BLKÖ:Jarcke, Karl Ernst

Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Jaresch, Johann
Band: 10 (1863), ab Seite: 95. (Quelle)
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Jarcke, Karl Ernst (Publicist, geb. zu Danzig in Westpreußen 19. November 1801, gest. zu Wien 27. December 1852). Von protestantischen Eltern. Anfänglich für die Laufbahn des Handelstandes bestimmt, entschloß er sich aus Liebe für die Wissenschaft, dieselbe zu verlassen und sich dem Studium der Rechtsgelehrsamkeit zu widmen. Er begab sich sofort nach Bonn, später nach Göttingen, [96] wo er die juridischen Studien beendete und für eine Preisschrift die Doctorwürde erhielt. In Bonn wurde auch J. von der Aufregung, welche die jugendlichen Gemüther in Deutschland 1816–1819 fast allgemein ergriff, mitgerissen. Aber bald besann er sich, und nüchtern geworden, folgte jenen haltlosen Träumereien die vollständige Umkehr. In Cöln war es, wo J. am 16. Februar 1825[WS 1] von der lutherischen Confession zur katholischen Kirche übertrat. Dieser Uebertritt, der mit jenem seines Freundes Philipps zusammenfiel, entstand bei J. keineswegs, wie etwa bei Hurter [Bd. IX, S. 442], aus Ueberschwenglichkeit einer inneren Gefühlswelt, die sich im protestantischen Ritus unbefriedigt fand; auch gewinnsüchtige äußerliche Absichten dürfen nicht als Motiv angenommen werden. Sein Uebertritt war durchaus – was er selten sein mag – Erzeugniß des Verstandes, der sich im Bewußtsein der Unzulänglichkeit seiner endlichen und beschränkten Kräfte für verloren hält und nicht im Stande ist, sich zur Vernunft zu erheben, die einzig und allein auf wahrhaft dialectischem Wege das Endliche mit dem Unendlichen verknüpft und versöhnt. Die Liebe zur früheren Thätigkeit mochte aber von Neuem in ihm erwachen, denn er hielt nicht lange darauf um Erlaubniß an, als akademischer Lehrer wieder aufzutreten. Anfänglich beschäftigte er sich nur vorzugsweise mit dem Strafrechte, habilitirte sich zu Bonn als Docent der Rechtswissenschaft, und wurde im December 1826 zum außerordentlichen Professor der juridischen Facultät in Bonn ernannt. Gleichzeitig erhielt er einen einjährigen Urlaub und begab sich mit dem Professorentitel, den man ihm bei seinem Ausscheiden bewilligt hatte, nach Cöln, um dort als Advocat zu prakticiren. Später, unter der Bedingung einer Ortsveränderung und ohne ihm die Aussicht auf Gehalt zu eröffnen, wurde ihm von Seite des preußischen Ministeriums – Kamptz, der nachmalige preuß. Justizminister, war damals Director im Justizministerium – gestattet, an der Universität zu Berlin zu dociren, wo er namentlich in seinen Vorträgen über das Criminalrecht ein nicht unbeträchtliches Zuhörerpersonal um sich versammelte, das sich durch seinen klaren bündigen Vortrag und durch die Dialectik seiner verständigen Forschung angezogen fühlte. Um diese Zeit betrat er auch die Laufbahn als staatswissenschaftlicher politischer Schriftsteller, u. z. zuerst mit seinem „Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts“ (1827 u. f.), insbesondere aber mit seiner anonym erschienenen historisch-staatsrechtlichen Schrift: „Die französische Revolution von 1830“, welcher im October 1831 die Begründung des „Berliner politischen Wochenblattes“ mit dem Motto: „Nous ne voulons pas la révolution, ni la contre-révolution mais le contraire de la révolution“ folgte. Diese periodische Schrift ward von bedeutenden Aristokraten mit ansehnlichen Mitteln unterstützt und auf das