt, bis zu dem lebendigsten und ausgearbeitetsten Kunstwerke. Man sieht daselbst den borghesischen Fechter, den barbarinischen Faun, den Herkules, ja selbst die Venus von Medicis, eine arme Venus, nur aus Knochen gebaut, mit der koketten Haltung der Arme, die etwas bedecken, was nicht mehr da ist, mit dem ungeheuern Lächeln des lippenlosen Mundes, das eine echte Carricatur auf das anmuthige Lächeln im Original ist. Diese Figuren sollen dazu dienen, dem jungen Künstler zu zeigen, wie auch die alten Künstler das Gerippe verstanden haben, wie sie richtig es mit Fleisch umkleideten. Eine traurige, aber eine nothwendige Kenntniß für den, der etwas schaffen will. In diesen von Skeletten wimmelnden Saal tritt man ein und erschrickt, man denkt, es sind seltsame Gäste hierher gekommen, um dem allmächtigen Selbstherrscher, dem Tode, ihre Aufwartung zu machen, man fühlt sich noch nicht reif in dieser Versammlung und man will zurück; da ruft uns die Wissenschaft zu, daß wir hier nur lernen sollen, nicht empfinden und träumen, und wir treten ein. Nächst den Gerippen zeigt sich uns die Sammlung in Spiritus bewahrter Abnormitäten, Kinder mit zwei Köpfen und andere Monstrositäten. Wenn wir aufwärts schauen, blicken die Genien an der Decke trübe lächelnd nieder, und die prächtige Gestalt der Kurfürstin scheint sich frierend in ihren Purpurmantel zu hüllen. Ja, ihr habt Recht, Königsbilder, warum trug man euch nicht fort, als man dem Saal eine andere Bestimmung gab? Ihr seid gewohnt auf andere Dinge niederzuschauen. Und nun vollends das schöne Vorgemach, mit seinen rothen Atlasmöbeln und der chinesischen Decoration an den Wänden, wie häßlich steht mitten drinnen der lange, einfache Tisch, und darauf ein gräßliches Stück Metzgerarbeit, ein halb zerschnittener Mensch, der soeben der Schaar der anatomischen Schule zum Lehr- und Beweisstück gedient hat. Genug davon!
In den Zeiten, wo der Palast noch seinem Zwecke diente, gab es im Sommer des Jahres 1774 eine mysteriöse Nacht darin. Es war eine Nacht, die damals ungeheures Aufsehen machte, und von der man in weiten Kreisen außerhalb Dresden sprach und stritt. Es bewohnte damals das Palais der Herzog Karl von Kurland, der Oheim des regierenden Kurfürsten. Wer in jener Nacht am Zeughause vorüberging und den Blick auf die hohen Fenster des Palais richtete, konnte ein schwaches Leuchten bemerken, das von innen drang, und das die niedergelassenen Vorhänge durchbrach. Kein Wagen hielt auf dem Platze, keine Zuschauer versammelten sich, es blieb Alles öde und still. Es hieß, daß der Herzog verreist sei. Aber er war nicht verreist, nur mußte das, was in seinem Palais geschah, heimlich vor sich gehen, weil sonst der Kurfürst dazwischen getreten wäre und es verboten hätte. Es war nämlich nichts mehr und nichts weniger als eine Geisterbeschwörung.
Das achtzehnte Jahrhundert, in seinen vielen Launen und Grillen, gefiel sich zugleich im Glauben, im Aberglauben und im Unglauben. Graf Zinzendorff arbeitete für den Glauben, Cagliostro für den Aberglauben, und die Philosophen aus Friedrichs Schule lachten über Beide und setzten den Unglauben auf den Thron der Welt. Dabei blieb der Mensch immer Mensch. Er nahm sich von jeder Untugend der Zeit etwas, das er heimlich bei sich behielt, aus dem er das Glück seines Hauses und sein eigenes zu formen trachtete. Die Ueberfülle von Verbindungen aller Art zeichnet besonders die letzte Hälfte den Jahrhunderts aus; sie waren fast alle mysteriöser Natur. Orden über Orden, und jeder versprach seinen Anhängern Schätze, die dem armen Menschen in den Wechselfällen seiner irdischen Pilgerfahrt nie zu Theil werden und nie zu Theil werden sollen. War es ein Wunder, wenn tausend Hände danach griffen, wenn tausend Herzen sich danach öffneten? Der Freimaurerorden war ganz besonders günstig zu derlei Verwandlungen. Von Anfang an schon im mystischen Gebiete großgezogen, aus dem alten Sagenland Egypten stammend, behielt er, wie das egyptische Samenkorn, das man in den Händen einer Mumie gefunden, die Gabe zu keimen und die Welt mit Seinesgleichen zu bevölkern. Das waren nun eben Geister und die Gabe mit ihnen zu verkehren. Noch Niemand hat die Stimme eines Todten gehört; noch Niemand hat gelauscht hinter den Falten des Vorhanges, der in der letzten Minute unseres irdischen Daseins niederrauscht und unberührt [106] liegen bleibt. Aber der Wunsch, das Verlangen, es zu kennen, bleibt in der Seele lebendig. Wir wollen wissen, was mit unsern Kindern geschieht, die man von uns nimmt, und während wir dieses wissen wollen, fallen wir Armen den elenden Betrügern des Marktes anheim, die uns mit ihrer eigenen Weisheit speisen. Ein solcher Helfer in der Noth war St. Germain, war Cagliostro, war ihr Schüler Schröpfer, einstmals Leipziger Kellner, dann hochberühmter Geisterbeschwörer.[1] Der, der aufrichtig sucht, fühlt sich im Laufe der Zeiten immermehr vereinsamt, je langer er lebt: er wünscht oft, einem Irrthum zu unterliegen, nur auf kurze Frist, aber sein Verstand sieht scharf, seine Erfahrung ist eine gewitzigte, für ihn gibt es keine Offenbarung, keine Wunder, keine Geisterspielerei, keine Geheimnisse und keine Freimaurerlogen.
Die Freimaurerei war für Viele eine Art Freistätte geworden; die sonst nichts werden konnten, wurden Freimaurer. Sie drangen in die Logen ein, schufen Reformen, Aenderungen, neue Grade. Der allgemeine Glaube, daß die Jesuiten, deren Orden aufgelöst worden war, unter den verschiedenen Logen in Deutschland und Frankreich Eingang gefunden, machte die Sache auch für die wichtig, denen Geheimnisse nichts Wichtiges waren. Wo Jesuiten sich fanden, fanden sich weltliche Zwecke, und man wußte, wie man sich vor diesen, in der Jesuiten Hände, zu hüten habe. Deshalb schon wurden Viele Freimaurer, um den Spuren des verhaßten Ordens nachzugehen. Deshalb das große Geschrei, das die Illuminaten in München erregten. Schröpfer scheint ein Werkzeug in den Händen jener im Geheimen wirkenden Männer gewesen zu sein, er wußte dieses, hegte dabei Glauben an seine Wunderkraft und beschloß die, die ihn gängelten, plötzlich durch die Kraft, die in ihm wohnte, zu vernichten. Er ging weiter, als man ihm geheißen, und den letzten Theil seines Weges machte er ganz allein. In Sachen des Freimaurerordens war er mit dem Herzoge aneinander gekommen, und dieser, nach Weise der damaligen burlesk-cynischen Aristokraten, ließ ihm eine Anzahl Hiebe geben, für deren Empfang er eine Quittung ausstellen mußte. Wie ihn einige Jahre später der Nimbus des Wundermanns umgab, kroch der Herzog zu Kreuze und bat den Mann, den er so schimpflich beleidigt hatte, um Verzeihung, lediglich nur – um Geister zu sehen. Schröpfer versprach ihm dieses. Er lebte damals in Dresden unter dem Namen eines Barons von Steinbach, in französischer Obristen-Uniform, die er zu tragen vom Herzoge von Orleans die Erlaubniß zu haben behauptete. Der französische Gesandte erkannte dieses nicht an, und weigerte sich, unter diesem Namen ihn dem Kurfürsten vorzustellen. Der Herzog, um den Schwergekränkten zu versöhnen, versprach ihm, unter seiner Führung, den Hof und die Gesellschaft. Vorher sollte aber die Geistercitation stattfinden.
