Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Band: 34 (1877), ab Seite: 119. (Quelle)
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Senn, Johann, n. A. Michael (Dichter, geb. zu Pfunds in Tirol 1. April 1792, gest. zu Innsbruck 30. September 1857). Sein erster und eigentlicher Biograph Adolph Pichler nennt ihn einmal Johann Senn (Gartenlaube 1860, S. 764), ein anderes Mal Michael Senn. Welches sein wahrer Name ist, kann somit nicht festgestellt werden, vielleicht hieß er Johann Michael Senn. Auf dem Denkstein im Militär-Friedhofe zu Innsbruck erscheint er als Johann Senn. Sein Vater was Landrichter zu Pfunds und hat sich als wackerer Tiroler Landesvertheidiger im Jahre 1809 und als der Verfasser der scharfen Denkschrift, welche gegen den unberechtigten Vorzug von Clerus und Adel bei der Ständeversammlung Einsprache erhebt, einen Namen und um sein engeres Vaterland verdient gemacht. In Würdigung seiner Verdienste erhielt er eine Rathsstelle in Wien, sollte jedoch seine Beförderung nicht lange genießen, da ihn bald darauf der Tod seinem Sohne entriß, als dieser eben zumeist der väterlichen Anleitung und Unterstützung bedürfte. Senn lag dem Studium der Rechte ob und hatte sich in den Studienjahren mit Feuchtersleben [Bd. IV, S. 210], Franz Schubert [Bd. XXIII, S. 30] und anderen Alters- und Geistesgenossen befreundet. Dieser letztere hat auch ein paar Gedichte Senn’s in Musik gesetzt, u. z. „Selige Welt“ und „Schwanengesang“, welche beide in Schubert’s Opus 23, Nr. 2 und 3, veröffentlicht wurden. Mit seinen Freunden kam S. öfter in einem Wirthshause zusammen, wo die jungen, sonst harmlosen Leute gern renommirten, und ehe sie es dachten, die Aufmerksamkeit der geheimen Polizei erregten, welche, um ihre Nothwendigkeit zu documentiren. überall Unrath – ja Hochverrath roch. [120] Als die jungen Leute sich eines Tages beobachtet sahen, wurde der Spion vorerst ersucht, zu verschwinden und als er diesem Ansinnen nicht willfahrte, zur Thüre hinausgeworfen. Der Denunciant hatte danach nichts Eiligeres zu thun, als aus Rache die Gesellschaft hochverrätherischer Umtriebe anzuklagen. Die Polizei hatte nun die Hände vollauf zu thun. Noch in der nämlichen Nacht wurden Senn’s Collegen und Freunde aus ihren Betten geholt und in’s Gefängniß abgeführt, nur Senn, der zufällig nicht daheim war, blieb unbehelligt, um jedoch einem schlimmeren Lose zu verfallen. Die jungen Leute wurden, nachdem man sie vernommen und sich von dem Ungrund der Verdächtigung überzeugt hatte, sofort der Haft entlassen; man hatte sich aber bei ihrer Verhaftung auch der bei ihnen befindlichen Papiere bemächtigt. Unter diesen Papieren befand sich unglücklicherweise das Tagebuch eines Freundes von Senn und in diesem Tagebuche standen die Worte: „Senn ist der einzige Mensch, den ich fähig halte, für eine Idee zu sterben“. Ein Mensch mit einer solchen Fähigkeit in der vormärzlichen Aera! das war in den Augen der Polizei ein moralisches Monstrum. Senn wurde auf diese ihm unbekannte Tagebuchbemerkung eines Freundes sofort verhaftet. Am folgenden Tage bei dem mit ihm vorgenommenen Verhöre stellte er, dem polizeilichen Inquirenten Mannesmuth weisend, das Recht, ihn gefangen zu halten, in Frage. Das war genug, ihn für einen gefährlichen Menschen zu halten. Im Anbeginn stellte man dann noch einige Verhöre mit ihm an, kümmerte sich darauf nicht mehr um ihn, und da er vaterlos war, war auch