ruheliebende, der Neuerungssucht müde gewordene Publicum berechnet, begann J. mit allen Mitteln des Scharfsinns und der Dialectik den Kampf gegen jede Bewegung im Reiche der Geschichte wie des Gedankens. Aber Ton und Haltung des Blattes in der Centrale deutscher Intelligenz, für welche damals Berlin noch gehalten wurde, sagten dort nicht lange zu. Jarcke’s Stellung zu Preußen, in welchem sich eben die Uebergänge zu einer neuen Regierungsform vorzubereiten schienen, wurde bald eine Anomalie, [97] aus welcher ihn seine Berufung nach Oesterreich befreite, wohin wie auch nach anderen deutschen Städten der Ruf seines Geistes gedrungen, und wo durch Gentz Tod eine Lücke entstanden war. Diese war im Herbste 1832 erfolgt. J. trat als Staatskanzleirath in kais. österreichische Dienste und entfaltete in diesem bis 1848 eine ununterbrochene Wirksamkeit; überdieß bot sich ein großes Feld für sein Talent und die Darlegung seiner Anschauungen in den seit dem Cölner Ereigniß zu München erscheinenden „historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“, die zum großen Theile seine Schöpfung sind. Fast jedes ihrer Hefte brachte einen oder mehrere seiner Aufsätze, die bald der einen, bald der anderen der durch den Titel der Zeitschrift bezeichneten Richtungen angehörten. Die Ereignisse des Jahres 1848 entfernten Jarcke auf längere Zeit von Wien, bis er um die Mitte 1850 wieder dahin zurückkehrte. Er war damals schon in hohem Grade leidend und hat seit dieser Zeit kaum mehr sein Krankenbett verlassen. Aber die geistige Frische, die sich mit ihrer ganzen Kraft, sowohl in Wort als Schrift aussprach, verließ ihn bis zum letzten Augenblicke nicht. Während der ganzen – zweijährigen – Dauer seiner Krankheit empfing J. allwöchentlich das heilige Abendmahl. Zwei Wochen vor seinem Tode verlangte er nach den heil. Sterbesacramenten und gab bei dieser Gelegenheit dem hochw. P. Stern, welcher die heilige Handlung vollzog, nachstehende Erklärung ab: „Wenn ich gestorben bin, so sagen Sie Jedem, der es hören will, daß ich mein höchstes Glück in der römischen Kirche gefunden habe, und mein Zorn entbrannt ist, wenn man ihr etwas anhaben wollte; aber nie habe ich gegen meine Ueberzeugung gesprochen oder geschrieben. Es mag wohl sein, daß ich die Personen oft nicht genug von der Sache unterschieden und jene, die die Kirche angetastet, zu scharf und eckig beurtheilt habe. Es ist mir dieß vom ganzen Herzen leid.“ In ungetrübter Ruhe mit dem letzten Worte „Jesus“ verschied er im Alter von 51 Jahren. Jarcke hat nachstehende Werke herausgegeben: „Commentatio de summis principiis juris rom. de delictis eorumque poenis, inprimis de notione et fine poenarum, de natura et quantitate delict. atque de adplicat. legum poenalium“ (Göttingen 1822 [Bonn, Weber], 4°. maj.); für diese Abhandlung erhielt er den von der kön. hannover’schen Regierung ausgeschriebenen akademischen Preis und am 3. August 1822 die juridische Doctorwürde; – „Versuche einer Darstellung des Censor. Strafrechtes der Römer. Beiträge zur Geschichte des Criminalrechtes“ (Bonn 1824, Weber, gr. 8°.); – „Bemerkungen über die Lehre vom unvollständigen Beweise in Bezug auf ausserordentliche Strafen“ (Halle 1825, Schwetschke, 8°.), Sonderabdruck aus dem 8. Bande des „Neuen Archivs des Criminal-Rechtes“; – „Ueber die spätere Geschichte des deutschen Strafprocesses mit Rücksicht auf Preussen“ (Halle 1826, 8°.), auch Sonderabdruck aus dem 9. Bande des „Neuen Archivs des Criminal-Rechtes“; – „Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechtes mit Rücksicht auf die Bestimmung der preussischen, österreichischen, baierischen und französischen Strafgesetzgebung“. 