Textdaten
Autor: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
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Titel: Die Lebensmittel
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aus: Die Eroberung des Brotes, S. 39–58
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Der Syndikalist
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Bernhard Kampffmeyer
Originaltitel: La conquête du pain. Paris 1892
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Cornell-USA* = Commons
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[39]

DIE LEBENSMITTEL.

I.

Wenn die nächste Revolution eine soziale Revolution sein soll, so wird sie sich von den früheren Erhebungen, nicht nur durch ihr Ziel, sondern auch durch ihre Mittel unterscheiden. Ein neues Ziel erfordert neue Wege.

Die drei großen Volkserhebungen, die wir während eines Jahrhunderts in Frankreich gesehen haben, unterscheiden sich von einander in sehr vielen Beziehungen. Gleichwohl haben sie einen Zug gemeinschaftlich.

Das Volk greift zu den Waffen, um das alte Regime zu stürzen, es vergießt sein kostbares Blut. Aber nachdem es den ersten Anstoß gegeben, kehrt es in die Dunkelheit zurück. Eine Regierung, aus mehr oder minder ehrenhaften Männern zusammengesetzt, konstituiert sich und sie ist es, welche es auf sich nimmt, im Jahre 1793 die Republik, im Jahre 1848 die Arbeit und im Jahre 1871 die freie Kommune zu organisieren.

Wohl überwachen die Arbeiterklubs die neuen Regierer. Häufig zwingen sie ihnen sogar ihre Idee auf. Aber selbst in diesen Klubs, mögen die Redner Bourgeois oder Arbeiter sein, ist immer die bürgerliche Idee die vorherrschende. Man spricht viel von politischen Fragen und vergißt – die Brotfrage.

Große Ideen wurden in diesen Epochen geboren – Ideen, welche das ganze Weltall erschüttert haben, Worte wurden gesprochen, welche noch heute nach dem Verlauf eines Jahrhunderts unser Herz schlagen machen.

Das Brot indessen mangelte in den Vorstädten.

Mit dem Augenblicke, wo die Revolution eintrat, ruhte unvermeidlich die Arbeit. Die Zirkulation der Waren stockte, die Kapitalien verbargen sich. Der Arbeitgeber hatte in diesen Epochen nichts zu fürchten: er lebte von seinen Renten, wenn er nicht gar auf das Elend spekulierte; der Lohnarbeiter sah sich dagegen zu einer kümmerlichen Lebensfristung, die morgen gar noch in Frage gestellt werden konnte, verdammt. Die Hungersnot kündigte sich an.

Und das Elend kam auch – ein Elend, wie man es kaum unter dem alten Regime gekostet hatte.

– „Es sind die Girondisten, welche uns aushungern“‚ hieß es im Jahre 1793 in den Vorstädten. Und man guillotinierte die Girondisten; [40] man gab unumschränkte Vollmacht der Bergpartei, der Kommune von Paris. Die Kommune bemühte sich auch in der Tat, für Brot zu sorgen. Sie machte heroische Anstrengungen, Paris zu ernähren. In Lyon errichteten Fouché und Collot d’Herbois Speicher, aber um sie zu füllen, verfügte man über äußerst spärliche Mittel. Die Munizipalgewalten zermarterten sich den Kopf, um Getreide herbeizuschaffen; man hängte die Bäcker, welche es aufgekauft hatten, – doch stets und ständig mangelte Brot.

Da hielt man sich dann an die royalistischen Verschwörer. Man guillotinierte ihrer täglich 12, 15 – Lakaien vermischt mit Herzoginnen, namentlich aber Lakaien, da die herzoglichen Gnaden nach Koblenz geflüchtet waren. Aber hätte man alle 24 Stunden hundert Herzoge und Grafen köpfen können, – nichts wäre geändert worden.

Das Elend wuchs mehr und mehr. Da man, um leben zu können, eines anständigen Lohnes bedurfte, und da dieser Lohn nicht kam – was konnten da 1000 mehr oder weniger Leichname nützen?

*

Das Volk begann jetzt müde zu werden. „Sie geht ja prächtig, eure Revolution!“ raunte der Reaktionär dem Arbeiter in die Ohren. „Niemals habt ihr bisher in solchem Elend gelebt!“ Und allmählich gewann der Reiche wieder Mut, verließ sein Versteck, verspottete die Hungerleider durch seinen pomphaften Luxus, kleidete sich wieder als Stutzer und sagte zu den Arbeitern: „Nehmt doch Vernunft an, genug der Torheiten! Was habt ihr mit eurer Revolution erreicht? Es ist Zeit, daß ihr ein Ende macht!“

Und zerrissenen Herzens, am Ziele seiner Geduld, mußte sich schließlich der Revolutionär sagen: „Die Revolution ist wieder einmal verloren!“ Er kehrte in sein elendes Heim zurück und ließ den Dingen ihren Lauf.

Und nun zeigte sich die Reaktion in ihrem vollen Hochmut und machte ihren Staatsstreich. Da die Revolution tot war, hatte sie nur ihren Leichnam mit Füßen zu treten.

Und man tat es. Man vergoß Ströme von Blut; der „weiße Schrecken“ bevölkerte die Gefängnisse, während die Orgien der hohen Faulenzer ihren Gipfel erreicht.

*

Das ist das Bild aller unserer Revolutionen. Im Jahre 1848 erduldete der Pariser Arbeiter „drei Monate Elends“ im Dienste der Republik und nach Verlauf von drei Monaten, als er nicht mehr wußte, wo aus noch ein, machte er seine letzte verzweifelte Anstrengung, – und diese wurde dann in einem Blutbade erstickt.

Im Jahre 1871 ging die Kommune aus Mangel an Kämpfern zu Grunde. Sie hatte nicht vergessen, die Trennung von Kirche und Staat zu dekretieren, aber sie hatte zu spät daran gedacht, allen ihren Kämpfern den Lebensunterhalt zu sichern. Und das hohe Schmarotzertum rief den Föderierten in Paris höhnend zu: „Gehet, ihr Esel, und laßt euch für 1,20 Mk. töten; wir werden in dem Hotel ersten Ranges schmausen!“ In den letzten Tagen der Kommune begriff man wohl [41] den Fehler, den man gemacht hatte, man ließ die Gemeindesuppe kochen, aber es war schon zu spät: die Versailler waren schon innerhalb der Befestigungen.

– „Brotes und wieder Brotes“ bedarf es in der Revolution.

Mögen andere sich damit beschäftigen, tönende Aufrufe zu verfassen! Mögen andere sich mit Tressen schmücken, soviel als ihre Schultern tragen können. Mögen andere endlich sich in glänzenden Deklamationen über die politischen Freiheiten ergehen!

Unsere Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, daß mit den ersten Tagen der Revolution und während ihrer ganzen Dauer auch keine einzige Person innerhalb des aufständigen Gebietes des Brotes ermangelt, daß keine Frau mehr gezwungen ist, einer Schüssel Kleie – eines reinen Almosens – wegen stundenlang vor einer Bäckerei sich zu drängen, daß kein einziges Kind mehr der für seine schwache Konstitution notwendigen Lebensmittel ermangelt.

Die Sache des Bürgertums ist es gewesen, sich in schönen Reden über die großen Prinzipien, oder richtiger, großen Lügen zu ergehen. Die Sache des Volkes wird es sein, allen den Lebensunterhalt zu sichern. Und während die Bürger und die verbürgerlichten Arbeiter in den Klatschzirkeln die großen Männer spielen, während „die praktischen Männer“ unaufhörlich über die Regierungsformen diskutieren werden, werden wir „Utopisten“ an die Beschaffung des täglichen Brotes denken.

Wir haben die Kühnheit zu behaupten, daß jeder nach Bedürfnis essen soll und kann und daß die Revolution durch die Beschaffung des Brotes für Alle allein siegen kann

II.

Wir haben die Kühnheit, zu behaupten, daß jeder nach Bedürfnis unsere Utopie sich bis zu dem Glauben versteigen lassen, die Revolution könne und müsse Allen Wohnung, Kleidung und Nahrung sichern – was natürlich den Bourgeois (roter oder blauer Färbung) arg mißfällt; denn sie wissen, daß sich ein gesättigtes Volk schwer unterdrücken läßt.

