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Artikel „Ulitsch, Johann Sigmund“ von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 725–728, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ulitsch,_Johann_Sigmund&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 22:41 Uhr UTC)
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Ulitsch: Johann Sigmund U., geboren am 24. März 1702 (so nach dem Kirchenbuche, nicht 1701, wie er selbst annahm) zu Frankfurt a. O., † am 21. April 1762 als Propst und Oberprediger zu Segeberg in Holstein, pietistischer Prediger und Schriftsteller. Als Sohn des Amtschreibers und Stadtmusicus Chn. U. genoß er in seiner Vaterstadt einer guten Vorbildung für seine Studien. Diese begann er zu Ostern 1721 als Student der Theologie in Jena, wo damals Franz Budde (Buddeus) die Hauptzierde des theologischen Lehrkörpers war. Von ganz besonderem Einfluß auf ihn wurde aber ein fast gleichaltriger Mitstudent Joh. Liborius Zimmermann aus Wernigerode (s. d.), etwas später auch Samuel Lau aus Elbing (s. d.). Diese drei schlossen untereinander einen festen Bund, wobei sie gelobten, sich bis an den Tod Gott und dem Vaterlande zu opfern. Wie Zimmermann machte auch U. einen schweren, wenn auch körperlich weniger aufreibenden Bußkampf durch. Zwischen Ostern 1724 und August 1725 hielt er sich, vermuthlich als Hauslehrer, in Pommern auf und bezog dann noch einmal die Hochschule als Student der Rechte in Halle, doch so, daß er seine theologischen Studien nicht aufgab und besonders den Unterricht A. H. Francke’s genoß. Wohl vorbereitet trat er im J. 1727 das Amt eines Lehrers am Hallischen Pädagogium an, das er bis Januar 1729 versah. Von hier berief ihn auf des jüngeren Francke’s Empfehlung der pietistisch gerichtete Graf Christoph Friedrich zu sich als Hofdiakonus nach Stolberg. Sein Wirken war hier nicht ohne Erfolg, doch waren ihm seine Amtsbrüder meist zuwider, besonders wegen der Erbauungsstunden außerhalb der Kirche. Einen Rückhalt gewannen diese Geistlichen an dem Kanzleidirector Bonorden, einem Bückeburger von Geburt, dessen Verhältniß zum Pietismus ein feindseliges, zum reinen evangelischen Bekenntniß überhaupt ein zweifelhaftes war. Als sich nun verschiedene Geistliche, der Mag. Töpfer, Reidemeister und ein paar Ungenannte wider Ulitsch’s Privaterbauungen und seine Predigt von der Bekehrung und Buße in Wort und Schrift erhoben und ein Responsum der juristischen und theologischen Facultät zu Leipzig in diesem Sinne Ulitsch’s Leben und Wirken verurtheilte und die Maßnahmen des Consistoriumos gegen ihn bestätigte, handelte Bonorden in der Weise eines merowingischen Hausmeiers, indem er, ohne die Gutachten der Mitglieder des Consistoriums zu berücksichtigen, den Hofdiakonus bei Seite schob. Er stützte sich hierbei auf die kursächsische Oberlehnsherrschaft, die damals selbst mit Anwendung militärischer Gewalt ihre Hoheitsansprüche über die Grafschaft zu erweitern strebte. So wurde der Graf gedrängt, U. zu veranlassen, um seine Enturlaubung einzukommen. Sowohl der neue Superintendent Winkler als Ulitsch’s Nachfolger und Hofcaplan Schönborn waren seine Freunde und Gesinnungsgenossen; sie verstanden sich aber besser [726] in die Verhältnisse zu schicken. So wich U. denn aus Stolberg, gab aber über seine Ueberzeugungen und die Art seiner Wirksamkeit in Druckschriften öffentlich Rechenschaft.