3 Bände (Berlin 1827–1830, Dümmler, gr. 8°.); – „Die Lehre von der Aufhebung der Zurechnung durch unfreie Gemüthszustände. Zum Gebrauch für Richter und Gerichtsärzte“ (Berlin 1829, Dümmler, gr. 8°.); – „Karl Ludwig Sand und sein an Kotzebue verübter Mord. Eine psychologisch-criminalistische Erörterung aus der Geschichte unserer Zeit“ (Berlin 1831, [98] Dümmler, 8°.); – „Die französische Revolution von 1830, historisch und staatsrechtlich beleuchtet in ihren Ursachen, ihrem Verlaufe und ihren wahrscheinlichen Folgen“ (Berlin 1831, Dümmler, gr. 8°.); – „Ueber die austrägalgerichtliche Entscheidung der Streitigkeiten unter den Mitgliedern des deutschen Bundes“ (Wien 1833, 8°.); – „Die ständische Verfassung und die deutschen Constitutionen (Leipzig 1834); – „Vermischte Schriften“ 4 Bände (München 1839–1854, Lit.-art. Anstalt, 8°.), diese enthalten seine bedeutendsten, vorher in den „Politisch-historischen Blättern für das katholische Deutschland“ abgedruckten publicistischen Aufsätze, der letzte Band – von seinem Freunde G. Philipps nach J.’s Tode herausgegeben – auch besonders unt. d. Tit.: „Principienfragen. Politische Briefe an einen deutschen Edelmann nebst gesammelten Schriften“ (Paderborn 1834, Schöningh, 8°.). Auch schrieb J. die Vorrede zu des Th. Ant. Heinr. Ritter v. Schmalz „Wissenschaft des natürlichen Rechts“ (Leipzig 1831, gr. 8°.). Jarcke’s irdische Ueberreste ruhen auf dem Gottesacker von Maria Enzersdorf am Gebirge, nächst Wien, wo auch Buchholtz [Bd. II, S. 189], P. Clemens Maria Hoffbauer [Bd. IX, S. 154], Klinkowström, Adam Müller und Zacharias Werner bestattet sind.

Die nach Jarcke’s Tode erschienene Schrift: „Principienfragen. Politische Briefe an einen deutschen Edelmann nebst gesammelten Schriften von Carl Ernst Jarcke“ (Paderborn 1854, Schöningh, 8°.), enthält auch seinen Nekrolog. – Deutsches Staats-Wörterbuch. In Verbindung mit deutschen Gelehrten herausgegeben von Dr. J. C. Bluntschli und K. Brater (Stuttgart 185., gr. 8°.) Bd. V, Artikel von K. Böhm. – Katholische Blätter aus Tirol. Redigirt von M. Huber (Innsbruck, Wagner, 8°.) Jahrg. 1853, Bd. I, Nr. 1, S. 19. – Philipps (Georg), Vermischte Schriften (Wien 1855, Braumüller, 8°.) Bd. II, [Zu Ende dieses Bandes widmet Ph. drei Aufsätze dem Andenken seiner Freunde Joseph und Guido von Görres und Jarcke.] – Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur (Leipzig 1833, Brockhaus, gr. 8°.) Bd. II, S. 576. – Oesterreichische National-Encyklopädie von Gräffer und Czikann (Wien 1835, 8°.) Bd. III, S. 22, und Bd. VI, Suppl, S. 498. – BrockhausConversations-Lexikon, 10. Auflage, Bd. VIII, S. 423 [nach diesem geb. 1799, gest. 28. Dec. 1852]. – Wigand’s Conversations-Lexikon (Leipzig, Otto Wigand, gr. 8°.) Bd. VII, S. 168. – Meyer (J.), Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände (Hildburghausen, Bibliogr. Institut, gr. 8°.) Bd. XVI, S. 1189 [nach diesem geb. 1799]; IV. Suppl. Bd. S. 68 [nach diesem gest. 28. Dec. 1852]. – Gottschall (Rudolph), Die deutsche National-Literatur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (Breslau 1855, Trewendt und Granier, 8°.) Bd. I, S. 235. – Menzel (Wolfgang), Die deutsche Literatur (Stuttgart 1836, Hallberger, 8°.) Zweite verm. Aufl. Bd. II, S. 231. – Laube (Heinrich), Geschichte der deutschen Literatur (Stuttgart 1840, Hallberger, gr. 8°.) Bd. IV, S. 90. – Blätter für literarische Unterhaltung (Leipzig, Brockhaus, 4°.) 