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Artikel „Venedey, Jakob“ von Karl Wippermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 600–604, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Venedey,_Jakob&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 14:21 Uhr UTC)
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Venedey: Jakob V., Publicist, wurde am 24. Mai 1805 oder 13. Floreal des Jahres XIII, wenige Tage vor Aufhebung des republikanischen Kalenders, in Köln geboren. Die Familie war einst aus Erkelenz hier eingewandert, gehörte bis auf Venedey’s Großvater zu den verarmten oder Kappesbauernfamilien, war auf einem Stadtbauernhofe in der Severinsstraße ansässig und wurde [601] „Finnendegen“ genannt, ein Wort das sich in eigenthümlicher Weise in Venedey abgeschliffen zu haben scheint. Der Vater Michel V., geboren 1770, war einer der eifrigsten deutschen Propagandisten für die von jenseits des Rheins herübergekommenen Ideen der Freiheit und in Köln hervorragend politisch thätig, sowol in den letzten Zeiten der geistlichen Herrschaft als auch namentlich zur französischen Zeit in der „Gesellschaft der Freunde der Freiheit“ und als „Moderateur“ des „constitutionellen Cirkels“; er wurde dann Polizeicommissar der „Section der Gleichheit“, später Oberleiter der städtischen Polizei, zuletzt vielbeschäftigter Anwalt und war vermählt mit Barbara Leisten, Tochter eines Bierbrauers in Aachen. Anhänger Rousseau’scher Erziehungsgrundsätze ließ er den Knaben vom fünften Jahre an in voller Freiheit aufwachsen in der Ländlichkeit des „Beckerader Hofs“ bei Mörs, wohin er sich zurückzog, als Bonaparte die Republik vernichtete. Des Vaters ganze Richtung als die eines edlen Freiheitsschwärmers und Patrioten wurde bestimmend für den unter Bauernkindern und Hirtenbuben aufwachsenden Knaben, dem er mit Begeisterung die Marseillaise und Schiller’s Lied an die Freude vorzusingen pflegte. Nach dem Besuche des Gymnasiums in Köln studirte V. von 1825–27 die Rechte in Bonn und Heidelberg, ein eifriger Burschenschaftler, ein begeisterter Schwärmer für deutsche Einheit und Freiheit, wie für die verbotenen Farben schwarz-roth-gold. Beherrscht vom Geiste Justus Möser’s, widmete er sich sodann an der Seite des Vaters der Advocatur. Durch eine Schrift über die damals verhaßten Schwurgerichte benahm er sich 1832 jede Aussicht auf Anstellung im preußischen Staate, ja er sah sich genöthigt, das Land zu verlassen, wurde in Baden ein eifriger Mitarbeiter am Mannheimer „Wächter am Rhein“ und nahm am Hambacher Feste theil. Dieserhalb denuncirt, wurde er in Mannheim verhaftet. Ein Versuch, dem dortigen Gefängniß zu entfliehen, mißglückte, weil er sich bei einem Sprunge die Füße verrenkte, und ist von ihm mit vielen interessanten Einzelheiten geschildert in der „Freya“ von 1865, S. 16–58. Nachdem die preußische Regierung Venedey’s Auslieferung verlangt hatte, wurde er zunächst nach Frankenthal geschafft, und hier gelang ihm ein kühner Fluchtversuch. Unter mancherlei Abenteuern und Gefahren gelangte er über die französische Grenze, hielt sich eine Zeit lang in Straßburg und Nancy auf und ließ sich dann dauernd in Paris nieder, wo er eine Monatsschrift „Der Geächtete“ herausgab. Hier polizeilich ausgewiesen, hielt er sich, mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt, längere Zeit in Montpellier und Havre auf, wo er sich mit der Wittwe des deutschen Kaufmanns G. Obermüller vermählte. Den Bemühungen der französischen Gelehrten Arago und Mignet, die seinem Werke „Römerthum, Christenthum, Germanenthum“ höchste Anerkennung zollten, gelang es, ihm die Rückkehr nach Paris zu ermöglichen. Hier lebte er fortan