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Artikel „Wiskemann, Heinrich“ von Friedrich Koldewey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 539–541, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wiskemann,_Heinrich&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 00:04 Uhr UTC)
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Wiskemann: Heinrich W. wurde am 2. Mai 1810 in Röhrda, einem kurhessischen Dorfe bei Eschwege, geboren. Sein Vater, der Pfarrer Justus W., der 1816 in gleicher Eigenschaft nach Rockensüß, 1827 als Metropolitan nach Witzenhausen versetzt wurde, vermochte sich infolge der Anforderungen, die seine Amtsgeschäfte und die Bewirthschaftung seiner Dienstländereien an ihn stellten, um die Erziehung und den Unterricht seiner Kinder nur wenig zu kümmern. So wuchs denn der Knabe sammt seinen Geschwistern, von denen er der älteste war, unter der Dorfjugend in fast schrankenloser Freiheit und ohne rechte geistige Nahrung heran. Als er jedoch im Alter von 12 Jahren auf die Stadtschule zu Sontra geschickt wurde, bemächtigte sich seiner ein so lebhafter Lerneifer, daß er seine Mitschüler, die ihm anfangs weit voraus waren, binnen kurzer Zeit nicht bloß einholte, sondern übertraf. Die letzten vier Jahre seiner Schulzeit brachte er auf dem Gymnasium zu Hersfeld zu, wo aber, seiner eigenen Aussage zufolge, nur der damalige Collaborator und spätere Director Dr. W. Münscher (s. A. D. B. XXIII, 22) und der bekannte Theologe und Litterarhistoriker Vilmar (s. A. D. B. XXXIX, 715), der 1827 an dessen Stelle trat, einen durchgreifenden und wahrhaft fruchtbringenden Unterricht ertheilten. Gut vorbereitet, bezog er im Herbst 1828 die Universität Marburg und studirte bis Ostern 1832 Theologie, daneben auch unter Wagner (s. A. D. B. XL, 525) und Hoffer die Alterthumswissenschaften, unter Suabedissen Philosophie. Er war Mitglied des philologischen Seminars und übte sich mit dem Dichter F. Dingelstedt und dem späteren Züricher Professor G. Volkmar im lateinischen Disputiren. Seine Erholung bildete die Musik, der er als tüchtiger Geigenspieler, auch später noch mit besonderer Vorliebe oblag. Die nächsten Jahre verlebte er im Hause seines Vaters zu Witzenhausen, wo er seine Zeit auf Privatunterricht, anregenden geselligen Verkehr, die Leitung eines größeren Musikvereins, vor allem aber auf die Erweiterung und Vertiefung seiner philologischen Kenntnisse verwendete. Nachdem er in Marburg und Kassel die theologischen Prüfungen bestanden hatte, promovirte er 1835 auf Grund einer Dissertation „de variis oraculorum generibus apud Graecos“ zum Doctor der Philosophie und legte im Juli desselben Jahres unter dem Vorsitze von Karl Friedrich Hermann [540] (s. A. D. B. XII, 182) zu Marburg das Examen für das höhere Lehramt ab in Geschichte, Geographie, sowie in der römischen und griechischen Alterthumskunde. Am 18. August 1836 erfolgte seine Ernennung zum Hülfslehrer am Gymnasium zu Hersfeld, am 30. November 1837 seine Beförderung zum ordentlichen Lehrer. In dieser Stellung verblieb er bis zu seinem Tode, der am 21. Mai 1875 durch ein qualvolles Herzleiden herbeigeführt wurde. Da W. nicht zu den Anhängern der kurhessischen Regierungsgrundsätze gehörte und aus seiner politischen Gesinnung kein Geheimniß machte, so wurde er, solange Hassenpflug und dessen Anhänger in Kassel maßgebend waren, seitens der Behörde nicht begünstigt und mußte sich lange Zeit mit einem höchst mäßigen Gehalte begnügen. Unter dem preußischen Regimente wurde er am 21. Juni 1870 durch die Verleihung des damals noch seltenen Professortitels ausgezeichnet. Auch sonst hat es ihm an Anerkennung nicht gefehlt. Das Vertrauen seiner Mitbürger machte ihn zum Mitgliede des Bürgerausschusses und des Communallandtages. Schon am 1. April 1869 hatte ihn die Haagsche Genotschap tot verdediging van de christelijke godsdienst zu ihrem correspondirenden Mitgliede ernannt. In dem Programme des Hersfelder Gymnasiums von Ostern 1876 heißt es zu seiner Charakteristik: „Liebenswürdig als Mensch, hat er sich durch seine Pflichttreue und Lehrgabe um das Gymnasium, durch hervorragende Gelehrsamkeit um die Wissenschaft, durch seinen Kunstsinn besonders um das musikalische Leben seiner Mitbürger, durch rege Theilnahme an den öffentlichen Interessen in vieler Beziehung um die Stadt verdient gemacht“.