1839, Nr. 237–240. – Oesterreichischer Parnaß, bestiegen von einem heruntergekommenen Antiquar (Frey-Sing [Hamburg, Hoffmann u. Campe], Athanasius u. Comp., 8°.) S. 24. – Porträt. Dasselbe befindet sich vor dem nach seinem Tode herausgegebenen Werke: „Principienfragen“. – Der Pamphletist im „Oesterreichischen Parnaß“ entwirft in bekannter – er meinte wohl selbst in pikanter – Weise [vergl. die Biographie Uffo Horn’s, Bd. IX, S. 296: „VI. Zur literarischen Charakteristik Uffo Horn’s“] Jarcke’s Silhouette: „Große, kalte, gemessene Haltung, artiges Aeußere, schweigsam, korrekter Stylist, ohne Glanz, bloß der Schatten seines Vorgängers Gentz, mehr guter Wille als Kraft zu verfinstern. Referent der Augsburger allgemeinen Zeitung. In Oesterreich übrigens ohne publizistischen Einfluß, aber sonst sehr heuchlerisch (!) und verkäuflich (!!), riecht nach schändlicher Hierarchie (!) und privilegirter Kämpe für den österreichischen Absolutismus.“ – Zur Charakteristik Jarcke’s und dessen Be- und Verurtheilung in der Literaturgeschichte. Es ist schwer, den Ausgangspunct der publicistischen Thätigkeit J.’s mit wenigen Worten zusammenzufassen, doch nothwendig zum Verständniß [99] seiner vielfach angefochtenen Wirksamkeit. Auch bei Jarcke wie bei den meisten Publicisten ist eine Wandlung, aber nicht eine Wendung in den Ansichten bemerkbar und tritt dieselbe in dem nach seinem Tode herausgegebenen Werke „Principienfragen“ am klarsten hervor. Der Grundgedanke, der sich in diesem Werke ausspricht, ist: „daß der Staatsabsolutismus, wie er unter Metternich gehandhabt worden ist, nothwendig zur Revolution führen müsse, daß er auf die Dauer unhaltbar, weil widernatürlich sei, und daß er die Dynastien mit in den Abgrund ziehe“. Die Hauptschuld, die er demselben zum Vorwürfe macht, ist die Mißachtung und Mißhandlung der Kirche. Jarcke selbst war ein treuer Anhänger der Kirche und erkannte mit Schrecken, daß Metternich mit der Kirche nur ein herabwürdigendes Spiel treibe. Das Metternich’sche System war – nach Jarcke – kirchenfeindlich, ja kirchenmörderisch, unter dem Aushängschild der eifrigsten, ja ultramontansten Kirchlichkeit. Mit großer Geflissenheit wurde der böse Schein des offenen Bruches vermieden. Dafür kam aber auch der Kirche jener Segen nicht zu gute, der sonst dem Martyrium verheißen ist. Wie ein Baum, den man auf’s Mark anbohrt, langsam dahinsiecht und endlich verdorrt, so sollten auch der Kirche die Schlagadern unterbunden und gleichzeitig ihrem innersten Lebenskerne, so viel Elemente des Unglaubens, so viel Febronianismus, so viel Schisma eingeimpft werden, daß im Laufe einer nicht gar langen Reihe von Jahren ohne weiteres ausdrückliches Dazuthun des Staates, gleichsam von selbst, wenn nicht die Vorsehung mit einem Wunder dazwischen trat, eine Art von natürlichem Tode erfolgen mußte. Aber auch der grausamste Despotismus, die gewaltthätigste Dummheit der sogenannten Aufklärung – ich bediene mich nur der Worte Jarcke’s – kann der Kirche Christi niemals im Wesen schaden. Hätte der moderne Staatsabsolutismus das Christenthum vernichten können, so wäre damit zugleich der Beweis geliefert gewesen, daß es doch nur von dieser Welt war. Aller Berechnung nach mußte die Kirche dem omnipotenten Staate erliegen. Aber es ist anders gekommen. Die absolute Staatsweisheit, mit allen weltlichen