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Artikel „Witekind, Hermann“ von Carl Binz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 554–556, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Witekind,_Hermann&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 23:21 Uhr UTC)
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Witekind: Hermann W., Universitätsprofessor. Sein ursprünglicher Name war Hermann Wilcken. Geboren wurde er 1522 zu Neuenrade an der Lenne, Grafschaft Mark in Westfalen, die damals zum Herzogthume Jülich-Cleve-Berg gehörte. Ueber seine Jugend wissen wir nur, daß er 1545–1548 in Frankfurt an der Oder und in Wittenberg studirte. Er genoß Freundschaft und Förderung seitens Melanchthon’s und erhielt durch seine Empfehlung die Stelle eines Rectors der Lateinschule in Riga. Wilcken verließ Riga aus nicht bekannten Gründen und kam 1561 nach Heidelberg. Hier vollzog er den Namenswechsel. Er wurde zuerst an dem 1546 gestifteten Pädagogium, einer akademischen Vorbereitungsschule, angestellt, bald danach an der Universität und zwar als Lehrer des Griechischen. Die ihm angebotene Professur der Dialektik hatte er ausgeschlagen, ehe er in das Pädagogium eintrat, und dabei auf die der Ethik vergeblich gehofft. Am 29. April 1563 begann er seine Vorlesungen über Homer; am 10. August wurde er Magister und am 1. September Mitglied der philosophischen Facultät. Ende September desselben Jahres verließ er vorübergehend die Stadt, weil die Pest darin wüthete und es den Professoren erlaubt wurde, mit ihren Schülern einen auswärtigen Aufenthalt zu wählen. Sechs von ihnen, darunter W., zogen mit denen des Dionysianums nach Oppenheim am Rhein, setzten dort den Unterricht fort und kehrten erst im folgenden März zurück. 1569 war W. Rector der Universität, vorher Regens des einzigen Contuberniums und später Mitglied der aus vier Professoren bestehenden Commission, die auf Befehl Johann Casimirs eine Umgestaltung der Universitätssatzungen zu berathen hatte. W. hielt zum reformirten Bekenntnisse, dachte aber sehr gemäßigt über die Schattirungen des Protestantenthumes. Das zog auch ihm unter dem streng lutherischen Kurfürsten Ludwig VI. die Entlassung aus dem Amte zu. Er fand Aufnahme an der von dem reformirten Fürsten Johann Casimir in Neustadt an der Hardt neugegründeten Hochschule und war auch hier Professor des Griechischen. Nach dem Tode Ludwigs 1588 kehrten die vertriebenen Professoren zum Theil nach Heidelberg zurück, wo W. nunmehr den Lehrauftrag für Mathematik erhielt, den er bis zu seinem Tode am 7. Februar 1603 erfüllte.

Wir besitzen von W. acht Schriften, wovon die letzte allerdings ungedruckt geblieben ist. Es ist eine Genealogie und Geschichte der pfälzischen Kurfürsten, die er um 1585 auf Befehl von Johann Casimir zum Unterricht für den [555] Erbprinzen Friedrich verfaßte. Wahrscheinlich unterblieb die Drucklegung deshalb, weil der Verfasser sich darin in höchst freimüthiger und derber Weise über einzelne Thaten der kurfürstlichen Ahnen ergeht. Zwei jener Schriften sind kirchlichen Inhaltes, nämlich eine Kirchenordnung, die er 1564 für seine Vatetstadt auf deren Verlangen ausarbeitete, und ein Gebetbuch in deutscher Sprache, wol für dieselbe Gemeinde. Dazu kommen eine Geschichte der Cäsaren nach Suidas und drei Abhandlungen astronomischen Inhaltes. Das Werk seines Lebens, das seinen Namen und seinen Ruhm der Nachwelt überliefert hat, liegt auf einem ganz anderen Gebiete; es ist sein gegen die Gräuel der Hexenprocesse geschriebenes Buch: „Christlich bedencken vnd erinnerung von Zauberey“, das 1585 in Heidelberg, 1586 in Straßburg, 1597 in Speier und 1627 in Basel erschien. Er nannte sich auf dem Titelblatt Augustin Lercheimer von Steinfelden, und unter diesem Namen wurde der unbekannt gebliebene Verfasser in der Litteratur bis vor kurzem geführt. Soldan-Heppe in seiner Geschichte der Hexenprocesse hat zwölf Zeilen über ihn.