Es traten jetzt mehrere angesehene Männer zusammen, Leute von „Consideration und Respectabilität“, wie es in der Berichterstattung heißt. Es waren außer dem Herzog Karl der Minister Wurmb, der nachmalige Minister Hohenthal, der Kammerherr von Hopfgarten, der Adjutant von Fröden, der Kammerherr, später in Preußen Minister gewordene Bischofswerder und noch einige Andere. Ueber den Geist, den man citiren lassen wollte, war man scheinbar uneinig; der Herzog wußte sehr gut, wen er wollte. Es war der Chevalier de Saxe, der Sohn August des Starken und der Lubomirska, der Oheim des Herzogs von Kurland, der vor Kurzem gestorben war und, als Malteserritter unvermählt, dem Herzoge das Palais und den Garten vermacht hatte, angeblich jedoch noch im Besitze großer Summen gewesen sein sollte. Wo diese hinversteckt waren, hatte der Herzog schon längst überall nachgesucht, hatte aber nichts gefunden. Es war also nicht allein Begierde, über den Zustand des Verstorbenen nach dem Tode etwas zu erfahren, es war auch das liebe Geld, das hier mitspielte. Schröpfer stand hier am Gipfelpunkte seiner Wirksamkeit. Eine solche Citation, wenn sie ihm gelang, mußte Aufsehen machen; die Männer und ihre Stellungen gaben dafür die Sicherheit. Der Schwärmer steckte in einem Gewebe von Lügen und Selbsttäuschungen. Es läßt sich annehmen, daß Manches ihm unter der Hand zu etwas wurde, was er nicht erwartet hatte! Die Wissenschaft hat uns ja in neuesten Tagen tausend kleine Kunststückchen gelehrt, die blenden, ergötzen und – erschrecken können. Es kommt darauf an, in wessen Händen sie sich befinden. Hier war offenbar Manches der Art im Gange. Schröpfer glaubte wirklich gewissermaßen in der fremden Welt Fuß gefaßt zu haben. Anders können wir wenigstens seinen plötzlichen Tod nicht erklären, denn ein gewöhnlicher Gaukler und Betrüger hat viele Mittel zu verschwinden, wenn er fühlt, daß sein Latein zu Ende ist.
Wir kommen jetzt zu der Nacht selbst. Man denke sich die Mitternachtstunde, die langsam austönt, die kleine Gesellschaft von Herren in der großen Gallerie, die nur schwach erleuchtet ist, und wo man Fenster und Thüren auf das Sorgsamste verschlossen hält und bewacht. Der Herzog, obgleich der Urheber dieser Dinge, sitzt gedrückt und verschlossen in seinem Lehnstuhle; es thut ihm fast leid, das Spiel gewagt zu haben, denn es handelt sich darum, einen nahen Verwandten mit Gewalt seiner letzten Ruhestätte zu entziehen! Wird er kommen, wird er nicht? Denn daß Schröpfer ihn zu rufen die Macht hat, davon ist der Herzog fest überzeugt. Nicht so die übrigen Gäste. Ein Paar sind darunter, die offene Ungläubige und Zweifler sind, und die sich deshalb an die Thüren stellen, um zu sehen, daß sie nicht geöffnet werden. Sie nehmen auch nichts von dem Punsche, der aufgetragen wird und zu dem die Gesellschaft greift, um ihren Nerven die gehörige Spannung zu geben. Die Citation beginnt. Man hat Schröpfer in einem einfachen schwarzen Anzuge lange stillschweigend in der Gallerie auf und ab wandeln sehen; plötzlich wirft er sich in einer Ecke der Gallerie nieder und mit einem Crucifix in den Händen beginnt er die Hersagung oder vielmehr Hersingung geheimnißvoller Formeln und dunkler Sprüche. Die Gesellschaft lauscht gespannt. Eine Stunde vergeht, es geschieht nichts. Da plötzlich rauscht es von außen an den Fenstern, und bald darauf klingt ein Ton durch das Gemach, ähnlich dem Klingen einer Aeolsharfe. Das Rauschen an den Fenstern von außen macht einen geheimnißvollen Eindruck, die Gesellschaft weiß sich ihn nicht zu erklären, und der Geisterseher sagt ihnen, dies deute auf die Ankunft der guten Geister, die zu dem Werke nothwendig seien. Plötzlich dringt eine augenblickliche Helle in das Gemach, und zugleich läßt sich ein Gewirr heulender und wehklagender Stimmen hören, die, wie es scheint, aus der obern Region des Saales selbst kommen. Dies sind die bösen Geister, die da kommen, um das Treiben der guten zu vernichten oder wenigstens zu hemmen. Jetzt bereitet sich die Erscheinung selbst vor. Wie vom Sturm aufgerissen, öffnet sich die obere Saalthür und herein braust, in eine Art Wolke oder Nebel gehüllt, ein Etwas in Form einer Kugel. Aus dem Kerne dieser Kugel starrt ein menschliches Antlitz, und dieses Antlitz ist – der Gerufene. Alle erkennen ihn – Alle erschrecken und verstummen. Der Herzog sinkt auf die Kniee und wendet schamhaft und zitternd sein Antlitz; er kann es nicht ertragen, dem in’s Angesicht zu sehen, den er so frevelhaft gerufen.
„Was willst Du von mir, Karl? Warum störst Du mich?“ erschallt eine furchtbare Stimme.
Niemand antwortet.
Die Kugel mit dem drohenden Antlitz bleibt mitten im zurückweichenden Kreise der Männer. Eine düstere Schwefelhelle geht von ihr aus. Der Zustand der Gesellschaft wird ein so beängstigender und drückender, daß man Schröpfer himmelhoch bittet, das Phantom wieder verschwinden zu machen. Aber das ist nicht so leicht. Schröpfer bekennt, daß er das nicht vermöge.
Ein schrecklicher Aufruhr in der Gesellschaft; soll man sitzen bleiben und immer das unheimliche Etwas in seiner Mitte behalten? Unmöglich. Einem Jedem liegt ein Berg auf der Brust. Der Herzog wird angegangen, auf die Frage zu antworten; er vermag es nicht. Die Augen des Gebildes sind mit einer durchbohrenden Kraft auf ihn gerichtet. Er stammelt endlich etwas, das so klingt, als wenn er nichts zu sagen hätte und daß er von dem, was er wissen wolle, nunmehr überzeugt sei. Die Kugel bleibt stehen. Schröpfer liegt im Winkel, windet sich unter Convulsionen und ruft wilde Beschwörungsformeln in die Lüfte. Endlich weicht das Gespenst, die Gesellschaft athmet wieder auf; doch kaum ist die Kugel fort, die Thüre hinter ihr verschlossen, so geht sie nochmals auf, und von Neuem steht das Entsetzliche wieder da. Jetzt taumelt die Gesellschaft durch einander, sie drückt sich an den Wänden, sie sucht hinter die Tische zu kommen, und manches Taschentuch ist getränkt vom Angstschweiß seines Besitzers. Schröpfer flieht wieder in die Ecke und liegt wieder da. Neue Gebete, neue Beschwörungen, endlich – endlich umgibt ein dichter Dampf die Kugel, als sich dieser verzogen hat, ist sie fort, um nicht mehr wiederzukommen. Diese Nacht, sie wird ewig unvergeßlich sein für die, [107] die in diesem unglückseligen Raume beisammen waren. Man greift nach Hut und Stock, man sucht das Freie zu gewinnen, denn jeden Augenblick fürchtet man die Kugel wiederkommen zu sehen, vielleicht gefolgt von noch Schrecklicherem. Der Herzog wird in sein Schlafcabinet geführt, mit wankendem Schritt und einem leisen Gebete auf den Lippen. Das ist das Ende der berühmten Erscheinung im Palaste des Herzogs von Kurland.
Wir enthalten uns, die Sache natürlich zu erklären, wohl wissend, wie widerstrebend solche Erklärungen aufgenommen werden, wir geben nur die Thatsachen, die uns aus mehr als einem achtbaren Munde bestätigt werden, aus dem Kreise der Zeitgenossen und damals in Dresden Lebenden. Wie gesagt, es machte ein unbeschreibliches Aufsehen: die Spötter schwiegen und die Gläubigen triumphirten. Noch eine geraume Zeit darauf durfte nicht darauf hingespielt werden, wenn man nicht wollte, daß die, welche darin unmittelbar betheiligt waren, schlaflose Nächte haben sollten.
Mittlerweile drang man in Schröpfer, einiges von den Summen herbeizuschaffen, von denen er gesprochen und die von den Jesuiten deponirt und von denen ein Theil ihm zugänglich war. Sie befanden sich in einem Päckchen, das in Frankfurt gesiegelt niedergelegt worden. Es wurde der Tag bestimmt, wo diese Summen anlangen sollten. Es gehört dieses eigentlich nicht zu unserer Geschichte, es sei ihrer nur Erwähnung gethan, um Schröpfer’s Tod dabei zu berühren, der tragisch genug war, um für diesen unglücklichen Adepten Theilnahme und Mitgefühl einzuflößen.