Mitteln, geistigen und physischen ausgerüstet, den Häuptern der Kirche tausendmal an Schlauheit und Weltgewandtheit überlegen, hat ihr Ziel doch nicht erreicht. Die Philosophensecte des vorigen Jahrhunderts hatte die Fürsten überredet, sie wurden durch die Unterdrückung der Kirche stärker werden. Aber die wirkliche Folge dieses unglücklichen Kampfes, das eigentliche Ergebniß der auf diesem Felde errungenen Siege war die große europäische Revolution, welche jetzt schon seit 60 Jahren den Boden von Europa nach jeder Richtung aufwühlt. Sie konnte nicht ausbleiben. Das Christenthum hat den europäisch-fürstlichen Staat gebaut. Diesem grub der Absolutismus sein Grab, als er dessen sittlich-religiöse Grundlage zu zerstören begann. Was weiter kommen mußte, kam. Man verzeichne die Angriffe, welche alle katholischen Regierungen Europa’s der Reihe nach seit dem Beginne des vorigen Jahrhunderts auf die Kirche unternahmen, in eine Spalte, und stelle auf demselben Blatte ihnen gegenüber die Umwälzungen, welche eben diese Länder – Spanien, Portugal, Frankreich, Venedig, Toscana, Neapel, zuletzt Oesterreich – erlitten. Die Moral dieser Bilanz ergibt sich von selbst. So der nachmärzliche Jarcke, dessen publicistische Richtung in Allem von der Kirche ausging und zu ihr zurückkehrte. In der früheren Zeit – als er das „Berliner politische Wochenblatt“ begründete – eiferte er, wie er später für die Kirche geschwärmt, gegen den Liberalismus der Zeit, gegen die doctrinäre Sucht, nach flüchtig erhaschten Abstractionen, Verfassungsformen zusammen zu setzen und politische Luftschlösser zu bauen. Der Zeitpunct, in welchem J. seinen großartigen und kühnen Kampf gegen den Liberalismus begann, war günstig gewählt (1831), da die Sehnsucht nach dem Beharren auf den festen Formen historischer Entwickelung schon lebendig genug geworden und die Geschichte des Liberalismus für den Augenblick einem kläglichen Abschlusse sich zu nähern schien. Frankreich schlug sich damals gerade durch die Schmälerung einer der drei Staatsgewalten, der Pairie, eine tiefe Wunde, während ein großartiger Minister die Revolution in ihr Ufer zurückzudrängen suchte; in Belgien war ein ohnmächtiges Gemisch von Widersinnigkeiten; in England kämpften die Aristokraten; für Portugal entwarf Don Pedro den Plan, seinem Volke einen Liberalismus aufzunöthigen, den man dort weder kannte noch wünschte; Griechenland zeigte, wie ein Volk ohne vereinenden Mittelpunct eines Herrscherhauses untergehen konnte; Polen war der inneren Zwietracht nicht minder als dem Schwerte des äußeren Siegers anheimgestellt: da erst eröffnete Jarcke seinen Feldzug gegen den [100] Liberalismus, der das gesunde germanische Leben zu zerstören drohte. Mit historischer Bestimmtheit und assertorischer Festigkeit nicht minder als mit sarkastischer Bitterkeit deckte er den Despotismus und die Lüge, die unter der Larve des Liberalismus oft einherschleichen, in ihrer ganzen Blöße auf, schwang die Geißel über die theoretisch-doctrinellen politischen Speculationen und stürzte die flache Hohlheit des mattköpfigen und doch trunkenen Gefasels von ganz abstracter Freiheit, welches die Sehnsucht der Völker belog und das Ziel ihrer Wünsche durch eine vorschnelle Geburt in die noch unreife Gegenwart hereinzerren mochte, über den Haufen. Bei der vagen und schwankenden Stimmung, in welcher das Publikum des Jahres 1831 befangen war, konnte es ihm an Wirkung nicht fehlen, aber während es ihm gelang, die Schattenseite