Nun, wir werden von dieser Utopie nicht lassen; es gilt dem aufständigen Volke das Brot zu sichern, und hinter der Magenfrage müssen alle übrigen zurückstehen. Wenn sie im Interesse des Volkes gelöst ist, so wird die Revolution sich auf richtigem Wege befinden; denn um die Frage nach den Lebensmitteln lösen zu können, ist es notwendig, das Prinzip der allgemeinen Gleichheit zu akzeptieren, welche sich übrigens unter Ausschluß aller übrigen Lösungen aufdrängen wird.

Es ist sicher, daß die kommende Revolution, ähnlich darin derjenigen vom Jahre 1848, inmitten einer furchtbaren, industriellen Krise ausbrechen wird. Seit vielen Jahren befinden wir uns schon in voller Gärung, und die Situation kann sich nur verschlimmern. Alles trägt dazu bei: die Konkurrenz der jungen Völker, welche für die Eroberung der alten Märkte den Kampfplatz betreten, die Kriege, die stets wachsenden Steuern, die allgemeine Unsicherheit und Unstetigkeit der Verhältnisse, die großen fremdländischen Unternehmungen usw.

[42] Millionen von europäischen Arbeitern sind in diesem Momente ohne Arbeit. Und dieser Zustand muß sich mit dem Augenblick verschlimmern, wo eine Revolution ausbricht und sich wie ein Lauffeuer fortpflanzen wird. Die Zahl der arbeitslosen Arbeiter wird sich mit dem Moment verdoppeln, wo in Europa oder den Vereinigten Staaten die Barrikaden gebaut werden. Was wird man dann tun, um diese Massen mit Brot zu versorgen?

*

Wir wissen nicht, ob die Männer, welche sich immer „praktische“ Männer nennen, sich schon jemals diese Frage in ihrer ganzen Nacktheit und Bedeutung vorgelegt haben. Aber was wir wissen, das ist, daß sie das Lohnsystem aufrecht erhalten wollen; machen wir uns also darauf gefaßt, sie die „Nationalwerkstätten“ und die „öffentlichen Arbeiten“ als Mittel preisen zu hören, um den Arbeitslosen Brot zu verschaffen.

Da man Nationalwerkstätten im Jahre 1789 und 1793 eröffnete; da man im Jahre 1848 zu demselben Mittel seine Zuflucht nahm; da es Napoleon III. gelang, während eines Zeitraumes von 18 Jahren das Pariser Proletariat niederzuhalten dadurch, daß er ihm Arbeiten verschaffte – Arbeiten, welche heute für Paris eine Schuld von 2 Milliarde und eine jährliche Steuer von 90 Mk. pro Einwohner bedeuten; da dieses ausgezeichnete Mittel „die Bestie zu besänftigen“, schon in Rom genügend erprobt wurde und selbst schon in Aegypten vor 4000 Jahren; da endlich Despoten, Könige und Kaiser stets dem Volke ein Stück Brot vorzuwerfen verstanden, um zum Aufraffen der Peitsche Zeit zu gewinnen, – so ist es sehr natürlich, daß die „praktischen“ Männer dieses Mittel, so geeignet, das Lohnsystem zu erhalten, in den Himmel erheben. Warum sich auch den Kopf zerbrechen, wenn man über ein Mittel, das schon die Pharaonen Aegyptens erprobt haben, verfügt!

*

Nun wir glauben: wenn man im kommenden Emanzipationskampfe das Unglück haben sollte, diesen Weg zu betreten, alles würde verloren sein.

Im Jahre 1848 gab es in Paris, als man am 27. Februar die Nationalwerkstätten eröffnete, nur 8000 arbeitslose Arbeiter. Fünfzehn Tage später waren es schon 40 000. Es sollten bald 100 000 sein, ohne jene zu rechnen, welche aus den Provinzen herbeieilten.

In jener Zeit beschäftigten indes der Handel und die Industrie Frankreichs nicht halb soviel Arbeiter, als heute. Und man weiß, daß in einer Revolution nichts so sehr darniederliegt, als gerade der Handel und die Industrie. Man denke nur an die Zahl der Arbeiter, welche, direkt oder indirekt, für den Export arbeiten, an die Zahl der Arme, die in den Luxusindustrien, welche einzig ihre Kundschaft in der bürgerlichen Minorität haben, beschäftigt sind!

Die Revolution in Europa bedeutet den unmittelbaren Stillstand von wenigstens der Hälfte sämtlicher Fabriken und Manufakturen, d. h. [43] Millionen von Arbeitern samt ihren Familien liegen auf dem Straßenpflaster.

Und dieser wahrhaft furchtbaren Situation will man mit Hilfe von Nationalwerkstätten begegnen, d. h. mit neuen Industrien, plötzlich aus dem Boden gestampft, um die Arbeitslosen zu beschäftigen!

Es ist offenbar (was schon Proudhon gesagt hatte), daß die geringste Erschütterung des Privateigentums zur vollständigen Desorganisation des gesamten auf der Privatunternehmung und dem Lohnsystem begründeten Regimes führen muss. Die Gesellschaft wird sich gezwungen sehen, die gesamte Produktion selbst in die Hand zu nehmen und sie gemäß den Bedürfnissen der Gesamtheit der Bevölkerung zu reorganisieren. Da aber diese Reorganisation nicht in einem Monat möglich ist, da sie eine gewisse Anpassungsperiode, während welcher Millionen von Menschen der Existenzmittel beraubt sein werden, erfordern wird – was soll da geschehen?

Unter diesen Umständen gibt es nur eine wahrhaft praktische Lösung. Es gilt, sich über das ungeheure der sich aufdrängenden Aufgabe klar zu werden und, anstatt eine Situation, welche man selbst zu einer unmöglichen gemacht hat, künstlich aufrecht zu erhalten, – an die Reorganisation der Produktion nach neuen Prinzipien zu schreiten.

Um praktisch zu handeln, wäre es also nach unserer Ansicht notwendig, daß das Volk von allen Lebensmitteln, die sich innerhalb der aufständischen Kommunen befinden, Besitz ergreife, über sie Verzeichnisse aufstelle und derart vorgehe, daß, ohne etwas zu verschwenden, Alle aus den reichen angesammelten Existenzquellen Nutzen schöpfen, – nur so wird man die kritische Periode überwinden können. Während dieser Zeit gilt es, sich mit den Industriearbeitern zu verständigen: man biete ihnen die Rohstoffe, deren sie ermangeln und sichere ihre Existenz während einiger Monate, damit sie innerhalb dieser Frist die für den Landarbeiter notwendigen Geräte anfertigen können. Vergessen wir nicht, daß, wenn Frankreich Seidenwaren für die deutschen Bankiers und die Kaiserinnen von Russland und den Sandwichinseln fabriziert, und daß, wenn Paris die wunderbarsten Spielsachen für die Reichen der Welt herstellt, zwei Drittel der französischen Bauern nicht Lampen, mit denen sie einigermaßen ihr Zimmer erleuchten könnten, und noch viel weniger die mechanischen Maschinen, welche die moderne Landwirtschaft erfordert, besitzen.

Und endlich gilt es, die unproduktiven Ländereien, deren es heute noch gar zu viele gibt, ertragsfähig zu machen, und jene zu verbessern, welche nicht ein Viertel, ja, nicht ein Zehntel von dem hervorbringen, was sie bei einer intensiven Kultur (Garten- und Gemüsekultur) tragen würden.

Die ist die einzige praktische Lösung, die wir zu sehen im Stande sind und die sich, man möge sie wollen oder nicht, durch die Macht der Verhältnisse aufdrängen wird.

[44]

III.

Der vorherrschende unterscheidende Zug des gegenwärtigen kapitalistischen Systems ist das Lohnsystem.

