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Artikel „Weyer, Johann“ von Carl Binz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 266–270, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Weyer,_Johann&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 19:58 Uhr UTC)
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Weyer: Johann W. (auch Weier, Wier, Wierus), Arzt, geboren als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns 1515 zu Grave in Nordbrabant. Er besuchte die Lateinschule in Herzogenbusch und in Löwen, kam dann nach Bonn zu Cornelius Agrippa, der 1532 und 1533 hier als Gast des Kurfürsten Hermann von Wied weilte. Unter der Führung von Agrippa bereitete er sich zu den Universitätsstudien vor, die er als Mediciner 1534 zu Paris begann und 1537 zu Orleans, wo er den Doctorgrad erwarb, beendete. In Frankreich führte er den Namen Piscinarius. Wahrscheinlich kehrte er nach Beendigung [267] seiner Studien zurück in seine Heimath und war dort als Arzt thätig. Die Reise, welche er gemäß den Angaben seiner früheren Biographen nach Tunis und Kreta gemacht haben soll, hat nicht stattgefunden; der Irrthum, worauf diese Angabe beruht, entstand nur durch unrichtiges Auffassen zweier Stellen in seiner Hauptschrift, worin er zwei andere Schriftsteller erzählend anführt. Im J. 1545 trat W. als Stadtarzt in den Dienst von Arnheim und 1550 als Leibarzt in den des Herzogs Wilhelm III. von Jülich-Cleve-Berg, in welcher Stellung er bis zum Eintreten in den Ruhestand verblieb.

Ueber die Schreibung seines Namens war man bis in die neue Zeit hinein verschiedener Ansicht, weil W. selbst in einigen niederdeutsch geschriebenen Briefen sich Wier unterzeichnete. Allein in allen seinen deutschen Schriften nannte er sich stets Weyer, in den Cleveschen Acten steht nur Weyer oder Weier, und ebenso unterzeichneten sich seine Söhne. Jenes Wier wurde damals in den Niederlanden Wei-er ausgesprochen, ähnlich dem heutigen vijver=Weiher, piscina. – Brabant gehörte zum deutschen Reich und deutschen Sprachgebiet und darum ist die Staatszugehörigkeit Weyer’s nicht zweifelhaft. Er selbst betrachtete sich als Deutschen, da er die Sprache, worin Paracelsus schrieb, nostra lingua nennt. Ich erwähnte das, weil einige Schriftsteller der Neuzeit ihn zum Holländer stempeln wollten.

W. war einer der hervorragendsten Aerzte seiner Zeit. Er schrieb ein medicinisches Werk, das lateinisch 1567 erschien, deutsch 1580, 1583 und 1588. Es hat dort den Titel „Observationes medicae“ hier „Arzneibuch von etlichen bisher unbekannten und nicht beschriebenen Krankheiten“. Darin sind abgehandelt Scorbut, Sumpffieber, Lungenentzündung, Trichinose (?), Syphilis, Influenza, englischer Schweiß und epidemische Rose. Die Darstellung der besondern Krankheitslehre und der Behandlung erhebt sich weit über das, was man von seinen Zeitgenossen zu lesen gewohnt ist. Die Beschreibung eines neuen Destillirapparates am Schlusse und mehrere gelegentliche Aeußerungen weisen darauf hin, daß W. der chemischen Richtung des Paracelsus zugethan war, ohne jedoch eine Spur der Mystik und des Bombastes zu besitzen, worin jener sein fruchtbares Wissen und Lehren einhüllte.

