Aufdeckung eines literärischen Betruges in der Preussischen Geschichte (1832)

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Autor: Johannes Voigt
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Titel: Aufdeckung eines literärischen Betruges in der Preussischen Geschichte
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Erscheinungsdatum: 1832
Verlag: Verlag der Gebrüder Bornträger
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Erscheinungsort: Königsberg
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Quelle: ULB Düsseldorf = Commons
Kurzbeschreibung: Über Johann Nikolaus Beckers Versuch einer Geschichte der Hochmeister in Preußen (1798).
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Beilage Nro. III.
Aufdeckung eines literärischen Betruges in der Preussischen Geschichte.

Über die Geschichte des Hochmeisters Winrich von Kniprode ist ein eigenes Werkchen vorhanden unter dem Titel: „Versuch einer Geschichte der Hochmeister in Preußen, seit Winrich von Kniprode bis auf die Gründung des Erbherzogthums. Von J. N. Becker, Doctor der Rechte. Berlin 1798.“ Ungeachtet dieses mehr versprechenden Titels enthält es doch nur die Geschichte der Regierungszeit des genannten Hochmeisters. Seit länger als dreißig Jahren hat dieses Werkchen in der Literatur der Geschichte Preussens einen nicht unbedeutenden Namen behauptet, und keiner hat seitdem über Winrichs Zeit geschrieben, ohne daß er nicht mittelbar oder unmittelbar aus ihm bald mehr bald weniger geschöpft. Der Werth dieses Werkchens beruhte vorzüglich darauf, daß der Verfasser in der Vorrede erzählt: Bei seinem Aufenthalte im Städtchen Freudenthal in Schlesien, „im Gebiete des Hochmeisters, seyen ihm im J. 1797 von einem dasigen Ordens-Beamten aus dem Archive zwei Chroniken im Manuscript mitgetheilt worden“ die eine umständliche Geschichte der Hochmeister Winrich und Albrecht enthalten hätten. Jene habe Kniprode’s Hofkaplan, Vinzenz von Mainz, zum Verfasser und fange nach Chronikenart mit Erschaffung der Welt an, um auf das vierzehnte Jahrhundert zu kommen. „Ich fand darin, fährt der Verfasser fort, so viele bisher unbekannte Dinge aus der Geschichte des merkwürdigen Winrichs, daß ich mich bald entschloß, Gebrauch davon zu machen. Man wird gleich bei dem Ansehen dieser Blätter finden, daß sie einen weit größeren Reichthum an historischen Daten enthalten, als alle Bücher, die von der mittlern preußischen Geschichte handeln. Baczko’s Buch handelt nur auf wenigen Seiten Kniprode’s Geschichte ab, denn es fehlte ihm, wie allen vor mir, an umständlichen Materialien. Vinzenz [698] wohnte von 1349 bis 1386 zu Marienburg. So sagt der Abschreiber beider Chroniken in der Vorrede. Er hat selbst mit dem Hochmeister Kniprode zwei Züge nach Litthauen gemacht und war also von vielen merkwürdigen Dingen Augenzeuge. Sein Buch führt den Titel: Vincentii Moguntini Chronicon Prussiae, ab orbe condito, sive historia Winrici a Kniprode et pars historiae successoris.“ So weit der Verfasser über die von ihm zuerst und neu benutzte Quelle.