sonst Niemand um ihn besorgt und so hatte man ihn ein Jahr und drei Monate, n. A. nur ein halbes Jahr (genug!) im Kerker schmachten lassen, dafür, daß ein Anderer in sein Tagebuch geschrieben: daß er der einzige Mensch sei, den er fähig halte, für eine Idee zu sterben. Der Commissär hat, so berichtet Adolph Pichler, als Schlußact der Untersuchung das Gutachten abgegeben: „Er sei ein Genie“. Und dieses Gutachten ward ihm zum weiteren Fluche. Für gefährlich gehalten, wurde er mit gebundener Route nach Tirol abgeliefert, ohne seine Vorstellungen, daß er sich in Wien durch Unterrichtertheilen seinen Unterhalt verschaffe und verschaffen könne, zu berücksichtigen. So stand er hilflos, ohne Freund, gebrandmarkt durch eine resultatlos gebliebene Untersuchung, in den Bergen seiner Heimat. In einem Civildienste unter solchen Umständen ein Fortkommen zu finden, war unter Metternich-[[BLKÖ:Sedlnitzky, Joseph Graf|Sedlnitzky’schem] Regime nicht denkbar, so nahm er Einstandsgeld als Stellvertreter eines Anderen und wurde – gemeiner Soldat. Tüchtigkeit und gute Conduite brachten ihn vorwärts, er wurde Officier. Er machte als solcher die Expedition nach Neapel mit und lernte so Italien kennen, aber bald genügte ihm dieses planlose Exerciren und dieser gedankenlose, geistestödtende Gamaschendienst, wie er vor 1848 bestand, nicht, er nahm und erhielt seinen Abschied mit einer Pension, die ihm zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel war. Aus der Zeit seines Soldatendienstes und Aufenthaltes in Innsbruck datirt ein Besuch Schwind’s bei Senn, über welchen Näheres in Dr. H. Holland’s „Moriz von Schwind, sein Leben und seine Werke“ (Stuttgart 1873, Paul Hoff, 8°.), S. 51, berichtet wird und worin Schwind’s Aufzeichnung über Senn folgendermaßen lautet: „Ich war [121] über seine feurige und schlagende Art, zu sprechen, in dem größten Erstaunen, aber zehnmal mehr noch entzückt, ich möchte sagen, über das himmlische Schauspiel, wie eine Empfindung sich in ihm aus dem Innersten fest und stark heraufdrängt. Sein Blick, Ausdruck und eine gewisse Scham sind geradezu hinreißend“. Das fällt in das Jahr 1830. Senn war damals bereits 38 Jahre alt und – Lieutenant. Nachdem er aus dem Militärdienste ausgetreten war, wurde er, um seine Lage zu verbessern, Schreiber bei einem Advocaten. Sein Talent verhalf ihm aber bald weiter, er wurde Concipient. Da zum Unglück entzweite er sich mit seinem Brodherrn und verlor seine Stelle. Nun versuchte er es als Journalist; aber damals gab es damit nirgends – am wenigsten im Lande Tirol, wo Schriftstellerei für nichts weniger denn ehrenhaft galt – etwas zu verdienen. So gesellte sich zu dem Schmerze eines verfehlten Lebens noch das Aufgeben jeder Hoffnung, eine seinem Talente, seinem Ehrgeize entsprechende Stellung zu erlangen. Er wurde schroff, verdrießlich und suchte bei der Rumflasche Trost. Man hatte ihn nie eigentliche betrunken gesehen, er war nur allgemach mehr und mehr zerfallen, aus seinem fahlgewordenen Angesichte lachten Hohn und Menschenhaß. Sein mehrerwähnter Biograph schildert ihn in dieser Zeit folgendermaßen: „Schweigend saß er beim Glase, ein kleiner, breitschulteriger Mann, mit großem Kopfe, die hohe Stirne von schwarzem Haar wild umflogen, unter den buschigen Brauen loderten unheimlich die dunklen Augen. Schloß sich um ihn ein Kreis Studenten, deren er viele aus der Bibliothek kannte, wo er gewöhnlich über Hegel brütete, so ließ er sich auch wohl bewegen, ein oder das andere seiner Gedichte, am liebsten „Napoleon“, vorzutragen. Es geschah mit einem eigenthümlich dumpfen Dröhnen der Stimme. Dann versank er leicht in Sinnen, schüttelte den Kopf und rief mit schmerzlichem Lachen: „Glaubt mir, es ist alles nichts, nichts, nichts!