Ein Mann oder eine Gruppe von Männern, die sich im Besitze des nötigen Kapitals befinden, gründen ein industrielles Unternehmen; sie stellen sich die Aufgabe, die angelegte Manufaktur oder Fabrik mit Rohstoffen zu versehen, die Produktion zu organisieren, die hergestellten Waren zu verkaufen, den Arbeitern einen festen Lohn zu zahlen; den Mehrwert oder den Gewinn stecken sie in die Tasche, unter dem Vorwande, sich für ihre Tätigkeit als Leiter des Unternehmens oder für das Risiko, das sie eingegangen waren, oder für die Preisschwankungen, denen die Ware auf dem Markte unterliegen zu entschädigen.

Das ist in wenigen Worten das ganze Lohnsystem.

Um dieses System zu retten, würden die gegenwärtigen Kapitalbesitzer zu gewissen Konzessionen bereit sein: z. B. einen Teil des Gewinnes mit den Arbeitern zu teilen, oder auch eine Lohnskala einzuführen, die sie zwingt, mit dem Wachsen des Gewinnes auch den Lohn steigen zu lassen, – kurz, sie würden sich zu gewissen Opfern verstehen, vorausgesetzt, daß man ihnen stets das Recht ließe, die Industrie zu leiten und den Hauptanteil am Gewinne in ihre Tasche fließen zu lassen.

*

Der Kollektivismus beabsichtigt, wie man weiß, sehr wichtige Aenderungen dieses Regimes, erhält aber nichtsdestoweniger das Lohnsystem aufrecht. Nur der Staat, d. h. die repräsentative Regierung, nationaler oder kommunaler Natur, setzt sich an die Stelle des heutigen Arbeitgebers. Es sind die Repräsentanten der Nation oder der Kommune, ihre Delegierten, ihre Beamten, welche die Leiter der Industrie werden. Sie sind es auch, welche sich das Recht vorbehalten, den Mehrwert der Produktion im Interesse Aller zu verwenden. Außerdem macht man in diesem System einen sehr feinen, in seinen Konsequenzen aber weittragenden Unterschied zwischen der Arbeit des Handarbeiters und des Mannes, der eine gewisse Vorbildung erhalten hat; die Arbeit des Handarbeiters ist in den Augen der Kollektivisten nur eine „einfache“, während der Künstler, der Ingenieur, der Gelehrte usw. nach ihrer Meinung das verrichten, was Marx „eine komplizierte Arbeit“ nennt; – damit wird ihr Recht auf einen höheren Lohn motiviert. Indes Handarbeiter wie Ingenieure, Weber wie Gelehrte, werden vom Staate bezahlt, „sie sind alle Beamte, keine Herren“, wie man letzthin sagte, um die Pille zu versüßen.

*

Nun, der größte Dienst, den die kommende Revolution der Menschheit erweisen kann, wird in der Schaffung einer Situation bestehen, in der jedes Lohnsystem unmöglich, undurchführbar wird, in der sich als einzig annehmbare Lösung der Kommunismus, d. h. die Negation des Lohnsystems aufdrängen wird.

Denn nimmt man selbst an, daß die Verwirklichung des kollektivistischen Ideals möglich ist, wenn sie sich schrittweise in einer [45] Periode der Prosperität und der Ruhe vollzieht (wir bezweifeln es selbst unter diesen Bedingungen), so wird sie sich in einer revolutionären Epoche als ganz unmöglich erweisen, da sich schon am ersten Tage nach der Waffenergreifung die Notwendigkeit herausstellen wird, Millionen von Menschen zu ernähren. Eine politische Revolution kann sich vollziehen, ohne daß die Industrie total ins Stocken gerät, eine Revolution indessen, in der das Volk Hand an das Eigentum legt, wird unvermeidlich zu einem sofortigen Stillstand des Handels und der Produktion führen. Die Millionen des Staates würden nicht dazu genügen, um die Millionen von Arbeitslosen mit Lohn zu versehen.

Wir brauchten übrigens nicht lange bei diesem Punkte zu verweilen; die Reorganisation der Industrie auf neuen Basen – und wir werden bald sehen, wie gewaltig dieses Problem ist – wird sich nicht in einigen Tagen vollziehen, und das Proletariat wird nicht Jahre des Elends im Dienste der Theoretiker des Lohnsystems auf sich nehmen können. Um die kritische Periode überwinden zu können, wird das Volk fordern, was es immer in einem ähnlichen Falle gefordert hat: die Erklärung der Lebensmittel als Gemeinbesitz, – ev. ihre rationsweise Umverteilung.

Man wird gut haben, Geduld zu predigen; das Volk wird sich nicht mehr geduldigen, und wenn die Lebensmittel nicht als Gemeinbesitz erklärt werden, so wird es die Bäckereien plündern.

*

Wenn der Ansturm des Volkes nicht genügend stark ist, wird man es füsilieren. Um den Kollektivismus erproben zu können, bedarf es vor Allem der Ordnung, der Disziplin, des Gehorsams. Und da die Kapitalisten bald bemerken werden, daß ein Füsilieren des Volkes durch diejenigen, welche sich Revolutionäre nennen, das beste Mittel ist, um ihm die Revolution zu verleiden, – so werden sie sicherlich ihre Hilfe den Verteidigern der „Ordnung“, selbst wenn sie Kollektivisten sind, leihen. Sie werden darin ein Mittel erblicken, diese später gleichfalls zu zermalmen.

Wenn „die Ordnung wieder hergestellt“ ist, so sind die Konsequenzen leicht vorherzusehen. Man wird sich nicht darauf beschränken, die „Plünderer“ zu füsilieren. Man wird die „Urheber der Unordnung“ suchen, Gerichtshöfe einsetzen, die Guillotine errichten; und gerade die glühendsten Revolutionäre werden das Schafott besteigen. Man wird ein neues 1793 erleben.

*

Vergessen wir nicht, wie die Reaktion im vergangenen Jahrhundert triumphierte. Man guillotinierte zuerst die Hébertisten, die Radikalsten – jene, welche Mignet, unter dem frischen Eindruck der Kämpfe stehend, Anarchisten nannte. Die Dantonianer sollten ihnen bald folgen; und als die Anhänger Robespierres diese Revolutionäre geköpft hatten, mußten auch sie das Schafott besteigen; – nach alledem von Ekel erfüllt, und die Revolution als verloren betrachtend[WS 1], ließ das Volk den Reaktionären freie Bahn.

[46] Wenn „die Ordnung wieder hergestellt“ ist, so werden die Kollektivisten – behaupten wir – die Anarchisten[UE 1] guillotinieren lassen; die Possibilisten[UE 2] werden ein Gleiches mit den Kollektivisten[UE 3] tun; diese wieder werden endlich von den Reaktionären guillotiniert werden. Und die Revolution wird wieder bei ihrem Ausgangspunkt angelangt sein.

Alles läßt indessen auf die Wahrscheinlichkeit schließen, daß der Ansturm des Volkes von genügender Stärke sein wird, und daß, wenn die Revolution sich vollzieht, die Idee des kommunistischen Anarchismus Terrain gewonnen haben wird. Dieser ist keine ausgetüftelte Idee; es ist das Volk selbst, welches ihn uns eingegeben hat; und die Zahl der Kommunisten wird sich in gleichem Maße vermehren, je klarer sich die Unmöglichkeit jeder anderen Lösung erweist.

Und wenn der Ansturm genügend stark ist, so werden die Dinge eine ganz andere Wendung nehmen. Anstatt einige Bäckereien zu plündern, um am folgenden Tage wieder zu fasten, wird das Volk der aufständischen Städte von den Kornspeichern, den Schlachthäusern, den Lebensmittelmagazinen – kurz, von allen vorhandenen Existenzmitteln Besitz ergreifen.

Hochherzige Bürger und Bürgerinnen werden sich sofort der Aufgabe unterziehen, das, was sich in jedem Laden, in jedem Speicher befindet, zu registrieren. In 24 Stunden wird die aufständische Kommune wissen, was Paris heute noch nicht weiß, trotz seiner statistischen Komitees, und was es niemals bisher während einer Belagerung gewußt hat: über wie viel Proviant es verfügt. In zweimal 24 Stunden werden in Millionen von Exemplaren genaue Tabellen über alle Existenzmittel, über die Orte, wo sie aufgespeichert sind, und über die Mittel ihrer Verteilung gedruckt sein.

