ADB:Tittmann, Friedrich Julius

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Artikel „Tittmann, Friedrich Julius“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 386–387, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tittmann,_Friedrich_Julius&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 11:50 Uhr UTC)
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Tittmann: Friedrich Julius T., Litterarhistoriker, wurde am 20. August 1814 zu Northeim geboren, wo er den ersten Schulunterricht genoß. Nach dem frühen Tode seines Vaters, der Jurist gewesen war, besuchte er zwei Jahre lang die Schule zu Holzminden, dann das Lyceum zu Hannover. Seit Ostern 1834 studirte er in Göttingen Theologie und bestand 1839 das erste theologische Examen. Doch verfolgte er die geistliche Laufbahn nicht, sondern wandte sich mehr und mehr dem Studium der schönen Litteratur und Aesthetik zu, vielleicht beeinflußt durch seine Mutter Louise, die 1842 ’Alfhilde‘ ein süßliches Stanzenepos im Geschmacke Ernst Schulze’s, den Sieg des Christenthums im Ruhmethale besingend, veröffentlichte. An der Hoftöchterschule, deren Oberaufseherin sie war, unterrichtete T. kurze Zeit; auch eine Lehrstelle an der Handelsschule zu Osnabrück, die er 1840 annahm, befriedigte ihn nicht. Ein Versuch, durch Vermittlung der Mutter Inspector der Hofsöhneschule zu werden, schlug fehl. 1842 erkaufte er sich den Jenischen Doctorgrad in absentia. Weniger, wie es scheint, aus innerem Triebe als in Ermangelung eines Bessern habilitirte er sich Dec. 1846 in Göttingen für deutsche Litteratur und Aesthetik; bald nachdem er Jan. 1848 die definitive Venia erhalten hatte, wurde er auf sein Gesuch Mai 1848 in die erledigte Stellung eines Assessors der philosophischen Facultät befördert. Daß er es nie weiter gebracht, daß ihm auch das oft erbetene Extraordinariat versagt blieb, erklärt sich ebenso aus den kläglichen Erfolgen seiner Vorlesungen, die sich auch über Kunstgeschichte und italienische Litteratur erstreckten, wie aus seiner totalen schriftstellerischen Unfruchtbarkeit. Seit seiner mehr descriptiven als in strenger historischer Forschung eindringenden Habilitationsschrift über ’die Nürnberger Dichterschule‘ (Gött. 1847) hat er während voller zwanzig Jahre Nichts veröffentlicht außer einer freilich weit ausgreifenden Besprechung von Ozenam’s Buch über die italienischen Franciscanerpoeten des 13. Jahrhunderts (in Prutz ’Deutschem Museum‘ 1858 Nr. 40–42). Da siedelte Karl Goedeke nach Göttingen über. Seiner anregenden und hinreißenden Persönlichkeit gelang es, den eingeschlafenen ältern Fachgenossen zu einer Schaffenslust zu wecken, die im Vergleich mit seiner frühern Sterilität doppelt überrascht. Goedeke vereinigt sich 1867 mit T. zu den Sammlungen der ’Deutschen Dichter des 16. Jahrhunderts‘ und der ’Deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts‘, und er wird von dem Genossen an Productivität übertroffen. Fast scheint es, als wolle T. durch rastlos eilige Arbeit das Versäumte einholen. Es kommen Jahre vor, in denen T. 3, selbst 4 Bände erscheinen läßt. Auch der Tod des ältesten Sohnes, der im Kriege 1870 fiel, und andre schmerzliche Verluste haben Tittmann’s wissenschaftliche Thätigkeit nur vorübergehend gelähmt. Als er am 17. Jan. 1883, vom Schlage getroffen, zu Göttingen starb, konnte er auf eine rühmliche Lebensarbeit zurückschauen.

T. hat sich von seiner Erstlingsarbeit her eine besondere Vorliebe für das 17. Jahrhundert bewahrt. Seine auswählenden Ausgaben der Werke von Opitz (1869), Fleming (1870), Gryphius (2 Bände 1870. 1880), Grimmelshausen (4 Bände 1874–1877), Günther (1874; dazu die Biographie bei Ersch und Gruber I, 97, 334, erschienen 1878) sind seine besten Leistungen. Doch vergaß er auch das 18. und 19. Jahrhundert nicht ganz, wie seine Ausgabe Bürger’s (1869), seine schnell gearbeiteten Auswahlen aus Ernst Schulze (1868) und Langbein (1874) erweisen. Für das 16. Jahrhundert, dem das ’Liederbuch‘ (1867), 2 Bände ’Schauspiele‘ (1868), 2 Bände ’Hans Sachs‘ (1870/1), die Dramen der Englischen Comödianten (1880) und des Herzogs Heinrich Julius (1880), endlich Waldis Esopus (2 Bände 1882) angehören, mangelte ihm doch allzu fühlbar das sprachliche Wissen, die kritische Schärfe, die philologische Schulung, die dem Herausgeber und Erklärer überall, aber für ältere Litteraturperioden [387] besondere dringend Noth thun. Die gleichen methodischen Schwächen machen sich natürlich auch sonst bemerklich: eine befriedigende litterarhistorische Charakteristik irgend einer dichterischen Persönlichkeit ist T. nie gelungen; er behilft sich gerne mit ästhetischen Gemeinplätzen, da er den Schlüssel nicht besitzt, der das tiefre Verständnis von Sprache und Vers erschließt. Auch seine Anläufe, die litterarische Bedingtheit eines Dichters, die Entwicklung ganzer Gattungen und Perioden darzustellen, bleiben auf halbem Wege stehn, dringen nicht in die Tiefe. Aber um so anerkennenswerther sind trotz manchen Fehlgriffen die Resultate seiner Einzelarbeit, der biographischen Studien, besonders aber der reich fördernden Quellen- und Motivuntersuchungen, die er in seinen bei aller populären Haltung recht inhaltreichen Einleitungen, aber auch in manchen knappen Anmerkungen niedergelegt hat. Seine umfassende Belesenheit auch in fremden Litteraturen rüstete ihn dafür vortrefflich aus; ich hebe z. B. seine Abhandlungen über Ayrer und Grimmelshausen hervor; es will mir scheinen, als nehme die gegenwärtige Forschung nicht immer Rücksicht genug auf Tittmann’s Funde. Bei jenen Sammlungen Goedeke’s und Tittmann’s spielte der Wunsch, in weitere Kreise Interesse für die alten deutschen Dichter zu tragen, treibend mit: diesem Zwecke werden Tittmann’s mit behaglicher Ausführlichkeit gewandt geschriebene Einführungen vielleicht besser gedient haben, als die an wissenschaftlichen Ausblicken und Aufschlüssen ungleich gehaltvolleren, aber bei ihrer gedrängten Schärfe nicht so bequem lesbaren Skizzen Goedeke’s.

Goedeke, Einleitung zum 15. Bande der ’Deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts‘ S. VII. fg. – Acten des Curatoriums und der philosophischen Facultät zu Göttingen.