Allein es kann mit zahlreichen Gründen bewiesen werden, daß alles, was Becker von dieser seiner Quelle sagt, auf Lug und Trug beruht, daß er nie ein solches Chronicon gesehen und mit seinem Buche über Winrichs Geschichte die Welt getäuscht und betrogen hat. Was zuerst das ehemalige Daseyn einer solchen Chronik in Freudenthal betrifft, so sind darüber mehrmals Nachfragen und Untersuchungen angestellt worden. So hatte sich schon Bachem (s. Versuch einer Chronologie der Hochmeist. des D. Ordens S. 36) vor dem Jahre 1802 Mühe gegeben, bestimmte Auskunft über die erwähnte Chronik zu erhalten; allein er sagt a. a. O.: „Nachrichten aus Freudenthal vom 17. April 1799 zu Folge, hat weder dieses, noch das von Becker erwähnte, die Geschichte des Herzogs Albrecht von Preussen betreffende Manuscript jemals im dortigen Ordens-Archive existirt.“ Obgleich die Erklärung Bachems meine in m. Geschichte Marienburgs S. 144–145 ausgesprochenen Zweifel an der jemaligen Existenz der Chronik und an der Wahrheit der Aussagen Beckers sehr verstärkte, so wurde doch, noch ehe der Recensent meiner Geschichte Marienburgs in der Hallis. Liter. Zeit. Ergänz. Bl. Nr. 59 dazu aufforderte, auf Veranlassung des Verfassers dieses Werkes durch Se. Excellenz den wirkl. Geheimen Rath und Oberpräsidenten von Preussen Herrn von Schön eine abermalige Nachsuchung in Freudenthal selbst eingeleitet. Der Erfolg fiel indessen nicht anders aus; denn man erhielt zwar die Nachricht, daß Becker sich in den Jahren 1796 oder 1797 wirklich im Gefolge des Kurfürsten von Cöln einige Zeit in Freudenthal aufgehalten habe; allein von dem ihm dort zugekommenen handschriftlichen Chronicon wußte niemand etwas zu sagen. Man erinnerte sich bloß, daß die nach dem Erscheinen des Beckerschen Werkes häufig erfolgten Nachfragen nach den erwähnten Handschriften den Erzherzog Karl im J. 1801 veranlaßt hätten, alle auf den Orden Bezug habenden Urkunden, Bücher und Schriften nach Wien schaffen zu lassen; es wurde bloß die Möglichkeit ausgesprochen, daß die Handschriften Beckers dem Mergentheimer Archive zugehört haben könnten, wovon damals ein Theil zur Sicherheit nach Freudenthal gebracht worden sey. Es sind indessen sowohl zu [699] Wien als zu Mergentheim in Beziehung auf Materialien zur Ordensgeschichte Nachsuchungen angestellt worden, die in Rücksicht auf Vincenzens Chronicon von gar keinem Erfolge gewesen sind.

Wenn nun hieraus schon der ziemlich sichere Schluß gefolgert werden konnte, daß ein solches handschriftliches Chronicon niemals weder im Archive zu Freudenthal, noch in dem zu Mergentheim vorhanden gewesen sey, so kam es bei der Frage über die Wahrheit oder Unwahrheit der Angaben Beckers vornehmlich auch auf seinen Charakter und seine damaligen persönlichen Verhältnisse an. Hierüber gab ein von Sr. Excellenz dem Staatsminister und Oberpräsidenten Herrn von Ingersleben veranlaßtes Schreiben eines sehr glaubhaften Mannes aus Coblenz, wo Becker mit dem Buchhändler Grebel in näheren Verhältnissen gestanden hatte, folgende Auskunft: „J. N. Becker, der Sohn des gräflich-Metternichischen Kellners zu Beilstein an der Mosel, zu Anfang der siebziger Jahre zu Beilstein geboren, wurde wie seine ganze Familie vom Grafen Franz Georg von Metternich mit Wohlthaten überschüttet. Er lohnte aber seinem Herrn mit dem schwärzesten Undank, compromittirte ihn aufs äußerste auf dem Congresse zu Rastadt und wurde endlich der