Während er nun in Stolberg allerlei Widerwärtigkeiten zu erleiden hatte, fand er an dem nordharzischen Grafensitze zu Wernigerode stets freundliche Aufnahme und einen festen Rückhalt. Von 1729 an ist er Jahr für Jahr zu kürzerer Erholung, 1736 und 1737 auf halbe Jahre dort anwesend, auch wird daselbst seine Hochzeit mit einer Schwester des Hofkatecheten Lieckefett ausgerichtet. Und als schließlich alle Bemühungen, ihn in Stolberg zu halten, erfolglos sind, wird infolge der verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen U. im J. 1730 zum Hofprediger der Fürstin Sophie Karoline von Ostfriesland, jüngeren Schwester der Königin von Dänemark, nach Berum berufen. Seine Wirksamkeit ist hier eine entschieden erfolgreiche. Karawanengleich sieht U. Leute aus Stadt und Land zu seiner Predigt ziehen. Die Fürstin und Hoffräulein werden von seiner Wirksamkeit gewonnen. Schließlich hat er hier so sehr unter den Zungensünden einer Hofdame – durch einen Hofteufel, wie er sich ausdrückt – zu leiden, daß er an der Gelbsucht erkrankt. Abermals ist es ein Ruf aus Dänemark, dieses Mal unmittelbar vom Könige Christian VI., der ihm die Freiheit gibt, sich aus diesen widerwärtigen Verhältnissen zu lösen und ihm am 24. Februar 1738 die erledigte Stelle eines Oberpredigers zu Tönning in Schleswig anbietet. Nach vierwöchentlicher Bedenkzeit und nachdem er den Rath zweier Freunde in Wernigerode eingezogen hat, nimmt U. den Ruf an, hält zu Trinitatis (1. Juni) seine Abschiedspredigt in Berum und langt am 22. Juni in Tönning an. Sein neues Amt war ein schwieriges, denn die Bevölkerung der Stadt, die als Festung seit dem nordischen Kriege äußerlich und innerlich schwer gelitten hatte, war verwildert, dazu war sein Amtsbruder, der Diakonus Kramer, der sich auf die erste Predigerstelle Hoffnung gemacht und die Bürgerschaft auf seiner Seite hatte, ihm sehr zuwider, so daß es zu ärgerlichen Auftritten kam. Es wurde U. vorgeworfen, daß seine Predigten oft über die vorgeschriebene Frist dauerten, daß er identische weltliche Verordnungen, die aber namens verschiedener Behörden veröffentlicht wurden, nicht zwei Mal hintereinander von der Kanzel verlas. Dagegen hatte sein Katechismusunterricht den besten Erfolg, und durch seine treue Seelsorge und Predigt gewann er ein gutes Häuflein erweckter und suchender Seelen. Da er die Hoffnung hegte, durch treuen, sorgfältigen Unterricht ein besseres Geschlecht für die Zukunft heranzuziehen, so bemühte er sich um die Gründung eines besonderen, mit einer Schule zu verbindenden Waisenhauses. Mit theilnahmsvoller Förderung König Christian’s VI. kam dieses auch im J. 1743 zu Stande, und die auch von Kindern der Stadt und von Auswärtigen besuchte Schule kam zu schöner Blüthe, wodurch allerdings die Feindschaft des untüchtigen Rectors der Lateinschule erregt wurde.

Während nun in Tönning Kämpfe und Widerwärtigkeiten kein Ende nahmen, trat doch für ihn mit der Zeit durch Personenwechsel eine entschiedene Besserung ein. Hatte schon der Generalsuperintendent Conradi trotz mehrfacher Verschiedenheit in den religiösen Anschauungen den seinem Berufe mit allem Ernst sich widmenden Tönninger Oberprediger geschätzt und geachtet und zu ihm in freundschaftlichen persönlichen Beziehungen gestanden, so zollte ihm dessen Nachfolger Reuß die vollste Anerkennung. Dazu kam, daß im benachbarten Holstein mit dem Grafen Christian Günther zu Stolberg ein königlicher Amtmann nach Bramstedt gezogen war, der mit U. schon seit den früheren Jugendjahren Freundschaft geschlossen hatte und ihn in seine Nähe [727] ziehen wollte. Als daher zu des Grafen Freude der bisherige Propst zu Segeberg Burchardi nach Sonderburg versetzt wurde, empfahlen der Generalsuperintendent und Graf Christian Günther U. für die erledigte Stelle, zu der er denn auch am 28. Mai 1751 von König Friedrich V. berufen wurde. Abermals nach mehrwöchentlicher Bedenkzeit folgte er dem Rufe. Materiell stand sich U. in Segeberg weniger gut als in Tönning; dazu war die Gemeinde eine der größten und zugleich der rüdesten. An fleißigqr Arbeit ließ er es nicht fehlen und hatte, wie in den späteren Jahren in Tönning, auch noch einen Candidaten zur Aushülfe. Die große Menge sich zu Freunden zu gewinnen, gelang ihm nicht, wohl aber sammelte er einen Kreis ernstsuchender und erweckter Gemeindeglieder um sich. Die „geformten“ Erbauungsstunden gab er auf, doch hielt der Kreis der Erweckten treu zusammen. Gleich zu Anfang seines neuen Amtes sorgte er für die ordentliche Repertorisirung des propsteilichen Archivs. Nachdem er noch bis ins 11. Jahr in seinem holsteinischen Amte gewirkt hatte, ging U. an der Schwelle des 61. Lebensjahres, wie es scheint ohne längere Krankheit, heim.

Zur Schriftstellerei im engeren Sinne fand U. nicht die Zeit, fühlte dazu auch keinen Beruf in sich. Die verschiedenen von ihm veröffentlichten Sachen sind Gelegenheitsschriften im besten Sinne: Zeugnisse und Bekenntnisse von seinem Wirken und Sinnen, Abwehr der verschiedenen gegen ihn gerichteten Angriffe. Es sind: 1. „Die innere Gestalt des bußfertigen Menschen“, Predigt, gehalten in der Schloßkirche zu Stolberg 1731; 2. „Gewisser Grund der Bekehrung zu Gott oder zwölf untrügliche Kennzeichen, woraus ein Mensch mit Bestimmtheit erkennen kann, ob er zu Gott bekehrt sei“, Stolberg 1732; 3. „Aufmunterung zur wahren Herzensbuße“, Nordhausen 1732; 4. „Betrachtung der göttlichen Vorsehung“, Wernigerode 1735; 5. „Sendschreiben von der Pflicht eines Lehrers in Absicht auf Privaterbauungen, an den Abt Steinmetz zu Klosterberge gerichtet“, Wernigerode 1735; 6. „Zeugniß von der Seligkeit der Schafe Christi“, auf Schloß Berum gehalten, Aurich 1737; 7. „De Christo veniente per aquam et sanguinem“ (1. Joh. 5,6), Altonae et Flensburgi 1740; 3. „Einige Anmerkungen über das Tanzen“, Hamburg. Berichte 1742, S. 235/38, 259/62; 9. Einweihungerede bei der Eröffnung des Waisenhauses zu Tönning am 10. October 1743, daselbst 1743.