An einem Morgen, noch vor Sonnenaufgang, fanden sich ein paar Männer der oben Genannten in Leipzig mit Schröpfer zusammen. Er hatte ihnen versprochen, noch vor Ankunft der Papiere ein merkwürdiges Wunder zu zeigen. Sie gingen mit einander in das Rosenthal, dort verließ sie der Wunderthäter, verirrte sich in das Gebüsch und – erschoß sich. Er hatte diesen Selbstmord figürlich einen Eintritt in den letzten und höchsten Grad des Geheimnisses genannt. Jetzt hatte er die Pforte gesprengt: jetzt war er in der That in ein Mysterium eingetreten, wo kein Anderer ihm folgen wollte. Erstarrt und entsetzt standen die Männer an seiner Leiche. Jetzt hieß es: es ist ein gewöhnlicher Betrüger; er hat sich nicht anders zu retten gewußt. Man eilte sich seiner Papiere zu bemächtigen; man fand keine. Das Päckchen aus Frankfurt enthielt eine Anzahl leere und beschriebene Blätter, die man im Aerger verbrannte. Die versprochenen Summen waren und blieben fort.
Mehrere Jahre hierauf wurden in Berlin ähnliche Scenen gespielt. Bischofswerder war hier der Hauptheld. Aber hier mischte sich nichts hinein, was dem Beobachter die Sache anziehend machen konnte; es war die reine Manipulation des Betrugs.[2]
Als sich vor zehn Jahren der erste kosmopolitische Friedenstempel für alle Völker im Hyde-Park zu London aus Glas und Eisen erhob, wölbte und mit dem Fleiße und Schweiße aller Schaffenden der Erde zu nie erhörter Pracht ausfüllte, da jubelten die Hoffnungsvollen in allen Sprachen und begrüßten das Morgenroth einer sonnigen neuen Zeit ewigen Friedens, freien Austausches von Mangel und Ueberfluß über die Erde, allgemeiner Wohlfahrt und Sicherheit von „Personen und Eigenthum“ der „geretteten“ Völker und Staaten.
Der Wahn war kurz, die Reue lang. Es folgten zehn Jahre der Furcht vor Krieg und Revolution, Krieg mit unmenschlichstem, muthwilligstem Blutvergießen, Revolutionen und Staatsstreiche von oben gegen bereits gerettete und zusammengehauene Völker. Gefüllte Kerker überfüllten sich, so daß Männer und Jünglinge, die nicht unter die Soldaten, in den Krieg getrieben wurden, tausendweise auf giftige, heiße Inseln transportirt, wegen Mangel an Liebe zu verhaßten Zuständen und Personen in ihrem Erwerbe gestört, ausgewiesen, Hunderttausendweise zum Auswandern genöthigt oder zur Paß-, Concessions- und Arbeitslosigkeit zu Hause verurtheilt wurden. Die Schaffenden, Erwerbenden und Nährenden, die vorher frohndienend Ziegel brennen mußten, wurden gezwungen, nun auch Stroh und Holz dazu zusammen zu lesen; die Steuern verdoppelten sich. Feierlich beschworene und constituirte Rechte und Pflichten zwischen Herrschenden und Beherrschten wurden abgeschafft, verlacht, verhöhnt, die Verträge des „europäischen Gleichgewichts“ und des Friedens unter den Fürsten durch List und Gewalt verletzt und gebrochen. Der Premier des mächtigsten und freiesten Volkes war der Erste, der dem größten Meister in dieser Sphäre gratulirte. England wollte für 1861 eine neue Cultur-Ausstellung aller Völker bauen, wagte es aber nicht, konnt’ es nicht wegen der maßlosen Furcht vor dem Palmerston’schen Freunde, dem treuen „Alliirten“ drüben. England und manche andere Großmacht werden wegen dieser Freundschaft, wegen allgemeinen Mißtrauens, wegen der waltenden Nemesis der letzten zehn Jahre auch manches Andere nicht bauen können. Werthe von Millionen blieben in den englischen Häfen, in den Fabriken Europa’s liegen, in den Händen zum Müßiggang verurtheilter Arbeiter stecken, weil Kaufleute fürchteten, ihre mit dem Fleiße der Arbeit beladenen Schiffe könnten unterwegs in einen irgendwo und irgendwie ausgebrochenen Krieg hineinfahren.
Die Großen und Mächtigen hörten nicht auf die Stimmen der Friedenstempel, sie ließen sich gar nicht darin sehen, sie wollten nichts davon verstehen. Die Diplomatie und Politik steht ja hoch über der Weisheit, welche von stummen Callico-Ballen, von tönender Keramik und dem Rauschen textiler Künste gepredigt wird. In ihnen klingen die Rechte und Freiheiten der fleißigen, schaffenden Hand, des denkenden, erfindenden Kopfes. Unter den Diplomaten und regierenden Classen von Profession, am Entschiedensten unter den „obersten Zehntausenden“ Englands, gilt jede Art von Industrie und redlichem Erwerb als eine ausgemachte Schande. Der Krystall-Palast sollte im Hyde-Parke stehen bleiben, und Petitionen mit Hunderttausenden von Unterschriften verlangten dessen Erhaltung. Aber die „regierenden Classen“, die alle Tage in dessen Nähe mit ihren Damen Corso reiten, duldeten diese dauernde „Schande“ nicht; so daß er abgetragen und fünf Meilen weit im Süden wieder aufgebaut werden mußte. Die Industrie mit ihrem völkerverbrüdernden Kosmopolitismus unterlag in England – in Europa; die Diplomatie, welche Grenzen, Zöllner, Zollhäuser, Abgaben, streitende Interessen zwischen diesen Grenzen, Feindseligkeit, Soldaten, Kanonen, Bajonnete haben muß, um zu leben und sich wichtig zu machen und Freund und Feind auszubeuten, siegte und schwitzt seitdem täglich den Angstschweiß ihrer Triumphe.
Die Industrie unterlag, um vielleicht während dieser zehn Jahre der Schmach ihren größten Heldenkampf zu kämpfen und in ihrer Kraft sich loszuschütteln von den Frohndiensten und der Welt die Gesetze ewigen Friedens, der Freiheit unter den Völkern zu dictiren.
„Industrie, Kunst und Wissenschaft“ aller Nationen wollen im Mai 1861 zu einem neuen Congreß sich versammeln, um zu zeigen, was sie während der letzten zehn Jahre zu leisten gelernt, und zu sagen, was ihr heiliges Recht geworden, wenn sie „steuerkräftig“ bleiben sollen, und unter welchen Bedingungen sie künftig allein die nichtarbeitenden Classen mit ernähren können. Der Congreß wird aber nicht wieder nach London, überhaupt in keine Großmachtsstadt berufen (lauter „unsicher gemachte Gegenden“), sondern in die niederländische Haupt- und Hafenstadt Amsterdam, die halbmondförmig dem Meere zugewandte Stadt der neunzig Inseln, auf deren Brücken und zwischen deren kosmopolitischen Masten einst Spinoza dachte, Freiligrath dichtete und Swammerdam forschte.
Der Krystall-Palast für diesen zweiten kosmopolitischen Congreß fängt an, am Utrecht-Thore aufzusteigen, nach dem ausgeführten Plane prächtiger und schöner, als der größte Stolz Amsterdams, das ehemalige Stadthaus, jetzt Königsschloß, und der ehemalige Prinzenhof, jetzt Rathhaus. Er ist für die Dauer bestimmt, da keine englische Aristokratie am Utrechter Thore reitet, die sich durch dessen Nachbarschaft entehrt fühlen würde. Obgleich weit kleiner, als der erste vor zehn Jahren, im Ganzen nur 412 Fuß lang und 172 breit (im Transept 224), wird er doch, wie man
[108][109] hofft, großartiger aussehen, da er im Innern und in seinen äußern architektonischen Formen vielfach im Interesse der Schönheit und Wirksamkeit verziert und geschmückt werden wird. Die Grundlage besteht, wie die von ganz Amsterdam, aus eingerammten Pfählen mir Querpfosten und Dielen oben, auf welche erst Mauer- und Steinwerk als Grundmauer gebaut wird, um ein zum Theil unterirdisches, nur zwei Fuß über den Boden aufragendes Untergeschoß zu bilden. Auf dieses Grundwerk wird das durchaus von Eisen construirte Skelett des Gebäudes befestigt. Es bildet ein Hauptschiff, 64 Fuß breit durch die ganze Länge hindurch mit 19 Fuß breiten Seitenflügeln, eine Central-Transept-Halle 136 Fuß hoch und 68 breit, mit polygonalen Enden und zwei Seitenhallen, jede 150 Fuß hoch und 34 breit, die am Haupttransepte durch Thore von glasirtem Eisen getrennt sein werden. Um die ganze innere Weite läuft 29 Fuß 6 Zoll vom Boden eine 19 Fuß 4 Zoll breite Gallerie, die mit Salons in den Vestibülen der Eingänge in Verbindung steht. – Die eiserne Säulen-Ordnung im Innern entspricht der im großen Krystall-Palaste in London von 1851, aber mit manchem besseren Arrangement; auch wird jede Säule mit einem gußeisernen, gemalten heitern Blätter-Capital verziert.