Unterschlagung wichtiger Papiere beschuldigt. Der Graf mußte ihn der Gerechtigkeit überliefern. Becker aber entkam aus dem Gefängnisse und suchte eine Zuflucht in Berlin, wo er sich hauptsächlich von schriftstellerischen Arbeiten ernährte. So entstand damals der Versuch einer Geschichte der Hochmeister in Preussen; Berlin 1798; so entstand auch die: Beschreibung meiner Reise in den Departementen von Donnersberg, vom Rhein und der Mosel; Berlin 1799. Gar glänzend mögen die Resultate seines Kunstfleißes nicht gewesen seyn. Er verließ daher Berlin und kehrte nach dem linken Rheinufer zurück, wo er als ein Freiheitsmärtyrer empfangen und verschiedentlich angestellt wurde. Er starb im J. 1809 zu Simmern als Magistrat de sûreté (Untersuchungsrichter), nachdem er sich in Vertilgung der zahlreichen Räuberbanden, die den Hundsrücken beunruhigten, nicht geringes Verdienst um die Provinz erworben etc.“ Diesem Berichte fügt der Berichterstatter folgendes Urtheil bei: „Als Schriftsteller ist Becker durchaus werthlos. Alle Zeit seicht und unzuverlässig wird er oft zum muthwilligen oder boshaften Verläumder. Historischer Sinn und historisches Wissen fehlten ihm gänzlich. Wenn daher die Geschichte der Hochmeister Nachrichten enthält, die früher unbekannt waren, so haben diese ihre einzige Quelle in Beckers fruchtbarer Phantasie. Kein Archiv stand ihm zu Gebote, namentlich war das Ordens-Archiv zu Mergentheim jedem sterblichen Auge verschlossen. Wenn aber auch alle Archive der Welt ihm ihre [700] Schätze geöffnet hätten, so war er unvermögend, davon Gebrauch zu machen. Daß er ein sehr arger literär. Betrüger gewesen, beweiset seine Reisebeschreibung, in welcher er mit gränzenloser, ich möchte sagen, mit classischer Unverschämtheit Lügen auf Lügen häuft, daß ich schon oft gezweifelt habe, ob er dieses Buchs alleiniger Verfasser sey. Es schien mir unmöglich, daß ein einzelner Mensch so viele Unwahrheiten an eine bestimmte, ihm wohlbekannte Localität knüpfen könne.“

So weit die Nachrichten und das Urtheil des Berichterstatters über Beckers Persönlichkeit und Charakter; sie sind, wie jeder von selbst fühlt, eben nicht geeignet, seiner Angabe über die von ihm angeblich neu benutzte Quelle den mindesten Glauben zu verschaffen.

Es läßt sich aber aufs bündigste beweisen, daß Becker mit seinem Werke über Winrichs von Kniprode Regierungsgeschichte einen förmlichen Betrug spielte und daß es richtig geurtheilt ist, wenn er „ein arger literärischer Betrüger“ genannt wird. Wir entnehmen unsere Gründe zu dieser Behauptung zuerst aus äußeren Verhältnissen. Erstens nämlich wird dieses Chronicons des Vincenz von Mainz von keinem der ältern und neuern Chronisten als einer Quelle der Preussischen Geschichte erwähnt; es kennt es weder Simon Grunau, wo er im Anfange seiner Chronik über die alten Preuss. Chroniken spricht, noch Lucas David, noch Henneberger oder Schütz, obgleich diese beiden nach den Vorreden ihrer Werke alle ihre benutzten Quellen aufzählen. Auch das Ordensarchiv zu Königsberg weiset mit keiner Spur auf das ehemalige Daseyn dieser Chronik des Vincenz von Mainz hin. So ist Becker der Erste und der Letzte, der diese Quelle gesehen und benutzt haben will. – Noch wichtiger aber ist zweitens, daß es gar keinen Kaplan des Hochmeisters Winrich von Kniprode mit Namen Vincenz von Mainz jemals gegeben hat. Wir kennen aus Urkunden die Kaplane dieses Meisters aufs