In jedem Häuserkomplex, in jeder Straße, in jedem Viertel werden sich Gruppen von Freiwilligen bilden, – „die Freiwilligen des Lebensmitteldienstes“ – die sich untereinander verständigen und sich auf dem Laufenden über ihre Aufgaben halten werden. Mögen die Jakobinerbajonette sich nur nicht ins Mittel legen, mögen die sich wissenschaftlich dünkenden Herren Theoretiker nur nicht mit ihrem verwirrenden Geschwätz kommen, oder mögen sie es auch vom Stapel lassen, vorausgesetzt, daß sie nicht das Recht zum Befehlen haben, – und es wird bei jenem wunderbaren spontanen Organisationstalent, welches das Volk und namentlich das französische Volk in allen seinen sozialen Schichten besitzt, und welches zu betätigen man ihm nur so selten erlaubt hat, selbst in einer so großen Stadt wie Paris inmitten der revolutionären Gärung ein ausgebreiteter, frei konstituierter Dienst entstehen, um Jeden mit den unerläßlichen Lebensmitteln zu versehen.

Möge das Volk nur Ellbogenfreiheit haben und in acht Tagen wird der „Lebensmitteldienst“ mit erstaunenswerter Regelmäßigkeit funktionieren. Man muß das arbeitende Volk niemals bei der Arbeit gesehen haben, man muß während seines ganzen Lebens die Nase in den Akten [47] stecken gehabt haben, um daran zu zweifeln. Sprechet nur über das Organisationstalent des „großen Unbekannten“, des Volkes, mit denen, die Gelegenheit gehabt haben, es in Paris in den Tagen des Barrikadenbaues zu beobachten oder in London während des letzten großen Streikes, welcher eine halbe Million Hungerleider zu ernähren hatte, und sie werden Euch sagen, um wie vieles es dem der Bürokraten überlegen ist.

Und sollte man übrigens während der ersten vierzehn Tage oder des ersten Monats eine gewisse Unordnung zu ertragen haben – so ist dies ohne Belang. Für die Massen wird dieser Zustand stets noch besser als der heutige sein; und dann – während der Revolution – diniert man lachend oder vielmehr diskutierend bei einem Würstchen und trockenem Brot, ohne zu murren. In jedem Fall, was sich spontan ergeben wird – unter dem Druck der unmittelbaren Bedürfnisse – wird unendlich viel besser sein, als das, was man innerhalb seiner vier Mauern, inmitten alter Scharteken oder in den Büros des Hotel-de-Ville aushecken kann.

IV.

Das Volk der großen Städte wird auf diese Weise durch die Macht der Ereignisse selbst dazu geführt werden, sich aller Lebensmittel zu bemächtigen, und, vom Einfachen zum Komplizierten schreitend, die Bedürfnisse aller seiner Bewohner zu befriedigen suchen. Je früher dies geschieht, um so besser wird es sein; man wird ebensoviel Elend verhüten, ebensoviele innere Kämpfe vermeiden.

Doch auf welchen Grundlagen könnte man sich für einen kommunistischen Genuß der Lebensmittel organisieren? Dies ist eine Frage, die sich naturnotwendig ergibt.

Nun, es gibt nicht zwei verschiedene Wege, um gerecht vorzugehen. Es gibt nur einen, einen einzigen, der den Empfindungen der Gerechtigkeit entspricht und welcher wirklich praktisch ist. Es ist das von den ländlichen Kommunen Europas bereits adoptierte System.

Nehmet eine Bauerngemeinde, ganz gleich wo, sagen wir in Frankreich, obgleich dort die Jakobiner Alles getan haben, um ihre kommunistischen Gebräuche zu ersticken. Wenn die Kommune beispielsweise einen Wald besitzt, so hat jeder, solange nicht Mangel an Reisig herrscht, das Recht, sich davon nach Belieben zu nehmen. Die einzige wichtige Kontrolle bildet die öffentliche Meinung seiner Nachbarn. Was das größere Holz anbelangt, dessen man nirgends genug hat, so nimmt man zu einer rationsweisen Verteilung seine Zuflucht.

Dasselbe gilt von den Gemeindewiesen. Solange diese für die Gemeinde genügen, kontrolliert Niemand, weder was die Kühe jeder einzelnen Wirtschaft gefressen haben, noch eine wie große Anzahl von ihnen auf die Weide gehen. Man greift einzig zur Aufteilung – oder zur rationsweisen Verteilung – wenn sich die Wiesen als unzureichend erweisen. Die gesamte Schweiz und viele Gemeinden in Frankreich und in Deutschland, überall wo es noch Gemeindewiesen gibt, befolgen dieses Prinzip.

[48] Und wenn Ihr in die Länder des orientalischen Europas geht, wo sich noch Hochwald im Ueberfluß findet und wo es nicht an Grund und Boden mangelt, so werdet Ihr die Bauern in den Wäldern die Bäume ganz nach ihren Bedürfnissen fällen und soviel Land bestellen sehen, als ihnen notwendig erscheint; sie kommen gar nicht auf den Gedanken, die Baumstämme zu verteilen oder den Grund und Boden in Parzellen zu zerlegen. Das größere Holz wird indes rationsweise verteilt, und der Grund und Boden, entsprechend den Bedürfnissen jeder Wirtschaft, in Parzellen zerlegt werden, sobald an dem einen oder anderen Mangel eintritt, wie dieses schon für Rußland der Fall ist.

In einem Wort: unbeschränkter Genuß alles dessen, was man im Ueberfluß besitzt; rationsweise Verteilung dessen, was bemessen verteilt werden muß. Auf 350 Millionen Menschen, welche Europa bewohnen, befolgen heute noch 200 Millionen diese äußert natürliche Praxis.

Man bemerke auch, daß dieses System gleichfalls in den Großstädten vorherrscht, wenigstens für ein Lebensmittel, das im Ueberfluß vorhanden ist, nämlich für das Wasserleitungswasser.

Solange die Pumpstationen im Stande sind, die Häuser mit Wasser zu versehen, ohne daß man Wassermangel zu befürchten hätte, kommt es keiner Gesellschaft in den Sinn, den Wasserverbrauch einer jeden Wirtschaft zu regulieren. „Nehmet, soviel Euch gefällt“, heißt es hier. Und wenn man fürchtet, daß sich für Paris zur Zeit der großen Hitze Wassermangel einstellen könnte, so wissen die Gesellschaften, daß eine einfache Bekanntmachung von vier Zeilen in den Journalen genügt, um die Pariser zu veranlassen, ihren Wasserverbrauch einzuschränken und nicht mehr zu viel Wasser zu verschwenden.

Aber wenn das Wasser wirklich einmal ausgehen sollte, was würde man tun? Man würde seine Zuflucht zur rationsweisen Zuweisung nehmen! Und diese Maßnahme ist so natürlich, so gleich der menschlichen Empfindung, daß wir in Paris während seiner zwei Belagerungen im Jahre 1871 zweimal zu ihr Zuflucht nehmen sehen.

*

Ist es nötig, Details zu geben, Pläne auszuarbeiten, wie sich diese Verteilung vollziehen könnte, und zu beweisen, daß dies gerecht wäre, unendlich viel gerechter, als die heutigen Zustände? Mit diesen Plänen und diesen Details würde es uns ebensowenig glücken, diejenigen Bourgeois zu überzeugen (und diejenigen – leider – verbürgerlichten Arbeiter), welche das Volk als ein Haufen Wilder betrachten, die sich mit dem Augenblick, wo keine Regierung mehr besteht, gegenseitig die Nase abbeißen. Aber man muß niemals das Volk haben beraten sehen. Man würde sonst keine Minute zweifeln, daß es, wenn es Herr wäre, die rationsweise Verteilung selbst vorzunehmen, diese nach den reinsten Gefühlen der Gerechtigkeit und Billigkeit vollziehen würde.

Saget in einer Volksversammlung, daß die Rebhühner für die feinschmeckerischen Nichtstuer der Aristokratie reserviert werden müßten und das Schwarzbrot für die Kranken in den Hospitälern – und Ihr werdet ausgepfiffen werden.