Das Dach des Hauptschiffes besteht aus schmiedeeisernen, gewölbten Rippen und wird durchaus mit Glas gedeckt und zwar einem doppelten Glasdache, dessen Scheiben 3/4 Zoll von einander in schmiedeeiserne Barren (in der Gestalt eines liegenden =) geschoben werden. Der Dachfirst des Hauptschiffes ist 89 Fuß hoch. Die Enden desselben werden mit sehr ornamentalen, halbcirkelförmigen Fenstern ausgefüllt, in gußeisernen Rahmen, die ebenfalls 4 Zoll von einander doppelt mit Glas versehen, werden. Die äußeren Wände, mit Eisenplatten gefüllt, lassen das Licht blos von oben ein. Nach bisheriger Berechnung wird man 50,000 Centner Guß- und 1000 Centner Schmiedeeisen zu dem Knochen- und Rippenwerk brauchen, das von einer Firma in Birmingham geliefert wird. Der architektonische Plan ist von C. Outshoorn in Amsterdam, das Unternehmen selbst als finanzielles von den Herren van Heel und Holtzmann. Die Gestaltung und Detail-Construction des Eisenwerks steht unter Leitung eines englischen Hauses in London, R. M. Ordith (Great George Street, Westminster).
Unsere Abbildung, nach der architektonischen Originalzeichnung in der englischen Bauzeitung („the Builder“), gibt eine klare Anschauung von der äußern Gestalt des Werkes, auf welchem wir als merkwürdiges Charakteristikum einen Thurm oder Dom finden. Man hat dessen verschönernde Kraft bezweifelt, aber ein im Kleinen ausgeführtes Modell entschied zu Gunsten desselben. Dieser elliptische Dom fängt 95 Fuß vom Parterre im Transept an, wo Eisenrippen von den Säulenschaften sich elliptisch nach dem Centrum aufwölben und so die Basis mit Axen von 70 und 42 Fuß bilden. Auf dieser elliptischen Basis stehen 23 Fuß hohe Säulen-Paare, ausgefüllt mit glasirten Eisenplatten, die das eigentliche Domgewölbe tragen. Es besteht aus Eisen, ist mit Zink gedeckt und spitzt sich zu einer architektonischen „Latèrne“ zu mit einem Knopfe, auf welchem wahrscheinlich ein besittigter Merkur, 187 Fuß über ebener Erde, Platz nehmen wird.
Das Eisenwerk im Innern nimmt unter der Hand geschickter Gießer und Modelleurs oder Dampfschmiedefunner, dann durch Anstreicher und Maler den Charakter des Ornamentalen und Schönen an, sodaß man die schwere Nothwendigkeit architektonischen Tragens nicht merken und sich von dem heitern Spiel leichter Formen und Farben erhoben und erleichtert fühlen soll.
Die veranschlagten Kosten lauten auf 95,000 Pfund Sterl., die aber bei englischen Unternehmungen bis jetzt nie eingehalten und sogar gelegentlich dreifach überstiegen wurden.
So viel für jetzt von dem zweiten großen Friedenstempel aller Nationen. Geschickte und fleißige Fabrikanten, Künstler und Arbeiter mögen sich bereiten, um an dem großen, schönen Wettkampfe um Orden wirklicher Verdienste ihren Antheil zu sichern.
So still der Abzug von Würzburg geschehen war, so hatte man ihn doch vom Schlosse aus bemerkt, und in derselben Nacht rauschte der bischöfliche Marschall Truchseß mit 250 Reitern bis zum Ruck des Frauenbergs heran und schickte etliche Knechte bis an den lichten Zaun, eine Leiter ließ sich auf ein Zeichen von den Zinnen herab, Drei stiegen in’s Schloß und meldeten den Sieg bei Königshofen und den Anzug des Fürstenheeres. Der Wächter auf dem mittlern Thurme mußte auf den Jubel der Besatzung den Bauern das Spottlied hinabblasen: „Hat dich der Schimpf gereut, so zeuch du wieder heim“, der auf dem andern Thurme blies den Würzburgern den „armen Judas“. Die im Schloß theilten den Boten den Zug des schwarzen Haufens die Waldsteige hinauf mit, sie stiegen hinauf, meldeten es dem bischöflichen Marschall, und der jagte mit der wichtigen Kunde davon. Die Büchsenschützen der Bauern in der Tellschanze sahen die Reiter, schossen durch die Dämmerung auf sie, in der Stadt wurden die Sturmglocken angezogen, der Marschall und die Reiter verschwanden im Wald; der erschreckten Menge sagten die Hauptleute in Würzburg, es seien nur gespenstische Reiter, keine Bündischen gewesen; der große Schwarzkünstler, der Barfüßlermönch (ein geschickter Feuerwerker im Schloß), habe sie ihnen vorgezaubert.
Der bischöfliche Marschall ereilte zwei Stunden von Giebelstadt den Truchseß und die Fürsten. Er war Florians Haufen bis auf eine gewisse Strecke nachgeritten, dann seitwärts, vom Nebel verdeckt, durch die Thäler. Die Schwarzen, sagte er den Fürsten, seien im Anzug und nicht eine halbe Meile von da.
Am Pfingstfest war das Fürstenheer, nachdem es einen Tag von Marsch und Schlacht gerastet hatte, aufgebrochen und zog auf Würzburg. Beim Aufbruch hatten die Fußknechte des Truchseß sich geweigert, mitzuziehen; sie machten, vielleicht schon durch die von Würzburg ausgesandten Werber bestochen, eine Meuterei und bewegten des Pfalzgrafen Knechte auch auf ihre Seite; sie wollten einen Schlachtsold von der letzten Schlacht haben. Der Truchseß erinnerte sie ihres Eites; umsonst. Damit sie sich nicht des Geschützes bemächtigten, ließ er es voranführen und zog mit dem reisigen Zeug hintennach. Auf der Höhe erfuhr er den Anzug der Bauern. Er schickte seinen Herold an die Knechte mit ihnen zu handeln, daß sie im Angesichte der Feinde als fromme Knechte bei ihrem Eide thun wollten. „Nichts Eid! Geld, Geld!“ riefen sie. Sie hielten eine Gemeinde, darin war ein großes wüstes Geschrei. Die Mehrheit war, wer ziehe, den wollen sie zu todt schlagen. Drei weigerten sich, mit ihnen zu halten; sie lagen augenblicklich erschossen in ihrem Blute. Der Truchseß hätte die Meuterer gern gezüchtigt, aber, den Feind vor sich, „trug er Sorge, es könnte ihm wie Herzog Leopold von Oesterreich geschehen, wenn er die Bauern angriffe, daß die Knechte hinten in die Reisigen fielen, wie sie sich dessen vielmal hören ließen.“ Doch folgten dem Truchseß fast alle Hauptleute, Fähndriche mit den Fähnlein, Waibel und Doppelsöldner mit vielen Fußknechten, die sich mit Geschicklichkeit von dem Haufen machten, und ehe der Truchseß eine starke Stunde gezogen war, fanden sich noch bei tausend weitere Knechte bei ihm ein.
Herr Florian, Köhl und Gregor, welche die ersten Boten der Königshofer Schlacht nicht gesprochen, keine weitere officielle Kunde erhalten hatten, glaubten dem letzten Boten, glaubten ihre Brüder noch vorhanden, und ihre Leute waren größtenteils noch voll Muths und Zuversicht, und schwuren, wenn sie sich mit ihren Brüdern vereinigt hätten und als ein Heer der Rache auf den Bund sich würfen, keinen Gefangenen leben zu lassen, sondern die Reiter aufzuhängen, den Fußknechten aber die Hälse abzuschneiden. Da sie ihre Brüder zwischen sich und den Bündischen voraussetzten, zogen sie sorglos von dem Schloß Ingolstadt hervor auf den großen Flecken Sulzdorf in’s weite Feld.