allergenaueste. Im J. 1349 bis 1352 war Johannes Kaplan des Hochmeisters Hinrich Dusmer von Arffberg. Als Winrich von Kniprode Meister ward, erkor er den Priesterbruder Wiebold zu seinem Kaplan und als solchen finden wir diesen bis gegen das J. 1362; darauf wurde der Ordenspriester Nicolaus sein Nachfolger bis zum J. 1377 und im folgenden Jahre bis zu Winrichs Tod bekleidete der Priesterbruder Pilgerim die Stelle des hochmeisterlichen Kaplans. Da es gewöhnlich war, daß mitunter auch die Kaplane des Hochmeisters als Zeugen in Urkunden mit aufgeführt wurden, so sind wir über diese Kaplane Winrichs eben so gewiß unterrichtet, als wir bestimmt behaupten können, daß kein Vincenz in den Jahren 1349 bis 1386 [701] als Hofkaplan des Meisters in Marienburg lebte, wie Becker behauptet, denn in keiner der zahlreichen Urkunden Winrichs von Kniprode wird seiner erwähnt, wohl aber sehr oft der eben angegebenen Kaplane des Meisters. Becker hat also offenbar diesen Vincenz von Mainz als Hofkaplan des Hochmeisters erdichtet. Erdichtet ist von ihm aber auch der angebliche Titel der Chronik; dafür spricht schon die Ungereimtheit seiner Zusammensetzung: Chronicon Prussiae ab orbe condito, sive historia Winrici a Kniprode et pars historiae successoris. So könnte wenigstens Vincenz selbst den Titel unmöglich geschrieben haben. – Zu den äußeren Verhältnissen, aus denen wir unsere Gründe gegen die Wahrheit der Aussage Beckers entnehmen, rechnen wir drittens auch den Umstand, daß die Chronik „nach Chronikenart, mit Erschaffung der Welt anfängt, um auf das vierzehnte Jahrhundert christlicher Zeitrechnung zu kommen“, wie Becker sagt. Wir halten nämlich auch diese Angabe für Trug und Lug; denn einmal würde diese Chronik des Vincenz die einzige unter allen Preussischen Chroniken seyn, die mit Erschaffung der Welt anfinge, da es keinem einzigen Chronisten, der über Preussen und den Orden schrieb, je in den Sinn gekommen ist, die Art der Deutschen Chronisten nachzuahmen, ihre Erzählung vom Anfange der Welt beginnen zu lassen. Ferner aber verräth Becker seine Lüge auch schon selbst; denn wenn seine handschriftliche Quelle mit Erschaffung der Welt angefangen hätte, wie war es denn möglich, daß er in seinem Werkchen S. 2 und 3 aus Vincenzens Chronik schon auf den ersten Seiten, nämlich schon p. 6 und p. 8 die interessante Erzählung der Wahl Winrichs von Kniprode und seiner veranstalteten Festlichkeiten finden konnte? War auf fünf Seiten oder Blättern der Chronik die ganze Weltgeschichte bis auf Winrichs Zeit schon abgehandelt? Oder hat nicht vielmehr Becker durch ein unbesonnenes Citat sich in seiner Lügenhaftigkeit selbst verrathen? – Bleiben wir aber bei dieser seiner Art des Citirens aus seiner angeblichen Chronik noch einen Augenblick stehen, so wird es einleuchtend, daß der Betrüger noch kein rechter Meister im Betruge gewesen ist und seinen Betrug vielfältig von selbst verräth. Nachdem nämlich p. 6 und p. 8 von Winrichs Wahl die Rede gewesen seyn soll, sollen p. 30 und p. 36 zwei „donnernde Kreuzpredigten“ des Hofkaplans Vincenz, im J. 1353 gehalten, gestanden haben und p. 68 findet Becker erst den Heereszug des Ordensmarschalls Siegfried von Dahenfeld im J. 1355 beschrieben. Was stand denn aber in der Chronik in den großen Zwischenräumen von p. 9 bis 29 und von p. 37 bis 67? Davon weiß uns Becker gar nichts zu sagen, als was wir auch bei Schütz und in andern Chronisten [702] finden. Ferner müßte, wenn Beckers Citate richtig wären, die Chronik des Vincenz ein sehr confuses Werk gewesen seyn, denn nach S. 36 bei Becker soll Vincenz p. 87 von einem Heereszuge im J. 1361, dagegen p. 97, also zehn Pagina später, erst von Schindekopfs Herumtreiben im feindlichen Litthauen in den Jahren 1357 und 1358 erzählen. Ebenso soll nach Becker S. 57 Vincenzens Chronik p. 193 den Bericht über die Schlacht bei Rudau 1370 enthalten haben, während sie (nach Becker S. 64) p. 145 schon von den Ereignissen des Jahres 1376 gesprochen haben soll. Man sieht hieraus, wie albern der Betrüger seine Rolle spielte und wie unbesonnen er sein Lügenwerk durchgeführt hat. Dennoch hat Becker geglaubt, seine Sache recht meisterlich zu machen und seinen Betrug damit am besten verstecken zu können, daß er an verschiedenen Stellen seines Werkes Stellen aus Vincent. Chron. mit dessen eigenen Worten citirt. Allein diese einzelnen unter den Text gesetzten Phrasen sind offenbar nichts weiter als, so zu sagen, lateinische Lügen, d. h. Erdichtungen Beckers, die er, um zu täuschen, ins Lateinische übersetzt hat, wobei man das Latein der damaligen Chronisten nur einigermaßen zu kennen braucht, um zu sehen, daß die Phrasen vom Betrüger selbst zusammengestoppelt sind; denn um nur bei dem ersten Citat dieser Art stehen zu bleiben, so heißt es S. 2: Da man bei der Wahl des neuen Hochmeisters in dem Kapitel nicht einig werden konnte, so „ließ sich endlich über dem Begräbnißgewölbe in der Kirche zu Marienburg eine Stimme hören: Winrich, Winrich, Ordensnoth!“ wozu aus Vincent. Chron. p. 6 die Worte citirt werden: Ter sonuit super sepulcra Marienburgensia vox: Winrice, Winrice, ordo facillat, ter resonat. Allein abgesehen davon, daß der Hofkaplan Vincenz bei seinem langen Aufenthalte in Marienburg wohl gewußt hätte, daß es die Localität gar nicht möglich machte, einen solche Ruf super sepulcra Marienburgensia, weder aus der Todtengruft der S. Annenkapelle, noch von dem Begräbnißplatze der Ordensbrüder im Parcham bis in den Kapitelsaal zu hören, so würde Vincenz die „sepulcra Marienburgensia“ ganz gewiß nicht so bezeichnet haben.

Außer diesen äußern Gründen, die einen offenbaren Betrug darthun, giebt das Werkchen auch in seiner Art der Zusammensetzung und in dem Charakter und Geist der geschichtlichen Erzählung selbst manche wichtige Beweise für die Lügenhaftigkeit des Verfassers. Durch ein aufmerksames Beobachten der Art, wie dieser historische Bastard als Ausgeburt Beckers wohl entstanden seyn könne, hat sich ziemlich klar ergeben, daß der Vater dieses ungebührlichen Kindes, um es in die Welt zu bringen, nichts [703] weiter vor sich hatte, als Schützens, Dusburgs und vielleicht noch eine neuere zusammengestoppelte Chronik, und nichts weiter in sich als seine fruchtbare Phantasie, das heißt hier in historischer Beziehung, seine Kunstfertigkeit aus voller Faust zu lügen. Was in seinem Werkchen nicht in jenen gewöhnlichen Chroniken stand, das ist aus der letztern Quelle geflossen; was ihm die wenigen Chronisten zu mager, zu trocken und zu farblos ließen, füllte, wässerte und tünchte seine Phantasie nach seiner Manier schmackhaft aus und so entstand ein Gemälde, welches, Wunder genug! die Lesewelt wirklich lange Zeit ergötzt hat. – Wir wollen es nur an einigen Stellen versuchen, die falsche Schminke wegzuwischen und den Künstler in seiner nackten Lüge zu zeigen.