ungestört seinen politischen Bestrebungen und fand an den als Verbannte aus allen Ländern zusammengeströmten Demokraten und Republikanern viele Gleichgesinnte. Mit Börne ward er innig befreundet, mit Heinr. Heine jedoch gerieth er in ärgerliche Streitigkeiten, wobei er diesem als Zielscheibe einer kränkenden Satire diente. Neben politischen Arbeiten beschäftigte er sich mit geschichtlichen Studien und schrieb „Reise- und Rasttage in der Normandie“ (1838); „La France, l’Allemagne et les provinces rhénanes“ (1840); „La France, l’Allemagne et la Sainte-Alliance“ (1842); „Die Deutschen und Franzosen in Sprache und Sprichwort“ (1843); „John Hampdon. Nebst einem Nachtrage: Flüchtlingsjahre und Amnestie“ (1843); „Irland“ (1844); „England“ (1845); „Das südliche Frankreich“ (1846). In der Schrift „Vierzehn Tage Heimathluft“ (Leipzig 1847) trat er entschieden für Judenemancipation auf. (Hierüber „Grenzboten“ 1846, 2. Sem., Bd. 4, S. 289.) Außerdem war V. in Paris Correspondent für mehrere angesehene deutsche Zeitungen. Nach dem Umschwung [602] vom Februar 1848 erschien er wieder in Deutschland und gehörte zu den regsamsten Vorkämpfern der neuen Ideen. Er nahm Theil am Vorparlament und wurde in dessen Fünfziger-Ausschuß gewählt. Formell gehörte er mit R. Blum und J. Jacoby zur Linken, ohne aber, bei aller Treue zu den Idealen seiner Jugend, in den Radicalismus zu verfallen, dem die unverständige Menge zujauchzte. Als Bekämpfer der Bestrebungen Hecker’s sandten ihn die 50 in dessen Lager im südlichen Baden, um ihn zu überreden, seine aufständische Truppe zu entlassen. Diese behandelte ihn auf rauhe Weise als Gefangenen und als er gegen Niederlegung der Waffen volle Amnestie versprach, gab man ihm zu verstehen, er solle machen, daß er fortkomme. Nachdem der besonnenere Theil des Ausschusses infolge von Venedey’s Entsendung die Mehrheit erlangt hatte, wurde er wesentlich verstärkt durch die Darstellung, die der ehrliche und gutmüthige V. von dieser Mission entwarf. In die deutsche Nationalversammlung von der Bevölkerung des hessen-homburgischen Ländchens gewählt, gehörte er dem Club „Westendhall“ an und gab in Frankfurt „Die deutsche Wage. Deutsche Reichstagsschau“ heraus, in der er die Vorgänge im Parlament besprach. Jedem Hefte waren „Albumblätter aus der Paulskirche“ beigegeben, die viele Anzüglichkeiten enthielten. Sein damaliger Standpunkt ging u. A. aus Heft 5 hervor, in dem er sagte: „Wir glauben überhaupt nicht mehr an die Macht der Regentenhäuser gegenüber den Volkshäusern und deshalb suchen wir auch die Macht, auf die wir die Einheit Deutschlands bauen wollen, nicht in einer dynastisch-monarchischen Spitze, sondern in einer demokratisch-republikanischen Grundlage“. Von der Macht Preußens hielt er nicht viel und bekämpfte heftig die Erklärung Bassermann’s, daß ihm das Zustandekommen eines einigen Deutschlands lieber sei als das starre Festhalten eines Princips. In Heft 16 forderte er Gerechtigkeit für Polen. Im Parlamente machte er sich dadurch bemerklich, daß er nach der Ablehnung des Welcker’schen Antrags eine vertrauliche Aeußerung v. Schmerling’s auf die Tribüne brachte, wonach Preußen sich nun wohl nicht länger gegen eine gemeinsam mit Oesterreich vorzunehmende Octroyirung sträuben werde. Heftig trat er gegen v. Gagern’s Programm auf, weil dadurch ein Theil Deutschlands hinausgeworfen und ein zweites Polen geschaffen werden solle. Als er mit diesen Ansichten am 10. Januar 1849 als Berichterstatter des Ausschusses auftrat, nannte ihn Haym (D. D. Nat.-Vers.) „den durchaus deutschen Mann in durchaus französischem Stil, das edle Herz, das immer mit dem Verstande durchgeht, den eitlen Liebenswürdigen, der weder mit seiner Tracht, noch mit seiner Politik dem Studentenkostüme entwachsen ist.