Herr Georg ritt selbst mit etlichen Pferden vor, den Feind zu besehen, und er fand, daß es zunächst darauf ankam, die Bauern von dem Guttenbergerwald, den sie eine kleine halbe Meile Wegs hinter sich hatten, abzuschneiden. Er verordnete die Berittensten mit den Rennfahnen voraus, und alle Geschwader zogen gleich hinten nach. Sobald die Bauern die feindlichen Rennfahnen gewahrten,
[110] die auf die Ahnungslosen hervorbrachen, wollten sie wieder hinter sich in den Wald. Aber diese, die sie auf beiden Seiten anfielen, schwenkten eben so schnell ab und waren ihnen schon im Rücken, zwischen ihnen und dem Wald, und vorn daher rückte mit allen Geschwadern, mit Fußvolk und allem Geschütz der Truchseß. So sahen sich die Bauern jählings vom Fürstenheer im weiten freien Felde übereilt, umsetzt und angegriffen, daß sie weder ihr Geschütz noch ihre Wagen wieder zurück oder in einen bessern Vortheil zu bringen vermochten. Herr Florian ließ in diesem Unglück schnell, so gut er es konnte, alle Fähnlein der Bauern in Schlachtordnung treten, errichtete ringsum eine Wagenburg, mit sechsunddreißig Geschützen auf Rädern unterspickt, und begann das Feuer gegen die Reisigen. Wie aber der Schenk von Schwarzenberg mit seinen Schützen angriff, und der ganze bündische reisige Zeug und das furchtbare Geschütz daherkam, öffnete sich hinten die Wagenbürg, die Bauern begannen zu fliehen, und die ersten Muthlosen rissen die andern nach. Flüchtig im ganzen weiten Felde, wurden sie erritten, erstochen, todtgeschlagen, durch alle Straßen, Wege und Wälder, wohin sie flohen. Bis Ochsenfurt hier, bis an den Main dort verfolgten sie die Reisigen. Ein flüchtiger Schwarm entlief bis Eisfeld oberhalb Heidingsfeld und wurde hier im Kirchhof, wo sie sich setzen wollten, erstochen. Ein Theil floh nach Sulzdorf, Giebelstadt, Bütthard und andern Dörfern. Sechzig Bauern wurden lebend gefangen; die sie fingen, wollten ein großes Lösegeld aus ihnen ziehen. Als sie sie zur Wagenburg brachten, wurden sie auf Befehl des Truchseß auf einen Haufen erstochen, „da sie ja geschworen haben, auch keinem Bündischen das Leben zu schenken“; Beweis, daß auch hier feindliche Kundschafter unter dem Zug gewesen.
Fliehen war Herrn Florians Sache nicht, und seine Braven hielten auch bei ihm aus, während Alles auseinander floh. Mitten im allgemeinen Entlaufen und Morden zogen in die Sechshundert des Haufens mit Büchsen, Wehren, langen Spießen und Hellebarden, Kriegsleute und andere tapfere Männer, in festgeschlossener Ordnung, gegen Dorf und Stadt Ingolstadt sich zurück. Es war Florian Geyer mit dem Rest seiner schwarzen Schaar und fünfzig freien Knechten, welche die Geistlichkeit Würzburgs geworben hatte und die sich ihm anschlossen. Auch an dieses Häuflein raffelten wieder und wieder die Reisigen heran, und prallten jedesmal zurück vor den guten Schüssen der schwarzen Schützen und ihren langen Spießen. Hinter der Domhecke des Dörfchens Ingolstadt setzte sich die tapfere Schaar. Pfalzgraf Ludwig führte jetzt selbst seine 1200 Reiter und Reisige gegen sie heran. Da warfen sich 200 der Bauern in den Kirchhof, die Kirche und den Kirchthurm, 3 bis 400 erreichten das Schloß. Die Uebermacht drängte die im Kirchhofe alle in die Kirche zurück. Vom Thurm, vom Dach der Kirche herab blitzte Schuß auf Schuß, trafen Ziegel, Mauerstücke auf die Bündischen; diese warfen Feuerbrände hinein, und Kirche und Thurm mit den Tapfern darin verbrannten; aber noch aus den Flammen heraus schossen und warfen sich diese auf ihre Feinde und tödteten und verzehrten, noch während sie verzehrt und getödtet wurden. Nicht Einer dieser Tapfern blieb leben.
In den Ruinen des alten Schlosses schien sich alles Heldenthum des ganzen Bauernkrieges, wie in einem Brennpunkt zu sammeln. Das Schlößchen, schon vor fast einem Jahrhundert von den Rotenburgern gebrochen, später wieder in etwas aufgebaut, und am 7. Mai von Bauern wieder ausgebrannt, hatte noch hohes und gutes Gemäuer, mit einem großen starken Thurm und tiefen Graben. Herr Florian war selbst darinnen. Sie verbauten sich durch Verrammelung der Thore so schnell, daß Niemand zu ihnen kommen mochte, „und schossen so feindlich heraus, als stünde keine Sorg’ ihnen da an ihrem Verlust; sie begehrten auch weder Gnad’ noch Fried’“. Nur drei Feige waren darin. Die liefen heraus, Gnade zu erlangen, wurden aber auf der Stelle von des Pfalzgrafen Trabanten erstochen. Der Pfalzgraf mit fast dem ganzen fürstlichen und bündischen Zeug häufte sich vor dieser Ruine. Man richtete alles Geschütz wider sie, groß und klein; und auf das furchtbare Feuer fiel die Mauer, wohl auf vierundzwanzig Schuh Breite, von oben her zu einem großen Sturmloch, gegen sechs Schuh auf den Grund herab, und sogleich traten die Fußknechte begierig den Sturm an, durch einen wüsten moosigen Graben voll lehmigen Kothes, und mit ihnen Grafen, Herren, Ritter und Reisige, die alle von den Gäulen abstiegen, in einiger Unordnung, weil sie den Sturm leicht zu gewinnen meinten. Ganz wüst vom Schmutz des Grabens fielen sie über die Mauer hinein gegen die Feinde mit ganzem Haufen und ganzer Kraft. Aber auf der Bresche standen Männer, entschlossen, vor der schweren Stunde zu bestehen und ihren Feinden und dem Schicksal Achtung abzugewinnen. Mit einem Kugelregen empfingen sie die Stürmenden und mit einem Hagel von großen Steinen, und trieben sie mit großer Gewalt wieder hinter sich, über die zerschossene Mauer hinaus bis in den Graben; über Hundert der Stürmenden waren getödtet oder verwundet, „darunter viele Herren und gute Gesellen“. „Haben sie drinnen,“ sagten Sachverständige, „zu ihren Handrohren Steine und Pulver genug, werden wir ihnen heut schwerlich was angewinnen.“ Das schwere Geschütz erweiterte die Bresche, während die im Schloß arbeiteten, Steine zu tragen und zu verterrassen.
Zum andern Male wurde der Sturm angelaufen in ganzem Ernst. Viele Grafen und Herren, Edle und Unedle, kamen zu der Bresche hinein und freuten sich, die größte Noth überschritten zu haben; kein Schuß von innen heraus fiel mehr; die Belagerten hatten ihr Pulver fast verschossen, und mit Jubel drangen die Herren vor. Da fing Kampf und Noth erst recht an. Inwendig vor ihnen, zwischen der zerschossenen Mauer und dem Hofe des Schlosses, darin sich die Schwarzen enthielten, war noch eine Mauer, wohl eines Spießes Höhe hinauf, durch welche nur ein Fenster und eine enge Thür hinein gingen. Durch Fenster und Thüre und von oben herab wehrten sie sich mit Werfen, Stechen und gut gezielten Schüssen aus ihren Handrohren. Doch wurde „von Gnade Gottes“ keiner der Herren getödtet, so sehr sie in Gefahr ihres Lebens standen, und so viele gequetscht und verwundet wurden. Sie sahen sich zum zweiten Male abgetrieben. Mancher Knecht wollte nicht ganz abweichen und nachlassen; „wie Katzen“ hielten sie sich an der Mauer kletternd.
Jetzt legte man dan Geschütz anders und richtete es durch die zerschossene Mauer hinein an die innere Mauer und zerschoß sie darnieder, daß Weite genug war, hinein zu fallen. Die Büchsenmeister hatten ihre Geschütze bis an den Rand des Grabens vorgelegt, da sie von den Handrohren der schwarzen Schützen, wie sie sahen, nichts mehr zu fürchten hatten.