[49] Aber saget in dieser selben Versammlung, predigt es an den Straßenecken, daß die delikateste Nahrung für die Schwachen und Kranken reserviert werden muß; saget, daß, wenn es in ganz Paris nur zehn Rebhühner gäbe und eine Kiste Malagawein, diese in die Rekonvaleszentenstube gebracht werden müßten, saget dieses und anderes derartiges, saget, daß nach dem Kranken zunächst das Kind berücksichtigt werden müßte; daß ihm die Kuh- und Ziegenmilch gehöre, wenn es nicht genug für Alle gäbe, dem Kind und dem Greise der letzte Bissen Fleisch und dem starken Manne das trockene Brot, wenn man zu diesem Aeußersten gekommen ist!

Saget in einem Wort, daß, falls sich dieses oder jenes Lebensmittel nicht in genügenden Quantitäten findet und dadurch seine rationsweise Verteilung notwendig werden sollte, die letzten Rationen denen zufallen müßten, die deren am meisten bedürfen; saget es, und ihr werdet sehen, ob Ihr nicht allgemeine Zustimmung finden werdet.

Was der Gesättigte nicht begreift, das Volk begreift es; es hat es immer begriffen. Aber auch der Gesättigte wird es, wenn er auf dem Straßenpflaster liegt und in Berührung mit der Masse kommt, begreifen.

Die Theoretiker – für welche die Uniform und die „Menage“ des Soldaten das letzte Wort der Zivilisation sind – werden ohne Zweifel fordern, daß man sofort eine Nationalküche und die Linsensuppe für Alle einführe. Sie berufen sich auf die Vorteile, die sich aus der Ersparnis von Brennmaterialien und Lebensmitteln bei großen Küchen, in denen dann Jedermann seine Ration Bouillon, Brot und Gemüse zu sich nehmen sollte, ergäbe.

Wir bestreiten dies Vorteile nicht. Wir wissen sehr wohl, welche Ersparnisse die Menschheit an Brennmaterialien und Arbeitskraft gemacht hat, indem sie zuerst auf die Handmühle, und dann auf den häuslichen Herd verzichtet. Wir begreifen, daß es viel ökonomischer wäre, die Bouillon für hundert Familien auf einem Herd zu kochen, anstatt deswegen hundert verschieden Herde anzuzünden. Wir wissen auch, daß es nicht tausend verschieden Arten gibt, die Kartoffeln garzukochen, und daß diese dadurch, daß[WS 2] sie für hundert Familien in einem Kessel gekocht werden, nicht schlechter sein würden.

Wir begreifen endlich auch, daß die Verschiedenheit der Küche hauptsächlich in dem individuellen Charakter der Würzung durch die Haushälterin besteht, und das gemeinschaftliche Kochen eines Zentners Kartoffeln die verschiedenen Haushälterinnen nicht verhindert, sie ganz nach ihrem Geschmack zu würzen. Und wir wissen, daß man mittels der Fleischbrühe durch verschiedene Würzung hundert verschiedene Suppen zubereiten kann, um ebensovielen Geschmacksrichtungen zu genügen.

Wir wissen alles dieses und dennoch behaupten wir, daß Niemand das Recht hat, die Haushälterin dazu zu zwingen, aus dem Kommunemagazin die bereits gar gekochten Kartoffeln zu beziehen, wenn sie es vorzieht, diese selbst in ihrem Kessel, auf ihrem Feuer zu kochen. Und namentlich wollen wir, daß Jeder seine Nahrung nach [50] seinem Belieben zu sich nehmen kann, im Kreise seiner Familie, oder mit seinen Freunden, oder auch im Restaurant, wenn er letzteres vorzieht.

Sicherlich werden an Stelle der großen Restaurants, in denen man heute die Menschen vergiftet, große Küchen entstehen. Die Pariserin ist heute schon daran gewöhnt, die Bouillon vom Schlachter zu beziehen, um mittels dieser eine Suppe nach ihrem Geschmack zu bereiten, und die Londoner Hausfrau weiß, daß sie beim Bäcker für einige Pfennige ihr Fleisch braten und sogar ihren „Apfel“- und „Rhabarberpie“ backen lassen kann und so an Zeit und Kohlen spart. Und wenn die Gemeindeküche – der Allen gemeinsame Herd der Zukunft – nicht mehr ein Ort des Betruges, der Verfälschung und der Vergiftung sein wird, so wird sich von selbst die Sitte einbürgern, aus ihr die stets fertigen hauptsächlichsten Teile der Nahrung zu beziehen – falls es nur Jedem freisteht, diesen die letzte Vollendung nach seinem eigenen Geschmacke zu geben.

Indes mittels eines Gesetzes Jedem die Pflicht aufzuerlegen, die vollständig zubereitete Nahrung in der Gemeindeküche einzunehmen – damit würde man bei dem Menschen des 19. Jahrhunderts auf das gleiche Widerstreben stoßen, als mit den Ideen des Klosters oder der Kasernen – ungesunden Ideen, welche Köpfen entsprossen sind, deren Gehirn durch Drill entartet ist, oder durch eine religiöse Erziehung gelitten hat.

*

Wem wird ein Recht auf die Lebensmittel der Kommune zustehen? Dies ist sicherlich die erste Frage, die man sich stellen wird. Jede Stadt wird sie für sich beantworten, und wir sind überzeugt, daß diese Antworten den Gefühlen der Gerechtigkeit entsprechen werden. Solange die Arbeiter noch nicht organisiert sind, solange man sich noch in der Periode der Gährung befindet und solange es unmöglich ist, zwischen dem faulen Nichtstuer und dem unfreiwillig Arbeitslosen zu unterscheiden, müssen Alle auf die vorhandenen Existenzmittel, ohne Ausnahme, Anspruch haben. Diejenigen, welche mit den Waffen in der Hand den Sieg des Volkes zu verhindern suchten oder gegen es konspiriert haben, werden sich selbst beeilen, das aufständische Gebiet von ihrer Gegenwart zu befreien. Aber uns scheint, daß das Volk, stets feindlich allen Repressalien und stets großherzig, das Brot mit allen Denen teilen wird, die in seiner Mitte verbleiben werden, seien es Expropriierte oder Expropriierende. Wenn die Revolution von dieser Idee geleitet sein wird, so wird sie nicht verloren gehen; und wenn die Arbeit wieder aufgenommen wird, so wird man die Feinde von gestern morgen in derselben Werkstatt vereint finden. In einer Gesellschaft, wo die Arbeit frei sein wird, wird man keine Faulenzer zu fürchten haben.

*

„Aber die Lebensmittel werden nach Verlauf eines Monats mangeln“, rufen uns schon die Herren Kritiker entgegen.

Um so besser, erwidern wir, dies wird beweisen, daß der Proletarier sich zum ersten Mal in seinem Leben satt gegessen hat. Und [51] was die Frage betrifft, auf welche Weise man Ersatz für das Verzehrte schaffen wird, so wollen wir dies gerade im folgenden behandeln.

V.

Auf welchem Wege könnte eine Stadt, inmitten der sozialen Revolution, ihre Ernährung bewerkstelligen?

Wir werden diese Frage beantworten; es ist indessen klar, daß die Maßnahmen, zu denen man greifen wird, von dem Charakter der Revolution in den Provinzen wie in den benachbarten Ländern abhängen werden. Wenn die gesamte Nation oder ganz Europa mit einem Mal die soziale Revolution verwirklichen und das Prinzip des Kommunismus einführen könnte, – unser Vorgehen müßte sich dementsprechend gestalten. – Wenn aber nur einige Kommunen Europas zur Einführung des Kommunismus schreiten, so muß man andere Maßregeln wählen. Nach der Situation werden sich also die Mittel richten.

Diese Erkenntnis zwingt uns, zuvor einen orientierenden Blick auf Europa zu werfen. Ohne prophezeien zu wollen, müssen wir uns darüber klar werden, in welcher Weise sich die Revolution (wenigstens in ihren wesentlichsten Zügen) verwirklichen wird.

*

Sicherlich wäre es sehr wünschenswert, daß ganz Europa sich gleichzeitig erhebt und überall zur Expropriation schreitet und daß man überall dabei von kommunistischen Prinzipien geleitet wird. Eine derartige Erhebung würde die Aufgabe unseres Jahrhunderts bedeutend erleichtern.