Johann Weyer hatte den Kampf gegen den Hexenwahn und seine bestialischen Folgen 1563 begonnen (s. A. D. B. XXXXII, 266) und bis zum Erscheinen der 6. Auflage seines Buches 1583 allein durchgeführt. Da erst wurde das Gewissen gleichgesinnter Männer zu thatkräftiger Hülfeleistung aufgerüttelt, und wir sehen nun W. als einen der ersten sich dem Cleveschen Arzte zugesellen. Dieser bekämpfte mit allen damals möglichen wissenschaftlichen Gründen vorwiegend den Aberglauben seiner Zeit als die Quelle der richterlichen Morde; der Jesuit v. Spee, dessen Buch 46 Jahre jünger ist, als das von W., unterzieht nur das gegen die Opfer des Aberglaubens angewandte Proceßverfahren einer vernichtenden Kritik. W. dagegen häuft vorwiegend zusammen, was ihm die alltägliche Erfahrung, der gesunde Verstand und ein tiefes menschliches Mitgefühl eingeben, um den Wahnsinn der Anklage und die Barbarei des Urtheils darzuthun. Und seinem geringeren Aufwande von Gelehrsamkeit des Materials entsprechen Ausdruck und Form. Wie seine Beweisführung sich an alle richtet, so auch die Sprache aller, das Deutsch, worin er schreibt. Verständiger und wärmer, als er seine Sache und die der armen Opfer verficht, hat es weder vor noch nach ihm Einer gethan. Dabei ist der Stil des Buches gefällig und klar. Ungeachtet der uns in vielem so fremden Schreibung braucht man keinen Satz, um ihn zu verstehen, zweimal zu lesen. So zeigt sich der Verfasser unverkennbar als einer der Bahnbrecher von Vernunft und Humanität inmitten einer Zeit voll Dummheit und Grausamkeit.

Man hat dem Verfasser da und dort seinen festen und derben Teufelsglauben vorgeworfen. Wie wenig bedeutet der gegenüber der Thatsache, daß W. in der Hauptsache dessen, was er denkt und anstrebt, der großen Mehrzahl seiner Zeitgenossen um fast zweihundert Jahre voraus ist! – Und wo waren denn am Ende des 16. Jahrhunderts die Männer, die jener Glaube nicht gefangen hielt? Um so größer das Verdienst Witekind’s, daß er daraus nur Schlüsse zog gegen die Hexenprocesse, während seine Mitlebenden ihre Schlüsse für sie aus derselben Quelle holten. Sein religiöser Freimuth äußert sich in zahlreichen Stellen. Ich will nur eine herausnehmen: „So frey es eim jeden steht ein Christ zu werden, so frey ists im wider abzufallen vnd ein Mammeluck zu werden. Zu keiner Religion (wie auch die Alten Päpstlichen decreta wöllen) soll vnd kann man niemand zwingen sie anzunemmen vnd dabey zubleiben: sol auch vm den abfal nicht am leben gestraft worden. Alß wan ein getauffter Jud sich wider zum Judenthum begibt, wird er nicht, wie er auch nicht soll, darum verbrant“.

Das „Christlich bedencken“ Witekind’s ist eine Hauptquelle für die Sage [556] vom Doctor Faust, über den an fünf Stellen darin berichtet wird. Auch das Faustbuch wird einigemal erwähnt. W. wurde in der akademischen Capelle beerdigt. Die von dem frommen und einfachen Sinne des Mannes zeugende Grabschrift hatte er sich selbst verfaßt; sie lautete:

      H. W. R. W. *)

Quis hic cubem, nihil tua
Novisse refert, scit Deus
Curatque. Tu quin hoc agis,
Teque ad bene cubandum paras?

Capelle, Grabschrift und Grab sind untergegangen in Flammen und Schutt, als die Franzosen im Mai 1693 Heidelberg zum zweiten Male heimsuchten.

Melchior Adam, Vitae Eruditorum u. s. w. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1705. Philosophen. S. 110. – A. Wolters, Hermann Wilcken genannt Witekind und seine Kirchenordnung von Neuenrade. Zeitschr. d. Bergischen Geschichtsvereins, 1865, Bd. 2, S. 42. – A. F. C. Vilmar, daselbst Bd. 5, S. 228. – Carl Binz, Augustin Lercheimer und seine Schrift wider den Hexenwahn. Lebensgeschichtliches und Abdruck der letzten vom Verfasser besorgten Ausgabe von 1597. Sprachlich bearbeitet durch Anton Birlinger. Straßburg 1888. (Enthält alle bekannten Einzelheiten und Litteraturangaben.)

[556] *) Heißt offenbar Hermannus Witekind, Radensis, Westphalus.