Der Fußzeug des Bundes und die Herren liefen nun den dritten Sturm an mit aller Macht und allem Zorn über das zweimalige Mißlingen. Schon sind viele im Schloß durch die heiße Arbeit müd und kraftlos. Einem Fähnlein, schwarz und gelb, gelingt es, auf die Mauer zu kommen; die Knechte kommen nach; bald wehen noch drei Fähnlein neben dem erstern. Der Fähndrich Hans Sattler von Augsburg sinkt; es sinkt der Fähndrich von Nürnberg, hart getroffen bis auf den Tod. Die Knechte hatten keine Büchsen, wie die Schwarzen kein Pulver; es war ein Kampf mit Mauersteinen, bis der Haufen der Knechte den Graben durchwatet hatte und nachkam. Da drangen sie an beiden Enden zuletzt, wiewohl schwer, an der Bresche und bei dem Thore hinein und drückten die schwarzen Helden in die letzten Ruinen zurück. Niemand will, Niemand gibt Gnade; im wilden schrecklichen Getümmel und Grimm des Todeskampfes durchkreuzen sich bündische und bäurische Arme, Schwerter, Lanzen und Hellebarden, eng und enger zusammengedrängt; würdig, daß ihnen Besseres geworden wäre, und theuer ihr Leben verkaufend, sind schon die meisten der schwarzen Schaar, auch die fünfzig freien Knechte, gefallen. Bei fünfzig zogen sich in den tiefen Schloßkeller zurück und wehrten sich verzweifelnd daraus. Die Feinde warfen durch die Oeffnungen brennende Strohbündel und darauf Pulverfäßchen hinein, daß sie Alle darin starben, bis auf drei, die in der Dunkelheit entkamen. Zweihundert und sechs Leichen der schwarzen Schaar lagen umher im engen Raum der Ruinen: nicht darunter Herr Florian. Begünstigt durch die tiefe Nacht, die unter Sturm und Gefecht eingebrochen war, hatte er mit einer Handvoll der tapfersten und stärksten Männer, gegen zweihundert, als die Bündischen das Schloß überwältigt hatten, in ein nahes Gehölz sich durchgeschlagen. Während der Pfalzgraf zur Siegesfeier alle Trommeten schmettern und alle Heerpauken schlagen ließ, umstellte er das Wäldchen, da man in der Nacht nichts gegen die darin vornehmen konnte, mit Reisigen, damit keiner entlaufe. Herr Florian setzte den Kampf auch in der Nacht aus dem Wald heraus fort, bald hier bald dort vorbrechend, bis es ihm gelang, mit einer Zahl der Seinigen durchzubrechen und das Weite zu gewinnen. Mit dem Morgen fielen die Bündischen in’s Gehölz und erwürgten Alles darin, was dem kühnen Führer zu folgen nicht mehr Muth genug gehabt hatte, und [111] lieber widerstandslos sich erstechen lassen, als fechtend fallen oder sich retten wollte. Nur siebzehn Gefangene waren in allen diesen Gefechten am Pfingstfest angenommen worden.
Das bündische Heer „hatte an diesem Tage mehr Leute verloren, als je bisher an einem Tag, die Böblinger Schlacht ausgenommen,“ und bei Königshofen und Ingolstadt hatten die Pferde so sehr gelitten, daß sie nachher im Lager zu Heidingsfeld in solcher Anzahl fielen, „daß man vor dem Geruch fast nicht bleiben konnte und das Lager verrückte.“ Der Truchseß ließ das Lager schlagen eine Viertelmeile vom Schloß, „in einem Moos, bei einem rinnenden Wasser, daselbst die Nacht Ruhe zu haben,“ während die Dörfer Bütthard, Sulzdorf, Ingolstadt und Giebelstadt mit ihren Flammen als Wachtfeuer leuchteten. Sie alle waren umstellt und angezündet worden; was von Bauern darin blieb, kam durch’s Feuer um; was herausfloh, durch die Reisigen. In Giebelstadt, wo Florian Geyer’s Vaterschloß war, hart gegenüber dem Schloß der Zobel, schossen sie aus den brennenden Häusern noch auf ihre grausamen Feinde. Von allen darin waren noch sieben übrig; die krochen in’s Gesträuch am Schloßgraben. Die Reiter, die zu Roß nicht dahin kommen konnten, riefen in entsetzlichem Scherz hinüber, wer die Andern erstäche, solle begnadigt sein. Und einer erstach fünf seiner Brüder, mit dem sechsten ringend, stürzte und ersoff er im Schloßgraben; fest sich umklammernd fand man zwei Gerippe, als man später das Wasser abließ.
Bis Würzburg hin zeigten die brennenden Dörfer die Spur der Bündischen; um nach Würzburg zu gelangen, hätte Florian Geyer mitten durch das Heer der Sieger hindurchgehen müssen; er schlug den Weg zu dem Gaildorfischen Haufen ein, der sich ihm besonders verbrüdert hatte. Alle die Seinen, bis auf Wenige, hatte Florian verloren, alle waren ihm erschlagen an einem Tage des Zorns; er stand einsam, schwieg und trug’s: Zweierlei hatte er nicht verloren, sich selbst und die Hoffnung. So lang ihm Arm und Schwert blieb, blieb ihm der Wille, seinem deutschen Volke zu helfen, und der Glaube an die Möglichkeit.
Der große Gaildorf-hallische Haufe hatte noch keine Verluste erlitten. Gegen 7000 hatten sich zuletzt noch im Lager bei Thann zusammengezogen. Eine Abtheilung zu Roß und zu Fuß war vom Bundesheer schon bei Neckargartach seitwärts in’s Kocherthal entsandt worden und hatte sich mit dem Kriegsvolk der Stadt Hall vereinigt. Den Gmünder Wald hatten sie gebrandschatzt und geplündert, in der Stadt Gmünd den neuen Rath abgesetzt und um Geld gebüßt, den alten wieder eingesetzt, das Haus des Pradicanten niedergerissen. Dieser und die meisten Goldschmiede waren entwichen. Die Gerüchte von den Niederlagen rings umher, des Truchseß, Drohbriefe, des obersten Hauptmanns der Gaildorfer Einverständniß mit den Herren hatten die Folge, daß der Haufe sich auflöste, namentlich die hallischen Bauern den Winken ihres Raths folgten und, ehe sie gestraft wurden, über Nacht neu huldigten. Die bündischen und die hallischen Knechte zogen gegen den Rest des Haufens, der 2000 Mann stark noch bei Thann lagerte, und gedachten ihn zu überfallen. In Thann aber fanden sie keine Seele. Durch Feuerzeichen auf den Bergen und durch Warnschüsse von der Absicht ihrer Feinde benachrichtigt, hatten sich die Bauern in die Wälder zerstreut. Die grauenvollen Erzählungen von Königshofen und Ingolstadt machten auch auf dem Gmündner Wald, im Ellwangischen und Limburgischen tiefen Eindruck. Florian Geyer fand hier Alles entweder neu gehuldigt oder zerstreut, aufgelöst, entmuthigt. Noch wagte er den Versuch, die, welche noch nicht wieder gehuldigt hätten und noch nicht entwaffnet waren, die aus dem Würtembergischen hierher Versprengten, die aus dem Kocher- und Jaxtthal ohne Hoffnung der Begnadigung auf diesen Wäldern Versteckten wieder zu versammeln, und den Wald, das Ries, den Virngrund und die Rotenburger Landschaft im Rücken der Fürsten neu zu bewegen. Aber er war am Ziel. Am 9. Juni wurde Florian Geyer mit seinem Anhang auf dem Speltich, „einer Waldhöhe zwischen den Schlössern Vellberg und Limburg unweit Hall,“ von seinen Verfolgern aufgespürt. Es war sein eigener junger Schwager, Wilhelm von Grumbach, der ihn überfiel. Er sank fechtend, und fast alle die Seinen mit ihm im hoffnungslosen Kampfe.
Der Tod im Felde rettete ihn vor dem Schaffote und half ihm zur ewigen Freiheit. Noch über der gefallenen Sache des Volks hielt er ungebrochen verfechtend den Ritterschild: nicht gegen den Lebenden sollten sie sich des Sieges rühmen, kaum gegen seine Leiche.