Aber Alles läßt darauf schließen, daß dem nicht so sein wird. Daß die Revolution schließlich ganz Europa entzünden wird – bezweifeln wir nicht. Wenn eine der vier großen Hauptstädte des Kontinents – Paris, Wien, Brüssel oder Berlin – sich erhebt und ihre Regierung stürzt, so werden die drei anderen in einigen Monaten ein Gleiches tun. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß dann die Revolution auf den Halbinseln und selbst in London und in Petersburg nicht auf sich warten lassen wird. Aber daß der Charakter, welchen sie annehmen wird, überall der gleiche sein wird, ist sehr zu bezweifeln.

Sehr wahrscheinlicher Weise werden überall Expropriationsakte von mehr oder minder großer Ausdehnung stattfinden, und diese Akte werden, von einer der großen europäischen Nationen ausgehend, ihren Einfluß auf alle anderen ausüben. Beim Beginn der Revolution wird es indes bezüglich des Vorgehens große lokale Differenzen geben und ihre Entwicklung wird in den verschiedenen Ländern durchaus nicht identisch sein. In der großen Revolution brauchten die französischen Bauern vier Jahre, um endgültig mit den Feudalrechten aufzuräumen, und die Bourgeoisie den gleichen Zeitraum, um das Königtum zu stürzen. Vergessen wir es nicht und bereiten wir uns darauf vor, daß die Revolution zu ihrer Entfaltung eine gewisse Zeit braucht. Seien wir darauf gefaßt, sie nicht überall gleichen Schrittes vorwärts schreiten zu sehen.

[52] Selbst daß die Revolution bei allen europäischen Nationen – namentlich sofort mit ihrem Beginn – einen vollkommen sozialistischen Charakter annehmen wird, ist gleichfalls zu bezweifeln. Denken wir daran, daß Deutschland noch unter einem streng zentralisierten Kaisertum lebt und daß das Ideal seiner fortgeschrittenen Parteien die Jakobinerrepublik vom Jahre 1848 und die „Organisation der Arbeit“ von Louis Blanc ist, während die französische Nation die freie Kommune, wenn nicht die kommunistische Kommune fordert.

Daß Deutschland in der nächsten Revolution weitergehen wird als seiner Zeit Frankreich, nichts ist wahrscheinlicher. Als Frankreich im 18. Jahrhundert seine bürgerliche Revolution hatte, ging es weiter, als England im 17. Jahrhundert; zu gleicher Zeit, wo es die Macht des Königtums beseitigte, brach es auch die Macht des Landadels, der bei den Engländern heute noch eine gewaltige Macht repräsentiert. Wenn aber Deutschland auch weitergeht und mehr tut als Frankreich im Jahre 1848, so wird sicherlich die Idee, welche es anfangs leitet, diejenige von 1848 sein, wie die Idee, welche eine Revolution Rußlands leiten wird, die Idee von 1789 sein wird, bis zu einem gewissen Punkte modifiziert durch die intellektuelle Bewegung unseres Jahrhunderts.

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Ohne übrigens diesen Weissagungen mehr Wichtigkeit beizulegen, als sie verdienen, können wir daher resümieren: Die Revolution wird bei den verschiedenen Nationen Europas einen verschiedenen Charakter annehmen; das Niveau, das man bezüglich der Vergesellschaftlichung der Produkte anstreben wird, wird nicht überall das gleiche sein.

Folgt daraus nun, daß die fortgeschritteneren Nationen ihren Schritt nach den im Rückstand befindlichen Nationen richten sollen, abwarten sollen, bis alle zivilisierten Nationen für die kommunistische Revolution reif sein werden? Offenbar nicht! Wollte man es übrigens, so wäre es gleichwohl unmöglich. Die Geschichte wartet nicht auf die Zurückgebliebenen.

Uebrigens glauben wir auch nicht einmal, daß die Revolution in einem und demselben Land überall gleichzeitig ausbrechen wird, wie es einige Sozialisten träumen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß, wenn eine der fünf oder sechs großen Städte Frankreichs – Paris‚ Lyon, Marseille, Lille, Saint-Etienne, Bordeaux – die Kommune proklamiert, die andern ihrem Beispiel folgen werden und daß auch verschiedene weniger bevölkerte Städte ebenso handeln werden. Aller Voraussicht nach werden auch mehrere Minendistrikte, wie gewisse industrielle Zentren nicht zögern, ihren Arbeitsherren den Laufpaß zu geben und sich in freien Gruppierungen zusammenzuschließen.

Aber ein großer Teil des flachen Landes wird noch nicht so weit sein, er wird nicht auf der Seite der aufständischen Kommunen stehen, sondern eine abwartende Haltung einnehmen und fortfahren, unter dem individualistischen Regime zu leben. Wenn man den Steuereinnehmer und den Gerichtsvollzieher nicht mehr die Steuern und die Zinsen holen sehen wird, so werden die Bauern sich den Aufständischen gegenüber nicht feindlich verhalten, und je nach der Situation werden sie sich [53] richten, um ihrerseits mit den Ausbeutern ihrer Gegend abzurechnen. Aber bei dem praktischen Geist, der stets die ländlichen Empörungen charakterisiert hat (erinnern wir uns der leidenschaftlichen Tätigkeit im Ackerbau vom Jahre 1792), werden die Bauern um so eifriger bestrebt sein, ihren Boden zu bebauen – den sie um so mehr lieben, je mehr er von Steuern und Hypotheken entlastet ist.

Was das Ausland anbetrifft, so wird sich auch dort überall die Revolution vollziehen; wenn auch unter den verschiedensten Bedingungen. Hier in zentralistischer, dort in föderalistischer, überall jedoch in mehr oder weniger sozialistischer Form. Nichts Einheitliches wird es geben.

VI.

Doch kommen wir auf unsere aufständische Stadt zurück und sehen wir, unter welchen Bedingungen sie ihre Unterhaltung bewerkstelligen müßte.

Woher die notwendigen Lebensmittel nehmen, wenn die Nation in ihrer Gesamtheit nicht den Kommunismus anerkennt? Das ist die Frage, die sich notwendigerweise aufwirft.

Nehmen wir eine große französische Stadt, die Hauptstadt, wenn man will. Paris konsumiert jährlich viele Millionen Zentner Getreide, 350 000 Ochsen und Kühe, 200 000 Kälber, 300 000 Schweine und mehr als 2 Millionen Hammel, abgesehen von dem importierten ausgeschlachteten Fleisch. Außerdem bedarf Paris noch der Kleinigkeit von etwa 9 Millionen Kilo Butter und 172 Millionen Eiern und vieler anderer Dinge in gleicher Menge.

Das Mehl und das Getreide kommen von den Vereinigten Staaten, Rußland, Ungarn, Italien, Aegypten, Indien, das Schlachtvieh aus Deutschland, Italien, Spanien, sogar aus Rußland und Rumänien. Was die Kaufmannswaren betrifft, so gibt es kein Land in der Welt, das nicht seinen Teil beisteuerte.

Sehen wir zuerst, auf welche Weise man es bewerkstelligen könnte, Paris oder jede andere große Stadt mit den Produkten zu versorgen, welche auf französischem Boden wachsen und von denen die Bauern nichts sehnlicher wünschen, als sie für den Konsum zu liefern.

Den autoritären Sozialisten bietet die Beantwortung dieser Frage keine Schwierigkeit. Sie konstituieren vor allem eine Regierung von starker Zentralisation und ausgerüstet mit allen Organen der Exekutive: Polizei, Heer und Guillotine. Diese Regierung wird dann eine Statistik über Alles, was man in Frankreich baut, anfertigen lassen, sie wird das Land in eine bestimmte Anzahl von Kreisen einteilen und diesen befehlen, daß sie dieses oder jenes Lebensmittel in einer bestimmten Quantität produzieren und zu einer bestimmten Zeit nach dem und dem Orte abliefern. Ein Beamter nimmt es dann in Empfang und bringt es in einem bestimmten Speicher unter – und so fort.

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Nun, wir behaupten mit voller Ueberzeugung, daß eine derartige Lösung nicht nur unvernünftig, sondern auch unmöglich wäre. Sie ist reine Utopie.