“ Im Herbst 1857 erkrankte er, kam in’s Spital und starb in demselben im Alter von 65 Jahren. Von seinen Arbeiten ist nur wenig im Druck erschienen; während seiner Soldatenzeit einige geographische Aufsätze, unter anderen einer über das Wassernetz von Morea, welch in Wiener Blättern abgedruckt wurden. Eine Sammlung seiner poetischen Arbeiten erschien unter dem einfachen Titel: „Gedichte von Johann Senn (Innsbruck 1838, Wagner’s Buchhandl., 160 S., 8°.). Wer jedoch aus dieser Gedichtesammlung auf Senn’s poetischen Genius schließen wollte, würde fehlgehen. Das ist nicht Senn in seiner Ursprünglichkeit und Gedankentiefe, das ist der von der Censur verstümmelte, um seine herrlichsten, begeistertsten Stellen vom Censor mißhandelte Senn, und trotz alledem erkennt man noch immer, daß er einer der Gottbegnadeten ist, welchen die heilige Gabe der Dichtung verliehen ist. Immerhin wäre er wenig oder gar nicht beachtet worden, hätte nicht Feuchtersleben eine eingehende Beurtheilung dieser Gedichte geschrieben, in welcher er die poetische Bedeutung des verstümmelten Senn nachweist. Einige Jahre nach Senn’s Tode erschienen noch „Glossen zu Goethe’s Faust. Aus dem Nachlasse des Verfassers“ (Innsbruck 1862, 8°.), wovon bald eine zweite Ausgabe veranstaltet wurde.

Der Aufmerksame (Grazer Unterhaltungsblatt, 4°.) 1857, Nr. 43: „Totenfeier Michael (sic) Senn’s“ von Adolph Pichler [auch abgedruckt im Boten für Tirol 1857, [122] Nr. 233]. – Bote für Tirol und Vorarlberg (Tiroler Amtszeitung) 1862, Nr. 7 u. f. „Aus dem Nachlasse von Johann Senn“. – Brümmer (Franz), Deutsches Dichter-Lexikon (Eichstädt u. Stuttgart 1876, Krüll, 4°.) Bd. II, S. 351. – Deutsches Museum, Herausgegeben von Rob. Prutz (Leipzig, gr. 8°.) 1865, Nr. 31: „Johann Senn“. Von Adolph Pichler. – Gartenlaube (Leipzig, Ernst Keil, 4°.) 1860, S. 764: „Ein verkommener Dieter“. – Kehrein (Joseph), Biographisch-literarisches Lexikon der katholischen deutschen Dichter, Volks- und Jugendschriftsteller im 19. Jahrhundert (Zürich 1871, Leo Wörl, gr. 8°.) Bd. II, S. 143. – Kurz (Heinrich), Geschichte der deutschen Literatur von 1830 bis auf die Gegenwart (Leipzig 1872, B. G. Teubner, Lex. 8°.), Sp. 34. – Neue freie Preise 1864, Nr. 30, in der Bücherzeitung: „Ein literarisches Curiosum“. Von Eduard Kulke [betrifft Senn’s Glossen zu Goethe’s Faust). – Presse (Wiener polit. Blatt) 1857, Nr. 237 [nennt ihn auch Michael]. – Dieselbe 1865, Nr. 60, im Feuilleton: „Bilder aus der Provinz. Innsbruck und die Innsbrucker“, [Dieses geharnischte Feuilleton nennt Senn kurzweg einen der zahllosen Geister, welche dem Moloch von „Altösterreich“ zum Opfer fielen. Und die noch gräßlicheren und noch zahlreicheren Opfer des Krachs von „Neuösterreich“! Alles gleicht sich aus.] – Tagesbote aus Böhmen 1857, Nr. 286 [nach diesem gestorben am 1. October 1857]. – Volks- und Schützenzeitung (Innsbruck, 4°.) 1860, Nr. 18 und 24: „Zur Ehrenrettung Michael Senn’s von Pfunds“ [betrifft Senn’s Vater]. – Wanderer (Wiener polit. Blatt) 1857, Nr. 473 [heißt daselbst auch Michael Senn]. – Wiener Zeitung (gr. 4°.) 1857, Nr. 237. S. 2915.