Das größte Verdienst Weyer’s liegt in der Klarheit und dem Muthe, womit er systematisch zuerst die Bekämpfung der Hexenprocesse unternahm und zwanzig Jahre lang mit allem Eifer durchführte. Er schrieb 1562 auf dem herzoglichen Schlosse Hambach bei Jülich sein berühmtes Buch „De praestigiis daemonum“ (Ueber die Blendwerke der Dämonen). Darin trat er dem Hexenwahn und seinen grauenhaften Folgen, die damals in Deutschland wie eine Pest wütheten, mit allen Waffen der Wissenschaft und mit der vollen Wärme eines menschenliebenden Herzens entgegen. Das Buch wurde 1563 von J. Oporinus in Basel ausgegeben, die zweite Auflage 1564, die dritte 1566, die vierte 1568, die fünfte 1577, die sechste 1583, jede Auflage mit Ausnahme der letzten im Umfang und Inhalt vergrößert. Eine deutsche, dem Rath der Stadt Bremen gewidmete Uebersetzung verfertigte er selbst 1567 und einen billigen lateinischen Auszug (De Lamiis liber unus) 1577. Außerdem veröffentlichte er eine kleine Schrift „Pseudomonarchia daemonum“ (1577), eine Verspottung der damals so üppig wuchernden Teufelslehre; eine andere „De commentitiis jejuniis“ (Ueber schwindelhaftes Fasten) in demselben Jahr. Ferner ebenfalls ein kleines Buch „De Irae morbo liber“ (Ueber die Krankheit des Zorns), eine ernste und edle Mahnung an seine Zeitgenossen, aufzuhören mit den maßlosen Grausamkeiten, die in den unseligen Kriegen jener Jahre täglich begangen wurden. In der Vorrede zu De Lamiis konnte W. schreiben: „Nicht genug gerechten Dank kann ich Gott dem Allgütigen und Allmächtigen dafür darbringen, daß er meine Feder [268] Beweisgründe hat schreiben lassen, deren Veröffentlichung an sehr vielen Orten die Wuth, im Blute Unschuldiger zu waten, verrauchen machte und die wilde Grausamkeit und Tyrannei des Teufels in der Zerfleischung der Menschen, die ihm das bestriechende Brandopfer ist, verhindert hat. Denn wie ich sehe, ist der Lohn meines Buches über die Blendwerke der Dämonen solcher, daß gewisse hohe Behörden die so elenden alten Weiber, welche das Urtheil des Pöbels mit dem gehässigen Namen Hexen bezeichnet, nicht nur milder behandeln, sondern sogar von der Todesstrafe freisprechen, entgegen der Gewohnheit, die verschuldet ward durch langjähriges Gesetz und Vorurtheil der Gewalthaber“.

Mit welchem Beifall das Buch über die Blendwerke der Dämonen aufgenommen wurde, bezeugen die sechs Auflagen in zwanzig Jahren und drei deutsche und zwei französische Uebersetzungen in derselben Zeit. Von vielen Seiten erhielt der Verfasser zustimmende Briefe, mehrere Landesherren verboten die Hexenbrände in ihrem Bereich, und es schien, als ob das Frühroth der Vernunft und der Menschlichkeit angebrochen sei. Allein die Verdummung, der Aberglaube und das Bedürfniß nach Bestialität waren stärker als die von Weyer’s Buch ausgehenden Lichtstrahlen. Von allen Seiten erhoben sich die Gegner. Es wurde in Antwerpen, München, Rom, in Spanien und Portugal auf den Index der kirchlich verbotenen Bücher gesetzt; in München in die erste Classe, womit ausgesprochen war, daß der Verfasser ein Ketzer sei und keine seiner Schriften von den Gläubigen gelesen werden dürfe. Der berühmte französische Jurist Jean Bodin schrieb eine Schmähschrift gegen W.; der belgisch-spanische Jesuit Delrio bekämpfte ihn in seinem großen Werk über Zauberei aufs heftigste; eine Reihe anderer Schriftsteller – Theologen, Juristen und sogar Mediciner – thaten ähnliches. W. wäre dem Ansturm seiner zahlreichen Feinde auch persönlich unterlegen, hätte ihn nicht sein einsichtsvoller und ihm höchst gewogener Herzog geschützt. Bald aber machte sich in Düsseldorf und Cleve der Einfluß der spanischen Reaction geltend; der Herzog verfiel einem Gehirnleiden, das ihn dauernd siech machte und ihn ganz in die Hände der ausländischen Partei lieferte, und W. mußte es als Greis erleben, daß auch in Jülich-Cleve-Berg die Folter wieder arbeitete und die Hexenbrände wieder aufloderten. Dennoch war sein früheres Mühen und Arbeiten gegen die Greuel nicht vergebens. Er war der erste Rufer im Kampfe, und andere folgten ihm, ihn stets als ihren Führer nennend und anerkennend. Ich erwähne nur den Arzt J. Ewich in Bremen, den juristischen Professor J. G. Gödelmann in Rostock, den Gutsbesitzer R. Scot in England, den Professor des Griechischen und der Mathematik H. Witekind (Lercheimer) in Heidelberg und den Kanonikus C. Loos in Trier. (Das bedarf für diesen Schriftsteller insofern einer Einschränkung, als sein Buch während des Druckens in Köln von dem Magistrate confiscirt wurde. Erst 1886 wurden ein Theil der Handschrift in der Stadtbibliothek zu Trier und 1888 die gedruckten sechs ersten Bogen in der Stadtbibliothek zu Köln wiedergefunden. Loos nennt zwar den ketzerischen W. nicht mit Namen, bezeichnet ihn jedoch durch Redewendungen und Citate so genau, daß an der Person gar nicht zu zweifeln ist. Bemerkenswerth ist noch der Ausruf des Loos über W.: „O, wäre er doch ein katholischer Christ!“) Ihre Schriften gegen die Hexenprocesse wurden von 1584 bis 1589 veröffentlicht. Die beiden folgenden Jahrhunderte vollendeten, was W. einsichtsvoll und mannhaft begonnen. Ihm selbst waren die Gedanken dazu wahrscheinlich von dem Lehrer seiner Jugend Cornelius Agrippa ins Herz gepflanzt worden, denn auch er war ein fester Widersacher des Hexenwahns und er hatte 1519 in Metz durch sein beherztes und beredtes Auftreten ein armes altes Weib aus den Klauen des Dominicaners Savini befreit und die Bevölkerung so gegen diesen in Harnisch [269] gebracht, daß er noch andere Weiber, die im Gefängniß oder auf der Flucht waren, freilassen mußte.