[54] Man kann einen derartigen Zustand der Dinge mit der Feder in der Hand erträumen; seiner Verwirklichung indessen stehen unüberwindliche Hindernisse im Wege; man müßte denn annehmen, die Menschheit hätte kein Unabhängigkeitsbedürfnis. Seine Verwirklichung bedeutet die allgemeine Empörung: drei oder vier Vendéen an Stelle einer, den Krieg der Dörfer gegen die Städte, die Erhebung von ganz Frankreich gegen die Stadt, die ihm ein derartiges Regime aufzuzwingen wagte.

Genug dieser jakobinerischen Utopien! Sehen wir, ob man sich nicht anders organisieren kann.

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Im Jahre 1793 hungerte das Land die großen Städte aus und tötete so die Revolution. Es ist jedoch erwiesen, daß die Getreideproduktion Frankreichs in den Jahren 1792/93 keineswegs zurückgegangen war; alles läßt sogar darauf schließen, daß sie sich vermehrt hatte. Nachdem man von einem großen Teil der lehnsherrlichen Ländereien Besitz ergriffen und von diesen Gefilden die Ernten eingebracht hatte, wollten jedoch die ländlichen Bourgeois ihr Getreide nicht gegen „Assignaten“ (Geldanweisungen) verkaufen. Sie behielten ihr Getreide und warteten auf Preissteigerungen oder Zahlung in Gold. Und weder die strengsten Maßnahmen der Konvention, um sie zum Verkauf des Getreides zu zwingen, noch Exekutionen waren von Wirksamkeit. Obwohl man wußte, daß die Kommissäre der Konvention sich nicht lange besannen, um die Aufkäufer von Getreide zu guillotinieren, noch daß das Volk zögerte, sie an die Laternen zu knüpfen: das Getreide blieb in den Speichern, und das Volk der Städte litt Hunger.

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Aber was bot man auch den Bauern als Austausch gegen das Resultat ihrer schweren Mühen?

– „Assignaten“, Papiergeld, dessen Wert von Tag zu Tag fiel, bedruckte Papierfetzen, die auf 500 Francs lauteten, jedoch ohne jeden reellen Wert waren. Für ein Billet, das auf 1000 Franks lautete, konnte man sich kaum ein paar Stiefel kaufen; und dem Bauer war begreiflicherweise nichts daran gelegen, ein Jahr Feldarbeit gegen ein Stück Papier einzutauschen, für welches er nicht einmal eine Blouse kaufen konnte.

Und solange man dem Bauer ein wertloses Stück Papier anbietet – möge es sich „Assignate“ oder „Arbeitsbon“ nennen – wird es auch so bleiben. Die Lebensmittel werden auf dem Lande bleiben, die Stadt wird ihrer nicht habhaft werden, sollte man auch von neuem zur Guillotine oder zu Massenertränkungen greifen.

Was man dem Bauer bieten muß, das ist nicht Papier, sondern es sind die Waren, deren er unmittelbar bedarf. Es ist die Maschine, auf die er heute zu seinem Verdruß verzichten muß; es ist die Kleidung, eine Kleidung, die ihn vor den Unbilden der Witterung schützt; es ist die Lampe und das Petroleum, welche seinen Lichtstumpf ersetzen, der Spaten, der Rechen, der Pflug; kurz Alles, was sich der [55] Bauer heute versagt, nicht weil er danach kein Bedürfnis fühlte, sondern weil ihm trotz seiner entbehrungsvollen Existenz und seiner abmattenden Arbeit tausend nützliche Gegenstände unerschwinglich sind.

Die Stadt muß es sich daher sofort angelegen sein lassen, die Dinge zu produzieren, welche dem Bauer fehlen, anstatt wie heute Luxusobjekte für die Frauen der Bourgeoisie zu fabrizieren. Die Nähmaschinen von Paris werden Arbeits- und Sonntagskleider für die Landbewohner anfertigen müssen, anstatt feine Hochzeitswäsche zu nähen. Das Eisenwerk wird landwirtschaftliche Maschinen, Spaten und Rechen fabrizieren und man wird nicht auf die Engländer warten, um diese Gegenstände von jenen gegen unsern Wein einzutauschen.

Die Stadt wird auf die Dörfer nicht Kommissare mit roten oder vielfarbigen Schärpen entsenden, und sie nicht den Bauern ein Dekret überbringen lassen, sondern sie wird diese durch Freunde, durch Brüder aufsuchen lassen, die zu ihnen sagen werden: „Bringet uns Eure Produkte und nehmet dafür aus unseren Magazinen alle Manufakturwaren, die Euch gefallen.“ Dann werden die Lebensmittel in Fülle herbeiströmen. Der Bauer wird, was er selbst zum Leben bedarf, bewahren, aber den Rest wird er den Arbeitern der Städte senden, in welchen er – zum ersten Mal im Laufe der Geschichte – Brüder und nicht Ausbeuter finden wird.

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Man wird uns vielleicht sagen, daß dies eine vollständige Umgestaltung der Industrie erfordert; – allerdings für gewisse Zweige. Doch es gibt tausend andere Industriezweige, welche sich schnell umgestalten lassen, um den Bauern die Kleidung, die Uhr, die Arbeitswerkzeuge und die einfachen Maschinen, welche ihnen die Stadt so teuer verkauft, liefern zu können. Weber, Schneider, Schuhmacher, Schlosser, Tischler und viele andere werden keine Schwierigkeit darin finden, die Luxusproduktion für nützliche Arbeit aufzugeben. Es ist nur notwendig, daß man vollkommen von der Wichtigkeit dieser Umgestaltung durchdrungen ist, daß man sie als einen Akt der Gerechtigkeit und des Fortschritts betrachtet, daß man endlich von dem den Theoretikern so teuren Traum läßt: – daß sich die Revolution nur auf eine Besitzergreifung des Mehrwertes erstrecken müsse und daß die Produktion und der Handel das bleiben könnten, was sie heute sind.

Die ganze Frage läuft unserer Meinung nach darauf hinaus: dem Landmann zum Austausch gegen seine Produkte nicht Papierfetzen, welches auch ihre Aufschrift sein möge, zu bieten, sondern ihm jene Gebrauchsartikel zu liefern, deren er bedarf. Wenn dieses geschieht, so werden die Lebensmittel den Städte zuströmen, wenn nicht, so werden wir die Hungersnot und alle ihre Konsequenzen, die Reaktion und das Blutbad haben.

VII.

Alle Großstädte, sagten wir, kaufen ihr Getreide, ihr Mehl, ihr Fleisch, nicht allein in den Provinzen ihres Landes, sondern auch im Ausland. Das Ausland entsendet nach Paris die Spezereien, den Fisch, [56] die Luxuslebensmittel, beträchtliche Quantitäten von Getreide und Fleisch.

Aber in der Revolution wird man nicht mehr auf das Ausland zählen dürfen oder doch wenigstens so wenig wie möglich auf dasselbe rechnen. Wenn das Getreide Rußlands, der Reis Italiens und Indiens und die Weine von Spanien und Ungarn heute die Märkte des westlichen Europas überschwemmen, so rührt das nicht daher, weil die exportierenden Länder deren im Ueberfluß besitzen oder weil jene Produkte dort wild wachsen, wie die Butterblumen auf den Wiesen. In Rußland z. B. arbeitet der Bauer täglich 16 Stunden und fastet in jedem Jahr drei bis sechs Monate, um das Getreide zu exportieren, mit dem er seinen Herrn und den Staat bezahlt. Mit dem Augenblicke, wo die Ernte eingebracht ist, zeigt sich heute die Polizei in den russischen Dörfern und verkauft für die rückständigen Steuern und Zinsen die letzte Kuh, das letzte Pferd des Landmannes, falls dieser nicht selbst und freiwillig durch den Verkauf des Getreides an die Exporteure seine eigene Pfändung besorgt. Er behält für sich gerade nur das für neun Monate unbedingt notwendige Getreide und verkauft den Rest, damit man seine Kuh nicht zu einem Preise von 15 Francs verkauft. Um bis zur nächsten Ernte leben zu können, muß er während dreier, wenn das Jahr gut, während sechs Monate, wenn es schlecht war, Birkenrinde oder Meldenkörner zu seinem Mehl mischen, und in London delektiert man sich an den Biskuits, die man aus seinem Weizen hergestellt hat.