“ Aehnlich ist das Urtheil aller Schriftsteller über das deutsche Parlament. So sagt Biedermann (Erinnerungen a. d. Paulsk. S. 389): „Thäte es der gute Wille und die aufrichtige Gesinnung allein, sicherlich hätte es V. zu Stande gebracht; so aber ward sein ewiges Mahnen und Belehren, sein Pochen auf 18jährige Erfahrung im Auslande, das Monopol der Ehrlichkeit und des Patriotismus, das er zu beanspruchen schien, auf die Länge nur unbequem und verdrießlich“. Laube (D. d. Parl. I, 87) sagt, man habe sich in Venedey’s Fähigkeiten getäuscht und seine Politik bestehe nur aus aphoristischen Wallungen eines guten Herzens und einer manierirten Erfahrung. Endlich heißt es in den „Brustbildern a. d. Paulskirche“ S. 147: „Bei V. hat eine grenzenlose Sprechseligkeit die geistige Gebrechlichkeit über jeden Zweifel hinaus blosgelegt“. Nach F. Lewald (Erinn. a. d. J. 48, S. 258) hat V. unter schwerer Enttäuschung nach der Rückkehr aus dem Exile gelitten. Auch kränkten ihn die Angriffe K. Vogt’s, sowie mancherlei Anfeindungen wegen seiner unvollkommenen Rolle als Demokrat. Am 29. Mai 1849 warnte V. entschieden vor Verlegung des Parlaments, als diese aber beschlossen war, ging er mit nach Stuttgart. 1850 stellte er sich der [603] Statthalterschaft von Schleswig-Holstein zur Verfügung. Daß man hier seine Feder nicht gebrauchen konnte, bereitete ihm neue Enttäuschung und sein Buch „Schleswig-Holstein im J. 1850“ (2 Bde. Leipzig 1851) legt von seiner Bitterkeit Zeugniß ab. Er führte aus, daß, wie opferbereit das Volk auch sei, die Führer ihrem Berufe in keiner Weise gewachsen gewesen seien, ja ihn nicht einmal erkannt hätten. Willisen hielt er für einen Verräther und in Beseler’s Ansprachen sah er Lüge und Professorendeduction. Ueberall wollte er „gotha’sche Halbheit“ entdecken. Bezeichnend ist ein Aufruf, den V. am 27. Juli 1850 aus Kiel an Wrangel erließ: „Wie wäre es, wenn Sie sich an die Spitze einer Subscription des preußischen Heeres für Schleswig-Holstein stellten? Alle Tage 1/4 Ihrer und Ihrer Kameraden Löhnung würde genügen, das ganze schleswig-holsteinische Heer zu erhalten.“ Schließlich wurden seine Artikel selbst von demokratischen Blättern nicht mehr aufgenommen. Auf die Nachricht vom baldigen Einrücken der Oesterreicher erließ er aus Altona einen offenen Brief „an die Deutschen in Oesterreich“. Als sich V. nunmehr nach Berlin wandte, ließ ihn Hinkeldey ausweisen. In Breslau hatte er dasselbe Schicksal. 1850 erschien seine Schrift „Friedrich d. Gr. und Voltaire“, worin er aus des letzteren Briefwechsel mit Entrüstung nachwies, wie niederträchtig er sich gegen Friedrich benommen und wie es hieraus erklärlich sei, daß dieser ein Menschenverächter geworden. In demselben Jahre gab er, um „die politische Bildung in Deutschland fördern zu helfen“ ein Werk „Macchiavel, Montesquieu, Rousseau“ heraus (2 Bde., Berlin). Die größten Staatslehrer der Neuzeit sollten damit dem deutschen Volke zugänglich gemacht werden, mit Rücksicht auf die Zeit, wo es seine Angelegenheiten noch einmal selbst in die Hand nehmen werde. 1852 nahm V. Aufenthalt in Bonn, wo Bd. 1 seiner bis 1862 auf 4 Bände gewachsenen „Geschichte des deutschen Volkes“ erschien. Die Darstellung ist anmuthend und leicht, enthält aber gleichwol mehr eine Uebersicht und entbehrt zu sehr der Angabe von Jahreszahlen. Das Werk wurde wegen ungenügenden Absatzes mit dem westfälischen Frieden abgeschlossen. 1853 siedelte V. nach Zürich über, wo er sich als Docent für Geschichte habilitirte. Da sich seine Hoffnung auf Anstellung am Zürcher Polytechnikum nicht verwirklichte, verzog er 1855 nach Heidelberg, wo er eine Zeit lang beim Chemiker Moleschott wohnte und vom spärlichen Ertrage schriftstellerischer Arbeiten lebte. 