Wie die Worte dieses Nachrufs andeuten, beschränkte sich W. in seiner Thätigkeit nicht auf die engen Grenzen seines Berufs. Was der kleinen Stadt Hersfeld an musikalischen Genüssen zu theil wurde, hatte sie seiner Anregung und Mitwirkung zu verdanken. Seine Gattin, Emilie Huray aus Berlin, eine gute Clavierspielerin und Sängerin, stand ihm dabei hülfreich zur Seite. Sein Haus bildete den Mittelpunkt einer edlen, von künstlerischen Interessen getragenen Geselligkeit. Manch trefflicher Gast ist dort eingekehrt. Ludwig Spohr (s. A. D. B. XXXV, 239) war sein intimer Freund. Auf die städtischen Angelegenheiten übte W. schon früh einen förderlichen Einfluß aus. Im J. 1840 rief er mit zwei anderen Gymnasiallehrern die höhere Töchterschule ins Leben, an der er auch bis zu seinem letzten Krankenlager als Lehrer gewirkt hat. Bei der Einführung des Turnens, der Gründung einer Vorschußkasse, der Errichtung eines Handels- und Gewerbevereins u. s. w. war er lebhaft und erfolgreich betheiligt. Bei größeren öffentlichen Festlichkeiten, z. B. bei der Enthüllung des Lutherdenkmals, trat er als gedankenreicher Festredner auf. Sein vortheilhafter Einfluß auf die Bürgerschaft trat besonders in dem stürmischen Jahre 1848 hervor. Nur seinem festen, ruhigen und furchtlosen Auftreten war es zu danken, daß die zusammengerottete und aufgeregte Menge sich von Ausschreitungen zurückhielt. Bei alledem fand er durch sorgsame Ausnutzung seiner Mußestunden noch die Zeit zu einer sehr gründlichen und ausgedehnten wissenschaftlichen Beschäftigung.

Wiskemann’s litterarische Arbeiten haben, auch da, wo sie sich auf dem Gebiete des classischen Alterthums bewegen, durchweg einen national-ökonomischen und socialpolitischen Inhalt. Weniger seine Programmschriften, wohl aber, was er sonst noch veröffentlicht hat. In jenen handelte er „de philosophia ac philosophis Lacedaemoniorum“, „de veterum oratione translata sive figurata“, „de impietatis criminatione apud Athenienses“, „über den römischen Schauspieler Q. Roscius Gallus“, „über die Sendung dreier berühmter Philosophen von Athen nach Rom im J. 155 vor Christus“. Von Wiskemann’s anderweitigen Schriften wurden folgende Abhandlungen mit einem Preise gekrönt: 1. „Die Wahrheit und Zweckmäßigkeit der demokratischen Grundsätze“, [541] 1850. Es ist die Lösung einer Preisfrage, die von der Redaction der Neuen Fränkischen Zeitung zu Würzburg gestellt worden war. 2. „Die Lehre und Praxis der Jesuiten in religiöser, moralischer und politischer Bedeutung“. Preisaufgabe, gestellt vom Redacteur des „Wahren Protestanten“, Dr. Marriott zu Basel, gedruckt 1855 und 1858. 3. „Wiefern der Staat seinem Zwecke gemäß den Reichthum der Nationen zu fördern habe und wiefern die Arbeit ein Mittel sei, den Reichthum der Völker zu mehren“. Von der Berliner Akademie am 4. Juli 1850 gestellt und später gekrönt. 4. „Die antike Landwirtschaft und das v. Thünensche Gesetz, aus den alten Schriftstellern dargelegt“, 1859. Gekrönt von der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft zu Leipzig. 5. „Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden national-ökonomischen Ansichten“, 1861. Von derselben Gesellschaft gekrönt. 6. „Ueber die Sclaverei“, 1865. Gekrönt von der Haager Gesellschaft zur Vertheidigung des christlichen Glaubens. 7. „Ueber den Krieg“. Von derselben Gesellschaft gekrönt und 1869 gedruckt. 8. „Ueber den Werth der alten Sprachen in den Gymnasien“. Diese Arbeit, durch eine Aufgabe der Académie de Strasburg für den Preis der Lameystiftung hervorgerufen, lag 1870 während der Belagerung Straßburgs auf der dortigen Universität zur Beurtheilung. Der Verfasser hielt sie für vernichtet und gerieth infolge dessen in eine tiefgedrückte Stimmung. Schließlich aber wurde sie nach langen Nachforschungen wieder aufgefunden, und es war wie ein letzter Lichtblick in Wiskemann’s arbeitsreichem Leben, als ihm wenige Tage vor seinem Tode die einstimmige Zuerkennung des Preises für dieses Werk gemeldet wurde. Die letzte Preisfrage, die W. behandelte, betraf „den Einfluß des Christenthums auf den Zustand und das Schicksal des Weibes“. Auch über dieses Thema lieferte er eine Arbeit, die von der Haager Gesellschaft günstig beurtheilt wurde; weil aber der religiöse Theil den Anforderungen nicht genügte, mußte ihr der Preis versagt werden. Sie hat nach dem Tode des Verfassers Aufnahme in die Tübinger Zeitschrift für die gesammten Staatswissenschaften gefunden. Neun andere, zum Theil recht umfangreiche Abhandlungen, gleichfalls die Frucht gründlicher und umfassender Studien, liegen in tadelloser Reinschrift druckfertig vor, sind aber bis jetzt noch nicht zur Veröffentlichung gelangt.

Wiskemann’s Selbstbiographie in Otto Gerland’s Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten-, Schriftsteller- und Künstler-Geschichte von 1831 bis auf die neueste Zeit. Kassel 1868. – Briefliche Mittheilungen der verwittweten Frau Professor Wiskemann zu Fulda und des Herrn Bezirksbrandmeisters Goldner zu Eisenach.