des Liberalismus so dunkel und schwarz zu zeichnen, wie sie ist, war er für seine Lichtseite blind geblieben – und hat seine Zeit und ihre großen Erscheinungen entweder wirklich mißkannt oder nur mißkennen wollen. Ihm erschien die Gegenwart ein stabiler Sumpf und nicht was sie ist, ein Werdendes. Die Erscheinungen der Vergangenheit und die Erfahrungen der Gegenwart benützte er nur, um letztere in eine chinesische Starrheit zu bannen. Jede Reform, auch wenn sie auf eine gesetzmäßige Weise in’s Leben trat, war ihm verhaßt und nannte er Revolution. Wenn z. B. in der badischen Kammer die Aufhebung des Zehnten durch Rottek in Anregung gebracht worden war, nannte das Berliner politische Wochenblatt dergleichen „schreiende Willkür“, aber nur so lange, bis die dortige Regierung die Maßregel bestätigte; sobald der Regent sanctionirt hatte, schwieg J., obwohl er auch gegen liberale Fürsten die feststehende Redensart: „Wenn die Großen, selbst Könige mit der Revolution buhlen“, gebrauchte, aber diesen Ausdruck nie auf einen concreten Fall anwendete. So Jarcke vor den Märztagen, unmittelbar nach den Wirren der dreißiger Jahre. Im Vormärz entschiedener Feind eines jeden Liberalismus, ja selbst der gesetzmäßigen Reformen, da er ja diese nur als Ausflüsse des liberalen Schwindelgeistes ansah, flüchtete er im Nachmärz in den Schooß der Kirche, in deren Unterdrückung er die Genesis der Revolution erblickte und in der Rückkehr in den Schooß derselben die einzige Rettung für die Fürsten, Völker und Gesellschaft erwartete. Aber Alles dieß war Jarcke aus Ueberzeugung; statt eines Criminalisten, als der er eine Größe seiner Zeit geworden wäre, ward er Publicist, und es gibt kein widersinnigeres Bündniß, als das eines Strafrechtsgelehrten mit der Publicistik, denn jeder Leitartikel, der aus dem Schooße der letzteren entspringt, ist eine geborne Sünde, ein Frevel, also straffällig. – Wenn aber Gottschall unseren Jarcke und noch Andere, wie Gentz, Haller, als Nachläufer Schlegel’s bezeichnet, so ist das Phrase, mit der eine Specialität wie Jarcke – mag seine Richtung welch’ immer eine sein – von einem Literaturhistoriker nicht abgethan werden darf, wie es zum mindesten befremdet, wenn Wolfgang Menzel Jarcke einen „Ritter der Knechtschaft nennt, der seinen Turnierplatz zuerst in Berlin aufschlug, als Gentz alterte, katholisch wurde, um dessen Stelle in Wien einzunehmen“. Nicht als ob Jarcke nicht am richtigsten als Ritter der Knechtschaft bezeichnet wäre, aber daß ihn Menzel so nennt, befremdet. Am ruhigsten und richtigsten beurtheilt ihn Laube, der sagt: „daß J. mit dem Berliner politischen Wochenblatte im auffallenden Widerspruche, bald nach der Julirevolution gegen alle Tendenz der Zeit, nicht bloß gegen einzelne Parteien oder Consequenzen, sich erhob. Das „Wochenblatt“ hält sich im andern Extreme an die äußerste Consequenz des historischen Buchstabens und lebt in der Forderung jener einigen Gedanken- und Zuständewelt, aus deren Uneinswerden alle Bewegung der neuen Geschichte entsprungen ist. Da die Geschichtsentwickelung sich schwer auf einen bestimmten Einzelnzweck hin fesseln läßt, so scheint es leichter, ihre Berechtigung zu unvorgesehener Wendung überhaupt zu läugnen, und das ist denn schwächer oder stärker in allen Krisen der Zeit geschehen und hat den Fortschritt immer genöthigt, sich tiefer zu begründen“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Nach Eisenhart in Jarcke, Karl Ernst schon im März 1824.