Gleich im Anfange des Werkes tritt Winrich von Kniprode, nachdem er im Wahlkapitel über seinen Mitbewerber, den Statthalter Graf Lüder von Kirchberg, den Sieg davon getragen, mit einem pomphaften Feste in Marienburg, mit einem Pankett, mit Tanz, Vogelschießen, Meistersängern und Ehrenschmäusen auf – eine offenbare Erdichtung; denn 1. der Statthalter Graf Lüder von Kirchberg ist eine fingirte Person. Als Statthalter des Ordens müßte er nothwendig einer der obersten Beamten des Ordens gewesen seyn, denn nur solche wurden zu Statthaltern bei eines Meisters Tod ernannt; unter allen Ordensbeamten aber, die wir aus dieser Zeit aufs genaueste kennen, ist keiner dieses Namens. 2. Ist es fast außer Zweifel, daß damals gar kein Statthalter da gewesen ist; denn Heinrich Dusmer von Arffberg war nach urkundlichen Erweisen wenigstens bis in die letzten Tage des Augusts 1351 noch Hochmeister. Am 14 Sept. ward aber Winrich von Kniprode schon zum Meister erkoren; es bleibt also höchstens nur ein Zeitraum von 14 Tagen (und vielleicht auch dieser nicht einmal ganz) übrig; wozu noch kommt, daß der Hochmeister Dusmer von Arffberg nicht gestorben, sondern im Wahlkapitel noch gegenwärtig war und mit Nachdruck für Winrichs Ernennung zum Meister sprach; s. meine Geschichte Marienburgs S. 144. – 3. Das Vogelschießen anticipirt Becker zum Ausschmucke seines Gemäldes; denn Winrich von Kniprode führte es nach dem Berichte des Chronisten nicht schon am zweiten Tage nach seiner Wahl, sondern erst später ein. – 4. Waren jetzt solche pomphafte Feste bei der Meisterwahl eine ungewöhnliche Sache; wenigstens findet sich bei keinem unserer Chronisten irgend eine Spur davon. Ein ausgezeichnetes Gastmahl am Meistertage kommt erst später vor. Endlich 5. ist ein so unmenschliches Saufen, wie es Winrich angeordnet haben soll, eine Unmöglichkeit. Hören wir Beckern S. 5: „Bei dem Ehrenmahl mußte jeder Gast ein silbernes Becken mit acht Weinflaschen, [704] die sich selbst ergossen, auf Einen Zug leeren. Der wackere Trinker, Veit von Bassenheim, leerte es drei Mal. Er ward Schloßhauptmann.“ Also dreimal das Becken mit acht Weinflaschen geleert! – das heißt einen Bauch haben, der vierundzwanzig Flaschen Wein faßt!!! Lügenwind! Veit ward „Schloßhauptmann!“ Ungereimt! In ganz Preussen gab es damals keine Würde dieser Art. – Die närrische Erzählung von dem Abenteuer Winrichs von Kniprode mit dem Ordensritter Ulrich von Ochtendung auf der Reise nach Mainz (S. 9 ohne Zweifel eine bloße Ausgeburt von Beckerscher Phantasie) übergehend, wollen wir uns zu den Ereignissen des J. 1353 wenden, um zu zeigen, wie Becker seinen historischen Stoff behandelt. Wigand. p. 286. Dlugoss. p. 1097 und Schütz p. 74 berichten: Die beiden Großfürsten Kynstutte und Olgjerd seyen um die Fastenzeit, „feria post Invocavit, d. h. am elften Februar“, ins Ordensland bis Rössel vorgestürmt, hätten alles auf ihrem Zuge verbrannt und verheert und 1500 Gefangene hinweggeführt u. s. w. Becker lügt in diese einfache Thatsache Folgendes hinein: „Keistut und Olgard erschienen in Preußen mit zwanzig tausend Kriegsgesellen und drüber, verbrannten Dörfer und Kornfelder (im Februar!) und fruchtbare Weinberge und Wiesen mit barbarischem Wohlgefallen (alles im Februar!!) und führten dann fünfzehnhundert Gefangene, theils von der Kolonne des Komthurs Roderich von Gehlen, theils Bauern hinweg.