Zur Charakteristik Senn’s als Dichter. Heinrich Kurz schreibt über Senn: „Senn’s Gedichte zeichnen sich durch Wahrheit der Empfindung („ich habe sie gelebt und nicht gedichtet“, sagt er im Vorwort), durch Originalität und Tiefe der Gedanken, sowie durch knappe Präcision der Sprache aus, die zwar nicht immer rein und fließend, aber immer kräftig und wirkungsvoll ist. „Der rothe Tiroler Adler“ ist von einer tüchtigen musikalischen Composition getragen, zum volksthümlichen Lied geworden. Der Cyklus „Oesterreichs Kaiseraar“ ist ein großartiges Gedicht zu Ehren Oesterreichs. Daß er darin das deutsche Oesterreich von der österreichischen Monarchie nicht trennte, ist für die damalige Zeit begreiflich, [haben das etwa andere österreichische Dichter: Ebert, Beck, A. Grün, Lenau, Seidl u. s. w. gethan?] können sich doch noch heute, nach so deutlichen Lehren, Viele nicht zu der Ansicht erheben, daß die deutschen Länder Oesterreichs nur im engsten Verbande mit Deutschland geistig und materiell gedeihen können, und daß der Verband mit den ungarischen und rein slavischen Staaten für sie von jeher nur ein Hemmschuh war“ [war der Verband Preußens mit dem polnischen Posen auch für jenes ein Hemmschuh?] – Adolph Pichler schreibt über Senn, den Poeten: „Der Dichter stand abseits der großen Heerstraße, er machte nicht in Tendenz, war zu ernst für die Sentimentalität, zu streng für die Rhetorik. Die Form ist eng und knapp, kein Wort überflüssig, Reim und Vers nicht immer tadellos. Glätte strebte er nicht an; wir billigen es zwar nicht, es ist aber ein Zeichen schwächlichen Epigonenthums, dem ursprünglicher Gehalt verloren ging, darauf unverhältnißmäßigen Werth zu legen. Vorzüglich gelang ihm das Epigramm und wahrhaftig furchtbar sind die Sonette, die er auf einige Dunkelmänner, die ihm zu nahe traten, schleuderte. Sie fanden handschriftlich weite Verbreitung. Sein bedeutendste Werk ist gewiß: „Napoleon und das Glück“, ein sonderbarer Cyklus, reich an erhabenen Gedanken und doch wieder ermüdend durch seine Länge und den Mangel an Fortschritt. Er gleicht einem Lavastrom, die Oberfläche ist in rauhen Zacken und kantigen Trümmern erstarrt, während sich innerlich noch die geschmolzene Glut vorwärts wälzt. Senn’s Werke zeigen überall den tiefen Geist, dem die letzte Läuterung versagt blieb, doch soll man mit scheuer Ehrfurcht an dem Stamme vorbeigehen, dessen blühenden Wipfel der Blitz des Schicksals in den Sumpf geschleudert?“ –
Senn’s Grabdenkmal. Am 4. October 1860 wurde in den Mauern des Militär-Friedhofs in Innsbruck der Denkstein für den verewigten Dichter Johann Senn befestigt. Das einfache Denkmal ist von dem Bildhauer Hohenauer aus weißem Schlanderer Marmor verfertigt und besteht aus einer länglichen Tafel, deren obere Seite der Tiroler [123] Adler, die Lyra in den Fangen, schmückt. Dann folgt die Inschrift: Johann Senn | tirolischer Dichter | geb. zu Pfunds, d. 1. April 1792 | gest. zu Innsbruck d. 30. Sept. 1857. | Unterhalb sieht man zwei kreuzweis gelegte mit den Flammen nach abwärts gekehrte, durch ein Band verbundene Fackeln. Da der Dichter in tiefer Armuth starb und keine Angehörigen hinterließ, beschlossen einige Freunde seiner Muse, das Andenken an ihn durch Aufstellen dieses Denksteins zu erhalten. Eine Abbildung davon brachte die Gartenlaube 1860, S. 764.