1858 kaufte er eine alte Bauernhütte in Oberweiler bei Badenweiler, die er sein „Rasthaus“ nannte. Hier schrieb er, während seine Frau eine Pension für Sommergäste eröffnete, eine Schrift „Der italienische Krieg und die deutsche Volkspartei“, worin er die Gründe angab, weshalb der Krieg für Oesterreich gegen Frankreich im deutschen Interesse geboten gewesen wäre. Diesen Aufenthalt unterbrach er eine Zeit lang, um als Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ nach Berlin zu gehen. 1861 folgte seine Schrift „G. Washington. Ein Lebensbild“; 1862 „Benjamin Franklin. Ein Lebensbild“ (Freib. i. Br.). 1863 suchte er in Sybel’s histor. Zeitschrift die Widersprüche O. Klopp’s als Lobredner Tilly’s aufzudecken (s. Preuß. Jahrb. 1863, I, 321). Am 21. December 1863 nahm er am deutschen Abgeordnetentage zu Frankfurt in Sachen Schleswig-Holsteins theil. In seiner Schrift „Stein“ (Iserlohn 1868) gedachte V. dem deutschen Volke abermals das Bild eines Charakters zu liefern, wie er solche in der Gegenwart vermißte. Die Ereignisse von 1870–71 brachten ihn bezüglich seiner Grundsätze in ein Dilemma, insofern ihm die liberale Sache nicht gleiche Schritte machte wie die Einheit des Vaterlandes, und er schrieb einen Aufsehen erregenden Artikel „Vae victoribus!“ in die Wiener „N. Fr. Presse“, der ihm von vielen sehr verübelt wurde, ja er sah sich wegen dieser Anfeindungen veranlaßt, seinen Wohnsitz zeitweilig nach Stuttgart zu verlegen. Nach Oberweiler zurückgekehrt, arbeitete er wieder fleißig um die [604] Seinigen vor Noth zu schützen, seine Manuscripte wurden jedoch zurückgewiesen, es war eben keine Zeit mehr für bloße Idealisten. Sein letztes Werk war die mit Benutzung der Aufzeichnungen seines Vaters 1870 herausgegebene Schrift „Die deutschen Republikaner unter der französischen Republik“. Zum Schluß machte er sich neue Feinde in der Demokratie, indem er in einem Artikel über „die Friedensheulerei“ den Führern derselben entgegentrat, die es mit Gambetta hielten. Damit wollte er einer Ansicht in Frankreich vorbeugen, als ob es eine Partei gebe, die um der Republik willen bereit sei, Deutschland an Frankreich zu verrathen. Hierüber sprach er sich am 28. Januar 1871 in einem Briefe an Gutzkow näher aus („Nat.-Ztg.“ Nr. 74 v. 12. Febr. 1871). Bald darauf wurde ihm zu seiner Freude ein Mandat zum Reichstag in Aussicht gestellt, aber in der Nacht vom 8. zum 9. Februar wurde er von einer Lungenentzündung dahingerafft. – V. vermochte lebenslang seine Ideale auch nicht vorübergehend gegen die Forderungen des Lebens zurückzustellen, er huldigte dem zur Verstocktheit führenden Idealismus, der praktischen Sinn nicht aufkommen läßt und sich mit schwermüthigen Seufzern in die Ruhe eines unnöthigen und übertriebenen Martyriums zurückzuziehen liebt. Im Nekrolog in „Unsere Zeit“ (Leipzig 1871, S. 649) hieß es: „Das heißblütige und ungewiß hin- und hertappende idealistische Streben des Jahres 1848 fand in V. eine fast typische Incarnation. Sanguinisch und von leicht entzündlichem Temperament, schwamm er bei den fluctuirenden Strömungen seiner Zeit stets auf der höchsten Welle der politischen Ereignisse, um oft im nächsten Moment wieder auf das Niveau zurückzusinken, von dem die Fluth ihn eben erst hinaufgetragen“. – Sonstige Nekrologe in „Ergänz.-Bl. z. Kenntniß d. Gegenwart“ (Hildb. 1871, S. 327) und Gartenlaube 1871, S. 297 (von M. Ring). Vgl. auch v. Struve, Gesch. d. 3 Volkserheb. in Baden, S. 55. – A. Allg. Ztg. 1852 Nr. 319 und 1859 Nr. 226, Beilage. – Biedermann, D. Gesch. I, 249.