“ Dieser Komthur Roderich von Gehlen ist wiederum nur eine erdichtete Person. – S. 30 erzählt uns Becker: Auf dem Kriegszuge gegen Cauen 1361 habe der Hofkaplan Vincenz den Hochmeister selbst begleitet und „eine stattliche Panegyris darüber hinterlassen.“ Wohlan, hat Vincenz glückliche Augen und gute Ohren gehabt und dabei seinem Quellenforscher Becker genau berichtet, so muß hier in des letztern Beschreibung des Zuges alles aufs Haar wahr und unumstößlich seyn! – Und doch wie werden wir wiederum belogen und getäuscht! Am zweiten April 1361, zog nach Becker die Litthauische Streitmacht auf die Ebene von Kauen; dort wird eine große Schlacht geliefert, die der Verfasser buntfarbig ausmalt, und „der erste Held der Litthauischen Armee, Keistut, muß sich mit einem Häuflein Reiterei an den Ritter Hekerbeg ergeben und wird gefangen nach Marienburg gebracht.“ – Allein näher beleuchtet: warum weiß Herr Becker denn nicht, daß der Sonntag Judica (Schütz p. 75) im J. 1361 nicht der zweite April, sondern der vierzehnte März war? Warum sagt ihm sein Vincenz nicht, daß das Ordensheer keineswegs nach Kauen, sondern hinab nach Lötzen [705] und Eckersberg ging? Daß der Ordensmarschall Schindekopf bei diesem Heere gar nicht gegenwärtig war? Daß Kynstutte nicht vor Kauen gefangen genommen wurde, sondern daß dieses in der Gegend von Eckersberg geschah? Und endlich wie hülflos muß der gute Vincenz seinen Historiker gelassen haben, da dieser, um den Namen des den Fürsten gefangen nehmenden Ritters aufzufinden, nach Dusburg ap. Hartknoch p. 425 (wie Becker citirt) greifen und – o wehe! da den unglücklich verstümmelten Namen „Hekerbeg“ nachschreiben muß, indem uns der redliche Wigand von Marburg und Lindenblatt ganz sicher sagen: Heinrich von Cranichfeld aus Eckersberg (woraus Hekerbeg geworden) sey der Ritter gewesen. – Daraus sieht man, welche „stattliche Panegyris“ es gewesen seyn müsse, die Vincenz über den Zug hinterlassen haben soll. Aber hätte Beckern sein Vincenz doch wenigstens den Namen des Großkomthurs Wolfram von Baldersheim, mit dem er ja Jahre lang in Marienburg zusammen gelebt haben soll, richtig angegeben; nein, Becker muß dem Chronisten Schütz den verdorbenen Namen Baldenheim nachschreiben. Hat es ihm ferner Vincenz gesagt, daß der ritterlich-edle Burchard von Mansfeld bei der Belagerung von Kauen im Jahre 1362 unter dem Brande eines Hauses starb und daß im folgenden Jahre Kynstutte mit dem Komthur von Königsberg Ritter Frohburg kämpfte? Dann wäre der Hofkaplan ein grundschlechter Chronist; denn wir können bestimmt sagen, daß Burchard von Mansfeld als Komthur von Osterode noch bis zum Jahre 1379 lebte und der Komthur von Königsberg Ritter Frohburg ein Gespenst gewesen seyn müßte, mit dem der Großfürst gekämpft, denn in der Wirklichkeit war ein solcher Komthur Frohburg gar nicht vorhanden.

Solche Beispiele als Beweise, daß Becker keine zeitgenössische Quelle vor Augen gehabt haben könne und am wenigsten aus der Chronik eines Hofkaplans Vincenz, der mit und in den Ereignissen der Zeit gelebt haben soll, irgend ein Wort geschöpft habe, könnten noch in großer Zahl gehäuft werden, wofern es nicht schon aus dem bisher Gesagten offen und klar am Tage läge, daß das Vorgeben einer Chronik eines Hofkaplans Vincenz von Mainz eine vollkommen ausgemachte Lüge und Becker, der Verfasser der Regierungsgeschichte Winrichs von Kniprode, ein literärischer Betrüger ist.