An den politischen Ereignissen seiner Zeit nahm W. eifrigen Antheil und wahrscheinlich übte er auf die Entschließungen seines Fürsten manchen Einfluß. Wir müssen das daraus folgern, daß Herzog Alba ihn von Brüssel aus mit Gefangennahme bedrohen ließ, falls er nicht aufhöre, die Geusen von dem zu unterrichten, was zwischen ihm und Wilhelm III. verhandelt werde. Dieser war mit seinem Herzen der Reformation zugethan, er stand aber unter dem Banne des Spaniers, der eifrig darüber wachte, daß Cleve nicht zu dem Ketzerthum übergehe. Des Herzogs Schwester und erwachsene Töchter waren heftige Gegner Alba’s, und W. gehörte ihrer Partei am Hofe mit ganzer Seele an. Wiederholt gab er in seinen Schriften seinem Widerwillen gegen die Spanier Ausdruck. Er hatte Berathungen mit den Grafen Johann und Ludwig von Nassau über die Mittel und Wege, den Niederländern Hülfe zu bringen, und sein Sohn Dietrich, der als Rath im Dienste der protestantischen Vormacht Kurpfalz stand, nahm daran theil. Das entspricht den bewegten Worten, womit er in seiner Schrift „De Ira“ an die Greuel des spanischen Krieges in den Niederlanden erinnert, und es entspricht seiner innern confessionellen Zugehörigkeit.