Er war auf den sonnigen Bergen, auf den freien Höhen des Lebens geboren: am Kaiserhof der Hohenstaufen glänzten schon in ritterlichen Ehren seine Ahnen. Aber den Armen in der Niederung, den Gedrückten im Thale schlug sein Herz. Er hat dem Volke gelebt und ist dem Volke gestorben; „fromm und treu bis an’s Ende dem Evangelium seiner Ueberzeugung, dem Worte Gottes“ in allen seinen Folgen; ergeben der christlichen Freiheit, nicht der einseitigen falschen, sondern der ganzen und wahren. Wie seinem Vorbilde Ulrich von Hutten, war ihm im Leben Beides gegeben, das Wort und das Schwert; und Zweierlei wurde ihm voraus im Sterben, ein ehrlicher Reitertod im Kampf für die von ihm heilig erkannte Sache, und das, daß auch die Verleumdung nicht wagte, auf sein weißes Gewand einen Flecken zu werfen. Das Volk büßte es, daß es ihn hintan setzte; er büßte seinen, aus seiner eisernen Consequenz hervorgegangenen falschen Rathschlag mit dem Frauenberg und, neben dem Verrathe des Götz, die Ungeschicklichkeit seiner Mithauptleute, die ihn ohne alle Kunde ließen, daß er im freien Felde überfallen wurde. Nicht Geiz nach Ehre, Einfluß oder Beute war’s, was ihn handeln ließ; auch der Feinde keiner hat ihm dies nachgeredet; und ruhmlos fiel er, und schlief lange fast vergessen. Einst wird auch seine Zeit und sein Lohn mit ihr kommen, wenn auf der ganzen befreiten deutschen Erde der Vater den Söhnen und Enkeln erzählen wird von denen, die mit ihrem Blute den Baum gepflanzt haben, in dessen Schatten der Landmann und der Bürger ein schöneres, ein würdigeres Dasein genießen; dann wird man auch reden und sagen von Florian Geyer, dem Hauptmann der schwarzen Schaar.“
Der Singschwan. Es hat sich in unserer Zeit überall die Liebhaberei für neues, schönen oder sonst interessanten Geflügel verbreitet. Alle Länder Europa’s, alle übrigen Welttheile werden durchstört, auf Schiffen, Posten, Eisenbahnen gehen die Transporte von Eiern und lebenden Vögeln hin und her; auf den Höfen der Gutsbesitzer, der Bauern, der Städter sieht man winzige Zwerghühner, riesige Cochinchina’s, elegante Goldbantam’s, neue Racen prachtvoller Vollblut-Tauben, in bisher unbekannter Weise quakende und trommelnde Tauben, in purpur-, grün- und blauschillernden Gewand gekleidete Enten, und auch die berühmten pommerschen Gänse haben einen Versuch zu weiterer Ausbreitung gemacht, indem gütige, deren Heimath bewohnende Freunde mir Eier und lebende Exemplare dieser großen, schönen und nützlichen Vögel zugesandt haben.
Während in solcher Art sich ein neues, munteres, bunten Leben entfaltet, während überall neumodische Hähne krähen und kämpfen, neue Tauben ihre Fiderpracht entfalten oder ihre Anwesenheit mit Trommelschlag kund thun, fremdartige Enten schnattern und quaken, und neue stattliche Gänse ihrem Besitzer durch Geschrei und Attake Schutz vor Dieben, durch Federn Schutz vor Kälte, durch Fleisch und Fett Schutz vor Hunger gewähren, – während Pfauen, Fasanen, Perl- und Truthühner durch Geflügel verdrängt oder doch beschränkt werden, das nützlicher und dabei leichter zu er ziehen ist, – während aller dieser Umwandlungen hat der stumme Schwan sich unangefochten im Besitze unserer Parkteiche erhalten, ergötzt unser Auge durch seine stolze, majestätische Haltung, durch die Pracht seines schneeweißen Gefieders, beleidigt aber unser Ohr, indem er uns wie eine Schlange anzischt und wie ein boshafter Hund anknurrt.
In Rußland achtet man, wie der große Naturforscher Peter Pallas schon im Jahre 1811 von dort berichtet, den stummen Schwan wenig, hält dagegen viele zahme Singschwäne, weil sie einerseits eben so schön sind, wie jene, andererseits durch den weithin tönenden Silberklang ihrer Stimme ergötzen. – Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man die neuen, großartigen Verkehrsmittel auch dazu benutzen wird, diesen seit Menschengedenken von Allen, die das Glück hatten, ihn zu sehen und zu hören, bewunderten und gepriesenen Vogel aus Deutschlands Gewässer zu versetzen. Es möge mir daher gestattet sein, eine kurze Uebersicht dessen zu geben, was bis auf den heutigen Tag über ihn beobachtet und geschrieben worden ist.
Die ersten Nachrichten über den Singschwan haben wir durch Homer, welcher um’s Jahr 1000 vor Christo lebte, ganze Schaaren von Schwänen am Kaystros und Peneios fand, und ihren Gesang als ein dem [112] Apollo dargebrachten Loblied betrachtete. – Aeschylos, welcher um’s Jahr 480 vor Christo lebte, erwähnt zuerst, daß der Schwan auch im Sterben singt, und nennt diesen letzten Gesang sein Leichenlied. – Plato, um’s Jahr 360 vor Christo, glaubt, daß der sterbende Schwan in dem Bewußtsein singe, daß er zu einem besseren Leben, daß er zu dem Gotte gehe, dessen Diener er sei; sein Leichenlied sei freudiger, als alle die er je zuvor gesungen. – Aristophanes drückt die zwei Töne, aus welchen der Gesang besteht, durch „tio, tio, tio, tio, tier“ aus. – Der größte Naturforscher des Alterthums, Aristoteles, 330 vor Christo, erwähnt das Sterbelied des Schwanes ohne einen Ausdruck des Zweifels. – Erst Plinius, 75 nach Christo, welcher nie die Gelegenheit gehabt, Singschwäne zu beobachten, wahrscheinlich aber stumme gesehen hatte, hegt einige Zweifel gegen das Sterbelied.
Die höchst merkwürdige, zur Erzeugung der starken Stimme jedenfalls viel beitragende Länge und Gestalt der Luftröhre des Singschwans beschreibt zuerst der Bologneser Arzt Aldrovandi im Jahr 1634. Sie senkt sich, vom Halse kommend, tief in eine eigens für sie bestimmte Höhlung des Brustbeins, biegt sich an deren Ende um, geht nach dem Eingang der Höhlung zurück, von da erst in’s Innere der Brust, bildet dort den inneren Kehlkopf und theilt sich unter diesem in zwei Aeste, welche in die Lunge übergeben. Aldrovandi ahnte das Dasein zweier Schwanenarten noch nicht. Erst Ray zeigte um’s Jahr 1667, daß es eine Schwanenart gebe, welcher die beschriebene Gestalt der Luftröhre fehlt.
Die ersten Nachrichten von Singschwänen, welche gefangen, dann gezähmt und zur Vermehrung gebracht wurden, gibt Mauduit. Sie kamen in den Jahren 1740 bis 1769 nach Chantilly, woselbst man sich ihrer bemächtigte; bald wurden sie ganz zutraulich, holten ihr Futter aus der Hand der Wärter, brüteten sorgfältig, kämpften an ihrem Brutplatze heftig gegen eindringende Gänse und stumme Schwäne, schlugen die Feinde in die Flucht, schwangen dann die Flügel und ließen mit hochgehobenem Haupte ihr Triumphlied erklingen. Bei jedem Ton beugten sie den Kopf. Ihr Lied bestand aus zwei oft hintereinander wiederholten Tönen; das Männchen konnte man aus die Entfernung einer Wegstunde hören; die Stimme des Weibchens war schwächer, seine zwei Töne stellten die Noten d und e, die des Männchens e und f vor. Sie sangen überhaupt bei Aufregung und außerdem in der Regel früh und Abends.
In Island nisten die Singschwäne zahlreich an Sümpfen und Seeen, werden zur Zeit der Mauser in Menge gefangen, bleiben im Winter, und der Isländer Eggert Olafsen, dem wir genauere Nachrichten über sie verdanken, nennt ihren Gesang die schönste Wintermusik und vergleicht ihn mit Violintönen.
Im Norden Rußlands und mehr noch Sibiriens brüten sie in großer Menge; im Herbst wandern die Schaaren an die Ufer des schwarzen und kaspischen Meeres, Kleinasiens und Griechenlands. Pallas vergleicht den lieblichen Klang ihrer Stimme mit Silberglocken und fügt hinzu, daß auch die letzten Athemzüge tödtlich verwundeter die singenden Töne hervorbringen. – Auch Ad. Ermar fand (in den Jahren 1828–30) in Sibirien die Stimme der Schwäne von hellerem Silberklang als die irgend eines anderen Thieres, und daß ihr letztes Athmen nach Berwundung noch jene Töne hervorbringt. – F. J. v. Kittlitz fand viele Singschwäne in Kamtschatka, und vergleicht ihre Töne mit denen der Violine. Dr. Lindermayer’s Untersuchungen weisen nach, daß auch Singschwäne aus dem Lykari- und Kopais-See Griechenlands als Standvögel Sommer und Winter bleiben.
An den Gestaden der Ostsee gibt es mehrere Stellen, wo sich die Singschwäne jeden Herbst in Menge einfinden. Sie bleiben, so lange noch das Eis nicht weit vom Ufer in’s Meer hinein reicht, und so lange noch an den Mündungen der Flüsse und Bäche offenes Wasser ist. Im Frühjahr kommen sie wieder, sobald sich vor den Flüssen und Bächen offene Stellen von der Größe eines Landsees bilden. Landeinwärts gehen sie dort auf dem fließenden Wasser nie. An die Küste der Insel Oesel kommen sie besonders häufig, singen dort, wie mir ein auf jener Insel wohnender Freund mittheilt, im Herbst und Frühjahr, verkünden im Herbst, wenn sie in Schaaren singen, bevorstehenden Frost, sind übrigens jederzeit sehr schwer und nur mit der Büchsenkugel zu erlegen, da sie vorsichtig und scheu sind; auch stellt man ihnen wenig nach, weil man sie nicht verspeist. Stumme Schwäne zeigen sich bei Oesel selten.