Wie seine Freunde Zimmermann und Lau war U. auch Sänger geistlicher Lieder. Wir kennen deren fünf, von denen drei auch in öffentlichen Liedersammlungen erschienen: 1. „Mein Heiland bleibet ewig treu“. Dieses Lied wurde noch 1857 mit den 1740 zuerst erschienenen „Stimmen aus Zion“ gedruckt; 2. „Kommt, helft mir den Schönsten der Schönen besingen“, im Wernigerödischen Gesangbuch 1735 ff. und im Klosterbergischen neu eingerichteten Kirchen- und Hausgesangbuch 1738–1760; „Einem steht mein Herz nur offen“, steht wie Nr. 1 in der Neuen Sammlung geistlicher Lieder“, Wernigerode 1752.

Ueber Ulitsch’s Glauben und Wirken ist zur Zeit der Aufklärung und des Rationalismus recht ungünstig geurtheilt worden. Eine Schranke und Einseitigkeit bei seinem Sinnen und Streben war die, daß er der Offenbarung Gottes in der sichtbaren Schöpfung und dem Schönen in der Erscheinungswelt nicht mit der rechten christlichen Freiheit gegenüberstand. So löblich sein Dringen auf das Eine, was Noth thut, und auf eine lebendige Erkenntniß Jesu Christi war, so galt es doch, bei dem Treiben des Einen das Andere nicht gar zu vergessen. Diese für den Erfolg und die Dauer des Pietismus so schädliche Einseitigkeit hat er freilich mehr oder weniger mit seinen tüchtigsten Strebensgenossen gemein. Auch schien er auf das Los und die Bezeugung [728] von Gottes Willen in äußeren Zeichen zu großen Werth zu legen, auch darin den meisten Vertretern seiner kirchlichen Richtung gleichend. Dagegen muß nun durchaus anerkannt werden, daß er bis ans Ziel seiner Tage seinem Jugendgelübde treu geblieben ist, sich dem Dienst Gottes und des Vaterlandes zu opfern. Wenn er bei seinem Wirken mehr Anfechtung erlitt als andere Gesinnungsgenossen, so urtheilte sein Amtsbruder Zeitfuchs in Stolberg, daß dies daher komme, weil er sich nicht so klug anzuschmiegen wußte, also schlichter und gerader war, als andere. Sonst aber suchte er eifrig den Frieden, war leutselig und nahm sich der in geistlicher Noth liegenden Pfarrkinder treulich an. Sein Wissen war ein gründliches, seine Predigt gehaltvoll.

Handschriftl. Quellen im kgl. Staatsarchiv zu Schleswig, Gemeinsch. Arch. zu Stolberg, den Kirchenregistraturen zu Tönning und besonders in den Geistlichen Archiven und pietistischen Privatcorrespondenzen im Fürstl. H.-Archiv zu Wernigerode; ferner in den Walbaum’schen Tagebüchern in der Fürstl. Bibl. zu Wernigerode. – P. G. Chrn. Scholtz, Nachrichten von Joh. Sigism. Ulitsch in der Kgl. Univers.-Bibliothek zu Kiel, elf Briefe von Mag. Joh. Arn. Zeitfuchs an Walch auf der Univers.-Bibl. zu Kiel, vaticinium de inundat. Holsatiae in Kopenhagen. – Von Drucksachen sind nächst Ulitsch’s eigenen Schriften zu erwähnen: Eines Anonymi Anmerkungen über J. S. Ulitschens herausgegebene Theologische Schriften 1732. – Joh. Friedr. Reidemeister’s Nöthige Anmerkungen über J. S. Ulitschens zum Druck beförderte Schriften. Gedr. im J. 1732. – Warnung für einigen im Stolbergischen ausgestreueten irrigen Schrifften 1732. – Mag. Herm. Aug. Töpfer, Theolog. Beantwortung zwoer Fragen (Bekehrung und Bußkampf), Frankfurt u. Leipzig 1732. – Joh. Georg Walch, Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche, V. Theil 1739, S. 503–506. – L. Renner, Lebensbilder aus der Pietistenzeit. Bremen u. Leipzig 1886 (im Lebenslauf Samuel Lau’s). – Vgl. auch Jacobs, Joh. Libor. Zimmermann im Jahrg. 31 (1898), der Zeitschr. des Harzv. f. Gesch. u. Alterth.-Kunde, S. 136 ff.