Aber wenn die Revolution kommen wird, so wird der russische Bauer das Brot für sich und seine Kinder bewahren. Die italienischen und ungarischen Bauern werden desgleichen tun; hoffen wir, daß auch der Hindu ihrem guten Beispiel folgt und ebenso die Arbeiter der Bonanza-Farmen in Amerika, für den Fall, daß diese Domänen nicht schon durch die Krisis desorganisiert sind. Man darf also nicht mehr auf die Zufuhr an Getreide und Mais aus dem Auslande zählen.

Wo unsere ganze bürgerliche Zivilisation auf der Ausbeutung der unteren Klassen und der in der Industrie zurückstehenden Länder basiert, wird die erste Wohltat der Revolution schon darin bestehen, daß sie diese „Zivilisation“ bedroht, und zwar dadurch, daß sie den sogenannten unteren Klassen Gelegenheit gibt, sich zu emanzipieren. Aber diese ungeheure Wohltat wird sich in einer gewissen oder beträchtlichen Verminderung der Zufuhren an Lebensmitteln, die sonst den Großstädten zufließen, ausdrücken.

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Für das aufständische Land selbst ist ist es schwieriger vorherzusehen, wie die Dinge sich dort entwickeln würden.

Auf der einen Seite wird der Landbebauer sicherlich die Gelegenheit wahrnehmen, um seinen von der Feldarbeit gekrümmten Rücken gerade zu recken. Anstatt 14–16 Stunden, die er heute arbeitet, wird er vernünftigerweise nur die Hälfte dieser Zeit arbeiten, was einer Verminderung in der Produktion der hauptsächlichsten Lebensmittel, des Getreides und Fleisches, gleichkommt.

[57] Aber andererseits wird eine Vermehrung der Produktion mit dem Momente eintreten, wo der Landmann nicht mehr gezwungen sein wird, sich zur Ernährung der Müßiggänger abzuquälen. Neue Länderstrecken werden kultiviert werden; vollkommenere Maschinen werden angewandt werden. – „Niemals war die Landarbeit zuvor eine so emsige gewesen, als im Jahre 1792“, damals, als der Bauer den Adelsherren den seit langem begehrten Grund und Boden entrissen hatte, sagt uns Michelet in seinem Werke über die große Revolution.

In kurzer Zeit wird auch die intensive Kultur von jedem Landwirt eingeführt werden, sobald nur die vervollkommnete Maschine und chemische wie andere Dungstoffe zur Verfügung der Gemeinschaft stehen. Aber alles läßt darauf schließen, daß im Anfang eine Verminderung der landwirtschaftlichen Produktion in Frankreich ebenso gut wie anderwärts statthaben wird.

Das Weiseste wird sein, seine Berechnungen auf einer Verminderung der Zufuhr sowohl vom Inland wie vom Ausland aufzubauen.

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Wie diese Lücke ausfüllen?

Sehr einfach! Und zwar dadurch, daß man selbst Hand anlegt, sie auszufüllen. Unnütz den Nordpol im Süden zu suchen, wenn die Lösung auf der Hand liegt.

Es ist notwendig, daß die großen Städte sich ebenso gut wie das flache Land der Landwirtschaft widmen. Es gilt zu dem zurückzukommen, was die Biologie „die Allseitigkeit der Funktionen“ nennen würde. Nachdem man die Arbeit geteilt hat, gilt es, sie allseitig zu gestalten, und das ist der Gang, der in der gesamten Natur befolgt wird.

Uebrigens – abgesehen von der Philosophie – wird man dorthin durch die Macht der Verhältnisse geführt werden. Möge Paris nur einmal vor der Gewißheit stehen, daß es nach Verlauf von acht Monaten ohne Getreide ist, – und Paris wird zum Ackerbau greifen.

Das Land? Es mangelt nicht. Gerade um die großen Städte – namentlich Paris – gruppieren sich die Parks und Rasenplätze der reichen Herren, die hunderttausende Hektare, welche nur auf die intelligente Bestellung des Landwirte warten, um Paris mit bedeutend fruchtbareren und ertragreicheren Gefilden zu umgeben, als es die mit Humus bedeckten, aber durch die Sonne ausgetrockneten Steppen des südlichen Rußlands sind.

Wer macht die Arbeit? Womit sollen sich die 2 Millionen Pariser und Pariserinnen beschäftigen, wenn sie nicht mehr zu kleiden und zu amüsieren haben – russische Prinzen, rumänische Bojaren und die Damen der Berliner Finanz?

Warum sollte der Ackerbau einer anarchistischen Kommune kein ertragreicher sein, wenn derselbe über den gesamten Maschinenapparat des Jahrhunderts verfügt? Dazu kommt die Intelligenz und das technische Wissen des Arbeiters, an dessen Seite sich die Erfinder, die Chemiker, die Botaniker, die Gemüsegärtner, überhaupt das ganze [58] Pariser Volk mit seiner Herzensfreudigkeit und seiner Begeisterung stellen werden.

Wie sollte da der Ackerbau nicht ein ganz anderer sein als der der Ardennenbewohner, die kein anderes Werkzeug als ihre Hacke kennen.

Der Dampf, die Elektrizität, die Sonnenwärme und die Windeskraft werden bald die grobe Vorbereitungsarbeit getan haben und die Erde, gelockert und bereichert, wartet nur auf die intelligente Sorgfalt des Mannes und namentlich der Frau, um sich mit wohl gepflegten und drei- bis viermal im Jahre sich erneuernden Saaten zu bedecken.

Die Gartenkultur bei sachverständigen Männern erlernend, auf abgesonderten Versuchsbeeten tausenderlei verschiedene Kulturmittel versuchend, untereinander um die größten Erträge wetteifernd, in der physischen Betätigung ohne Ermattung, ohne Ueberarbeit die Kräfte wiederfindend, welche ihnen so häufig in den Großstädten verloren gegangen sind – werden Männer, Frauen und Kinder glücklich sein, sich dieser Feldarbeit widmen zu können, welche nicht mehr eine Zwangsarbeit, sondern ein Vergnügen, ein Fest, eine Wiedergeburt des menschlichen Wesens sein wird.

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„Es gibt keine unfruchtbaren Länderstrecken! Das Land ist wert, was der Mensch wert ist!“ – Das ist das letzte Wort der modernen Landwirtschaft. Die Erde gibt, was man von ihr fordert: es handelt sich nur darum, es in intelligenter Weise von ihr zu fordern.

Ein Gebiet, sei es auch so klein als das der Departements de la Seine und Seine-et-Oise und habe es auch eine große Stadt wie Paris zu ernähren, genügt vollständig, um die Lücken, welche die Revolution in den Lebensmittelvorrat bringen könnte, auszufüllen.

Die Vereinigung von Ackerbau und Industrie; der Mensch, der zugleich im Ackerbau wie in der Industrie tätig ist, das ist das Ziel, zu dem uns notwendigerweise die kommunistische Gemeinde führen wird, falls sie sich rückhaltlos auf den Weg der Expropriation begibt.

Möge sie nur diese Zukunft einleiten: es ist nicht zu fürchten, daß sie durch Hungersnot untergeht! Die Gefahr liegt nicht dort: sie liegt in der Feigheit des Geistes, in den Vorurteilen, in der Halbheit.

Die Gefahr liegt da, wo sie Danton sah, als er Frankreich zurief: „Kühnheit, Kühnheit und wieder Kühnheit!“ namentlich intellektuelle Kühnheit, welche die Kühnheit des Willens nach sich ziehen wird.

Anmerkungen des Übersetzers

  1. Anarchisten = Menschen, die die Herrschaft verwerfen.
  2. Possibilisten = Spottname für einen Politiker, der niemals die Grenzen der „Möglichkeit“ überschreiten will.
  3. Kollektivisten = unsere Sozialdemokraten aller drei Richtungen, die Regierung, Staat und Lohnsystem aufrecht erhalten wollen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: betrachend
  2. Vorlage: das