An der Küste Pommerns hat der Naturforscher Dr. W. Schilling die Singschwäne oftmals beobachtet. „Sie lassen,“ sagte er im Jahre 1859, „die lauten, reinen Töne als Lockton, Warnungsruf und, wenn in Schaaren vereinigt, im Wettstreit zur eigenen Unterhaltung hören. Man hört sie dann in stundenweiter Ferne, und möchte diese Töne bald mit denen der Glocken, bald mit denen blasender Instrumente vergleichen Dieser eigenthümliche Gesang ist oftmals auch der Grabgesang dieser schönen Thiere, denn wenn sie im tiefen Wasser ihre Nahrung nicht mehr zu ergründen vermögen, so werden sie vom Hunger dermaßen ermattet, daß sie zur Weiterreise die Kräfte nicht mehr besitzen und dann häufig auf dem Eise angefroren sterben, wobei sie bis an ihr Ende ihre melancholischen hellen Laute hören lassen.
Auf den deutschen Binnenseeen erscheinen die Singschwäne nur selten. „Im Jahr 1858,“ so erzählt der Naturforscher Dr. v. Kobell, „hielt sich eine Schaar von 43 acht Tage lang auf dem Starnberger See bei München auf. Man hörte ihr Geschrei weit und fast immerwährend. Vor 25 Jahren waren daselbst drei, von denen zwei lebendig gefangen und nach Nymphenburg gebracht wurden, wo sie sich bald eingewöhnten.“ – Im Jahr 1855 befand sich ein Singschwan auf dem Stadtgraben zu Bremen unter den stummen Schwänen und musicirte da fleißig.
Karl August von Weimar und seine Pikesche. Es ist bekannt, daß Karl August ein prunkloses Auftreten liebte, und namentlich auch in seiner äußeren Erscheinung immer, wo es nur irgend anging, sich sehr schlicht und einfach zeigte. In seinen späteren Jahren kam hierzu noch eine große Neigung zur Bequemlichkeit. Es war ihm zuwider, ein neues Kleidungsstück anzuziehen; seine bekannten grünen (sogenannten polnischen) Pikeschen mußten, wenn sie schadhaft wurden, ausgebessert werden, solange es nur irgend anging. Es bedurfte oft förmlicher Ueberredung, um ihn zur Anlegung eines neuen Kleidungsstückes zu bewegen. Die abgelegten Kleider schenkte er seinem Kammerdiener, der sie dann in den Trödel verkaufte.
Einen Morgens beim Ankleiden hielt ihm sein alter treuer Kammerdiener Hecker den Rock hin, der Großherzog fuhr mit dem einen Arm in den Aermel hinein, hielt aber sogleich inne und sagte ärgerlich:
„Was Teufel, das ist ja eine neue Pikesche! Gleich bring mir die alte!“
„Ach, Königliche Hoheit,“ antwortete Hecker, „die habe ich fortgethan. Sie war ja so vielemal geflickt, und nun sind auch die Aermel beinahe durchgescheuert. Es schickt sich weiß Gott nicht mehr, daß Königliche Hoheit sie noch anziehen.“
„Wo hast Du sie hin?“
„Ich habe sie mit nach Hause genommen.“
„Du hast sie wohl gar schon verkauft?“
„Nein, noch nicht, Königliche Hoheit!“
„Was kriegst Du denn für so ein Ding?“
„Sehr wenig! Hoheit wissen ja, wie abgetragen Ihre Röcke immer sind. Wenn’s hoch kömmt, einen Thaler“
„Na, daß Du nicht zu Schaden kommst, hier hast Du einen Thaler! Aber jetzt gehst Du sogleich und holst mir meine alte Pikesche!“
Zwei neue interessante Werke der musikalischen Literatur wollen wir der Beachtung unserer Leser empfehlen. Das erste sind „Zwei Clavierstücke“ von Mendelssohn-Bartholdy, die erst jetzt in Deutschland (Leipzig, Bartholf Senff) veröffentlicht wurden, obwohl sie in England längst populär waren: ein „Andante cantabile“ in B dur und „Presto agitato in G moll. Zwei werthvolle Reliquien des unvergeßlichen Meistern, in der Weise seiner Lieder ohne Worte, werden sie allen Clavierspielern um so willkommener sein, als es heute wenige Tondichtungen geben möchte, welche so natürlich dem Geiste wie der Technik sich anschmiegen.
Das zweite Werk, von welchem wir reden, ist speciell den jugendlichen Spielern gewidmet: „Der erste Fortschritt, 24 kleine Vorspielstücke für jeden Clavierschüler zur Uebung und Unterhaltung von Louis Köhler, Op. 79“. Es sind dies allerliebste Stücke von leichtem Claviersatz, doch dabei von übender Structur. Die Melodien sind so kindlich gegeben, daß sie schnell im Gehör und im Gefühl Wurzel fassen, dabei charakteristisch genug, damit selbst der jüngste Spieler, mit Befolgung der sehr genau bezeichneten Spielart von innen heraus zu eigenem und Anderer Vergnügen sie wird vortragen können. Alle Gattungen sind vertreten, Tanz und Marsch, Lied, Charakterstück, Variation, Etüde, Rondo etc., und der Verfasser hat es sehr glücklich getroffen, all den kleinen Compositionen ein kindlich verständliches Gefühl einzuhauchen, wodurch dem Kinde die Melodie so klar wie ein gemaltes Bild wird. Wenn wir vor länger als Jahresfrist Louis Köhler’s „erste Etüden für jeden Clavierschüler, Op. 50“, als eines der besten Studienwerke der neueren Zeit anführten, so haben wir die Genugthuung, daß dieselben sich seitdem allenthalben demgemäß bewährten und erst vor Kurzem noch die ehrenvolle Anerkennung fanden, vom Conservatorium der Musik zu Leipzig angenommen zu werden. Die oben genannten „Vorspielstücke“ schließen sich diesen „ersten Etüden“ in überaus gelungener Weise an und werden nicht minder nutzenbringend beim Unterricht eingeführt werden als jene Etüden, die damit eine schöne Vervollständigung erhalten.
Für Beamte. Der im vorigen Jahre in Berlin verstorbene Geh. Ober-Regierungsrath Schröner hatte den merkwürdigen Einfall, den in Kleinasien im Exil lebenden Abd-el-Kader um ein Paar Zeilen für sein Gedenk- oder Stammbuch zu bitten. Der arabische Fürst fand in dieser Bitte nichts Auffälliges und ließ ihm baldigst eine Antwort zukommen, die mitten in ihrem orientalischen Wortwust folgende, namentlich für Beamte bemerkenswerthe Stelle enthält:
„Der Seelenadel liegt in vier Dingen, in der Vollkommenheit des Verstandes, in der Aneignung göttlicher und menschlicher Wissenschaft, in der Beobachtung der guten Sitte und in der Milde gegen die Menschen. Ich höre, daß Ihr ein Staatsamt verwaltet. Eines Staatsbeamten schönste Eigenschaft ist Mitgefühl und Milde. Die Weisen haben gesagt, man erreiche durch Milde, was man nicht durch Strenge erreicht.
Das Wasser, wie weich es auch ist, durchschneidet den Stein, wie hart er auch ist. Darum soll der Beamte nicht mit Strenge, sondern mit Milde verfahren; auch steht diese der Gerechtigkeit näher.
Mit dieser schönen Mahnung empfiehlt sich dem preußischen Regierungsrath – Abd-el-Kader, Sohn des Muzi Eddin“.
Zwei Todte. Die letzten Tage den Januar haben zwei deutsche Größen gebrochen, die, so lange es noch ein Deutschland und deutsche Kunst geben wird, ewig fortleben werden in dem Gedächtniß Aller: E. M. Arndt und Frau Schröder-Devrient. Beide stehen, jede in ihrer Richtung, so einzig da, daß sie kaum zu ersetzen sind. Wir hoffen, unsern Lesern schon in nächster Zeit beide großartige Erscheinungen in wohlgelungenen und authentischen Bildern und Charakteristiken vorführen zu können.
- ↑ Siehe Gartenlaube, Jahrgang 1859, Nr. 14, Artikel: „Bischofswerder und Wöllner“. Die Redaction.
- ↑ Und was ist der Dresdner Geisterspuk mehr als ein Betrug? Die Redaction.