In seiner gegen die Hexenprocesse gerichteten Kampfschrift tritt sein Bekenntniß betreffs der großen religiösen Fragen des 16. Jahrhunderts nur andeutungsweise hervor. Das Buch ist frei von den confessionellen Streitereien, die damals ganz Europa erfüllten; offenbar schon aus dem Grunde, weil W. damit auch auf die Fürsten und Bevölkerungen katholischer Länder ebenso wirken wollte, wie auf die protestantischen. Eine längere Stelle darin, wo jegliche Art der Ketzerei energisch zurückgewiesen und die Zugehörigkeit zur römischen Kirche betont ist, wurde bisher dem Verfasser des Buches zugeschrieben; sie ist aber – wie ich 1895 nachgewiesen habe – nichts als ein wörtliches Citat aus einer Vertheidigungsschrift des Erasmus von Rotterdam, das W. ohne den geringsten Ausdruck der Zustimmung da wiedergibt, wo auch er sich gegen das Verbrennen der Ketzer wendet. Die kirchliche Ueberzeugung Weyer’s tritt deutlich zuerst hervor aus seinem Briefe „Salve in eo qui nos dilexit suoque abluit sanguine“, den er am 10. October 1565 an den Führer der schwäbischen Protestanten Dr. Johann Brenz richtete und den er allerdings, soviel ich sehe, erst in dem Liber apologeticus von 1577, Anhang zur 5. Auflage der Praestigia veröffentlichte. Sie ergibt sich ferner klar aus der Widmung des Auszuges De Lamiis aus dem Hauptwerk, die an „den protestantischen Grafen Arnold von Bentheim und Tecklenburg gerichtet ist „Tu in puriori doctrina Christi et vera religione institutus“). Endlich enthüllt W. seine confessionelle Ueberzeugung außer in der eigenen Uebersetzung der Praestigia von 1567, die dem Magistrate der reformirten Stadt Bremen gewidmet ist, in dem Vorworte zu seinem „Artzney-Buche“, das er der verwittweten Gräfin Anna von Tecklenburg zu Füßen legt und worin er „die reyne Lehre des heiligen Evangeliums“ und den „reformirten Brauch der heyligen Sacramente“ als den „wahren Gottesdienst“ preist. Daß W. am Cleveschen Hofe sich alle Zurückhaltung auflegte und auflegen mußte in dem äußeren Bekennen seiner kirchlichen Ueberzeugung, ist bei der Betrachtung der Zustände, die an jenem Hofe herrschten, und des Druckes, der auf diesen von dem Herzog Alba ausgeübt wurde, ganz selbstverständlich.

W. verließ den herzoglichen Dienst gegen 1578, wo sein Sohn Galenus als Leibarzt des Herzogs eintrat, und zog sich zurück auf sein in der Nähe von Cleve gelegenes Landgut. In regem Verkehr scheint er mit seinen frühern vornehmen Pflegebefohlenen geblieben zu sein. Daß er in dieser Zeit wegen seiner [270] Vertheidigung der Hexen wiederholt in Lebensgefahr geschwebt habe und ihr nur durch den Schutz mächtiger Freunde entronnen sei, wird in Veröffentlichungen unserer Zeit berichtet, aber ohne Quellenangabe; ich selbst habe es nirgendwo gefunden. Möglich ist es schon bei der wüsten Reaction, die mittlerweile im Herzogthum Jülich-Cleve-Berg hereingebrochen war. Im Winter 1587/88 besuchte er die gräfliche Familie zu Tecklenburg, erkrankte hier, starb am 24. Februar 1588 und wurde in der Schloßkirche beerdigt. Seine vier Söhne setzten ihm eine pietätvolle Grabschrift, die uns als „lügnerisch“ von einem seiner Gegner überliefert wurde. Kirche und Grab sind nicht mehr vorhanden. Die Schmähungen, die W. bei Lebzeiten zu ertragen hatte, wurden im 17. Jahrhundert weidlich von den Hexenfanatikern fortgesetzt. Später suchte man ihn todtzuschweigen, was in dem Gesichtskreise der großen Menge der Gebildeten unserer Nation auch gelungen war. Gerade Deutschland aber hat die Erinnerung an ihn als einen Mann hochzuhalten, der in der Zeit des schmachvollsten geistigen und moralischen Tiefstandes zuerst mit Nachdruck und Ausdauer uns die Wege der Aufklärung und Gesittung zeigte.

Melchior Adam, Vitae Germanorum medicorum. Heidelberg 1620. – Joannes Wierus, Opera omnia. Amsterdam 1660. 1002 Seiten in 4°. – C. Binz, Doctor Johann Weyer, ein rheinischer Arzt, der erste Bekämpfer des Hexenwahns. Zeitschr. d. Bergischen Geschichtsvereins, 1885, Bd. 21. Sonderausgabe Bonn 1885, VII u. 167 S. Mit den Bildnissen Weyer’s und seines Lehrers Agrippa (Internet Archive); dasselbe in 2., umgearb. und verm. Auflage. Berlin 1896, VII u. 189 S. Mit Weyer’s Bildnisse. – C. Binz, Das Bekenntniß d. ersten deutschen Bekämpfers d. Hexenprocesse. Beil. z. Allgem. Zeitung, München, 11. Febr. 1895 (Antwort an Johannes Janssen).